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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung zu dem Entwurfe eines Bundesgesetzes betreffend Vermehrung der Zahl der Mitglieder des Bundesgerichts.

(Vom 13. Juni 1904.)

Tit.

Durch das Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 22. März 1893, in Kraft getreten am 1. Oktober 1893, ist die Zahl der Mitglieder des Gerichts auf 14, die der Ersatzmänner auf 9 festgesetzt worden. Mit Rücksicht auf die Übertragung der Kompetenzen des Bundesrates in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen an das Bundesgericht wurde durch Bundesgesetz vom 25. Juni 1895, in Kraft seit 1. Januar 1896, die Zahl der Mitglieder auf 16 erhöht. Das Bundesgericht gliedert sich in zwei Hauptabteilungen von je 7 Mitgliedern, mit dem Präsidenten und Vizepräsidenten als Vorsitzenden, und in eine dritte Abteilung, die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer, die sich aus dem Vizepräsidenten als Vorsitzenden und 2 Mitgliedern zusammensetzt (Art. 16 und Art. 16bis des geltenden Organisationsgesetzes). Der ersten Abteilung sind durch Reglement im wesentlichen die Berufungen und Kassationsbeschwerden in Zivilsachen, der zweiten Abteilung die staatsrechtlichen Streitigkeiten und die Berufungen in Streitigkeiten aus dem Bundesgesetz über Zivilstand und Ehe und aus den Haftpflichtgesetzen zugewiesen. Die direkten Zivilprozesse sind nach Materien auf die beiden Abteilungen verteilt. Ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu den genannten Abteilungen werden die zur Ausübung der Bundesstrafrechtspflege bestimmten Be-

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hörden bestellt (Art. 18 des Gesetzes). Dem Plenum sind hauptsächlich zugewiesen die Auslieferungssachen und die Expropriationsstreitigkeiten. Die Hauptabteilungen und die Schuldbetreibungsund Konkurskammer können gültig entscheiden nur in vollem Bestände; im Plenum beträgt das Quorum 11 (Art. 25 und 24 des Organisationsgesetzes). Die Mitglieder der einzelnen Abteilungen sind in erster Linie zu gegenseitiger Vertretung berufen; erst in zweiter Linie sind Ersatzmänner beizuziehen (Art. 20 des Organisationsgesetzes).

Die Geschäftslast des Bundesgerichts war nun vom Inkrafttreten des Organisationsgesetzes von 1893 an eine derartige, daß jedes Mitglied an seinem Platze voll in Anspruch genommen war. Nur für die zwei Mitglieder der III. Abteilung traf dies nicht zu. Doch wurden sie dadurch, daß sie zur Aushülfe in den andern Abteilungen beigezogen wurden, sofort ebenfalls voll belastet. Die Fälle vorübergehender Vakanzen, von Krankheiten, Verhinderungen u. s. w. mußten bei dieser Sachlage dazu führen, daß die übrigen Mitglieder übermäßig belastet wurden. Bei einem Kollegium von 16 Mitgliedern sind aber solche Fälle, besonders wenn man die Zusammensetzung des Gerichts berücksichtigt, nicht als Ausnahme-, sondern als Regelzustand zu bezeichnen, wie denn auch seit dem Jahre 1893 fast beständig ein oder mehrere Mitglieder des Gerichts fehlten, wozu noch die notwendigerweise zeitweise im Bestände eintretenden Lücken kamen.

Diesen Umständen war von Anfang an bei der jetzigen Besetzung und Organisation des Gerichts nicht Rechnung getragen.

Ferner fällt in Betracht, daß die Anzahl der zu behandelnden Geschäfte sozusagen in beständiger Zunahme begriffen ist, wofür auf die dem Geschäftsberichte des Bundesgerichts pro 1903 beigelegte Tabelle verwiesen wird (8. 8 und 9 des gedruckten Berichts). Entscheidend sind dabei die letzten Angaben (Gesamtzahl der Geschäfte ohne Expropriationen), da bei letztern die Zahlen keinen richtigen Maßstab für die Inanspruchnahme geben. Wir fügen dieser Tabelle folgende Zahlen aus dem Jahre 1904 bei, welche zeigen, daß die steigende Tendenz nicht nachläßt.

Zahl der eingegangenen Geschäfte vom 1. Jannar bis 31. Mai 1904.

