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No 40 #ST#

Bundesblatt

112. Jahrgang

Bern, den 6. Oktober 1960

Band II

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Ergänzungsbericht des

Bundesrates an die Kommission des Nationalrates über das Volksbegehren für die Einführung der Gesetzesinitiative im Bund (Vom 30.September 1960)

Herr Präsident !

Herren Nationalräte!

Am 29. Dezember 1959 legten wir der Bundesversammlung unsern Bericht über das Volksbegehren für die Einführung der Gesetzesinitiative im Bund vor und empfahlen ihr, das Begehren der Abstimmung des Volkes und der Stände mit dem Antrag auf Verwerfung zu unterbreiten, ohne einen Gegenvorschlag zu machen (BEI 1960, I, 861).

Die Kommission des Nationalrates, dem die Priorität zusteht, hat in ihrer Sitzung vom 10. und 11. Mai 1960 beschlossen, den Bundesrat um einen Ergänzungsbericht über die bei der Beratung im Hinblick auf die Ausarbeitung eines allfälligen Gegenvorschlages aufgeworfenen Fragen zu ersuchen. Insbesondere solle geprüft werden, «ob die Einführung der Gesetzesinitiative in der Form der allgemeinen Anregung zweckmässig sei, ob ein durch die Gesetzesinitiative ausgeübtes Vorschlagsrecht der Zustimmung der Mehrheit der Stände bedürfe und wie das gesamte Verfahren, namentlich in Rücksicht auf das Geschäftsverkehrsgesetz, zu regeln sei».

Es wird demnach vom Bundesrat erwartet, dass er sich zu den im Schosse der Kommission des Nationalrates aufgeworfenen Fragen im Hinblick auf einen allenfalls aufzustellenden Gegenvorschlag äussere.

Wir beehren uns, Ihnen hiermit den verlangten Bericht vorzulegen. · Bundesblatt. 112.Jahrg. Bd. II.

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874 I. Die Legitimation zur Ergreifung der Gesetzesinitiative

Nach Absatz l des von den Initianten vorgeschlagenen Verfassungsartikels soll die Gesetzesinitiative sowohl von 50 000 stimmberechtigten Bürgern als auch von acht Kantonen ergriffen werden können.

In unserm Bericht vom 29. Dezember 1959 haben wir dargetan, dass sich die Ergreifung der Gesetzesinitiative durch eine bestimmte Anzahl Kantone als unzweckmässig erwiese und die Zuerkennung dieses Eechts an die Kantone für diese nicht unbedeutende Umtriebe zur Folge hätte. Nachdem den einzelnen Kantonen und Halbkantonen schon nach geltendem Verfassungsrecht (Art. 98, Abs. 2) das gleiche Vorschlagsrecht zusteht wie jedem der beiden Bäte, jedem Batsmitglied sowie dem Bundesrat, dürften die Kantone an einer Befugnis, wie sie ihnen die Initianten einräumen möchten, ohnehin kaum stark interessiert sein. Auf das Initiativrecht der Kantone für Gesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse könnte man daher ohne Nachteil verzichten.

Dagegen fragt es sich, ob die vorgesehene Zahl von 50 000 gültigen Unterschriften nicht heraufgesetzt werden sollte. Für Verfassungsinitiativen sind zwar ebenfalls 50 000 (für das Gesetzesreferendum 30 000) gültige Unterschriften erforderlich, doch ist schon wiederholt eine Erhöhung dieser Zahl postuliert worden ; es sei beispielsweise an die Beratung der Vorlage über die Einführung des Frauenstimm- und -Wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten erinnert. Die Frage wird gegenwärtig im Zusammenhang mit der Gesamtrevision des Initiativrechtes neu geprüft und soll, wie wir bereits in unsern Botschaften vom 25. April 1960 über ein neues Geschäftsverkehrsgesetz (BB11960, I, 1449) und über eine Neufassung des Initiativengesetzes (BB11960,1,1481) ausgeführt haben, zusammen mit andern auf Verfassungsebene zu lösenden Problemen Gegenstand einer besondern Vorlage an die Bäte bilden. Bei dieser' Sachlage empfiehlt es sich nicht, die Frage einer allfälligen Erhöhung der für die Gesetzesinitiative vorgesehenen Unterschriftenzahl vorweg zu entscheiden ; vielmehr sollte das Ergebnis der vorerwähnten Prüfung abgewartet werden.

