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Bundesratsbeschluss betreffend

das Wiedererwägungsgesuch des Herrn J. M. Ferragne, Direktor des Pensionates du Canada in Vallorbe, betreffend den Bundesratsbeschluß vom 8. Januar 1904 über die Niederlassung der Frères de la Croix de Jésus von Ménestruel in Vallorbe.

(Vom 25. März 1904.)

Der schweizerische Bundesrat, auf den Antrag seines Justiz- und Polizeidepartements, beschließt :

I.

Am 31. Januar/l. Februar langte beim Bundesrate von dem im Entscheide vom 8. Januar 1904 genannten Direktor Ferragne in der Ferme du Canada in Vallorbe ein Gesuch ein, welches sich als Wiedererwägungsgesuch gegen diesen, die Frères de la Croix de Jésus aus Ménestruel betreffenden Bescheid charakterisiert.

Das Begehren des Gesuches geht auf Aufhebung des Beschlusses des Bundesrates vom 8. Januar.

Zur Begründung wird angebracht: Lacarelle habe die Ferme du Canada gemietet zu einer Zeit, als er gehofft habe, seine Kongregation nach Vallorbe zu führen.

Kurz darauf, über die Tragweite des Art. 52 der Bundesverfassung unterrichtet, sei er gezwungen gewesen, seinen Plan zu ändern und die Kongregation nach Amerika (Canada) zu verpflanzen. Als er,

355 Ferragne, diese Verumständungen erfuhr, glaubte er die Gelegenheit benutzen zu sollen, um sich eine Stellung zu verschaffen. Deshalbwollte er an den Platz Lacarelles treten und die ganze Einrichtung um einen bestimmten Preis käuflich übernehmen. Wenn der Vertrag noch nicht perfekt geworden sei, so rühre das daher, daß er, Ferragne, die Resultate der Untersuchung des Regierungsstatthalters von Orbe habe abwarten wollen. -- Die religiösen Beziehungen des Gesuchstellers zu Lacarelle seien vollständig aufgehoben ; weder er noch sein Personal gehören mehr der Kongregation der Frères de la Croix oder sonst irgend einer geistlichen Genossenschaft an.

Die Erwägungen des ersten Entscheides des Bundesrates beruhen auf unrichtigen Voraussetzungen. Er lege dem Gesuche die Säkularisationsbriefe für sich und sein Personal bei. Er hätte diese Aktenstücke schon dem Regierungsstatthalter von Orbe vorgewiesen,, wenn dieser es verlangt hätte.

Den Erwägungen des bundesrätlichen Entscheides setze er entgegen : 1. Er habe die Statuten der Kongregation nicht vorlegen können, da er nicht mehr Mitglied sei; 2. Das männliche und weibliche Personal der Anstalt habe nie geistliches Kleid getragen ; 3. Die Schulhefte, welche den Titel : ,,Pension de Menestruel" trügen, habe er mit 40% Rabatt von Lacarelle gekauft; 4. Die Congrégation des frères de la Croix de Jésus de Ménestruel habe schon im Jahre 1874 Gemeindeschulen in Martigny und in Monthey dirigiert; 5. Die Miete der Liegenschaft und der Kauf des Mobiliars bleibe bis zum Entscheide des Bundesrates dahingestellt.

Er und sein Personal gehören keinem Orden an und wenn der Bundesrat auch ihnen gegenüber seine Entscheidung aufrecht erhalte, so verletze er das Völkerrecht.

Der Eigentümer der Ferme du Canada habe von ihm Garantien verlangt betreffs Übernahme des Pachtvertrages; er, Ferragne, habe aber noch keine Schritte getan, da er der Antwort auf die Eingabe betreffend seine definitive Installation gewärtig sei. Er glaube, der Eigentümer wolle von Lacarelle Schadensersatz für die Aufhebung des Pachtvertrages verlangen ; es werde die Situation · des Ferragne wesentlich vereinfachen, wenn dieser Schadensersatz sich auf dem Wege einer Abtretung des Mobiliars-.

an den Eigentümer mache. Er wiederholt, daß er und sein Personal freie französische Bürger seien, welche bereit seien, sich den schweizerischen Gesetzen zu unterwerfen, und daß sie deshalb

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eine Behandlung gleich jedem ändern freien Bürger von gutem Leumund zu verlangen berechtigt seien. Er verweist darauf, daß er von Anfang an sich den Schulgesetzen des Kantona Waadt anbequemt habe. Er verlange deshalb, daß sein Recht, sein Domizil in Vallorbe zu haben und sein Pensionat dort zu halten, anerkannt werde.

