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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Giovanni Cretti, in Magadino, gegen den Beschluß des Staatsrats des Kantons Tessin, vom 14. März 1904, betreffend Ausweisung.

(Vom 22. November 1904.)

Der schweizerische Bundes rat hat

über die Beschwerde des G i o v a n n i C r e t t i , in Magadioo, gegen den Beschluß des Staatsrats des Kantons Tessin, vom 14. März 1904, betreffend Ausweisung; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: L Durch Urteil vom 23. Juni 1903 hat das schweizerische Bundesgericht die Auslieferung des damals im Kanton Tessin niedergelassenen Giovanni Cretti an Italien bewilligt. Am 25. Juni 1903 wurde dem verhafteten Cretti mitgeteilt, daß seine Auslieferung bewilligt sei und daß er am 27. gleichen Monats in Luino der italienischen Polizei werde übergeben werden, was auch geschah. Gleichzeitig wurde die Ausschreibung Crettis im Polizeianzeiger des Kantons Tessin unter den bei ihrem Erscheinen auf .Kantonsgebiet zu verhaftenden Personen verfügt.

Nach seiner Rückkehr in den Kanton Tessin richtete Cretti von Magadino aus im März dieses Jahres an den Staatsrat das Gesuch, um Aufhebung des Beschlusses vom 27. Juni 1903. Am Bundesblatt. 56. Jahrg. Bd. V.

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14. März 1904 faßte der Staatsrat einen Beschluß mit folgendem Dispositiv : Es sei dem Gesuch Crettis um Widerruf der Ausweisung nicht stattzugeben und Cretti werde, da sein Gesuch von Magadino komme, verpflichtet, sich sofort aus dem Kanton zu entfernen.

Gegen diesen Beschluß richtete Cretti unterm 18./2l. Mära 1904 eine Beschwerde an den Bundesrat, worin er Aufhebung des Beschlusses verlangte. Zur Begründung dieses Begehrens führte er folgendes aus : Der Bericht des Regierungsstatthalters von Locamo sei tendenziös. Der einzige Grund, weshalb ihm, Cretti, der Aufenthalt im Kanton Tessin verweigert werde, bestehe darin, daß er eine Anzahl von Prozessen anhängig gemacht habe. Das genüge aber zur Begründung der Ausweisung nicht. Richtig sei auch, daß früher einige Zwangsvollstreckungen gegen ihn vorgekommen seien^ aber alle seine Gläubiger seien befriedigt worden. Wenn einer durch Unglück in Schulden gerate und in Zivilprozesse verwickelt werde, so sei dies kein Grund, ihm den Aufenthalt auf schweizerischem Gebiet zu untersagen.

II.

In seiner Rekursbeantwortung vom 19./2l. April 1904 beantragte der Staatsrat des Kantons Tessin Abweisung der Beschwerde aus folgenden Gründen: Verschiedene Behörden und Private, die mit Cretti in Verkehr gekommen seien, hätten bezeugt, daß er ein streitsüchtiger, bösartiger, unehrlicher Mensch sei. Dies gehe auch aus dem Vorleben Crettis hervor, der in seiner Heimat Italien wegen Fälschung, Bankerott und anderer Vergehen gerichtlich verurteilt worden sei.

Daher sei auch ihm gegenüber keine Ausnahme von der konstanten Praxis in Wegweisungsangelegenheiten gemacht worden, die darin bestehe, daß die Ausweisung als natürliche und gewöhnliche Folge der Auslieferung wegen gemeinen Vergehen betrachtet werde. Danach sei seine fernere Duldung im Gebiet des Kantons auf Grund seiner frühern, vor der Auslieferung erteilten Niederlassungsbewilligung ausgeschlossen.

Eine neue Aufenthaltsbewilligung könne dem Cretti aber in, Ansehung seines Vorlebens und der über ihn eingegangenen Berichte nicht erteilt werden. Es werde in dieser Hinsicht insbesondere auf die Berichte der Regierungsstatthalter von Locamo und Bellinzona, auf die Zeugnisse der Gemeinde- und Patriziatsräte von Coutra, Claro und Monte-Carasso verwiesen.

967 IH.

Aus den weiteren Eingaben Crettis vom 3./5. und 6./9. Mai 1904 ist noch folgendes hervorzuheben: Ein eigentlicher Ausweisungsbefehl sei ihm nie mitgeteilt worden. Die Behauptung, wonach der auf das bundesgerichtliche Urteil hin erfolgte Beschluß vom 27. Juni 1903 mit einem Ausweisungsbeschluß identisch wäre, sei unhaltbar; denn die Auslieferung beruhe auf besondern Staatsverträgen, die Ausweisung aber sei eine Polizeimaßregel, die jeder Staat berechtigt sei, solchen Fremden gegenüber anzuwenden, die durch ihre Aufführung gefährlich werden und sich der ihnen gewährten Gastfreundschaft in flagranter Weise unwürdig erweisen.