II. Der Gegenstand der Gesetzesinitiative

Der durch die Initiative vorgeschlagene Verfassungsartikel umschreibt den Gegenstand der Gesetzesinitiative sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. So soll mit dem neuen Volksrecht nur der Erlass, die Änderung oder die Aufhebung von Bundesgesetzen und allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen verlangt werden können (Abs.l), wogegen die Änderung oder die Aufhebung von Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen nicht zulässig sein soll; ebensowenig darf ein Begehren gegen die Bundesverfassung oder gegen staatsvertragliche Verpflichtungen des Bundes verstossen (Abs.2). Schliesslich hat sich ein Begehren auf eine einzige Gesetzesmaterie zu beschränken (Abs. 3).

Dass die Anwendung des Prinzips der Einheit der Materie auf der Gesetzesstufe nicht den gleichen Kriterien unterstellt werden kann wie auf der Verfassungsstufe, haben wir schon in unserm Bericht vom 29. Dezember 1959 dar-

875 gelegt. Dieses Prinzip erweist sich für die einfache Gesetzgebung in der Tat als ungeeignet, verstehe man die Einheit nun im formellen oder im materiellen Sinn. In einem allfälligen Gegenvorschlag sollte daher dieser Grundsatz keine Aufnahme finden.

Gemäss Artikel 89bls, Absatz l der Bundesverfassung kann die Bundesversammlung allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse - im Gegensatz zu den Bundesgesetzen - dringlich erklären, wenn deren Inkrafttreten zeitlich keinen Aufschub erträgt. Da in Absatz l des vorgeschlagenen Verfassungsartikels von allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen schlechthin die Eede ist, fragt es sich, ob nach der Meinung der Initianten auf dem Wege der Gesetzesinitiative auch der Erlass dringlicher allgemeinverbindlicher Bundesbeschlüsse soll verlangt werden können. Nach dem Wortlaut des Absatzes 6 des vorgesehenen Verfassungsteites zu schliessen, ist die Frage eher zu verneinen, da diese Bestimmung sämtliche von der Bundesversammlung gutgeheissenen Begehren dem fakultativen Eeferendum unterstellt. Aus dem Umstand, dass Absatz 6 nur den Artikel 89, Absatz 2, nicht aber auch den Artikel 89Ws, Absatz l der Bundesverfassung vorbehält, muss überdies geschlossen werden, dass nach der Absicht der Initianten auch die Bundesversammlung nicht befugt sein soll, einen auf dem Wege der Gesetzesinitiative vorgeschlagenen allgemeinverbindlichen Bundesbeschluss dringlich zu erklären. Es ist im übrigen auch äusserst unwahrscheinlich, dass die Bundesversammlung wirklich dringliche Aufgaben nicht von sich aus an die Hand nähme. Dass sich der Weg der Gesetzesinitiative für den Erlass dringlicher Bundesbeschlüsse ohnehin nicht eignete, braucht kaum näher begründet zu werden.

Auch wenn eine Klärung des Verhältnisses zwischen dem neuen Volksrecht und der Dringlicherklärung von allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen durch Auslegung möglich ist, kann man sich gleichwohl fragen, ob nicht, um der Gefahr verschiedener Interpretationen vorzubeugen, eine Präzi'sierung des vorgeschlagenen Verfassungstextes angezeigt wäre. Da nicht nur der Erlass, sondern auch die Änderung und die Aufhebung dringlicher Bundesbeschlüsse ausgeschlossen sein sollten, liesse sich eine Ergänzung des Absatzes l in dem Sinne in Erwägung ziehen, dass nach «allgemeinverbindlichen» der Passus «nicht dringlichen» eingefügt würde.
Schon bei der Beratung der bundesrätlichen Vorlage vom Jahre 1906 wurde die Frage diskutiert, ob eine Gesetzesinitiative die Aufhebung oder Abänderung eines Bundesgesetzes oder allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses jederzeit oder erst einige Jahre nach deren Inkrafttreten solle verlangen können (StenB 1906, Seiten 1308/1309, 1322 und 1326). Von der Erwägung ausgehend, dass es unklug wäre, ein Gesetz zu revidieren oder gar aufzuheben, bevor überhaupt feststehe, ob es sich bewähre oder nicht und ob sich allfällige «Schattenseiten» nicht ausgleichen lassen, schlug damals die Mehrheit der nationalrätlichen Kommission die Einführung einer Karenzfrist von drei Jahren vor. Eine solche Beschränkung kennen zum Beispiel auch die Verfassungen der Kantone Graubünden (zwei Jahre), St. Gallen (drei Jahre) und Wallis (vier Jahre). .