II.

Die der ersten Eingabe beigelegten Säkularisationsbriefe für die Lehrer und für das weibliche Personal sind beinahe alle nach dem Formular abgefasst, wie der nachstehende Brief für Ferragne.

Derselbe lautet: Nous, supérieur Général de la Société des Frères de la Croix de Jésus, vu la déclaration faite par le sieur Joanny-Marius Ferragne (frère Hubert) en date du 18 mars 1903 par laquelle il sollicite une lettre de sécularisation pour rentrer dans la vie civile, en raison des circonstances présentes, lui donnons acte de sa demande et l'autorisons à se retirer de la dite Société.

Le sieur Joanny-Marius Ferragne n'a pas été admis à renouveler ses engagements en 1902 par suite de son refus à suivre la Congrégation en Amérique. Il est donc délié de tout engagement et lui rendons en ce qui nous concerne la pleine liberté de ses actions.

En outre, nous affirmons que le susdit sieur Ferragne a été admis dans la Congrégation en août 1894.

Fait à Ménestruel, le 22 mars 1903.

F. Firmin sup. Gl.

Nous déclarons ratifier en ce qui nous concerne le certificat ci-dessus.

t Louis-Joseph, évêque de Belley.

Belley, le 1er avril 1903.

Pour copie conforme à l'original, Vallorbe, le 30 janvier 1904.

J.-M. Ferragne, directeur, à la Pension du Canada à Vallorbe.

Wörtlich gleich lauten die Briefe für Jean-Marie Moutin und Joseph-Jean-Marie-Victor Gros. In den übrigen fehlt die Erwähnung der Ablehnung der Erneuerung der Gelübde.

Sämtliche Säkularisationsbriefe sind für die Kongreganisten vom Bischof von Belley, für die Angehörigen der Petites-soeurs

357 Saint Joseph de Futenairs von einem Vikar des Erzbischofes von Lyon bestätigt.

III.

Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat die Eingaben des Ferragne Herrn Prof. Dr. Fleiner zur gutachtlichen Rückäußerung unterbreitet. Derselbe gelangt in seinem Gutachten vom Februar 1904 zu folgenden Schlüssen : 1. Nach der seit dem Jahre 1874 festgehaltenen bundesrechtlichea Praxis liegt in der Anstellung einzelner Mitglieder einer geistliehen Gesellschaft an einer ausschließlich unter weltlicher Leitung stehenden Anstalt, sofern keine Verschleierung eines geistlichen Instituts damit bezweckt wird, keine Niederlassung der Kongregation als solcher und es ist deshalb in der Tätigkeit einzelner Angehöriger der ,,FYères de la Croix de Jésus1* an den öffentlichen Gemeindeschulen von Martigny und Monthey bei Inkrafttreten der Bundesverfassung keine Ansiedlung dieser Kongregation zu erblicken.

2. Wenn man aber auch darin eine Niederlassung der Kongregation erkennen wollte, so steht fest, daß die ,,Frères de la Croix" spätestens im Jahr 1894 die Schweiz verlassen haben.

Mit der Ansiedlung in Vallorbe vom Sommer 1903 würde deshalb eine nach Art. 52 der Bundesverfassung verbotene Wiederherstellung eines aufgehobenen religiösen Ordens versucht.

3. Die vorgelegten ,,lettres de sécularisation11 beurkunden keine Entlassung der Mitglieder aus der Kongregation. Sie enthalten lediglich eine temporäre Dispensation von einzelnen Gelübden und begründen für die Mitglieder die Ermächtigung, sich für den Augenblick, bis auf Widerruf, den äußern Umständen nach freiem Ermessen anzubequemen.

IV.

