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Bundesratsbeschluß über

den gemeinsamen Rekurs 1. der Herren Dr. A. Brüstlein, Professor Dr. A. Vogt, Z'graggen, R. Theodor Kunz, G. Müller, Ernst Rufer, G. Reimann, Hermann Schlatter, sämtliche in Bern; 2. des Herrn Dr. N. Wassilieff in Bern; 3. des Komitees der Arbeiterunion Bern, vertreten durch den Präsidenten G. Reimann und den Sekretär Hermann Schlatter in Bern, gegen den Regierungsbeschluß vom 28. Februar 1896, betreffend die Partialerneuerungswahlen des Stadtrates von Bern vom 15. Dezember 1895.

(Vom 20. November 1896.1

Der schweizerische Bundesrat hat

über den gemeinsamen Rekurs 1. der Herren Dr. A. Brüstlein, Professor Dr. A. Vogt, Z'graggen, R. Theodor Kunz, G. Müller, Ernst Rufer, G. Reimann, Hermann Schlatter ; 2. des Herrn Dr. N. Wassilieff; 3. des Komitees der Arbeiterunion Bern, vertreten durch den Präsidenten G. Reimann und den Sekretär Hermann Schlatter,

697 gegen den Regierungsbeschluß vom 28. Februar 1896, betreffend die Frage der Gültigkeit von 73 mit der Überschrift ,,Unabhängiger Wahlvorschlag a versehenen gedruckten Wahlzetteln bei den Partialerneuerungswahlen des Stadtrates von Bern vom 15. Dezember 1895, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt: A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Am 15. Dezember 1895 hatte die Einwohnergemeinde Bern für 22 auf 31. Dezember 1895 in Austritt kommende Mitglieder des Stadtrates Ersatzwahlen zu treffen.

Hierbei wurde zum erstenmal das durch Gemeindebeschluß vom 5. Mai 1895 eingeführte Verhältniswahlverfahren (Proportionalsystem) nach den vom Regierungsrat des Kantons Bern am 13. Juni 1895 genehmigten ,,Ergänzenden Bestimmungen zum Gemeindereglement der Stadt Bern" zur Anwendung gebracht.

II.

Unter diesen ,,Ergänzenden Bestimmungen"1 finden sich folgende : ,,Art. 3. Der Gemeinderut macht den Tag, aa welchem die Wahlen in den Stadtrat stattfinden sollen, und die Zahl der zu treffenden Wahlen wenigstens vierzeha Tage vorher im Anzeiger für die Stadt Bern bekannt."

,,Art. 4. Die Wahlvorschläge (Listen) sind der Stadtkanzlei bis spätestens Dienstag Mittag vor dem Wahltage einzureichen.

Dieselben dürfen nicht mehr Namen enthalten, als Wahlen zu treffen sind. Sie sollen eine deutliche Bezeichnung ihres Ursprungs (Partei, Verein, Versammlung, Gruppe, von der sie ausgehen) enthalten 11und die Unterschrift von drei stimmberechtigten BürgeTM tragen.

,,Art. 5. Die Stadtkanzlei unterwirft die Wahlvorschläge bei ihrer Einreichung einer Prüfung und macht die Überbringer auf allfällige Mängel aufmerksam. Ergeben sich solche nachträglich, oder hat die Stadtkanzlei sonst Veranlassung, so wendet sich dieselbe an denjenigen, welcher den betreffenden Wahlvorschlag zuerst unterzeichnet hat."

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,,Art. 6. Derselbe Kandidat darf nur auf einer Liste vorgeschlagen werden. Steht ein Kandidat auf mehreren Listen, so ist er zu veranlassen, sich für eine Liste zu erklären. Erklärt er sich, so ist er durch die Stadtkanzlei auf den übrigen Listen zu streichen.

Erklärt er sich nicht oder ist es nicht möglich, ihn rechtzeitig zu befragen, so wird die Liste, welcher er zuzuteilen ist, durch das vom Stadtpräsidenten in Gegenwart des Stadtschreibers zu ziehende Los bestimmt und der Kandidat auf allen übrigen Listen gestrichen.'1' ,,Art. 7. Wenn auf einer Liste ein Kandidat wegfällt, so sind diejenigen, welche die Liste unterzeichnet haben, berechtigt, seinen Namen bis Freitag Mittag durch einen ändern zu ersetzen. Nach diesem Zeitpunkte darf an den eingereichten Listen keine Veränderung mehr vorgenommen werden."

,,Art. 8. Die Stadtkanzlei veröffentlicht die eingereichten Listen erstmals in der Dounerstagsnumrner und die definitiv bereinigten Listen in der Samstagsnummer des Stadtanzeigers."

,,Art. 9. Während der Wahlverhandlung sind die eingereichten Listen im Wahllokale zu jedermanns Einsicht aufzulegen."

,,Art. 10. Jeder Wähler ist berechtigt, für so viele Namea zu stimmen, als Stellen zu besetzen sind. Er ist an die aufgestellten W ahi vorschlage nicht gebunden und kann seine Kandidaten nach Belieben aus sämtlichen Namen der eingereichten Listen auswählen.

,,Namen, welche auf keiner eingereichten Liste stehen, werden dagegen bei Ermittlung des Wahlresultates durch den Wahlausschuß gestrichen und nicht weiter berücksichtigt."

In Art. 17 der ,,Ergänzenden Bestimmungen" wird Art. 14 (Mehrheitswahlprinzip) des Gemeindereglementes vom 11. Dezember 1887 insoweit aufgehoben, als er die Wahlen in den Stadtrat betrifft, Art. 16 des nämlichen Reglements aber, der von der Besetzung der während einer Amtsdauer erledigten Stadtratsstellen handelt, als gänzlich aufgehoben, erklärt.