876 Diese Überlegung hat zweifellos etwas für sich. Überdies könnte eine abgelehnte Vorlage von den unterlegenen Initianten ohne eine derartige Beschränkung immer wieder zur Abstimmung gebracht werden, um dadurch den Stimmbürger zu ermüden und auf diese Weise seine Zustimmung zu erwirken. Auch könnte die jederzeitige Aufhebung oder Änderung eines Gesetzes oder Beschlusses unliebsame Störungen im Staatsleben herbeiführen. Auf der andern Seite muss man sich indessen fragen, ob die Einführung einer Karenzfrist nicht von einer gewissen politischen Ängstlichkeit zeugte. Gesetzen und Beschlüssen, gegen die das Eeferendum ergriffen wird, sichert normalerweise ein zustimmender Volksentscheid zum vorneherein eine gewisse Dauer, gleich wie ein verwerfender Volksentscheid geeignet ist, die Begelung der abgelehnten Materie auf Jahre hinaus zu verunmöglichen. Es blieben noch die Gesetze und Beschlüsse, über die keine Volksabstimmung verlangt wurde; doch auch eine Beschränkung der Wartezeit auf diese Erlasse könnte als politisch unerwünscht empfunden werden.

Sollte die Einführung einer Karenzfrist für die Änderung und Aufhebung von Gesetzen und allgemeinverbindlichen, nicht dringlichen Bundesbeschlüssen als zweckmässig erachtet werden, so Hesse sich dieser Absicht durch Ergänzung von Absatz l Bechnung tragen, indem beigefügt würde, dass die Aufhebung oder Änderung eines Bundesgesetzes oder allgemeinverbindlichen, nicht dringlichen Bundesbeschlusses frühestens fünf (eventuell drei) Jahre nach deren Inkrafttreten verlangt werden könne.

III. Die Form dei Gesetzesinitiative Dass das vorliegende Volksbegehren für die Gesetzesinitiative nur die Form des ausgearbeiteten Entwurfs zulassen will, nicht aber auch die der allgemeinen Anregung, ist nicht nur im bundesrätlichen Bericht vom 29. Dezember 1959, sondern auch im Schosse der Kommission des Nationalrates als Mangel empfunden worden.

Der Umstand, dass die Aktivbürgerschaft von der Möglichkeit, Verfassungsinitiativen in der Form der allgemeinen Anregung einzureichen, bisher nur in vier Fällen Gebrauch gemacht hat, lässt sich nicht für den Ausschluss dieselForm bei der Gesetzesinitiative anführen. Denn während der Verfassungsgesetzgeber die Grundzüge des Staatswesens zu normieren hat und dabei alle Einzelheiten der einfachen Gesetzgebung überlässt, kommt dem einfachen
Gesetzgeber die Aufgabe zu, die ganze Vielgestaltigkeit der Rechtsmaterie im Eahmen der Verfassung zu regeln! Die Statuierung einzelner Grundsätze oder eines allgemeinen Programms ist mit andern Worten in der Eegel wesentlich einfacher als die Aufstellung eines Gesetzestextes. Abgesehen hiervon hat die Praxis der Verfassungsinitiative gezeigt, dass auch ausgearbeitete Verfassungstexte mitunter unzureichend redigiert sind. Dem könnte allerdings( entgegengehalten werden, dass die Bundesversammlung einem mangelhaft redigierten Text einer Gesetzesinitiative nach Absatz 7 des vorgeschlagenen Verfassungsartikels einen

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Gegenentwurf gegenüberstellen und damit die erforderliche Korrektur vornehmen könne. Allein man muss sich ernsthaft fragen, ob es nicht einfacher und zweckmässiger wäre, die rechtliche Gestaltung in jedem Fall der Bundesversammlung zu überlassen, anstatt von vorneherein den Ausweg über einen Gegenvorschlag in Eechnung zu stellen.