Der Bundesrat hat von Amtes wegen in Anwendung der ihm durch Art. 52 der Bundesverfassung übertragenen Befugnisse von sich aus zu untersuchen, ob die gegen den Beschluß vorgebrachten Einwendungen begründet sind. Es ist daher zunächst darauf einzutreten, wie es sich mit diesen Einwendungen verhält ; in zweiter Linie ist zu prüfen, ob die Übernahme des Institutes durch Ferragne und Genossen der Anstalt den Charakter einer Kongregationsniederlassung benehmen würde, so daß nach dem Übergang Grund zum Einschreiten nicht mehr gegeben wäre.

Bundesblatt. 56. Jahrg. Bd. II.

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358, V.

Zunächst ist festzuhalten, daß unbestrittenermaßen heute noch eine Kongregationsniederlassung vorliegt, denn ein Übergang durch Vertrag von Lacarelle an Ferragae hat bis zum gegenwärtigen Zeitpunkte zugestandenermaßen n i c h t stattgefunden und soll nach den Angaben Ferragnes selbst bis nach dem Entscheid des Bundesrates verschoben werden. Es ist im früheren Entscheid nachgewiesen und weder von Ferragne noch von Lacarelle bestritten, daß das Knabenpensionat in seinem gegenwärtigen Bestände eine Kongregationsniederlassung ist. Schon von diesem Gesichtspunkte aus hätte der Bundesrat keinen Grund, auf ein Wieclererwägungsgesuch einzutreten, da sich ja die Verhältnisse tatsächlich in keiner Weise seit dem ersten Entscheide geändert haben und eine Person, welche legitimiert wäre, namens der Kongregation zu handeln, gar nicht aufgetreten ist.

Von allen mit bezug auf die Kongregationsniederlassung zur Geltung gebrachten Einwendungen ist einzig ein Punkt von Erheblichkeit.

Der Bundesrat war in seinem früheren Beschlüsse davon ausgegangen, daß die Kongregation vor Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1874 keine Niederlassung in der Schweiz gehabt hat. Das Wiedererwägungsgesuch stellt dagegen die Behauptung auf: Die K o n g r e g a t i o n habe schon im Jahre 1874 die Gemeindeschulen von Martigny und Monthey geleitet, also eine Niederlassung in der Schweiz besessen.

Ein Beweis für diese Behauptung ist zwar von dem Gesuchsteller nicht angetreten worden; das Justizdepnrtement hat aber darüber eine Untersuchung veranstaltet, aus welcher sich folgendes ergibt : Das im Jahre 1880 mit einer Einleitung von Emile Keller, député, in Paris erschienene, vom Papste approbierte Werk ,,Les congrégations religieuses en France, leurs oeuvres et leurs services" enthält bei den Frères de la croix de Jésus de Ménestruel in der Kolonne services à l'étranger keinerlei Angaben. Da das Werk auf den eigenen Angaben der Kongregationen beruht, so beweist dies Schweigen, daß die Anstellung einzelner Schulbrüder im Wallis nicht als Niederlassung der Kongregation betrachtet wurde. Das auf gleicher Grundlage beruhende Werk des Klerikers Charles Tyck ,,Notices historiques sur les congrégations et communautés religieuses du 19e sièclea (Löwen, 1892) und auch Heimbucher (die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche, 1897) erwähnen keine Ansiedlung der Gesellschaft außerhalb . Frankreichs. Das historisch-statistische Quellenbuch :

