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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Gewährleistung der geänderten Verfassung des Kantons Waadt (Vom 27. Februar 1959)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

I.

In der Volksabstimmung vom 31. Januar/1.Februar 1959 haben die Stimmberechtigten des Kantons Waadt den Grossratsbeschluss vom 19.Mai 1958 über die Eevision der Artikel 23, 24, 25bis und 32 der Kantonsverfassung vom l. März 1885 mit 38 648 Ja gegen 30 293 Nein gutgeheissen. Einsprachen gegen das Abstimmungsergebnis wurden innerhalb der gesetzten Frist keine erhoben. Mit Schreiben vom 17. Februar 1959 ersucht der Staatsrat des Kantons Waadt um die Erteilung der eidgenössischen Gewährleistung.

Der bisherige und der neue Text lauten wie folgt (Übersetzung) : Bisheriger Text

Neuer Text

Art. 23 Stimmberechtigt sind alle Schweizerbürger, welche das 20. Altersjahr zurückgelegt haben und seit drei Monaten im Kanton niedergelassen sind oder sich aufhalten, sofern sie ihre politischen Rechte nicht in einem andern Kanton der Eidgenossenschaft ausüben. Vorbehalten bleiben die im folgenden Artikel genannten Ausschliessungsgründe.

Art. 23 Stimmberechtigt sind alle Schweizerbürger, Männer und Fr a u en, welche das 20. Altersjahr zurückgelegt haben und seit drei Monaten im Kanton niedergelassen sind oder sich aufhalten, sofern sie ihre politischen Eechte nicht in einem andern Kanton der Eidgenossenschaft ausüben. Vorbehalten bleiben die im folgenden Artikel genannten Ausschliessungsgründe.

865 Bisheriger Text

Neuer Text

Art. 24 Waadtländer und Bürger anderer Kantone sind in folgenden Fällen von der Stimm berechtigung ausgeschlossen: 1. die Bevormundeten, 2. wer nach erfolgter Pfändung nicht nachgewiesen hat, dass die Verluste, die er seinen Gläubigern zugefügt hat, durch zufällige Verluste verursacht sind, die er selbst erlitten hat. Dieser Umstand wird durch das für den Abschluss der Pfändung zuständige Gericht festgestellt ; die Wirkungen des Urteils dürfen nicht länger als 10 Jahre dauern 3. wer auf Grund des Strafgesetzes und 0 eines gerichtlichen Urteils von den Aktivbürgerrechten ausgeschlossen ist.

Art. 24 Wer bevormundet und durch ein richterliches Urteil, das sich auf das Strafgesetz stützt, in seinen bürgerlichen Ehren und Eechten eingestellt ist, bleibt vom Stimmrecht ausgeschlossen.

Art. 25bls Bei Wahlen und Abstimmungen, welche den Bestimmungen der Bundesverfassung und den Bundesgesetzeu unterstehen, sind die Gemeindeversammlungen aus Bürgern zusammengesetzt, die in eidgenössischen Angelegenheiten stimmberechtigt sind.

Art. 32 Zwei Blutsverwandte oder Verschwägerte in gerader Linie, zwei Brüder oder Schwäger sowie der leibliche Onkel und Neffe können nicht gleichzeitig im Staatsrat und im Kantonsgericht amten.

Art. 32 Ehegatten, Verwandte und Verschwägerte in gerader Linie, Verwandte und Verschwägerte bis und mit in das dritte Glied in der Seitenlinie können nicht gleichzeitig im Staatsrat und im Kantonsgericht amten.

Die vorliegende Änderung der waadtländischen Verfassung bezweckt zur Hauptsache, den Frauen die politischen Eechte in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten zu gewähren. Nachdem die Frage der politischen Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Botschaft des Bundesrates an die

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Bundesversammlung vom 22. Februar 1957 (BEI 1957,1,665) aufgeworfen wurde, erachtete es der Waadtländer Staatsrat für zweckmässig, diese Frage gleichzeitig auf kantonalem Boden zu stellen. Es schien ihm richtiger und dem föderalistischen Aufbau unseres Staatswesens angepasster, den Versuch der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechtes in eidgenössischen Angelegenheiten mindestens gleichzeitig, wenn nicht sogar vorher, in den Kantonen und Gemeinden zu wagen. Mit dem Vorschlag der politischen Gleichberechtigung der Frauen in Kanton und Gemeinde wollte die waadtländische Eegierung die normale Abwicklung der Dinge wieder herstellen und die Zusammenhanglosigkeit, die sich aus der Einführung des Frauenstimmrechtes ausschlies&lich in eidgenössischen Angelegenheiten hätte ergeben können, vermeiden.

