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Schweizerische Bundesversammlung,

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 16. März 1896 zur Fortsetzung der ordentlichen Wintersession zusammengetreten.

Neugewählte Mitglieder sind: a. Im N a t i o n a l r a t : Herr Dr. jur. G e r m a n n, Adolf, Staatsanwalt, von Sulgen, in Frauenfeld.

b. Im S t ä n d e rat: Herr S c h e u r e r , Alfred, Regierungsrat, von Brlach, in Bern.

Im N a t i o n a l r a t eröffnete Herr Vizepräsident S t o c k m a r die Session mit folgender Ansprache: Geehrte Herren Kollegen !

Ich dachte, bei Eröffnung dieser außerordentlichen Session nur e i n e n Verlust des Rates in Ihrem Namen beklagen zu müssen, nämlich den Rücktritt unseres geehrten Präsidenten. Nun aber sehe ich mich vor einer doppelten traurigen Aufgabe, da der so unerwartete Hinschied des Herrn J öl issai n t mir selbst einen meiner teuersten Freunde, Ihnen einen Ihrer ausgezeichnetsten Kollegen entrissen hat.

Pierre Jolissaint wird eine interessante Figur unserer politischen und parlamentarischen Geschichte bleiben, wie auch seine persönlichen Eigenschaften die Erinnerung an ihn in den Herzen aller derer wach halten werden, die ihn gekannt haben.

Er gehörte zu jener kräftigen Generation, welche, mitten in den Kämpfen des Jahres 1848 ins politische Leben getreten, stetsfort das Gepräge jener Epoche des neu erwachenden demokratischen Gedankens beibehielt. Jolissaint ist dem Ideal seiner Jugend treu geblieben; die Erfahrungen eines halben Jahrhunderts haben seine Überzeugung nur kräftigen können. Diese Überzeugung wurzelte um so fester, als er für sie hatte leiden müssen. Mit 20 Jahren

356 war er schon ein Opfer der Ungerechtigkeit der Parteien geworden ; brutale Abberufung hatte ihn getroffen, weil er als bescheidener Primarlehrer es gewagt hatte, unabhängig zu handeln. In die Notwendigkeit versetzt, seine Carriere wieder von vorne anzufangen, wurde er Advokat; die Thätigkeit in diesem Berufe war aber nicht dazu angethan, sein ganzes Leben auszufüllen; die Politik zog ihn mächtig an und weckte seine Begeisterung für die Lösung der großen humanitären Aufgaben.

So befand er sich unter denjenigen, welche die ersten Friedenskongresse ins Leben riefen. Er war der Verfasser einer beachtenswerten Broschüre über die Abschaffung der Todesstrafe. 36 Jahre alt, wurde er in den Regierungsrat des Kantons Bern gewählt, sein Hauptbemühen in dieser Behörde richtete sich auf das Zustandekommen des schwierigen Werkes der Jurabahn. Nach Vollendung dieses Unternehmens wurde er einer von dessen Direktoren und widmete sich von nun an dieser neuen Aufgabe mit der ihm eigenen gewissenhaften Hingebung.

Während 25 Jahren vertrat er im Nationalrat den Berner Jura, als dessen Vertrauensmann er gelten durfte. Unter den zahlreichen gesetzgeberischen Arbeiten, bei denen er mitwirkte, ist namentlich hervorzuheben das Gesetz über die civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter. Er sprach in einfachen, aber eindrucksvollen Worten, seine Rede fand immer achtungsvolle Aufmerksamkeit, weil man stets herausfühlte, daß sie aus fester Überzeugung hervorging.

Sein plötzliches und vorzeitiges Ende hat die allgemeine Sympathie deutlich hervortreten lassen, die ihn umgab. Der Ausbruch von Trauergefülilen, der sich über seinem zu früh erschlossenen Grabe von allen Seiten kundgab, hat bewiesen, wie sehr überall sein Charakter geschätzt war, wie seine offene Güte den Weg zu den Herzen aller gefunden hatte. Sein Andenken wird geehrt bleiben als dasjenige eines patriotischen und guten Mannes. Zum Ausdrucke dieser Ehrung, die wir ihm schulden, bitte ich die Versammlung, sich von ihren Sitzen zu erheben.

Im S t ä n d e rat sprach Herr Präsident J o r d a n - M a r t i n bei der Sessionseröffnung folgendes : Geehrte Herren Kollegen !

Die eidgenössischen Räte haben soeben einen schweren Verlust erlitten durch den plötzlichen Hinschied von Herrn Pierre Jolissaint, Nationalrat und Direktionsmitglied der Jura-Simplon-Bahn. Im Jahre 1830 in Reclère geboren, zeigte Pierre Jolissaint frühzeitig eine

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besondere Vorliebe zum Studium. Er trat ins Lehrerseminar und wurde Lehrer. Die Unabhängigkeit seines Charakters ertrug aber das Regime, das damals auf der Schule lastete, nicht lange. Er gab die Lehrstellung auf, um sich in Bern, Straßburg und Paris dem Rechtsstudium zu widmen. Nach Absolvierung desselben widmete er sich der Advokatur und der Politik.

Im Jahre 1864 wurde er in den bernischen Großen Rat gewählt. 1866 trat er in die Regierung ein und verblieb darin bis 1873, nachdem er drei Mal die Präsidentschaft innegehabt hatte.

Alsdann übernahm er die Direktion der Jura-Bern-Luzern-Bahn, um später, nach der Fusion beider Gesellschaften, zur Jura-SimplonBahn überzugehen. Im Nationalrat saß er von 1869 bis 1878 und nach einem sechsjährigen Unterbruch wieder von 1884 bis zu seinem Tode.

Pierre Jolissaint stand im politischen Leben sehr im Vordergrund. Seine freie und entschiedene Haltung brachte ihm oft leidenschaftliche Angriffe seiner Gegner ein, welche nichtsdestoweniger genötigt waren, die Loyalität seiner Haltung und die Gewissenhaftigkeit seiner Ansichten anzuerkennen. Die Gemütseigenschaften charakterisieren das Leben dieses einfachen, liebenswürdigen, vertrauensvollen und guten Mannes besonders. Kurz vor seinem Tode nahm er sich mit rührender Sorgfalt der Lage und der Bedürfnisse der Angestellten der Jura-Simplon-Bahn an, um ihnen zu helfen und einen Konflikt zu vermeiden.

Pierre Jolissaint bleibt im Andenken als ein Biedermann durch und durch, als ein Freund des Fortschrittes. Allen, den Jüngern vorab, leuchtete er voran in der Arbeit und in der treuen Hingabe an seine Prinzipien und an sein Vaterland. Geehrte Herren Kollegen !

Ehren wir das Andenken dieses ausgezeichneten Bürgers durch Erheben von den Sitzen.

Am 17. März wählte der Nationalrat zum Präsidenten, an Stelle des zum Bundesrichtev gewählten Herrn Dr. Bach mann: Herrn Joseph S t o c k m a r , von Courchavon (Bern), bisherigen Vizepräsidenten, und zum Vizepräsidenten : Herrn Oberst Rudolf G al l a ti, von und in Glarus.

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