Zivilgeschäfte Staatsrechtliche Rekurse Beschwerden in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen

Mehr ein " gegangen 1904

1903 1903

19fU 1304

132 }28

163 164

31 36

- 71

131

60 ~~L27

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Es besteht kein Zweifel, daß der Zustand infolge dieser zu starken Belastung des Gerichts ein bedenklicher geworden ist, da der einzelne Richter, der gewissenhaft seines Amtes walten will, sich überanstrengen muß, was in den letzten Jahren leider nur zu häufig vorgekommen ist; er ist aber auch nachteilig für die Rechtspflege selbst in formeller und materieller Beziehung.

Die Übelstände bedürfen dringend einer Abhülfe, und zwar einer raschen Abhülfe.

Man könnte dabei an eine Einschränkung der Kompetenzen des ßundesgerichts oder an Änderungen des Verfahrens denken, welche eine Entlastung der einzelnen Mitglieder herbeizuführen geeignet wären. Das Bundesgericht hat selbst in seinem Berichte nach dieser Richtung hin einige Möglichkeiten erwähnt, um aber schließlich doch als letztes Mittel die Vermehrung der Mitgliederzahl zu empfehlen. Es hat dann bei eingehendem Studium der Sache gefunden, daß dies in der Tat der gegebene Weg sei, um aus der schwierigen Lage herauszukommen. Und der Bundesrat schließt sich dieser Auffassung an.

Es ist vor allem aus grundsätzlich unrichtig, die Kompetenzen und das Verfahren einer Gerichtsbehörde nach dem Bestände oder gar nach deren jeweiligen Geschäftsbelastung zu bestimmen und einzurichten ; hierfür sollen vielmehr nur sachliche Gründe maßgebend sein, und es soll dann umgekehrt der Bestand der Behörde nach den Kompetenzen und den Erfordernissen des Verfahrens bestimmt werden. Wenn daher auch in dieser RichtungÄnderungen in den bestehenden Vorschriften wünschbar sein mögen, so geht es nicht an, aus dem Gesichtspunkte und mit dem Zwecke der Entlastung des Gerichts an diese Frage heranzutreten. Sodann würden die Anregungen, die auf diesem Gebiete gemacht worden sind, eingehende Überlegungen und Vorberatungen bedingen ; sie würden rücksichtlich ihrer Einwirkung auf die Grundlagen und das System des geltenden Gesetzes geprüft werden müssen. Das würde sachlich tief greifen und zeitlich die Angelegenheit verzögern, während möglichst baldige Abhülfe nötig ist. Bndlich ist zu bemerken, daß von allen Änderungen, an die man in dieser Richtung denken kann, kaum alle wilnschbar sind und daß das, was erreicht werden könnte, wohl keine erhebliche Entlastung der Mitglieder des Gerichts bringen würde.

Der Bundesrat kommt daher mit dem ßundesgericht dazuj Ihnen die Vermehrung der Zahl der Bundesrichter zu empfehlen,

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und zwar geht sein Vorschlag, in Übereinstimmung mit dem Bundesgericht, dahin, es sei eine Vermehrung um drei Mitglieder vorzunehmen.

Damit könnte jeder der drei Abteilungen ein neues Mitglied zugeteilt werden, so daß die beiden ersten Abteilungen aus acht, die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer aus drei ständigen Mitgliedern bestehen würden. Es ist dies die einfachste und natürlichste Art der Entlastung der einzelnen Mitglieder, die nur ein Minimum von Änderungen in den organisatorischen Bestimmungen erfordert und auch keine oder nur unwesentliche Verschiebungen in der reglementarisch festgestellten, eingelebten Verteilung der Geschäfte zur Folge hätte. Damit die Vermehrung sich in wirksamer Weise fühlbar mache, muß aber das Quorum für die beiden Hauptabteilungen auf sieben belassen werden ; für die Ausübung der ordentlichen Amtstätigkeit sollen überhaupt nur sieben Richter, eine ungerade Zahl, sitzen, so daß stets einer der Richter der Reihe nach zu den Sitzungen nicht einberufen würde.