Diese Frage dürfte um so berechtigter sein, als die Vorbereitung und Entwerfung eines Gesetzes anerkanntermassen hohe Anforderungen stellen imd die Beherrschung der betreffenden Materie voraussetzen. Wir haben schon in unserm Bericht vom 29. Dezember 1959 erörtert, dass ohne Verständnis für die Methoden der Eechtssetzung und ohne Sinn für das System des Eechts kaum erspriessliche gesetzgeberische Arbeit geleistet werden könne, handle es sich nun um den Erlass eines ganzen Gesetzes oder bloss um die Eevision einzelner Bestimmungen. Für diese anspruchsvolle Arbeit stehen heute einerseits die Verwaltung und anderseits die beiden Kammern der Bundesversammlung zur Verfügung. Ein Verzicht auf die Form des ausgearbeiteten Entwurfs hätte überdies den Vorteil, dass die Frage, in welche Form der zu erlassende Eechtssatz zu kleiden sei, nicht von den Initianten entschieden, sondern von der Bundesversammlung gelöst werden müsste, und dass das Mitwirkungsrecht des Parlaments als der gesetzgebenden Behörde bei der Ausarbeitung von Gesetzes- und Beschlussestexten gewährleistet bliebe.

Wollte man daher einer verfassungsmässigen Eegelung der Gesetzesinitiative grundsätzlich zustimmen, so sollte unseres Erachtens nur die Form der allgemeinen Anregung zugelassen werden, auch wenn diese in ihrer verfahrensrechtlichen Abwicklung einen vermehrten Aufwand erfordert. Die Befürchtung, dass die Bundesversammlung aus einer allgemeinen Anregung etwas machen könnte, das dem Willen der Initianten überhaupt nicht mehr entspräche, halten wir für unbegründet.

IV. Die Gültigkeit der Gesetzesinitiative Damit eine Gesetzesinitiative als gültig betrachtet und damit zur Abstimmung gebracht werden kann, darf sie gemäss Absatz 2 des durch die Initiative vorgeschlagenen neuen Verfassungsartikels weder gegen die Bundesverfassung noch gegen staatsvertragliche Verpflichtungen des Bundes verstossen, noch eine Änderung oder Aufhebung von Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen verlangen.

Nach.unsern Ausführungen im
Bericht vom 29. Dezember 1959 würde sich eine Ergänzung dieser Bestimmung schon insofern aufdrängen, als nicht nur vertragliche, sondern auch ausservertragliche völkerrechtliche Pflichten respektiert werden müssten.

Ergäbe die Prüfung einer Initiative, dass für die Verwirklichung des Anliegens der Initianten weder die Form des Bundesgesetzes noch die des allgemeinverbindlichen, nicht dringlichen Bundesbeschlusses zu wählen wäre, son-

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dem jene des einfachen Bundesbeschlusses oder dos Beschlusses der Bundesversammlung, so sollte das Begehren ebenfalls ungültig erklärt werden.

Als verfassungswidrig und damit als ungültig hätte sowohl ein Begehren zu gelten, das gegen eine positive Verfassungsnorm verstösst, als auch eines, dem die verfassungsrechtliche Grundlage überhaupt fehlt. MUSS die verfassungsrechtliche Grundlage erst geschaffen werden, so ist nämlich nicht der Weg der Gesetzesinitiative, sondern jener der Verfassungsinitiative einzuschlagen.

Wollte man die Einheit der Materie - entgegen unsern Darlegungen unter Ziffer II - in einen allfälligen Gegenentwurf aufnehmen, so müsste wohl auch die Wahrung dieses Grundsatzes zu den Gültigkeitserfordernissen gezählt werden.

Bei der Verfassungsinitiative haben Bundesrat und Bundesversammlung in einem konkreten Fall (Volksinitiative für eine Eüstungspause) auch die Durchführbarkeit als Gültigkeitsvoraussetzung angesehen, in der Meinung, dass undurchführbare Aufgaben nicht in den Bereich staatlicher Tätigkeit fallen, weshalb darüber vernünftigerweise auch keine Volksabstimmung stattfinden könne (BB1 1955, II, 341). Dabei scheint man im Ständerat vor allem an eine zeitliche Durchführbarkeit gedacht zu haben (StenB StE 1955, Seite41).