,,Im übrigen", sagt der citierte Art. 17, ,,fiudeu auf die Wahlen in dea Stadtrat neben den vorstehenden (d. h. den ,,Ergänzenden Bestimmungen") die Vorschriften des Gemeindereglements über die Wahlen und Abstimmungen auch fernerhin Anwendung."

Art. 9 der Bestimmungen des Gemeindereglementes vom 11. Dezember 1887 lautet in seinem dritten Absätze: ,, bei Wahlen steht es ihm (d. h. dem Stimmberechtigten) frei, entweder die amtlichen Wahlzettelformulare auszufüllen oder sich außeramtlicher gedruckter oder geschriebener Wahlzettel zu bedienen. Die außer-

699 amtlichen Wahlzettel müssen aber bei Folge der Ungültigkeit genau in Größe, Form und Papier dem amtlichen Formular entsprechen und dürfen keiue äußerlich bemerkbaren Zeichen haben. Sie sollen überdies in solcher Weise eingerichtet sein, daß der Wähler Abänderungen der gedruckten Vorschläge auf denselben mit Leichtigkeit anbringen kann."

III.

In dem ,,Vertrag" des Stadtpräsidenten von Bern au den Gemeinderat vom 1. Februar 1895, der von diesem gutgeheißen und dem Stadtrat unterbreitet wurde, ist über die, die Wahlverhandluug beim Proportionalverfahren einleitenden Artikel 3 bis 8 der Regletnentsnovelle gesagt, daß sie nicht nur formelle Vorschriften enthalten , sondern auch Fragen von materieller Bedeutung lösen ; dabei betont der Berichterstatter, daß die ,,Wahlvorschläge dem Wahlverfahren als Grundlage zu dienen haben"1. Wie im Texte der Artikel selbst, so wird auch in dem begründenden Vortrage statt des Wortes ,,W ahi Vorschlag" öfter die Bezeichnung ,,Liste" gebraucht. So heißt es z. B. : ,,Die Wahlvorschläge sollen (ferner) eine deutliche Bezeichnung ihres Ursprungs, d. h. der Partei, des Vereins, der Versammlung oder Gruppe, von der sie ausgehen, enthalten und die Unterschrift von drei stimmberechtigten Bürgern tragen. Ersteres erschien uns praktischer, als die von verschiedenen Gesetzen vorgesehene Numerierung der Listen Die Unterzeichnung der eingereichten Wahlvorschläge durch eine mehr oder weniger große Zahl von Bürgern wird in allen neueren Gesetzen verlangt, um eine Garantie gegen unpassende Scherze zu haben, mitunter auch um allzu kleine Fraktionen von vornherein von der Konkurrenz auszuschließen, namentlich aber, um jemand AU haben, an den sich die Behörde bei allfälligen Erörterungen wenden kann Diese Unterschriften haben (also) nur gegenüber den Kandidaten der betreffenden Liste und gegenüber der Stadtkanzlei eine Bedeutung und brauchen nicht veröffentlicht zu werden.'-1 In Bezug auf Art. 6, der den Satz aufstellt : ,,Derselbe Kandidat darf nur auf einer Liste vorgeschlagen werden", enthält der ,,Vertrag" folgende Ausführungen: ,,Man ist auf den ersten Blick versucht, zu glauben, es sei ganz selbstverständlich, daß Doppelkandidaturen zulässig sein müssen; man könne eine Partei nicht zwingen, auf einen Kandidaten zu verzichten, bloß weil derselbe -auch von einer ändern Partei auf den Schild erhoben worden.

Allein die Schwierigkeit liegt in der spätem Berechnung des Wahlresultates. Die Doppelkandidaturen passen nicht zum System der

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Listenkonkurvenz. Listen mit gleichen Namen können einander, soweit sie wenigstens gleichlautend sind, nicht gegenübergestellt werden Es will uns (aber) scheinen, daß die Doppelkandidaturen überhaupt dem System der proportionalen Vertretung widersprechen. Man kann denselben Kandidaten nicht proportional auf mehrere Parteien verteilen; er muß ganz der einen oder ändern angehören.a Über Art. 10, der die Frage des sogenannten Panachierens behandelt, sagt der ,,Vortrag a : ,,Das Panachieren wird in Übereinstimmung mit den bestehenden Gesetzen als zulässig erklärt,, immerhin unter Beschränkung auf diejenigen Namen, welche auf den eingereichten Listen stehen.11 IV.

Für die Berner Stadtratswahlen vom 15. Dezember 1895waren ' 3 Wahlvorschläge rechtzeitig bei der Stadtkanzlei eingereicht worden, nämlich 1) derjenige einer freisinnig-demokratischen Wählerversammlung; 2) derjenige der socialdemokratischen Partei und 3) derjenige der Vereinigten Konservativen. Diese drei Vorschläge wurden von der Stadtkanzlei Donnerstags und Samstags vor dem Wahltage veröffentlicht; sie lagen auch während der Wahlverhandlung zu jedermanns Einsicht im Wahllokale auf.