359 Otto Braunsberger (Seite 7), Rückblick auf das katholische Ordenswesen im 19. Jahrhundert, und der große Dictionnaire des ordres religieux (Paris, 1859) von Hélyot et Badiche erwähnen die Kongregation der ,,Frères de la croix de Jésus" gar nicht. Auch die Staatskalender der schweizerischen Kantone und die von den Bischöfen publizierten Verzeichnisse der Weltund Ordensgeistlichkeit kennen in der 1874 vorangehenden Periode die Kongregation nicht. So werden die ,,Frères de la croix de Jésus" im ,,Annuaire officiel du canton du Valais pour 1873--1874" weder bei Aufzählung der ,,congrégations religieuses11 noch unter dem Titel ,,Département de l'Instruction publique1' erwähnt. In ihrer Antwort auf die vom Bundesrat am 8. Dezember 1871 an die Kantone gerichtete Anfrage nach dem Bestand der schweizerischen Klöster hat die Regierung des Kantons Wallis, deren Auskunft sich doch auch auf die Kongregationsansiedlungen erstreckte, die ,,Frères de la croix de Jésus" nicht aufgezählt (Zeitschrift für schweizerische Statistik 1873). Bei diesen Angaben ist ein Irrtum oder ein Übersehen deshalb ausgeschlossen, weil schon damals nach Art. 12 der loi du 31 mai 1849 sur l'instruction publique jede Anstellung eines Lehrers an einer öffentlichen Schule des Kantons Wallis der Genehmigung des Erziehungsdepartements bedurfte. Damit stimmt überein, daß der abbé Daucourt weder in seiner Abhandlung über die geschichtliche Entwicklung des kirchlichen Lebens und den Bestand des Bistums Sitten, noch in seiner Notice sur les collégiales et les congrégations de la Suisse (Revue de la Suisse catholique 1897, 1898) von den ,,Frères de la croix de Jésus" spricht. Ebenso bezeugen weder Fleiiry (Cordelier in Freiburg im Üchtland) in seiner ,,Statistique monastique" (Revue d. 1. S. e. 1899) noch A. Buchi in seiner Schrift ,,Die Katholische Kirche in der Schweiz" (Freiburg im Üchtland, 1902) eine Niederlassung der Kongregation in der Schweiz für die Gegenwart. Endlich kennt der von der bischöflichen Kurie publizierte, dem ,,Directorium Romano-Sedunense" für das Jahr 1875 beigedruckte Katalog des Weltklerus und der geistlichen Gesellschaften des Bistums Sitten, dessen Angaben von Gareis und Zorn in ihr Werk ,,Staat und Kirche in der Schweiz" (Band I, 1877) übernommen wurden, die ,,Frères de la croix de Jésus" so wenig, wie der
Staatskalender des Kantons Wallis.

Offenbar handelte es sich also im Wallis nicht um eine Kongregationsanstalt, wie behauptet worden ist, sondern um die Anstellung einzelner Schulbrüder in den Gemeindeschulen von Monthey und Martigny.

Die Anstellung einzelner Schulbrüder oder Schulschwestern durch eine Drittperson ist aber nicht als Kongregationsniederlas-

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sung zu betrachten. Konsequenterweise und in Befolgung der bestehenden Praxis, welche noch in dem Entscheide vom 5. Juni 1903 (Bundesbl. 1903, III, 395) ihre Bestätigung gefunden hat, ist daher der Bundesrat im Entscheid vom 8. Januar 1904 davon ausgegangen, daß die Kongregation vor 1874 keine Niederlassung in der Schweiz besessen hat.

Selbst wenn man aber annehmen sollte, die Kongregation habe vor 1874 Niederlassung in der Schweiz gehabt, so ergibt sich aus der gewalteten Untersuchung, daß seit dem Jahre 1894 kein Unterricht mehr durch die Schulbriider im Wallis erteilt worden ist. Es wäre also die Niederlassung im Jahre 1894 aufgehoben worden. Art. 52 der Bundesverfassung verbietet abetaie Wiederherstellung a u f g e h o b e n e r religiöser Orden, ohne zu unterscheiden, aus welchem Grunde, ob freiwillig, oder wegen.

Dahinfallen des Zweckes oder infolge Einschreitens der Staatsgewalt die Aufhebung eines religiösen Ordens erfolgt ist. Da eine Unterscheidung nicht gemacht ist, so ist durch die Verfassungsbestimmung jede Wiederherstellung eines religiösen Ordens untersagt, mag die Aufhebung erfolgt sein, wie sie wolle. -- Die Errichtung des Knabenpensionates in Vallorbe hätte sich also als die Wiederherstellung der im Jahr 1894 aufgehobenen Kongregationsniederlassungon der Frères de la croix de Jésus de Ménestruel in Monthey und Martigny dargestellt und wäre unier diesem Gesichtspunkt zu untersagen gewesen, da der Bundesrat in seiner bisherigen Praxis die Kongregationen den alten Orden der katholischen Kirche gleichgestellt hat. Dabei braucht gar nicht näher erörtert zu werden, ob das Bestehen einer Niederlassung in e i n e m Kauton vor Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1874 ohne weiteres auch die Berechtigung zur Niederlassung in einem ä n d e r n Kanton mit sich bringen würde.

