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Schweizerisches Bundesblatt.

44. Jahrgang. IV.

Nr. 44.

26. Oktober 1892.

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Druck und Expedition der Buchdruckerei Karl Stämpfli & de. in Bern.

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Bericht des

Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die Unterstellung der Verbrechen des Hochverrathes gegen den Kanton Neuenburg und des Aufruhrs und der Gewaltthat gegen die neuenburgischen Staatsbehörden unter die eidgenössische Strafgerichtsbarkeit in Fällen, wo eine bewaffnete eidgenössische Intervention .nicht stattgefunden hat.

(Vom 18. Oktober 1892.)

Tit.

,

Mit Zuschrift vom 16. Mai 1892 hat uns der h. Staatsrath des Kantons Neuenburg folgende Eröffnung gemacht: Artikel 115 des neuenburgischen Strafgesetzes vom 12. Februar 1891 lautet: ,,Hat keine eidgenössische Intervention stattgefunden, so wird ein Unternehmen, welches bezweckt, durch verfassungswidrige und gewaltsame Mittel die Kantonsverfassung oder eine der verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalten des Kantons umzustürzen, nach Maßgabe der folgenden Artikel bestraft.

,,Die kantonalen Gerichte werden indessen die strafrechtliche Verfolgung nur dann eintreten lassen, wenn die eidgenössische Gerichtsbarkeit es abgelehnt hat, sich mit der Sache zu befassen.

Immerhin wird die neuenburgische Behörde in allen Fällen die zur Erhebung des Thatbestandes erforderlichen einstweiligen Verfügungen treffen. a Bundesblatt. 44. Jahrg. Bd. IV.

46

600 Die Artikel 116 bis 121 des neuenburgischen Gesetzes bestimmen die Strafen, mit welchen die in Artikel 115 vorgesehenen Verbrechen bedroht sind.

Demgemäß wird der Bundesversammlung das Gesuch unterbreitet, sie möge in Anwendung von Artikel 33 des Bundesgesetzes vom 27. Juni 1874, betreffend die Organisation der Bundesrechtspflege, ihre Zustimmung dazu ertheilen, daß die genannten politischen Verbrechen, sofern sie ohne eine bewaffnete eidgenössische Intervention zu veranlassen im Kanton Neuenburg verübt werden, dem Bundesgerichte zur Beurtheilung überwiesen werden.

Zur Begründung dieses Gesuches bemerkt der Staatsrath: .,,Der neuen burgische Gesetzgeber hat sich von dem Gedanken leiten lassen, daß es riothwendig sei, in politischen Prozessen die Handhabung der Justiz mit der größtmöglichen Summe von Garantien zu umgeben. Es schien ihm durchaus geboten, politische Angeklagte nicht durch diejenigen richten zu lassen, welche, mit Recht oder Unrecht, als deren nächste Gegner betrachtet werden können.

In dieser Beziehung stallt sich die eidgenössische Gerichtsbehörde als die unparteiischere dar, da sie dem Schauplätze der Ereignisse ferner steht, von den Einwirkungen der entzündeten Leidenschaften und der in der Sache betheiligten Interessen viel weniger berührt wird als die kantonale Justiz. Weit entfernt, die Abneigung gegen eine Vermehrung der Kompetenzen des Bundes auf diesem Gebiete zu theilen, welche sich vor einigen Jahren kundgegeben hat, halten wir es im Gegentheil für eine Pflicht der kantonalen Behörden, eine Wiederholung jener Justizskandale zu verhüten, die in der Schweiz ein so peinliches Aufsehen erregt haben.a Der Staatsrath schließt mit den Worten : ,,Uebrigens geht unsere Hoffnung dahin, das neuenburgische Volk werde jederzeit so viel Klugheit besitzen, so viel Achtung vor seinen selbstgewählten Einrichtungen bewahren, daß die eidgenössischen Strafgerichtsbehörden nicht in die Notwendigkeit versetzt werden, von der ihnen übertragenen Kompetenz Gebrauch zu machen.tt Da die Bundesanwaltschaft Zweifel darüber äußerte, welches Recht, das Bundesstrafrecht oder das kantonale Strafrecht, in den einschlägigen Fällen nach Maßgabe der Bestimmungen des neuenburgischen Gesetzes anwendbar sein würde, richtete unser Justizund Polizeidepartement am 19. Mai 1892 an den Staatsrath von Neuenburg
die Bitte um Mittheilung seiner Auffassung.