Bei Ermittelung des Wahlresultates am 15. Dezember fanden sich in den Urnen Exemplare eines der Stadtkanzlei nicht eingereichten und daher von ihr nicht veröffentlichten gedruckten Wahlvorschlages, der die Bezeichnung ,,Unabhängiger Wahlvorschlag"trug, als Wahlzettel vor. Die Kandidaten dieses Vorschlages waren eine Auslese aus den Kandidaten der drei amtlich festgestellten Wahlvorschläge. Der Wahlausschuß erklärte diese Wahlzettel für gültig und zog sie mit in Berechnung. Infolge einer am 24. Dezember eingegangenen Beschwerde ordnete sodann das Regierungsstatthalteramt II des Amtsbezirks Bern eine Zählung der die Bezeichnung ,,Unabhängiger Wahl Vorschlag" tragenden Wahlzettel durch den Wahlausschuß an. Diese Untersuchung fand am 30. Dezember statt. Es wurde festgestellt, daß 73 solcher Wahlzettel in die Urne gelegt worden waren. Sie entsprachen in Größe, Form und Papier dem amtlichen Formular und trugen die Überschrift ,,Unabhängiger Wahlvorschlag für die Wahl von 22 Stadträten".

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V.

Das Regierungsstatthalteratnt II von Bern hat über die ihm eingereichte Beschwerde am 3. Januar 1896 erkannt: ,,Die von 16 stimmberechtigten Bürgern gegen die Stadtratswahlverhandlung vom 15. Dezember 1895 gerichtete Beschwerde wird, weil gesetzlich unbegründet, abgewiesen.

,,Der Gemeinderat von Bern wird dagegen aus diesem Anlaß eingeladen, die Frage zu prüfen, ob es nicht angezeigt wäre, die Ergänzenden Bestimmungen zum Gemeindereglement betreffend die Stadtratswahlen mit Rücksicht auf die erzeigten Unzukömmlichkeiten und lückenhaften Bestimmungen einer baldigen Revision zu unterwerfen.11 In seinen Erwägungen nahm das Regierungsstatthalteramt an, man habe es hier mit einer panachierten Liste, deren Gebrauch durch keine Reglementsbestimmung ausgeschlossen werde, zu thun ; ,,gerade der Umstand, daß die Liste nicht eingereicht und publiziert wurde, weist darauf hin, daß sie nicht als eigentlicher Wahlvorschlag im Sinne der Artikel 4 und 6 der Ergänzenden Bestimmungen über die Staätratswahlen aufgefaßt werden kann a .

Im übrigen bezeichnete das 'Regierungsstatthalteramt den Gebrauch dieser Liste als ein .,,Wahlmanöver"' und erklärte, daß der verfolgte, klar vorliegende Zweck dem Wesen des ,,Proporzes"1 nicht entspreche und volle Mißbilligung verdiene, indem durch solches Vorgehen nicht nur die Wahl einzelner Kandidaten und ihr Vorrücken im Rang innerhalb der Partei (hier der ,,Unabhängigen"), sondern auch das Wahlergebnis der anderen Parteien beeinflußt werde. ,,Derartigen Wahlmanipulationen rechtlich beizukommen, dazu fehlen indessen die nötigen Anhaltspunkte."

VI.

Gegen dieses Erkenntnis des Regierungsstatthalteramtes wurde innerhalb gesetzlicher Frist an den Regierungsrat des Kantons Bern rekurriert. Der bernische Regierungsrat hat darauf durch Beschluß vom 28. Februar 1896 den Beschwerdeführern ihr Begehren zugesprochen und das Regierungsstatthalteramt angewiesen, den Wahlausschuß zu einer nochmaligen Ausmittlung der am 15. Dezember 1895 in Bern vorgenommenen Stadtratswahlen unter Außerachtlassung des als Wahlzettel eingelegten ,,unabhängigen Wahlvorschlages"' zu verhalten.

Die regierungsrätlichen Erwägungen stellen darauf ab, daß der Wähler allerdings einen gedruckten Wahlvorschlag als Wahlzettel

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in die Urne werfen dtlrfe, daß aber nur solche Wahlvorschläge hierzu verwendet werden können, die den Anforderungen der Artikel 4 u. ff. der reglementarischen Ergänzungsbestimrnungen entsprechen.

Zur Begründung dieses Satzes führt die Regierung im wesentlichen aus was folgt: Da der ,,unabhängige Wahlvorschlag" 1 der Stadtkanzlei nicht eingereicht und daher auch nicht publiziert worden ist, da er keine deutliche Bezeichnung seines Ursprungs enthält, nicht die Unterschrift von drei stimmfähigen Bürgern trägt, im Wahllokal nicht aufgelegen hat, so geht ihm die Eigenschaft eines reglementarischen Wahlvorschlages ab. Nicht bloß der Behörde (der Stadtkanzlei), sondern auch der Wählerschaft wollen die Reglementsvorschriften hinsichtlich des Inhaltes der Wahlvorschläge, ihres Ursprungs" und ihrer Tendenz volle Klarheit verschaffen. Der .,,Unabhängige Wahlvorschlag" entbehrte dieser Garantien, gab sich aber durch seine eigene Bezeichnung als ,,Wahlvorschlag" zu erkennen.

Als solcher ist er im Sinne des Reglements zu behandeln, und es bedarf nicht einer ausdrücklichen reglementarischen Vorschrift, um die Unzulässigkeit der Verwendung eines reglementswidrigen Wahlvorschlages als Wahlzettel zu erkennen, Sinn und Geist der Reglementsbestimmungen erklären dies zur Genüge.

Wenn, sagt der Regierungsrat am Schlüsse seiner Erörterungen, behauptet werden will, der ,,unabhängige W ahi Vorschlag" habe nicht den Zweck verfolgt, auf die Wählerschaft zu wirken, so muß doch als sonderbar erscheinen, daß ihm die Bezeichnung .,,Wahlvorschlag"1 gegeben worden ist, er wäre also ein Vorschlag an den das Resultat ausmittelnden Wahlausschuß!

VII.

Mit Schriftsatz vom 6. März 1896 haben die eingangs genannten Bürger gegen die Entscheidung der Berner Regierung den Rekurs an den Bundesrat ergriffen.