Während seines ungefähr vierjährigen Aufenthalts 5m Kanton Tessin sei niemals eine Anklage oder Anzeige oder auch nur eine Mahnung seitens einer Behörde gegen ihn erfolgt, und er habe sich niemals einer Widerhandlung gegen bestehende Réglemente zu schulden kommen lassen.

Von den zwei Verurteilungen, die er in seinem Vaterlande erlitten habe, sei die erste ein wahres Verhängnis ; sie wäre auch jedenfalls aufgehoben worden, wenn er nicht infolge eines Mißverständnisses zu spät, d. h. nachdem sein Rekurs bereits, im Eontumazialverfahren abgewiesen worden war, in Rom eingetroffen wäre.

Die zweite Verurteilung wegen einfachen Konkurses sei eine Folge der ersten gewesen. Es genüge nach italienischem Recht, das Fehlen eines Registrierstempels, um selbst im kontradiktorischen Verfahren eine Verurteilung herbeizuführen; beim Kontumazialverfahren seien die Urteile immer strenger.

Die wenige Tage nach seiner Auslieferung erfolgte Begnadigung beweise übrigens zur Genüge, daß er nicht als Verbrecher betrachtet worden sei.

Das Einzige, was man ihm zum Vorwurf machen könne, seien die zivilrechtlichen Streitigkeiten, in die er verwickelt sei; über diese aber hätten die Gerichte und nicht die Polizeibehörden zu entscheiden.

IV.

In seiner Vernehmlassung vom |25. / 27. Mai 1904 und einer weitern vom 30. Juli/1. August 1904, die auf Grund eines Gesuches des schweizerischen Justiz- und Polizeidepartements um Aktenergänaung eingereicht wurde, führte der Staatsrat noch folgendes aus:

968 Er halte an seiner Auffassung fest, daß die Ausweisung implicite in jeder Auslieferungsverfügung gegen ein wegen gemeiner Verbrechen den Behörden seiner Heimat zuzuführendes Individuum enthalten und daß damit auch die Ausschreibung der betreffenden Person in den Fahndungsblättern gerechtfertigt sei. Denn es sei wohl begreiflich, wenn ein Kanton den Wiedereintritt solcher Leute in sein Gebiet erst dann gestattet, wenn sie die nötigen Ausweisschriften vorgewiesen und die Aufenthaltsbewilligung erlangt hätten. Eine solche könne dem Cretti aber nicht erteilt werden, weil er sich als ein für die öffentliche Ruhe und Ordnung gefährliches Individuum erwiesen habe. In diesem Sinn könne der angefochtene Beschluß auch als eine kategorische Verweigerung der Ausstellung einer neuen Aufenthaltserlaubnis gegenüber Cretti betrachtet werden.

V.

Zu weiterer Ergänzung der Akten ersuchte das Justiz- und Polizeidepartement den Staatsrat des Kantons Tessin um Übersendung des von Cretti vorgelegten Passes, welchem Ersuchen die Tessiner Regierung am 14./17. September entsprach. Der vom italienischen Konsulat in Bellinzona ausgestellte Paß Crettis datiert vom 24. August 1903 und ist drei Jahre gültig.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Der Bundesrat ist zur Entscheidung der Beschwerde gemäß Art. 189, letzter Absatz, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 zuständig, soweit es sich um die Frage handelt, ob dem italienischen Staatsangehörigen Cretti auf Grund des schweizerisch-italienischen Niederlassungs- und KonsulavVertrages vom 22. Juli 1868 die Niederlassung im Kanton Tessin verweigert werden kann.

II.

Die tessinische Regierung steht auf dem Standpunkte, daß mit jeder Auslieferung auch zugleich eine Ausweisung des ausgelieferten Individuums verbunden sei.

Tatsächlich ist richtig, daß Cretti nach der Auslieferung irn tessinischen Fahndungsblatte ausgeschrieben wurde mit dem Befehle, ihn bei seinem Wiedereintritt in den Kanton zu verhaften.

969 Das Begehren des Cretti richtet sich auch gegen die in der Auslieferungsverfügung vom 27. Juni 1903 enthaltene Ausweisung.