Nach der bestehenden Organisation ist der Vizepräsident, der einer andern Abteilung angehört und ihr vorsteht, von Amtes wegen Vorsitzender der dritten Abteilung. Diese Einrichtung ist, besonders bei einer so kleinen Abteilung, mit sachlichen Unzukömmlichkeiten und persönlichen Unbequemlichkeiten verbunden und hat sich nicht bewährt. Der Vorsitzende, der alle zwei Jahre wechselt, steht den Geschäften mehr oder weniger fremd gegenüber, während er doch gerade bei Meinungsverschiedenheiten der Mitglieder den Ausschlag zu geben hat. Ist ein Mitglied verhindert oder eine Stelle unbesetzt, so fällt die Vorbereitung aller Geschäfte einem einzelnen Mitgliede zu; bei der jetzigen Besetzung der dritten Abteilung können die mehr administrativen und die Aufsichtsbefugnisse (speziell auf dem Gebiete der Statistik und des Formularwesens) nicht in wflnschbarem Maße ausgeübt werden. Durch die Ergänzung der dritten Abteilung erhielte diese ihren eigenen Vorsitzenden. In Übereinstimmung mit dem Bundesgericht hält der Bundesrat dafür, daß dieser vom Gerichte bestimmt und nicht von der Bundesversammlung mit dem Titel eines II. Vizepräsidenten gewählt werden soll, wobei es die Meinung hat, daß der Vorsitzende im wesentlichen die gleichen Pflichten hätte wie die übrigen Mitglieder der Abteilung. Die Ergänzung der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer hat ferner anch für die übrigen Abteilungen eine Erleichterung zur Folge, indem die Mitglieder derselben in erster Reihe als Ersatzmänner

431 der letztern einzutreten haben. Auch tritt damit eine Entlastung des Vizepräsidenten ein.

Der Bundesrat glaubt, daß mit der vorgeschlagenen Vermehrung der Mitglieder des Bundesgerichts den vorhandenen Übelständen wirksam begegnet werden könne, hält dieselbe aber anderseits für unbedingt geboten.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 13. Juni 1904.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringier.

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(Entwurf.)

Bimdesgesetz betreifend

Vermehrung der Zahl der Mitglieder des Bundesgerichts.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, in Ausführung des Art. 106 der Bundesverfassung, in Abänderung der Bundesgesetze vom 22. März 1893 über die Organisation der Bundesrechtspflege und vom. 28. Juni 1895 betreffend Übertragung der Oberaufsicht über das Scbuldbetreibungs- und Konkurswesen an das Bundesgericht; nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 13. Juni 1904, beschließt: Art. 1. Die Artikel l, 16, 16bl6, 19 und 25 des durch das Bundesgesetz vom 28. Juni 1895 abgeänderten Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893, erhalten folgende Fassung: Art. 1. Das Bundesgericht besteht aus neunzehn Mitgliedern und neun Ersatzmännern. Dieselben werden von der Bundesversammlung gewählt. Bei der Wahl

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soll darauf Bedacht genommen werden, daß alle drei Nationalsprachen vertreten seien (Art. 107 der Bundesverfassung).

Art. 16. Das Bundesgericht bestellt aus seiner Mitte zwei Abteilungen von je acht Mitgliedern, und eine dritte Abteilung (Schuldbetreibungs- und Konkurskammer), bestehend aus drei Mitgliedern.

Der Präsident führt in der einen, der Vizepräsident in der andern der ersten zwei Abteilungen den Vorsitz. Der Vorsitzende der dritten Abteilung wird durch das Bundesgericht gewählt.

Art. 19. Das Bundesgericht wählt je auf 1. Januar für die Dauer von zwei Jahren die Mitglieder seiner drei Abteilungen, der Anklagekammer, der Kriminalkammer, des Bundesstrafgerichts und des Kassationshofes, den Vorsitzenden der dritten Abteilung, sowie die Präsidenten der Anklagekammer und des Kassationshofes.

Gleichzeitig bezeichnet das Bundesgericht aus der Zahl seiner Ersatzmänner je drei ordentliche Ersatzmänner für die Anklagekammer, für die Kriminalkammer und das Bundesstrafgericht und für den Kassationshof.

Der Präsident der Kriminalkammer und der Präsident des Bundesstrafgerichts werden vom Bundesgerichte für jeden Straffall bezeichnet.

Art. 25. Bei den Beratungen und Abstimmungen in den zwei ersten Abteilungen haben jeweilen sieben Mitglieder mitzuwirken. Die dritte Abteilung und die Strafgerichtsbehörden müssen stets vollständig besetzt sein.

Art. 2. Nach Inkrafttreten des Gesetzes wird die Bundesversammlung die Wahl von drei neuen Mitgliedern

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des Bundesgeriehts vornehmen, deren Amtsdauer mit derjenigen der andern Mitglieder zu Ende geht. Daraufhin hat das Bundesgericht seine Abteilungen neu zu bestellen.

Art. 3. Der Bundesrat wird beauftragt, nach Maßgabe der Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 17. Juni 1874, betreffend Volksabstimmungen über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, dieses Gesetz bekannt zu machen und den Beginn seiner Wirksamkeit festzustellen.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu dem Entwurfe eines Bundesgesetzes betreffend Vermehrung der Zahl der Mitglieder des Bundesgerichts. (Vom 13. Juni 1904.)

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