Als Rekurrenten erscheinen : 1. Eine Anzahl Bürger (A. Brüstlein und Genossen), die erklären, bei der Wahl derartige Wahlzettel, wie sie nunmehr ungültig erklärt worden sind, eingelegt zu haben.

2. Ein Bürger (Dr. Wassilieff), der bei Inbetrachtziehung der fraglichen Wahlzettel gewählt wäre, andernfalls nicht, dessen Wahl daher infolge des regierungsrätlichen Entscheides kassiert wird.

3. Das Komitee der Arbeiterunion, handelnd im Namen und Auftrag einer socialdemokratischen Parteiversammlung vom 28. Februar 1896.

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Die Rekuvrenten erörtern vorab die Kompetenz des Bundesrates zu materieller Erledigung der Sache, und nachdem sie dieselbe an der Hand der bundesrechtlichen Praxis begründet erfunden haben, führen sie aus was folgt: Nach Art. 10, Abs. l, der Ergänzenden Bestimmungen zum Gemeindereglement der Stadt Bern kann der Wähler seine Kandidaten nach Belieben aus sämtlichen Namen der eingereichten Listen auswählen. ,,Was einer darf, dürfen natürlich auch mehrere zusammen thun. Es ist jedem unbenommen, nach Bundesgenossen zu fahnden, die sieh bereit finden, einen dem seinigen gleich komponierten Wahlzettel einzulegen Die einzelne Person oder kleine Gruppe, die zu einer solchen Aktion die Initiative ergreift, wird zur Anwerbung von Genossen verfahren, wie man bei Wahlen von jeher zu verfahren pflegte: sie wird einen Wahlvorschlag in ihrem Sinne aufstellen müssen (natürlich aus der begrenzten Zahl der Wählbaren) und eine größere oder kleinere Zahl von Personen zu bestimmen suchen, diesem ihrem Vorschlag gemäß zu wählen. u So haben, fahren die Rekurrenten fort, die 73 Wähler, welche den ,,Unabhängigen Wahl Vorschlag"1 einlegten, gehandelt. Ihr Wahlzettel, d. h. eben dieser Vorschlag, entsprach sämtlichen im Gemeindereglement aufgestellten Requisiten eines gültigen Wahlzettels : die Novelle zum Reglement hat in dieser Beziehung alles beim alten belassen.

,,Die Aufzählung der Formrequisite ist selbstverständlich als eine erschöpfende zu betrachten; im Gebiet der Form Vorschriften gilt nur das ausdrücklich Gesagte; jedes Hinzudichten ungeschriebener Vorschriften, aus ,,Sinn und Geist" des Gesetzes, ist ein Unding."

Will die Regierung den Burgern das Recht absprechen, überhaupt derartige Vorschläge zu machen, die nicht eine ,,Listea bilden, oder will sie ihnen bloß untersagen, einen also komponierten Vorschlag ,,Wahlvorschlag a zu nennen, das eine wäre in den Augen der Rekurrenten so willkürlich wie das andere; denn, sagen sie, ,,mit der ersten Alternative würde den Bürgern das verfassungsmäßige Recht, für die ihnen am besten zusagenden Kandidaten Propaganda zu machen, also das Recht der freien Meinungsäußerung, abgesprochen, -- mit der zweiten sogar das Recht, sich ihrer Muttersprache in richtiger Weise zu bedienen, .indem ihnen untersagt würde, die Dinge bei ihrem hergebrachten richtigen Namen zu nennen a Die
Bürger, die irgend eine Panachierung vorschlagen möchten, wären in Zukunft gezwungen, zu Fremdwörtern ihre Zuflucht zu nehmen, wenn die Behauptung des Regierungsrates richtig wäre, daß der Ausdruck ,,W ah l Vorschlag"1 für die

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Stadtratsvvahlen von Bern zu einein ,,technischen Begriffe" gestempelt worden sei. Übrigens ist der technische Ausdruck, dessen sich die Reglementsnovelle bedient, nicht ,,Wahlvorschlag", sondern ,,Liste". ,,Der Ausdruck ,,Liste" kommt nicht weniger als 31mal vor, während das Wort Wahlvorschlag nur sporadisch, im ganzen 4 mal, wiederkehrt."

Das Reglement -- wird weiter gesagt -- schreibt die Einreichung in bestimmter Frist und mit unterschriftlicher Quellenangabe nur für solche Wahlvorschläge vor, aus deren Zusammenstellung àie begrenzte Zahl der Wählbaren gebildet werden soll.

Von einer Irreführung der Wähler durch den ,,Unabhängigen Wahl Vorschlag" kann nicht gesprochen werden, da gerade seine Überschrift ihn von den amtlich publizierten Listen unterschied.

Gesetzt aber auch, es wäre der ,,Unabhängige Wahl verschlag" reglementswidrig, so folgt daraus keineswegs, daß er nicht als gültiger Wahlzettel dienen konnte. Das Reglement gestattet bloß, gebietet nicht die Benutzung eines Wahlvorschlages als Wahlzettel.

Der Wähler kann, abgesehen von den in Art. 9 dea Reglements aufgestellten Formalrequisiten, seinen Wahlzettel herstellen, wie ihm beliebt; er kann ihn beliebig überschreiben, z. B. mit ,,Wahlvorschlag eines Sonderlings" oder ,,Wahlverschlag eines Unabhängigen" oder eines ,,Schwerenöters" oder sonstwie, .der Zettel bleibt gültig.

Nur die ,,äußerlich bemerkbaren" Zeichen bewirken die Ungültigkeit eines Wahlzettels.