Die Behauptung des Wiedererwägungsgesuches bezüglich einer Niederlassung der Kongregation, welche vor Inkrafttreten der Bundesverfassung bestanden hätte, hat sich also nicht als stichhaltig erwiesen und der Bundesrat kann aus diesem Grunde seinen Entscheid vom 8. Januar einer Wiedererwägung nicht unterziehen.

VI.

Es ist weiter zu fragen, ob durch Übergang an den Gesuchsteller Ferragne die Niederlassung ihren Charakter als Kongregationsniederlassung verändern würde.

Zunächst besteht äußerlich kein Unterschied irgend welcher Art. Das Institut wird in ganz gleicher Weise, wie es in Frankreich betrieben wurde, mit Lehrpersonal, welches sämtlich aus

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Kongregationsangehörigen zusammengesetzt ist, auch in Vallorbe geführt. Ja, es ist durch die zollamtlichen Akten und durch das Verhalten des Lacarelle konstatiert, daß das gesamte Mobiliar heute noch der Kongregation angehört und erst von Ferragne erworben werden soll. Ferragne hat in seiner Einvernahme vor dem Regierungsstatthalter in Orbe ausdrücklich zugegeben, daß er mit der Gründung des Institutes (unter anderem) beabsichtige, den Wünschen der französischen Eltern nachzukommen, welche ihre Kinder nicht den französischen Universitätslehrern anvertrauen wollen, also mit ändern Worten den in Frankreich verbotenen Kongregationsunterricht -in Vallorbe fortzusetzen.

Er behauptet nun freilich, er sei ein freier französischer Bürger. Diese Behauptung ist indessen mit Vorsicht.aufzunehmen, denn sie wurde auch von Lacarelle aufgestellt, obschon derselbe nach den Angaben von Ferragne Oberer der Kongregation war und das Institut in Vallorbe gegründet hatte, um die Kongregation zu retten (pour sauver la congrégation).

Was nun die Säkularisationsbriefe anbetrifft, so muß zunächst auffallen, daß Ferragne von denselben in seiner ersten Einvernahme kein Wort hat verlauten lassen. Vor dem Regierungsstatthalter von Orbe berief er sich nur auf die neuerdings nicht vorgelegten Statuten, wonach eine jährliche Gelübdeerneuerung vorgesehen sei, welche er und seine früheren Mitbruder in der Kongregation, die jetzt das Lehrpersonal in Vallorbe bildeten, nicht wieder geleistet hätten.

Dabei ist aber auf folgende Widersprüche aufmerksam zu machen : 1. Nur drei der Säkularisationsbriefe sprechen von der unterlasseneu Leistung des jährlichen Gelübdes. Die ändern entbinden die früheren Kongregationsbrüder, o h n e des Gelübdes Erwähnung zu tun, von der Zugehörigkeit zur Kongregation. Ferragne hatte aber früher angegeben, sein sämtliches Personal sei durch die unterlassene Leistung des erforderlichen Gelübdes von der Zugehörigkeit zur Kongregation entbunden. Er hatte auch nichts davon erwähnt, daß Säknlarisationsbriefe vorhanden seien, obgleich er damals schon im Besitz der Entlassungsbriefe für die Kougregationsangehörigen war, die alle vom Monat März 1903 datieren, während die Abhörung Ferragnes im Juli gleichen Jahres stattfand.

2. Als Grund, warum seine Genossen ihr Gelübde nicht erneuert hätten, gibt Lacarelle an:
en prévision de l'application de la loi sur les associations. -- Die Säkularisationsbriefe geben aber übereinstimmend, soweit sie von der unterlasseneu Leistung der

362 Gelübde handeln, einen ändern Grund an, nämlich daß das betreffende Mitglied sich geweigert habe, im Jahr 1902 der Kongregation nach Amerika zu folgen (par suite de son refus à suivre la congrégation en Amérique).

Im Jahre 1902 stand indessen noch nicht fest, ob die Kongregation nicht von der Kammer die Autorisation erhalten würde, welche sie anbegehrt hatte, um in Frankreich zu verbleiben.

Erst im Jahre 1903 hat die Kammer nach über die Kongregation von den Präfekten eingezogenen Berichten die gewünschte Autorisation abgelehnt.