Die Antwort wurde unterm 27. Maiertheilt; sie ist sehr bestimmt gehalten und lautet dabin, daß in den im zweiten Absatz des Art. 115

601 des neuenburgischen Strafgesetzes vorgesehenen Fällen vom Bundesgerichte die Bestimmungen dieses kantonalen Gesetzes anzuwenden sein werden.

Um sein Gutachten in dieser Angelegenheit ersucht, ließ sich das Bundesgericht in einem Schreiben an den Bundesrath vom 18. Juni vernehmen wie folgt: ,,Der Genehmigung der Bestimmungen des neuenburgischen Strafgesetzes, wonach die Beurtheilung von Verbrechen gegen die innere Sicherheit dieses Kautons dem Bundesgerichte übertragen werden soll, steht unseres Ermessens ein Bedenken nicht entgegen.

Wir gehen auch darin mit dem Staatsrathe des Kantons Neuenburg einig, daß das Bundesgericht in diesen Fällen in materieller Hinsicht die Vorschriften des kantonalen und nicht des eidgenössischen Strafrechts (welches gar keine zutreffenden Bestimmungen enthält) anzuwenden hat. Dagegen erscheint uns als selbstverständlich, daß für das Verfahren in seinem ganzen Verlaufe (Voruntersuchung, Zwischen- und Hauptverfahren) nicht die Vorschriften des kantonalen, sondern des eidgenössischen Strafverfahrens gelten, daß inbesondere der eidgenössische Untersuchungsrichter, die eidgenössische Staatsanwaltschaft, das eidgenössische Geschwornengericht und nicht die entsprechenden kantonalen Beamten und Behörden zu funktioniren haben. Einer ausdrücklichen Normirung möchte vielleicht die Frage bedürfen, ob für Beginn und Sistirung einer Untersuchung, wie dieß Artikel 4 und 29 der Bundesstrafrechtspflege für politische Strafsachen eidgenössischen Rechts vorschreiben, die Entscheidung des Buudesrathes einzuholen sei oder vielleicht die kantonale Regierung an dessen Stelle trete. Ebenso dürfte es sich empfehlen, darüber ausdrückliche Bestimmung zu treffen, daß die Kosten des Prozesses nicht, wie in Strafsachen eidgenössischen Rechts, vom Bunde, sondern vom Kantone zu tragen seien. Im Uebrigen gibt uns dieser erste Antrag eines Kantons auf Anwendung des Art. 33 0.-G-. zu Bemerkungen keine Veranlassung; die Geschäftslast des Bundesgerichts wird durch dessen Genehmigung voraussichtlich und hoffentlich eine nennenswerthe Vermehrung nicht erfahren, während das Vertrauen, welches der Kanton dadurch dem eidgenössischen Gericht bezeugt, zu begrüßen ist."

Wir sind mit dem Bundesgerichte einverstanden, daß in den beiden, von ihm namhaft gemachten Punkten eine ausdrückliche NormiruDg wünschenswerth
erscheint.

Man kann zwar füglich der Ansicht sein, daß, wenn für das Verfahren in seinem ganzen Verlaufe die Vorschriften des Bundesstrafprozeßgesetzes zur Anwendung kommen, dieß auch für den Artikel 4 dieses Gesetzes gelten müsse. Und es spricht hiefür auch

602 der innere Grund, daß der Vorentscheid betreffend die Verfolgung eines politischen Vergehens richtiger in die unparteiischen Hände des Bundesrathes gelegt als einer kantonalen Behörde überlassen wird.

Hinsichtlich der Kostenfrage ist vielleicht eine ausdrückliche Bestimmung eher nothwendig.

Um übrigens dießfalls keinen Zweifel bestehen zu lassen, haben wir mit Schreiben vom 19. August d. J. den neuenburgischen Staatsrath ersucht, sich darüber auszusprechen, ob er in den zwei berührten Punkten mit dem Bundesgericht und uns einig gehe. Der Staatsrath antwortete am 27. September im Sinne vollständiger Zustimmung, indem er die rechtliche Behandlung der in Frage liegenden Straffälle folgendermaßen skizzirte: 1. Urtheilsfällung durch die Gerichte der Eidgenossenschaft; 2. Anwendung der Bundesstrafprozeßordnung; 3. Anwendung des kantonalen materiellen Strafrechts; 4. Kostentragung durch den Kanton.