Es liesse sich überlegen, ob bei der Gesetzesinitiative die Durchführbarkeit nicht ausdrücklich als Gültigkeitserfordernis statuiert werden sollte. Da die Frage der Durchführbarkeit bereits im Zusammenhang mit der Eevision des Verfassungsinitiativrechts geprüft wird, dürfte sich eine Sonderregelung für die Gesetzesinitiative jedoch kaum empfehlen.

Eine andere Frage ist, welche Instanz zur Gültig- bzw. Ungültigerklärung einer Gesetzesinitiative zuständig sein soll. Die von den Initianten vorgeschlagene Verfassnngsbestimmung spricht die Entscheidungsbefugnis in Absatz 5 der Bundesversammlung zu. Diese Lösung hat schon in unserm Bericht vom 29.Dezember 1959 eine kritische Würdigung erfahren; auch in der vorberatonden Kommission des Nationalrates sind Bedenken geäussert worden. Es wird ihr vor allem entgegengehalten, als einer politischen Behörde gehe der Bundesversammlung die nötige Unbefangenheit ab; einem politischen Gremium den Entscheid über Eechtsfragen zu übertragen, sei nicht ratsam. Mit der Prüfung der Gültigkeit sei vielmehr eine richterliche
Instanz, nämlich das Bundesgericht als Staatsgerichtshof, zu betrauen.

Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Norm wird in Literatur und Praxis angenommen, dass auf Grund des heute geltenden Eechts zur Prüfung der Gültigkeit von Verfassungsinitiativen die Bundesversammlung zuständig sei.

Obschon sich diese Zuständigkeit schon aus den Artikeln 71 und 84 der Bundesverfassung ergibt, hielten wir es für zweckmässig, in unserer Botschaft zum neuen Geschäftsverkehrsgesetz die Aufnahme einer entsprechenden ausdrücklichen Bestimmung in dieses Gesetz vorzuschlagen (BB11960, I, 1449, Art. 28).

Nach erneuter Prüfung gelangen wir zum Schluss, dass die gleiche Zuständigkeitsordnung auch bei Gesetzesinitiativen gelten sollte.

Zwar mag es zutreffen, dass im Zusammenhang mit Gesetzesinitiativen mitunter recht heikle Eechtsfragen zu lösen wären, wofür sich ein Gericht besser

879 eignen würde als eine politische Behörde. Auf der andern Seite ist aber zu bedenken, dass bei vielen Fragen auch gesetzgebungspolitische Gesichtspunkte zu berücksichtigen wären, die die gesetzgebenden Bäte wohl eher zu beurteilen vermöchten als der Eichter. Sodann dürfte die Befürchtung, die Bundesversammlung könnte als Eichter in eigener Sache allzu leicht dazu neigen, eine Gesetzesinitiative, wenn immer möglich, ungültig zu erklären, der Begründung entbehren; bei Verfassungsinitiativen hat die Bundesversammlung bisher jedenfalls die Tendenz gezeigt, die Gültigkeitsvoraussetzungen sehr wohlwollend zu prüfen. Schliesslich entscheidet die Bundesversammlung über die Verfassungsmässigkeit ihrer eigenen Erlasse ebenfalls selber; dass dabei weniger schwierige Fragen zur Beurteilung stehen, als dies bei Gesetzesinitiativen der Fall wäre, wird nicht ernsthaft behauptet werden können.

