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Kreisschreiben des

Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen, betreffend die Stimmberechtigung bei den Nationalratswahlen (zweiter und dritter Wahlgang).

(Vom 20. November 1896.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Telegraphische Anfragen des Landammannamtes von Nid walden, sowie eines Vertreters der dortigen liberalen Partei haben uns veranlaßt, letzte Woche die Frage zu behandeln, ob bei den Nationalratswahlen für einen zweiten oder dritten Wahlgang neue Eintragungen in die Stimmregister und Streichungen von eingetragenen Stimmberechtigten zulässig und eventuell von Amtes wegen vorzunehmen seien.

Schon vorher hatte sich ein in Luzern wohnhafter Stimmberechtigter über das einen zweiten Wahlgang im XII. eidgenössischen Kreise anordnende Dekret des Regierungsrates des Kantons Luzern, vom 26. Oktober 1896, beschwert, welches in Ziffer 3 bestimmt: "Bei der Fortsetzungswahl sind die auf den ersten Wahlgang angefertigten Stimmregister als maßgebend zu betrachten."

Da ein dieses Dekret abändernder Entscheid des Bundesrates vor dem nach dem eidgenössischen Gesetze für den Abschluß der Stimmregister frühesten zulässigen Termin (drei Tage vor der Wahl) nicht mehr hätte zum Vollzug gelangen können, holten wir in dieser grundsätzlichen und wichtigen Frage auch die Vernehmlassung des Regierungsrates des Kantons Luzern ein. Diese ist am 6. d. M. eingetroffen. Die Regierung erklärt, das Stimmregister

714 des ersten Wahlganges sei nicht in dem Sinne ein unabänderliches, daß die seit dem ersten Wahlgang eingetretene Erwerbung des Stimmrechts, z. B. durch Volljährigkeit, oder der seit diesem Zeitpunkt eingetretene Verlust desselben, z. B. durch Konkurs, Kriminalisierung etc., nicht berücksichtigt werden dürfe und müsse.

Dagegen können nach Ansicht der Luzerner Regierung Bürger, welche in der Zeit zwischen zwei Wahlgängen aus einem ändern Wahlkreis in denjenigen kommen, wo die Fortsetzungswahl stattfindet, nicht stimmen und also auch nicht aufs Stimmregister aufgetragen werden. Die Regierung glaubt, eine gegenteilige Praxis würde dem Krumirtum Thür und Thor öffnen. Auch sei es nicht billig, daß Bürger, welche ihr Stimmrecht schon in einem Kreise ausgeübt haben, dasselbe bei einer Fortsetzungswahl in einem ändern Kreise geltend machen.

Wir haben auch bei einigen anderen Kantonen, in welchen bei der gegenwärtigen Integralerneuerung des Nationalrates mehrere Wahlgänge stattfinden oder stattgefunden haben, Anfrage gehalten, welche Anordnungen dort getroffen worden seien.

Nach einer Verordnung des Regierungsrates des Kantons Zürich, vom 8. Dezember 1888 (§ 6), sollen, außer den in § 5 vorgeschriebenen allgemeinen Revisionen in den Stimmregistern unter Berücksichtigung von § 10 (Abschluß der Stinimregister jeweilen abends 6 Uhr vor einer Wahl oder Abstimmung), vor jeder Wahl, Abstimmung oder Gemeindeversammlung alle seit der jüngsten Revision eingetretenen Veränderungen hinsichtlich der Stimmberechtigten vorgemerkt werden.

Nach § 3 der Verordnung des Großen Rates des Kantons Bern, vom 2. März 1870, hat der Gemeinderat, sobald die Verordnung des Regierungsrates, welche die Bürger zu einer Stimmgebung einberuft, bekannt gemacht ist, und zwar spätestens 14 Tage vor dem Abstimmungstag, das Stimmregister einer genauen Durchsicht zu unterwerfen. Nach § 4 wird das gemäß § 3 berichtigte Stimmregister unmittelbar nach erfolgter Durchsicht bis am dritten Tage vor der Abstimmung, mittags 12 Uhr, zu jedermanns Einsicht in der Gemeindeschreiberei aufgelegt. Während dieser Frist können Begehren um Eintragung und Einsprachen gegen Stimmberechtigung Dritter geltend gemacht werden. § 5 in fine bestimmt : Das in solcher Weise abgeschlossene Stimmregister macht für den Abstimmungstag unbedingt Regel etc.

In Appenzell I.-Rh. werden die Stimmregister für spätere Wahlgänge wieder geöffnet und revidiert.

715 Im Aargau wird für einen zweiten oder dritten Wahlgang das Stimmregister wieder offen gehalten für solche, welche bis zu diesem Zeitpunkte die Stimmberechtigung erlangen, jedoch immer drei Tage vor dem Wahltage geschlossen.