Es könnte deshalb nach Ansicht der Rekurrenten selbst die Reglementswidrigkeit des Wahlvorschlages als solchen nicht zur Ungültigerklärung der fraglichen Wahlzettel führen.

Der Bundesrat ist -- damit schließt das Rekursmemorial -- zur materiellen Beurteilung der Sache kompetent ; denn es handelt sich hier nicht um eine Auslegung kantonaler Vorschriften, die den Kantonsbehörden zukommt; der Regierungsrat hat aus ,,Sinn und Geist" des Gesetzes Formalvorschritten ersonnen, von denen in den Reglementen keine Silbe steht, und damit 73 Bürger um ihre Stimmabgabe gebracht. Diese Bürger haben gerade so stimmen wollen, wie sie gestimmt haben. Selbst noch im Zweifelsfalle müßte der Wahlzettel eines Bürgers, als die Ausübung seines höchsten verfassungsmäßigen Grundrechts, geschützt werden. Die Mißachtung dieser Wahrheit bildet eine Rechtsverweigerung, eine Verletzung der verfassungsmäßigen Grundrechte, des Stimmrechts und der Rechtsgleichheit der Bürger.

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VII.

Der Regierungsrat bringt in seiner Vernehmlassung vom l. April 1896 folgende Bemerkungen an : Das Gemeindereglement von Bern will die Ausdrücke ,,Wahlvorschlag* und ,,Liste11 als Synonyma betrachtet wissen; das beweist zur Evidenz Art. 4 der ,,Ergänzenden Bestimmungen", wo die Formalrequisite genau normiert sind und wo sich der Ausdruck .,,Wahlvorschlag"1 zum erstenmal findet und hinter demselben in Parenthese ,,Liste" gesetzt ist.

Die Rekurrenten bestreiten nicht, daß ihr ,,Wahlvorschlag tt den reglementarische Vorschriften nicht Genüge leistet; sie meinet) aber, ein reglementswidriger ,,Wahlverschlag" dürfe als Wahlzettel gebraucht werden. Dieser Standpunkt ist zu verwerfen. Den panachierten Wahlzetteln darf nicht die technische Bezeichnung ,,Wahlvorschlag" gegeben werden, da sie nicht den Erfordernissen des Art. 4 l. c. gerecht geworden sind.

Wenn es einmal einem Einzelnen, trotz dem Mangel jedes vernünftigen Grundes, einfallen sollte, seinen Wahlzettel als ,,Wahlvorschlag1*' zu bezeichnen, würde dies die Gefahr der Irreführung der Wähler nicht in sich bergen, da ja in diesem Falle nicht beabsichtigt ist, auf die Wählerschaft einzuwirken. Anders vorhält es sich bei der Vervielfältigung eines unrichtig als Wahlvorschlag betitelten Wahlzettels.

Was die Kompetenzfrage betrifft, so hat der Bundesrat erst noch in einer Eütscheidung vom 11. November '1895 sich dahin ausgesprochen, daß die Auslegung und Anwendung kantonaler Vorschriften betreffend Wahlen und Abstimmungen Sache der Kautonsbehörden sei und daß die Bundesrekursbehörde sich damit nur dann zu befassen habe, wenn durch die kantonale Vorschrift in der ihr von seiten der Kantonsbehörde gegebenen Auslegung Bundesrecht, oder kantonales Verfassungsrecht verletzt ist, was auch dann deiFall sei, wenn die Kantonsbehörde ein Wahlresultat willkürlich vernichtet. All diese Voraussetzungen der Bundeskompetenz treffen nach Ansicht des Berner Regierungsrates im vorliegenden Falle nicht zu und er hält daher die Intervention des Bundesrates für nicht begründet.

Bundesblatt. 48. Jahrg. Bd. IV.

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B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: 1. Die Frage der Kompetenz des Bundesrates zu materieller Erledigung der gegenwärtigen Rekurssache ist von den Parteien grundsätzlich richtig gestellt und erörtert worden.

Zahlreiche Entscheidungen des Bundesrates und der Bundesversammlung haben, in konsequenter Festhaltung und Ausbildung der mit dem Jahre 1848 beginnenden bundesrechtlichen Praxis, den Satz ausgesprochen und zur Geltung gebracht, daß die Buudesrekursinstanz sich bei Wahl- und Abstimmungsfragen mit den kantonalen Vorschriften nur dann zu befassen habe, wenn von den Kantonsbehörden bei deren Auslegung und Anwendung Bundesrecht oder kantonales Verfassungsrecht verletzt worden ist. Und als häufigster Anwendungsfall dieser Rechtsregel erscheint derjenige, wo durch die kantonale Verfügung das politische Stimmrecht des Bürgers beeinträchtigt ist. Eine solche Beeinträchtigung erblickt, die Bundesbehörde in der That auch, wie die Parteien richtig bemerken, in der willkürlichen Vernichtung eines in gesetzlich unanfechtbarer Weise zu stände gekommenen Wahl- oder Abstimmungsresultates. (Vergi. Bundesratsbeschluß über den Delsberger Rekurs, Bundesbl. 1895, IV, 106, und Bundesratsbeschluß über den Rekurs von Romont [Freiburg], Bundesbl. 1896, II, 119 und 120.)

2. Die Parteien gehen auseinander in der Anwendung des.

Rechtssatzes auf den vorliegenden Fall.

Die Rekurrenten behaupten, der Regierungsbeschluß vom 28. Februar 1896 beruhe auf einer Ersinnung von Formvorschriften, die das kantonale Recht gar nicht kenne, auf willkürlicher Mißachtung des Stimmrechts, dieses höchsten verfassungsmäßigen Grundrechts von 73 Bürgern, er bilde einen Akt der Rechtsverweigerung gegenüber diesen Bürgern, mithin eine Verletzung verfassungsmäßiger Grundrechte, nämlich des Stimmrechts und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze.