Es kann der Regierung des Kantons Tessin soviel zugegeben werden, daß jede Auslieferung einer Person, welche in der Schweiz niedergelassen war, tatsächlieh eine Aufhebung der Niederlassung zur Folge hat. Denn diese Niederlassung geht dadurch verloren, daß der Ausgelieferte den Polizeibehörden des die Auslieferung anbegehrenden Staates zugeführt wird. Dies ist aber eine Nebenfolge der Auslieferung, welche nicht auf gleiche Linie zu stellen ist mit einer aus besondern Gründen verfügten, durch Ausweisung begründeten Entziehung der Niederlassung. Wenn der Ausgelieferte später wieder in die Schweiz komme und sich niederlassen will, so ist selbständig zu untersuchen, ob Gründe vorhanden sind, ihm die Niederlassung zu verweigern.

Deshalb ist die Beschwerde Crettis nicht als eine Anfechtung der früheren Ausweisungsverfügung aufzufassen, sondern als Gesuch ihm eine neue Niederlassung zu bewilligen, welche ihm von der kantonalen Regierung verweigert wird.

III.

Cretti hat als im Besitze eines regelrechten Passes befindlicher Italiener gemäß dem Staatsvertrage den Anspruch, sich in jedem Kantone unter den gleichen Bedingungen wie ein Schweizerbürger niederzulassen, soweit sich nicht aus den Bestimmungen des Staats Vertrages besondere Voraussetzungen für Gewährung und Entzug der Niederlassung ergeben (vgl. Art. 2 des schweizerischitalienischen Niederlassungsvertrages und Ziffer IV der Erwägungen).

Die Niederlassung kann einem Schweizer verweigert werden, wenn er infolge eines strafgerichtlichen Urteils nicht im Besitze der bürgerlichen Rechte und Ehren ist. Ein solches Urteil ist von der tessinischen Regierung nicht vorgelegt worden. Die gegenüber Cretti in Italien wegen Fälschung einer Privaturkunde und einfachem Bankerott ergangenen Strafurteile haben nach italienischem Strafrecht die Entziehung der bürgerlichen Ehrenfähigkeit nicht zur Folge.

Nach feststehender bundesrechtlicher Praxis hätten diese Urteile auch nicht zur Verweigerung der Niederlassung genügt, da mindestens eines dieser Urteile im Niederlassungskanton ergangen sein müßte oder der Niedergelassene sich einer die öffentliche Sicherheit oder Sittlichkeit gefährdenden Lebenswandels am Niederlassungsorte schuldig gemacht haben müßte (vgl. Salis, Bündelrecht, 2. Aufl., Bd. II, Nrn. 622, 623).

970 IV.

Es bleibt also noch zu untersuchen, ob aus den Bestimmungen des zur Anwendung gelangenden Staatsvertrages die Verweigerung der Niederlassung gerechtfertigt werden kann.

Art. 2 des schweizerisch-italienischen Niederlassungs- und Konsularvertrages, vom 22. Juli 1868, läßt die Rückweisung eines Italieners zu durch gerichtliches Urteil, gesetzliche Polizeimaßnahmen, oder gemäß den Gesetzen über die Armen- und Sittenpolizei. Es darf unbedenklich angenommen werden, daß diese Rückweisungsgründe auch zugleich Gründe bilden gestützt auf welche die Niederlassung verweigert werden darf. Gerichtliches Urteil oder Gesetze über Armen- und Sittenpolizei kommen bei dem gegebenen Tatbestand nicht in Frage.

Die Regierung des Kantons Tessin hat aber auch keine sonstige gesetzliche Bestimmung nachgewiesen, welche nach Art. 2 des italienisch-schweizerischen Niederlassungsvertrages eine Ausweisung des Cretti rechtfertigen würde. Der Bericht des Regierungsstatthalters von Locamo weist allerdings nach, daß Cretti in vielfache Zivilprozesse verwickelt ist, daß er mehrfach betrieben wurde und daß er nicht den besten Leumund genießt. Da aber keine gesetzliche Bestimmung im Kanton Tessin besteht, welche dem Ausländer, auf diese Umstände gestützt, dea Aufenthalt untersagt ; da ferner der genannte Staatsvertrag nur eine auf g e s e t z l i c h e Polizeimaßregeln gegründete Ausweisung vorsieht, so kann auf diese Umstände gestutzt, dem Cretti die Niederlassung nicht verweigert werden.

Demnach wird e r k a n n t : Der Rekurs ist begründet erklärt und die Regierung des Kantons Tessin wird eingeladen, dem Cretti die Niederlassung im Kanton Tessin zu gestatten.

B e r n , den 22. November 1904.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Comtesse.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Giovanni Cretti, in Magadino, gegen den Beschluß des Staatsrats des Kantons Tessin, vom 14. März 1904, betreffend Ausweisung.

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23.11.1904

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