Im Thurgau werden zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang Neueingezogene oder auf den Stimmregistern des ersten Wahlgangs Vergessene oder solche, welche inzwischen das Stimmrecht erlangt haben, beim zweiten Wahlgang als stimmberechtigt anerkannt.

Ebenso werden die nach dem ersten Wahlgang Weggezogenen, Verstorbenen oder diejenigen, welche die Stimmberechtigung verloren haben, für den zweiten Wahlgang gestrichen.

Im Kanton Waadt werden die Stimmregister für den zweiten wie für den dritten Wahlgang wieder geöffnet.

Ebenso im Kanton Neuenburg, wo die Stimmregister erst 2 Tage vor dem betreffenden Wahlgang geschlossen werden.

Im Kanton Genf werden Eintragungen beim 1., 2. und 3. Wahlgang entgegengenommen bis Samstag mittags vor dem Wahlgang.

In Baselstadt dagegen werden laut Mitteilung des dortigen Kontrollbureaus die Stimmregister am Vorabend des ersten Wahlganges für alle Wahlgänge geschlossen.

Wir haben nach Eingang dieser Mitteilungen dem Landammannamt von Nidwaiden auf seine Anfrage erwidert, daß nach unserer Auffassung die Stimmregister für thatsächlich begründete Stimmrechtseintragungen oder Streichungen jeweilen nicht früher als drei Tage vor einem Wahlgang geschlossen werden dürfen.

Hierbei haben wir uns von folgenden Erwägungen leiten lassen : Aus dem unten citierten Art. 43 der Bundesverfassung*) und ·den Artikeln 2, 3, 5, 6 und 7 des Bundesgesetzes betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen vom 19. Heumonat 1872 **) muß geschlossen werden : *) Art. 43 der Bundesverfassung: ,,Jeder Kantonsbürger ist Schweizerbürger.

Als solcber kann, er bei allen eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen an seinem Wohnsitze Anteil nehmen, nachdem er sich über seine Stimmberechtigung ausgewiesen hat" . . . etc.

**) Bundesgesetz vom 19. Heumonat 1872 : ,,Art. 2. Stimmberechtigt ist jeder Schweizerbürger, der das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat und im übrigen nach der Gesetzgebung des Kan-

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daß das Stimmrecht eines jeden Schweizerbürgers ein verfassungsmäßiges und gesetzliches Recht ist, das auf den Schutz der Bundesbehorden Anspruch hat (Art. 102, Ziffer 2, der Bundesverfassung) ; daß der stimmberechtigte Schweizerbürger berechtigt ist, bei a l l e n eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen an seinem Wohnsitze Anteil zu nehmen ; daß j e d e r zwanzigjährige Schweizerbürger stimmberechtigt ist, der nicht vorn Aktivbürgerrecht ausgeschlossen ist ; daß das Stimmrecht da ausgeübt wird, wo der betreffende Schweizerbürger als Ortsbürger oder als Niedergelassener oder als Aufenthalter w o h n t ; daß die Eintragung der Stimmberechtigten und damit auch die Streichung der Nichtstirnmberechtigten von A m t s w e g e n zu.

erfolgen hat; daß jeder Stimmberechtigte das Recht hat, sich jedenfalls s p ä t e s t e n s am v i e r t e n Tage vor einer A b s t i m m u n g e i n s c h r e i b e n zu l a s s e n , und daß, wo das kantonale Gesetz eine spätere Einschreibung vor der Wahl oder Abstimmung noch zuläßt, dies mit keiner Buudesvorschrift in Widerspruch steht.

Im Gesetz wird nirgends bestimmt, daß ein folgender Wahlgang für eine Nationalratswahl anders behandelt werden soll, als der erste Wahlgang. Ein zweiter oder dritter Wahlgang ist aber schon deswegen, weil er vom vorausgehenden wenigstens 8 Tage, oft mehrere Wochen zeitlich getrennt ist, ein für sich abgeschlossener Wahlakt, eine eidgenössische Wahl, bei der die bindende Vortons, in welchem er seinen Wohnsitz hat, nicht vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen ist.

Art. 3. Das Stimmrecht wird von jedem Schweizerbürger da ausgeübt, wo er als Ortsbürger oder als Niedergelassener oder Aufenthalter wohnt.

Art. 5. Jeder in einer Gemeinde wohnende Schweizerbürger (Art. 3) ist von Amtes wegen in das Stimmregister (Art. 1) einzutragen, insofern nicht der betreffenden Behörde die Beweise dafür vorliegen, dass er nach den Gesetzen des Kantons von dem Aktivburgerrecht ausgeschlossen ist . . . etc.