Der Regierungsrat von Bern aber glaubt, es handle sich im Rekursfalle lediglich um Auslegung kantonaler oder kommunaler Wahlvorschrifteu und von der willkürlichen Vernichtung eines Wahlresultates könne ernsthaft gar nicht gesprochen werden.

3. Darüber scheint hinwieder zwischen den -Parteien kein Widerspruch zu bestehen, daß die Nichtbeachtung einer Formvorschrift, auch wenn diese bloß in einem kantonalen oder kommunalen Réglemente enthalten ist, die Ungültigkeit der Stimmabgabe eines oder mehrerer Bürger nach sich ziehen kann.

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Der Bundesrat hat am 7. März 1896, in dem schon angezogenen Rekursentscheide betreffend die Gemeinderatswahlen in Romont (Kanton Freiburg), die Bedeutung der Formvorschriften im Verhältniswahlverfahren einer besondern Betrachtung unterzogen und dabei u. a. bemerkt, was folgt: ,,Was (nun vorerst) die Bedeutung der Formfehler, die Ungültigkeitserklärung der Wahllisten, der Stimmgebung ganzer Wählergruppen u. s. f. bei Anwendung des Proportionalwahlsystems betrifft, so ist der Regierung durchaus beizustimmen, wenn sie sagt, daß gerade bei diesem Wahlverfahren auf genaueste Einhaltung der Förmlichkeiten, der Fristen u. s. f.

gehalten werden müsse, und daß nur, wenn dies geschieht, der nicht eben einfache Mechanismus richtig spielen und ein dem Prinzip entsprechendes Wahlresultat liefern könne." Daß die Nichtbeachtung einer Form Vorschrift die Nichtigkeit der Stimmgebung einer ganzen, mehr oder weniger zahlreichen, Wählergruppe zur Folge hat, kann, wie der Bundesrat in jenern Falle weiter ausführte, au der Zulässigkeit und Notwendigkeit dieser Foljie nichts ändern. Immerhin, fügte er bei, dürfen die Ordnungsvorschriften nicht üher den Zweck, dem sie Existenz und Rechtfertigung verdanken, hinausgehen, also z. B.

nicht, ohne daß der Orrlnungszweek es verlangt, einen oder mehrere Burger vom Stimmrecht ausschließen.

4. Um beurteilen zu können, welcher der beiden Standpunkte der richtige ist, hat die Buudesrekursbehörde zu prüfen, ob der von der Kantonsregieruug aufgestellte Rechtssatz auf die für die Stadtratswahlen von Bern geltenden reglementarischeu Bestimmungen gegründet werden könne oder gegenteils als ein willkürlich aufgestellter erscheine, und, im erstem Falle, zu untersuchen, ob das von der Regierung angewendete kantonale Recht mit dem eidgenössischen und kantonaleu Verfassungsrecht im Einklänge stehe oder gegenteils verfassungsmäßige Rechte der Bürger verletze.

Die Regierung des Kantons Bern hat durch ihre Entscheidung vom 28. Februar 1896 den Rechtssatz aufgestellt, daß bei dem für die Stadtratswahlen von Bern geltenden Verhältniswahlsystem eine die Überschrift ,,Unabhängiger Wahlvorschlag a tragende Kandidatenliste, wenn sie nicht nach Maßgabe der Artikel 3 bis 8 des Wahlreglements amtlich festgestellt, bereinigt und veröffentlicht ist, ein ungültiger Wahlvorschlag sei und daß sie auch nicht
als Wahlzettel gültig verwendet werden könne.

Die Regierung nimmt die Urheber des ,,Unabhängigen Wahlvorschlages"1 beim Worte und behaftet sie bei der von ihnen gewählten Bezeichnung ihrer Liste als ,,Wahlvorschlag a .

Die Regierung darf sich, hierbei unbestreitbar auf den allgemeinen Sprachgebrauch und den insbesondere bei politischen Wahlen

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iu Bern eingebürgerten und durch die Praxis erhärteten Sinn des Wortes berufen. Es kann ihr keine willkürliche Deutung der Absicht der Urheber des ,,Unabhängigen Wahl Vorschlags" vorgeworfen werden, wenn sie sagt, jene haben sich mit demselben an die Wählerschaft wenden, auf die Wählerschaft zu gunsten des Vorschlages einwirken wollen.

Die Rekurrenten selbst gesteheu dies übrigens zu, indem sie als Zweck eines Vorgehens wie das ihrige angeben, ,,nach Bundesgenossen zu fahnden", ,,zur Anwerbung von Genossen zu verfahren, wie man bei Wahlen von jeher zu verfahren pflegte", nämlich : ,,eine größere oder kleinere Zahl von Personen zu bestimmen, ihrem Vorschlag gemäß zu wählen".

Bestritten ist dagegen von den Rekurrenten die Auffassung der Regierung, die dahin geht, daß das Wort ,,Wahl Vorschlag" nach den Bestimmungen des Berner Réglementes über das Verhältniswahlverfahren ein ,,technischer Ausdruck", ein ,,reglementarischer Begriff" sei. Die Rekurrenten behaupten, daß nicht ,,Wahlvorschlag", sondern das im Reglement viel häufiger vorkommende Wort ,,Liste" der technische Ausdruck sei.