Die sich stellenden Eechtsfragen vom Bundesgericht bloss begutachten zu lassen, fiele ohnehin ausser Betracht. Denn abgesehen davon, dass damit praktisch nicht viel gewonnen wäre, weil der Entscheid immer noch von der politischen Behörde auszugehen hätte, stünde es mit dem Prinzip der Gewaltentrennung kaum im Einklang, das Bundesgericht mit der Ausarbeitung von Gutachten zuhanden der Bundesversammlung zu beauftragen. In Frage käme also nur eine Lösung, die das Bundesgericht mit Entscheidungsbefugnis ausstatten würde. Wie schon erwähnt, geben wir aber, immer vorausgesetzt, dass man der Einführung der Gesetzesinitiative zustimmen wollte, der in Absatz 5 des von den Initianten beantragten Verfassungsartikels 93Ws vorgesehenen Zuständigkeitsordnung den Vorzug, um so mehr, als die in unserer Botschaft zum neuen Geschäftsverkehrsgesetz vorgeschlagene parlamentarische Verfassungsdelegation besonders geeignet wäre, zuhanden der Bundesversammlung Eechtsfragen zu begutachten, die bei der Behandlung von Gesetzesinitiativen auftauchen könnten.

Im übrigen wird die Frage der Zuständigkeit zur Gültig- bzw. Ungültigerklärung ebenfalls im Zusammenhang mit der Gesamtrevision des Verfassungsinitiativrechts geprüft.

V. Die Mitwirkung der Stände

Würde für die Gesetzesinitiative nur die Form der allgemeinen Anregung zugelassen, so hätte das den nicht .zu unterschätzenden Vorteil, dass die Bundesversammlung und damit auch der Ständerat von der Mitwirkung an der durch eine Gesetzesinitiative ausgelösten Gesetzgebung nicht ausgeschlossen bliebe.

Denn es wäre dann in jedem Fall Sache der beiden Eäte, den Gesetzes- oder Beschlussestext auszuarbeiten und ihn in die geeignete Eechtsform zu kleiden.

Dass sich eine solche Lösung sowohl angesichts des Zweikammersystems als auch im Hinblick auf den föderalistischen Aufbau unseres Staates empfehlen würde, haben wir schon in unserm Bericht vom 29. Dezember 1959 dargelegt.

Anders verhält es sich dagegen mit dem Vorschlag,' aus Volksbegehren herrührende Gesetze und Beschlüsse gleich wie Verfassungsvorlagen dem Volks-

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und dem Ständemehr zu unterwerfen. Abgesehen davon, dass die Verwirklichung dieses Postulates der tragenden Idee der Gesetzesinitiative widerspräche, hätte sie eine Verwischung zwischen Verfassungsgesetzgebung und einfacher Gesetzgebung zur Folge, ist doch das Ständemehr nach geltendem Eecht nur für die Annahme von Verfassungsvorlagen, nicht aber auch von Gesetzen und allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen erforderlich. Bekanntlich hatte sich der Bundesrat bereits in seiner Botschaft vom Jahre 1906 gegen den Gedanken des Ständemehrs ausgesprochen: «Durch die Einführung der Gesetzesinitiative wird der Schwerpunkt der Gesetzgebung in das Volk verlegt, und es ist deshalb logisch, dass die Volksmehrheit allein entscheide; ein Verfahren, wonach auch das Ständemehr in Betracht käme, würde nur zu Konflikten führen» (BEI 1906, III, 32). Diese Überlegungen gelten immer noch, weshalb sich die von der Kommission des Nationalrates erwogene Lösung auch heute nicht rechtfertigen würde.

VI. Verfahrensfragen Bei der Verfassungsinitiative unterscheiden Wissenschaft und Praxis zwischen formellen Voraussetzungen einerseits und materiellen anderseits. Die formellen Voraussetzungen oder Zulässigkeitserfordernisse beziehen sich auf die Form, die materiellen oder Gültigkeitserfordernisse auf den Inhalt der Initiative.

Sind die Formerfordernisse erfüllt, so ist die Initiative zulässig und damit zu stände gekommen; sind auch die materiellen erfüllt, so ist die zustande gekommene Initiative gültig.

Es sind keine Gründe ersichtlich, die bei der Gesetzesinitiative eine andere Betrachtungsweise verlangen würden. Zu den Gültigkeitserfordernissen haben wir uns bereits unter Ziffer IV des vorliegenden Berichts geäussert. Was die Formerfordernisse betrifft, so wäre vorab die vorgeschriebene Zahl der gültigen Unterschriften dazuzuzählen, für deren" Feststellung eine analoge Eegelung getroffen werden könnte, wie sie bei Verfassungsinitiativen besteht; wir verweisen auf die Artikel 4 und 5 unseres Entwurfs vom 25.April 1960 zu einer Neufassung des Bundesgesetzes über das Verfahren bei Volksbegehren auf Kevision der Bundesverfassung (BB11960, I, 1431). Als weiteres Formerfordernis wäre die genaue Bezeichnung des Gegenstandes des Begehrens anzusehen.