Art. 6. Die Stimmregister sollen während wenigstens 14 Tagen vor einer Wahl oder Abstimmung zur Einsicht der Beteiligten öffentlich aufgelegt sein und dürfen nicht früher als drei Tage vor der Abstimmung geschlossen werden.

Art. 7. Wegen Verletzung der in den Artikeln 2--6 enthaltenen Bestimmungen ist der Rekurs von den kantonalen Behörden an den Bundesrat gestattet."

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schrift des Art. 6 des Bundesgesetzes vom 19. Heumonat 1872 zur Geltung 'kommen muß. Es soll denjenigen, welche unmittelbar nach der ersten Wahl entweder in den Wahlkreis gezogen sind, um dort, sei es als Ortsbürger oder als Niedergelassener oder Aufenthalter zu wohnen, oder welche das 20. Altersjahr zurückgelegt oder ein gerichtlich aberkanntes Stimmrecht infolge Zeitablaufes wieder erhalten haben, Gelegenheit gegeben werden, sich bis und mit dein vierten Tage vor der Wahl ins Stimmregistcr eintragen zu lassen, sofern die Eintragung nicht schon von Amts wegen von der mit der Führung des Stimmregisters beauftragten Behörde stattgefunden hat.

Ebenso sollen von Amts wegen diejenigen vom Stirn inregister gestrichen werden, welche nach dem ersten Wahlgange gestorben sind, den Wohnsitz im Wahlkreise aufgegeben oder das Stimmrocht durch gerichtliches Urteil oder aus einem im Gesetz vorgesehenen anderweitigen Grunde verloren haben. Wo dies nicht von Amts wegen geschieht, soll eine Streichung auch auf Antrag der hei der Wahl Beteiligten erfolgen.

Das Bundesgesetz enthält keine mit der bestimmten Vorschrift seines Art. 6 in Widerspruch stehende Bestimmung, nach welcher die Stimmregister des ersten Wahlganges auch für die folgenden Wahlgänge, also für die ganze Wahloperation als verbindlich erklärt wären, und es würde eine solche Bestimmung gegen eine gesunde und ungekünstelte Auffassung verstoßen.

Da ein zweiter und dritter Wahlgang mehrere Wochen später als der vorausgehende stattfinden kann, ändern sich während dieser Zeit die persönlichen und Wohnverhältnisse vieler Bürger. Es läßt sich oft erst bei einem zweiten Wahlgang, bei dem sogar noch neue Kandidaten aufgestellt werden können, die Bedeutung der Wahl Verhandlungen erkennen, und oft werden erst dann Lücken oder ungesetzliche Registereintragungen offenbar.

Die Einwendung, daß durch neue Einschreibungen von Bürgen) das Resultat eines folgenden Wahlganges ein anderes werden könne, als es auf Grundlage des Stimmregisters des ersten Wahlganges gewesen sein würde, ist nicht haltbar. Diese Einwendung könnte auch gegen eine Ersatzwahl geltend gemacht werden. Auch hier werden Stimmberechtigte, die bei der Gesamterneuerung des Nationalrates in einem ändern Wahlkreis gestimmt haben, ihr Stimmrecht ausüben, weil das Gesetz sie hierzu berechtigt erklärt. Mißbrauchen
soll von den Behörden von Amts wegen, sowie auf dem Rekursweg und, wo es angezeigt erscheint, durch Anwendung der Strafbestimmungen über Mißbrauch des Stimmrechts begegnet werden.

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Daß, wie die Regierung des Kantons Luzern glaubt, nur da, nachträgliche Registereintragungen zulässig seien, wo der1 Rechtsgrund des Stimmrechtserwerbes ein anderer ist, als der Einzug eines Stimmberechtigten in eine Gemeinde des Wahlkreises, verstößt gegen das Gesetz, weil nach Art. 3 des eidgenössischen Gesetzes vom 19. Juli 1872 durch das Wohnen in einer Gemeinde, sei es als Bürger, Niedergelassener oder Aufenthalter, das Stimmrecht erworben wird. Es wäre auch geradezu unbillig, neu einziehende Bürger nicht zur Ausübung des Stimmrechtes zuzulassen, während solche, die unmittelbar nach dem I. Wahlgang wegziehen, auch nach der Auffassung der Regierung von Luzern, von Amts wegen zu streichen sind.

Wir laden Sie aus den dargelegten Gründen ein, die nötigen Anordnungen zu treffen, daß die Stimmregister in Ihrem Kanton bei Nationalratswahlen für einen zweiten oder dritten Wahlgang nicht früher als drei Tage vor dem Wahltage geschlossen und die zwischen zwei Wahlgängen notwendig werdenden Änderungen (Neueintragungen und Streichungen) in den Registern vor deren Abschluß beurkundet werden.

Gleichzeitig benutzen wir den Anlaß, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 20. November

1896.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

A. Lachenal.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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25.11.1896

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