In dieser Beziehung nun ist der Regierung gewiß beizustimmen, wenn sie sagt, daß die beiden Ausdrücke vom Reglernente als gleichbedeutend gebraucht werden, da ja wechselweise fin Art. 4 und Art. 16) der eine durch den in Klammern beigesetzten ändern näher bestimmt wird. Im übrigen wird man hier, wie in allen Fällen, wo nicht das Gesetz (Reglement) selbst auf ein bestimmtes Wort abstellt, gut thun, eine nach dem Gesetze zu losende Frage nicht in einen Wortstreit ausarten zu lassen. Die Ausdrücke ,,Unabhängiger Wahlvorschlag" oder ,,Unabhängige Liste" kommen sich beim Berner Verhältniswahlverfahren gleich ; mit beiden wird der gleiche Zweck verfolgt: den eigenen Wahlwillen der die Liste entwerfenden Bürger zu bezeichnen und den übrigen Wählern diesen Wahlwillen zu erkennen zu geben, um sie zu bestimmen, dem Vorschlage beizutreten, die Liste zur ihrigen zu macheu und als Wahlzettel zu gebrauchen.

Damit soll keineswegs etwa die Bedeutung dieses formalen Punktes für das Verhältniswahlverfahren geleugnet, sondern bloß angedeutet werden, daß es keinen guten Sinn hätte, die Beurteilung der Frage, ob man es mit einem Wahlvorschlag zu thun habe, von der w ö r t l i c h e n Bezeichnung desselben als ,,Wahlvorschlag" abhängig zu
machen. Damit wäre gerade unerlaubten Wahlunternehmungen ein freier Spielraum eingeräumt. Darauf kommt es an, ob man es mit einem an die Wählerschaft gerichteten Vorschlage zu thun habe und ob die Form des Vorschlages geeignet sei, die

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Wähler zur Annahme zu veranlassen , sie haben es mit einer der konkurrierenden Listen, mit einem der Wahlvorschläge zu thun.

Die KantODsregierung bejaht diese beiden Fragen und sagt, für den Wähler wie für den die Wahlverhandlung leitenden Wahlausschuß sei die Sicherheit des Vorgehens beeinträchtigt, ja die Zuverlässigkeit der Funktion des ganzen Wahlmechanismus erscheine als gefährdet, wenn neben den amtlich anerkannten noch anderò als ,,Wahlvorschläge u sich anzeigende Listen als Wahlzettel gebraucht werden können.

Diese Anschauungsweise kann nicht als eine grundlose und darum willkürliche hingestellt werden; denn sie gründet sich auf das System des Berner Verhältniswahlverfahrens.

Wie der vom Stadtpräsidenten, dem Verfasser der Bestimmungen des Berner Gemeindereglements über das Proportionalwahlverfahren, am 1. Februar 1895 an den Gemeinderat gerichtete, von diesem gutgeheißene und dem Stadtrat unterbreitete Vortrag ausdrücklich hervorhebt, haben die Wahlvorschläge oder Listen dem Wahlverfahren als Grundlage zu dienen. Die Feststellung, Bereinigung und Veröffentlichung derselben bildet denn auch den Gegenstand sehr einläßlicher Reglementsbestimmungen ; sie alle haben den Zweck, der Wählerschaft rechtzeitig und in zuverlässiger Weise auf amtlichem Wege bekannt zu geben, welche Vorschläge (Listen) im Wahlkampfe miteinander sich messen werden. Das Reglement will, daß bei der Wählerschaft darüber völlige Klarheit bestehe.

Offenbar ist es ein Irrtum der Rekurrenten, wenn sie glauben, die Verhältniswahlnovelle habe an der bisherigen Übung, wonach in der Stadt Bern die Parteien nach Belieben Wahlvorschläge aufstellten, verbreiteten und zur Stimmabgabe verwendeten, nichts geändert. An die Stelle der beim Wahlsystem der absoluten Mehrheit von jeder Partei oder Wählergruppe absolut frei entworfenen und herumgebotenen, als Wahlzettel verwendbaren Listen sind amtlich kontrollierte, bereinigte und veröffentlichte Konkurrenzlisten getreten, neben denen Listen, die den reglementarischtin Requisiten nicht genügen, auf amtliche Anerkennung keinen Anspruch haben.

Sollte hiergegen eingewendet werden, daß die Urheber des ,,unabhängigen Wahlvorschlages ct den Anspruch auf amtliche Anerkennung ihres Vorschlages als einer Konkurrenzliste gar nicht erhoben, sondern lediglich, gestützt auf Art. 10 der Reglementsbestimmungen,
eine panachierte Wahlliste entworfen und eingelegt haben, so ist darauf zu erwidern was folgt.

Das Berner Reglement gestattet allerdings in Art. 10 jedem Wähler das ,,Panachieren", die Auswahl seiner Kandidaten aus sämtlichen Namen der eingereichten Listen. Der Wähler stellt aber,

710 indem er davon Gebrauch macht, keinen ,,Wahlvorschlag", keine ,,Liste11 auf, sondern er dokumentiert damit bloß seinen von den vorhandenen Wahlvorsehlägen (Listen) abweichenden individuellen Wahlwillen. Dieser Wille kann zufällig oder infolge von Einwirkung des einen Wählers auf den ändern bei einer Mehrzahl von Wählern der gleiche sein. Ein jeder von ihnen soll ihn in gleicher Weise durch Einlegung seines Stimmzettels geltend machen können.

Nicht aber darf -- das ist die vom Berner Regieruogsrat aufgestellte Schranke -- dieser individuelle Wahlwille durch einen an die Wähler gerichteten ,,Wahlvorschlag 1 * sich äußern und als ,,Wahlvorschlag" einer ,,Gruppe" oder Partei", die ein ihrer Tendenz entsprechendes Wahlergebnis herbeizuführen bestrebt ist, sich geltend machen.