Immer von der Annahme ausgehend, dass nur die Form der allgemeinen Anregung
zugelassen würde, bedeutete dieses Erfordernis, dass mit der Initiative der Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines Bundesgesetzes oder allgemeinverbindlichen, nicht dringlichen Bundesbeschlusses angeregt werden müsste und die Initianten ihren Willen dabei klar zum Ausdruck zu bringen hätten; die entsprechende Bestimmung könnte materiell gleich lauten wie Artikel l des vorerwähnten Gesetzesentwurfes vom 25. April 1960.

In der schon mehrmals zitierten Botschaft zum neuen Geschäftsverkehrsgesetz haben wir vorgeschlagen, den Entscheid über das Zustandekommen einer Verfassungsinitiative inskünftig dem Bundesrat zu überlassen (Art.21 des Ent-

881 wurfs). Die nämliche Eegelung könnte auch bei Gesetzesinitiativen zur Anwendung gelangen.

Für die Behandlung von Gesetzesinitiativen durch die Bundesversammlung wären ebenfalls Verfahrensvorschriften aufzustellen : Wie wäre zum Beispiel vorzugehen, wenn die Stellungnahmen der Eäte zur Gültigkeit einer Gesetzesinitiative einmal voneinander abwichen ? Die im Schosse der nationalrätlichen Kommission vertretene Auffassung, dass man eine Initiative in einem solchen Fall als hinfällig betrachten müsste, findet zum mindesten-im Wortlaut des vorgeschlagenen Verfassungsartikels keine Stütze.

Aus dem Umstand, dass nur gültige Volksbegehren zur Abstimmung zu bringen wären und dass die Bundesversammlung über die Gültigkeit zu entscheiden hätte, darf nicht einfach abgeleitet werden, eine Initiative sei schon dann als ungültig zu betrachten, wenn ein Eat ihre Gültigkeit verneint. Vielmehr hätte das ordentliche Differenzenbereinigungsverfahren Platz zu greifen, es wäre denn, eine ausdrückliche Vorschrift sähe eine abweichende Eegelung vor. Eine solche haben wir mit Bezug auf den Entscheid über die Gültigkeit von Verfassungsinitiativen angeregt, des Inhalts, dass die Meinungsverschiedenheit nach zweimaliger und immer noch voneinander abweichender Stellungnahme zugunsten der Gültigkeit des Volksbegehrens entschieden sein soll (BB1 1960, I, 1449, Art.23). Die gleiche Lösung würde sich auch für die Gesetzesinitiative empfehlen, weil auch hier eine Mittellösung zwischen den Auffassungen der beiden Eäte nicht möglich ist und das ordentliche Verfahren -unter Umständen zu gar keinem Ergebnis führt. Jedenfalls wäre eine Sonderregelung unumgänglich, wenn man das übliche Verfahren ausgeschaltet haben möchte.

Das Verfahren, das nach der Gültigerklärung Platz zu greifen hätte, könnte wie folgt gestaltet werden: Stimmt die Bundesversammlung der Anregung zu, so erlässt sie ein entsprechendes Gesetz oder einen entsprechenden Bundesbeschluss. DerErlass erhält unter Vorbehalt des Artikels 89, Absatz 2 der Bundesverfassung Gesetzeskraft. Lehnt die Bundesversammlung die Anregung ab oder kommt ein übereinstimmender Beschluss nicht zustande, so. entscheidet das Volk darüber, ob der Anregung Folge zu geben sei. Spricht sich dabei die Mehrheit der stimmenden Bürger für die Anregung aus, so arbeitet die Bundesversammlung ein
entsprechendes Gesetz oder einen entsprechenden Bundesbeschluss aus. Der Erlass unterliegt ebenfalls dem fakultativen Eeferendum. Kommt es zwischen den Bäten zu Meinungsverschiedenheiten über den Text des ausgearbeiteten Erlasses, so gelangen die Bestimmungen über das Differenzenbereinigungsverfahren zur Anwendung (Art. 16-20 unseres Entwurfs zum neuen Geschäftsverkehrsgesetz). Das hat zur Folge, dass im Falle einer Nichteinigung der Erlass und damit auch das Volksbegehren als gescheitert betrachtet werden muss. Wollte man ein solches unbefriedigendes Ergebnis vermeiden, so müsste eine entsprechende Sonderregelung getroffen werden.