Der Kanton Zürich hat schon im Jahre 1911 eine Verfassungsbestimmung angenommen, welche dem Gesetzgeber die Gewährung der politischen Rechte an die auf seinem Gebiete wohnsitzberechtigten Schweizerinnen ermöglicht. Im Jahre 1957 änderte der Kanton Basel-Stadt seine Verfassung insofern, als die Bürgergemeinden das Stimm- und Wahlrecht auch auf die Gemeindebürgerinnen ausdehnen können (vgl. BEI 1911, III, 459; 1957, II, 1097). Der Kanton Waadt hat jedoch als erster Kanton das Frauenstimm- und Wahlrecht in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten wirklich eingeführt.

In direktem Zusammenhang mit den politischen Eechten der Frau stehen lediglich die Änderungen der Artikel 23 und 32 sowie der neue Artikel 25bls der Verfassung; die Eevision des Artikels 24 ist davon unabhängig.

.II.

Die Einführung des Frauenstimrnrechtes in Kanton und Gemeinde ist verwirklicht durch Hinzufügung der Worte «Männer und Frauen» in dem Text des Artikels 23. Der neue Artikel 25Ms will ausdrucklich die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen, vorbehalten; für diese bleiben die Gemeindeversammlungen weiterhin nur aus Männern zusammengesetzt, das heisst aus Bürgern, denen allein das Stimm- und Wahlrecht in eidgenössischen Angelegenheiten zusteht.

Artikel 32 bewirkt, dass die Unvereinbarkeit zwischen dem Amt eines Staatsrates und dem eines Kantonsrichters auf die Ehegatten ausgedehnt wird. Die männliche grammatikalische Form der Fassung dieses Artikels ist übrigens durch die Einführung des Frauenstimmrechtes nicht mehr begründet ; die Angabe der Grade in der Verwandtschaft und Schwägerschaft genügt. Der neue Text bringt keine Änderung der Tragweite der Vorschrift. Es ist nicht nötig, Artikel 26Ws über die Wahl der Abgeordneten des Kantons Waadt in den Ständerat zu ändern, weil es selbstverständlich ist, dass sich der neue Artikel 23 auf diese Wahl bezieht.

Die Einführung des unbeschränkten Frauenstimmrechtes in waadtländischen kantonalen und Gemeindeangelegenheiten widerspricht in keiner Weise den Vorschriften der Bundesverfassung (Art. 6 B V). Zwar schliesst Artikel 74 der Bundesverfassung das Frauenstimmrecht aus und Artikel 43 zieht daraus die logischen Folgerungen. Das gilt jedoch nur in.eidgenössischen Angelegen-

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heiten. Für die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechtes in Angelegenheiten des Kantons und der Gemeinde ist das kantonale Eecht massgebend, wie wir es schon in unserer Botschaft vom 22. Februar 1957 (BB11957, I, 775) dargetan haben. Der Bundesbeschluss vom 18. Juni 1958 über die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechtes in eidgenössischen Angelegenheiten, den die Mehrheit der Stimmbürger und der Kantone am 31. Januar/l.Februar 1959 verworfen hat, sah übrigens die Ergänzung der Bundesverfassung durch einen revidierten Artikel 74 vor, dessen letzter Absatz es den Kantonen freistellte, das Frauenstimmrecht in Angelegenheiten des Kantons und der Gemeinde anzuordnen.