Dem gegenüber behaupten nun allerdings die Rekurrenten, es werde damit von der Kantonsregierung den Bürgern entweder das Recht der freien Meinungsäußerung, der Propaganda für die ihnen zusagenden Kandidaten, oder gar das Recht, sich ihrer Muttersprache in richtiger Weise zu bedienen, d. h. ihre Liste ,,Wahlvoi-schlag" zu heißen, abgesprochen. Allein diese Behauptungen sind unhaltbar.

Der Bürger äußert seine Meinung bei einer Wahl oder Abstimmung in seiner Muttersprache durch den Stimmzettel, den er einlegt ; dieses Recht wird ihm in keiner Weise verkümmert, wenn ihm nicht gestattet ist, seinen Stimmzettel mit dem Wort ,,WahlVorschlag" oder irgend einem ändern gleichbedeutenden Ausdrucke zu überschreiben. Ja, es könnte nicht einmal dann von Beeinträchtigung des Rechts der freien Meinungsäußerung gesprochen werden, wenn dem Bürger bei seiner Stimmgebung das sogenannte ,,Panachieren" untersagt und er darauf beschränkt wäre, seine politische Individualität durch Ausstreichen von allen oder einzelnen Kandidaten auf einer der eingereichten Listen oder durch einfache Wahlenthaltung zu bekunden. Solche Beschränkungen können rechtsgültig in Gesetzen oder Reglementen über das Wahlverfahren aufgestellt werden. So enthält z. B. das Berner Proporüonalwahlreglement in Art. 4 die Bestimmung, daß nur solche Wahl vorschlage (Listen) anerkannt werden, die die Unterschrift von d r e i stimmberechtigten Bürgern tragen; es wird aber niemand in dieser Vorschrift eine verfassungswidrige Beschränkung der freien Meinungsäußerung erblicken, obgleich
sie einem e i n z e l n e u Bürger das Hecht benimmt, einen gültigen Wahlvorschlag aufzustellen.

Die Bundesrekursbehörde kann nach dem Gesagten nicht (lüden, daß der Regierungsrat des Kantons Bern einen Akt der Willkür begangen und verfassungsrechtliche Grundsätze mißachtet und verletzt hat, als er den bei den Berner Stadtratswahlen vom 15. Dezember 1895 aufgestellten ,,Unabhängigen Wahl Vorschlag" als

711 Wahlvorschlag behandelte und, da ihm die reglementarischen Requisite abgingen, ihn als reglementswidrig erklärte.

Es bleibt nun noch die weitere Frage zu erörtern, ob der Berner Regierungsrat, wie die Rekurrenten in zweiter Linie, unter der von ihnen nicht anerkannten Voraussetzung der Reglementswidrigkeit des ,,unabhängigen W ahi Vorschlages", ausführen, dadurch Verfassungsrecht verletzt habe, daß er den mehrerwähnten Wahlvorschlag auch als Wahlzettel unzulässig erklärte und die Stimm;gebung der 73 Bürger, die durch Einlegung dieses Zettels ihr Stimmrecht ausgeübt haben, vernichtete. Die Rekurrenten erblicken auch hierin einen Akt der Willkür und beschuldigen die Kantonsbehörde der Verletzung des verfassungsmäßigen Stimmrechts und ·der Rechtsgleichheit der Bürger.

Es ist den Rekurrenten zuzugeben, daß Art. 17 des Berner Verhältniswahlreglements, der von der Abänderung und Aufhebung bisheriger Bestimmungen spricht, der Meinung Vorschub leistet, ala ob Art. 9 des Reglements von 1887 betreffend die Zulässigkeit des ·Gebrauchs außeramtlicher Wahlzettel uneingeschränkt auch für das Proportionalverfahren in Kraft geblieben sei. Diese Meinung erweist sich jedoch bei näherer Überlegung als eine irrtümliche. Die Reglementswidrigkeit eines ,,Wahlvorschlages", einer ,,Liste", führt nicht bloß aus Gründen der Logik, sondern nach Maßgabe der positiven neuen Bestimmungen des Berner Wahlreglements zur Ungültigkeit derjenigen Stimmen, die durch diesen ,,Wahlvorschlag", diese .,,Liste", ausgedrückt worden sind. Die Rechtsfolge der Ungültigkeit ·der Stimmgebung ist in Bezug auf Kandidaten, welche auf keiner
Sobald man es mit einem reglementswidrigen ,,Wahlvorschlage" zu thun hat, muß an der Hand des Wahlreglements auf Ungültigkeit der durch Einlegung dieses Wahlvorschlags ausgedrückten Stimmen erkannt werden.

Die vom Berner Regierungsrat ausgesprochene Rechtsfolge ist somit durch das in Bern eingeführte System des Verhältniswahlverfahrens bedingt; die Verfassungsmäßigkeit dieses Systems ist ·nicht angefochten, es können daher nicht die aus ihm sich ergebenden Rechtsfolgen als eine Beeinträchtigung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger angesehen werden.

712

Demnach wird beschlossen: Der Rekurs ist unbegründet und wird daher abgewiesen.

B e r n , den 20. November 1896.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,, ·Der B u n d e s p r ä s i d e n t : A. Lachenal.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft i Ringier.

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Bundesratsbeschluß über den gemeinsamen Rekurs 1. der Herren Dr. A. Brüstlein, Professor Dr. A. Vogt, Z'graggen, R. Theodor Kunz, G. Müller, Ernst Rufer, G. Reimann, Hermann Schlatter, sämtliche in Bern; 2. des Herrn Dr. N. Wassilieff in Bern; 3. des...

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1896

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48

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Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

25.11.1896

Date Data Seite

696-712

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