Die Jahresangabe 1902 steht auch mit der Darstellung des Ferragne selbst in Widerspruch, indem er vor dem Regierungsstatthalter in Orbe angegeben hatte, der Entschluß, nach Canada zu gehen, sei noch in Frankreich gefaßt worden, zwischenhineiu sei aber das Projekt von Vallorbe aufgetaucht, während er in seiner Eingabe vom 1. Februar an den Bundesrat sagte, Lacarelle habe das Projekt, nach Canada in Amerika zu gehen, erst gefaßt, nachdem die Niederlassung in Vallorbe gescheitert sei.

Alle diese aus den vorgelegten Säkularisationsbriefen sich ergebenden Widersprüche lassen den Beweiswert dieser Urkunden an sich als einen höchst fragwürdigen erscheinen.

Dazu kommt aber noch, daß diese Säkularisationen gar nicht die Bedeutung haben, welche ihnen Ferragne beilegen möchte.

Sie bedienen sich alle der Formel, ,,en raison des circonstances présentes"1 werde die Entlassung aus der Kongregation erteilt, das heißt also : "mit Rücksieht auf die gegebenen Umstände (rebus sic stantibus).

Der Ausdruck ,,Säkularisation" kommt nun im katholischen Kirehenrechte in doppelter Beziehung vor: einmal als vollständiger Austritt einer aus einer geistlichen Gesellschaft ausgeschlossenen Person. Eine solche Person verläßt den Orden und die Ordensgemeinschaft und gibt jede Ordenstätigkeit auf; anderseits gibt es eine Säkularisation, welche angewendet wird, um einem Ordensmitgliede zu gestatten, in der Welt zu leben, ohne an die strikte Beobachtung der Ordens- (oder Kongregations-) regeln gebunden zu sein. Eine solche temporäre oder partielle Entbindung von den Gelübden und von der Pflicht zur Beobachtung der Statuten gewährt nach der Bulle Leos XIII. vom Jahre 1900 (,,Conditoe a Christott) für die sogenannten DiözesanKoßgi'egationen der Generalobere oder der Bischof, für alle von Rom approbierten Gesellschaften aber der Papst. Allein soweit es sich um f r a n z o s i s c h e K o n g r e g a t i o n e n handelt, dar

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für die letztern der Bischof der Ursprungsdiözese oder der Generalobere die Dispensation erteilen (Dekret der Congregatio cardinalium super negotiis episcoporum et regulorium, vom 24. März 1903).

Diese partielle Säkularisation gilt nur für so lange, als es .die äußern Umstände nötig machen. Den Kongreganisten wird und soll dadurch die Möglichkeit gewährt werden, sich den äußern Verhältnissen anzupassen, weil die Kirche das Recht des Staates, geistliche Genossenschaften aufzuheben oder ihren Eintritt in ein Land zu untersagen, nicht anerkennt.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, daß sich an den äußern Verhältnissen des Kongregationsinstitutes in Vallorbe durch eine eventuelle Übernahme durch Ferragne gar nichts ändern würde und daß iosbesondere die Säkularisationsbriefe keinen Beweis für einen wirklichen Austritt der von Ferragne genannten Personen aus der congrégation des frères de la croix de Jésus de Ménestruel zu erbringen vermögen. Vielmehr muß das Institut nach wie vor als ein den Zwecken der Kongregation dienendes angesehen werden, das von Personen geführt wird, die einen Nachweis darüber, daß sie die Eigenschaft von Mitgliedern einer Kongregation verloren haben, nicht erbracht haben.

Demnach wird erkannt: Auf das Gesuch betreffend die Aufhebung des Beschlusses des Bundesrates vom 8. Januar 1903 über die Niederlassung der Frères de la Croix de Jésus von Ménestruel in Vallorbe wird nicht eingetreten.

B e r n , den 25. März 1904.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Vizepräsident:

Ruch et.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Eingier.

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Bundesratsbeschluss betreffend das Wiedererwägungsgesuch des Herrn J. M. Ferragne, Direktor des Pensionates du Canada in Vallorbe, betreffend den Bundesratsbeschluß vom 8. Januar 1904 über die Niederlassung der Frères de la Croix de Jésus von Ménestr...

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30.03.1904

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