Die Einführung des Frauenstimmrechtes in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten verstösst auch nicht gegen Artikel 4 der Bundesverfassung, der das Prinzip der Gleichbehandlung aufstellt. Insbesondere kann keine, im Widerspruch zu Artikel 4 stehende Eechtsungleichheit in der Tatsache erblickt werden, dass die Frauen in einzelnen Gegenden das Stimmrecht besitzen, nicht aber in andern. Es kann paradox erscheinen, dass zum Beispiel die Bürgerinnen des Kantons Appenzell Inner-Ehoden, welcher das Frauenstimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten mit überwältigendem Mehr verworfen hat, im Kanton Waadt das aktive und passive Wahlrecht besitzen, wenn sie seit drei Monaten ihren Wohnsitz dort haben, während unter den gleichen Voraussetzungen die Waadtländerinnen im Kanton Appenzell Inner-Ehoden die politischen Eechte nicht ausüben können. Aber diese Konsequenz wurde bewusst vorbehalten, da den Kantonen die Freiheit gewahrt bleibt, das Frauenstimmrecht in Angelegenheiten des Kantons und der Gemeinde einzuführen. Dem steht die Tatsache nicht entgegen, dass Artikel 74 der Bundesverfassung die Ungleichbehandlung auf eidgenössischem Boden festlegt und als Spezialbestimmung dem Artikel 4 der Bundesverfassung vorgeht. Denn Artikel 74 gilt nur für eidgenössische Angelegenheiten. Die eidgenössische Gewährleistung ist den neuen Bestimmungen der waadtländischen Verfassung, welche das Frauenstimm- und Wahlrecht in Angelegenheiten des Kantons und der Gemeinde einführen, zu erteilen, wie dies schon 1911 und 1957 bei den Verfassungsrevisionen in den Kantonen Zürich und Basel-Stadt geschah. Es ist Aufgabe der kantonalen Behörden zu beschliessen, ob gewisse
kantonale Gesetze (insbesondere das Gesetz vom 26. August 1931 über die Wahl der Mitglieder des Ständerates und das Gesetz vom 17. November 1948 über die Ausübung der politischen Eechte) revidiert werden müssen, bevor die Frauen die politischen Eechte ausüben können, oder ob es genügt, dass diese Gesetze im Sinne des neuen Artikels 23 der kantonalen Verfassung angewendet werden.

III.

Die Änderung des Artikels 24 der waadtländischen Kantonsverfassung steht in keinem unmittelbaren · Zusammenhang mit dem Problem der politischen Eechte der Frauen. Staatsrat und Grosser Eat haben die Gelegenheit der vorliegenden Verfassungsrevision benützt, um den Stimmbürgern die formelle Auf-

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hebung der Ziffer 2 des Artikels 24 zu beantragen. Diese Bestimmung widersprach dem Bundesgesetz vom 29. April 1920 über die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses und ist in der Tat bereits durch Artikel 3, Absatz 2 des Bundesgesetzes ausser Kraft gesetzt worden. Das Einführungsgesetz des Kantons Waadt vom 18.Mai 1955 zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs erklärt übrigens nicht mehr die Zahlungsunfähigkeit als Grund zum Verlust der bürgerlichen Eechte; diese Nebenstrafe ist vielmehr durch ein strafgerichtliches Urteil auszusprechen (vgl. Art. 52 und 171 des Strafgesetzbuches). Die gegenwärtige Ziffer 8 des Artikels 24 würde daher genügen; die Form wurde jedoch verbessert, ohne dass der neue Text die Tragweite der Bestimmung ändert.

IV.

Die vorliegende Verfassungsänderung enthält demnach nichts, was den Vorschriften der Bundesverfassung widerspricht. Sie bedeuten einen den Grundsätzen der Bundesverfassung entsprechenden Fortschritt im Ausbau der Demokratie und der Gleichbehandlung. Wir beantragen Ihnen deshalb, den neuen Bestimmungen der Verfassung des Kantons Waadt die eidgenössische Gewährleistung zu erteilen und den beiliegenden Beschlussesentwurf anzunehmen.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

Bern, den 27.Februar 1959.

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t : P. Chaudet Der Bundeskanzler: Ch. Oser

369 (Entwurf)

Bundesbeschluss über

die Gewährleistung der geänderten Verfassung des Kantons Waadt

Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der Schweizerischen Eidgenossenschaft, in Anwendung von Artikel 6 der Bundesverfassung, nach Einsicht in die Botschaft des Bundesrates vom 27. Februar 1959, in Erwägung, dass die geänderten Verfassungsbestimmungen nichts der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthalten, beschliesst :

Art. l Den in der Volksabstimmung vom 31. Januar/l.Februar 1959 aufgenommenen Änderungen der Artikel 23, 24, 25bls und 32 der Verfassung des Kantons Waadt wird die Gewährleistung des Bundes erteilt.

Art. 2 Der Bundesrat wird mit dem Vollzug dieses Beschlusses beauftragt.

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Bundesblatt. 111. Jahrg. Bd. I.

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1959

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05.03.1959

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