Wie bei der Verfassungsinitiative, könnten der Bundesversammlung auch für die Behandlung einer Gesetzesinitiative Fristen gesetzt werden.

882 Soweit sich die Verfahrensvorschriften an den Bundesrat und an die Bundesversammlung wenden, erschiene es aus praktischen und systematischen Gründen als angezeigt, sie ins Geschäftsverkehrsgesetz einzubauen. Sie wären - nach unserm Entwurf vom 25. April 1960 - in das Kapitel II «Geschäftsverkehr zwischen Nationalrat und Ständerat» aufzunehmen, und zwar unter einer neuen Ziffer 5bls als Artikel 28bls ff. Für jene Vorschriften, welche den Stimmbürger und die zuständigen Gemeindebehörden angehen, wäre dagegen ein eigenes Bundesgesetz erforderlich, das entsprechend unserm Entwurf zu einer Neufassung des Bundesgesetzes über das Verfahren bei Volksbegehren auf Eevision der Bundesverfassung gestaltet oder sogar mit diesem zusammengelegt werden könnte.

Eine Verfassungsbestimmung zur Einführung der Gesetzesinitiative würde gemäss den von der Kommission des Nationalrates aufgeworfenen Fragen und unsern vorstehenden Ausführungen wie folgt lauten können : Art. 93b>s · Fünfzigtausend stimmberechtigte Bürger haben das Recht, den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines Bundesgesetzes oder eines allgemeinverbindlichen, nicht dringlichen Bundesbeschlusses zu verlangen.

Das Begehren ist als allgemeine Anregung einzureichen.

Es ist nur gültig, wenn es seinem Inhalte nach in die Form des Bundesgesetzes oder des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses gekleidet werden kann und wenn es nicht gegen die Bundesverfassung oder völkerrechtliche Verpflichtungen verstösst.

Auch darf es nicht die Änderung oder Aufhebung von Verwaltungsakten oder Gerichtsurteilen verlangen.

Die Prüfung der Gültigkeit ist Sache der Bundesversammlung.

Ist die Bundesversammlung mit dem Begehren einverstanden, so arbeitet sie ein entsprechendes Gesetz oder einen entsprechenden Bundesbeschluss aus ; der Erlass erhält unter Vorbehalt des Artikel 89, Absatz 2 Gesetzeskraft. Lehnt die Bundesversammlung das Begehren ab oder kommt ein übereinstimmender Beschluss nicht zustande, so ist die Frage, ob dem Begehren Folge zu geben sei, dem Volk zum Entscheid vorzulegen. Spricht sich die Mehrheit der stimmenden Bürger für das Begehren aus, so arbeitet die Bundesversammlung ein entsprechendes Gesetz oder einen entsprechenden Bundesbeschluss aus; der Erlass erhält unter Vorbehalt des Artikels 89, Absatz 2 Gesetzeskraft.

Der Bundesrat legt jedoch Wert auf die Feststellung, dass der vorliegende Ergänzungsbericht seine Stellungnahme vom 29.Dezember 1959 zum Volksbegehren für die Einführung der Gesetzesinitiative im Bund in keiner Weise ändert. Insbesondere aus dem Hinweis auf die Unvereinbarkeit des Erfordernisses des Ständemehrs mit dem Charakter der Gesetzesinitiative geht hervor, dass die Gesetzesinitiative zu einer Gewichtsverschiebung unter den gegen-

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wärtig zur Gesetzgebung berufenen Instanzen des Bundes führen müsste. Der Bundesrat vertritt nach wie vor den Standpunkt, dass dieses Begehren Volk und' Ständen mit dem Antrag auf Verwerfung und ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung unterbreitet werden solle.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, Herren Nationalräte, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 30. September 1960.

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Im Namen des Schweizerischen Bundesrates, Der Bundespräsident : Max Petitpierre Der Bundeskanzler: Ch. Oser

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