Wir beantragen, in dem von Ihnen zu fassenden Bundesbeschlusse von der Uebereinstimmung der Kantonsbehörde mit der Bundesbehörde in den genannten Punkten Akt zu nehmen und ausdrücklich zu erklären, unter welchen Bedingungen die Bundesversammlung zu der von Neuenburg gewünschten Uebertragung der Jurisdiktion an die eidgenössischen Gerichte ihre Zustimmung ertheilt.

Der Staatsrath des Kantons Neuenburg stellt sein Gesuch unter Berufung auf Artikel 33 des gegenwärtig in Kraft bestehenden Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege, welcher also lautet : ,,Das Bundesgericht ist verpflichtet, dieBeurtheilung auch anderer als der im Artikel 32 genannten Straffälle zu übernehmen, wenn solche durch die Verfassung oder die Gesetzgebung eines Kantons ihm zugewiesen werden und die Bundesversammlung hiezu ihre Zustimmung ertheilt.a Der Kanton Neuenburg hat demnach das gesetzmäßige Recht, zu verlangen, daß die Bundesversammlung sich sofort über sein Begehren ausspreche.

' Allerdings befindet sich das Organisationsgesetz über die Bundesrechtspflege dermalen in Revision.

Allein das kann keinen Grunl bilden, das neuenburgische, auf das bestehende Gesetz sich gründende Begehren nicht sofort zu erledigen.

603

Sollte das revidirte Gesetz eine Bestimmung, wie sie Artikel 33 des gegenwärtigen Gesetzes enthält, nicht mehr kennen, so würde einfach ein dem neuenburgischen Gesuche stattgebender Bundesbeschluß mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes hinfällig werden.

Der Eintritt dieser Eventualität ist indessen nicht wahrscheinlich.

Sowohl nach dem Entwurfe des Bundesrathes vom 5. April 1892 als auch nach dem Beschlüsse des Ständerathes vom 15. Juni und dem Antrage der nationalräthlichen Kommission (Artikel 103) wird die fragliche Bestimmung beibehalten.

Da wir mit dem Bundesgericht finden, es seien keine Gründe vorhanden, aus denen das Gesuch von Neuenburg abzulehnen wäre, so beantragen wir Ihnen, demselben durch Annahme des unten folgenden Bundesbeschlußentwurfes zu entsprechen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 18. Oktober

1892.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Hauser.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

604

(Entwurf.)

Bnndesbeschluß betreffend

die Unterstellung der Verbrechen des Hochverrathes gegen den Kanton Neuenburg und des Aufruhrs und der Gewaltthat gegen die neuenburgischen Staatsbehörden unter die eidgenössische Strafgerichtsbarkeit in Fällen, wo eine bewaffnete eidgenössische Intervention nicht stattgefunden hat.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht: a. eines Gesuches des Staatsrathes des Kantons Neuenburg vom 16. Mai 1892, dahingehend: Es sei die Gerichtsbarkeit in Hinsicht auf die vom neuenburgischen Strafgesetz in Artikel 115, Absatz l, vorgesehenen Verbrechen des Hochverrathes gegen den Kanton und des Aufruhrs und der Gewaltthat gegen die Kantonsbehörden dem Bundesgerichte zu übertragen; 6. des Artikel 115 des neuenburgischen Strafgesetzbuches vom 12. Februar 1891 ; c. der zwischen dem neuenburgischen Staatsrathe und dem Bundesrathe, bezw. dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartemente in dieser Angelegenheit gewechselten Korrespondenz, woraus die Uebereinstimmung der Kantonsbehörde und der Bundesbehörde in Bezug auf die im Dispositiv dieses Beschlusses unter Ziffer II, l und 2, genannten Punkte erhellt ;

605 in Anwendung von Artikel 33 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 27. Juni 1874 ; auf den Bericht und Antrag des Bundesrathes vom 18. Oktober 1892, beschließt: 1. Dem Gesuche des Staatsrathes des Kantons Neuenburg wird im Sinne der unter Ziffer II, l und 2, enthaltenen Bestimmungen entsprochen.

II. 1. Bei Behandlung der der eidgenössischen Gerichtsbarkeit unterstellten Straffälle richtet sich das Verfahren in seinem ganzen Verlaufe (Voruntersuchung, Zwischen- und Hauptverfahren) ausschließlich nach den Vorschriften der Bundesgesetzgebiing. Dagegen sind in Bezug auf das materielle Strafrecht die Bestimmungen des neuenburgischen Strafgesetzbuches anzuwenden.

2. Die Kosten des Verfahrens, soweit sie nach den Vorschriften des eidgenössischen Gesetzes dem Bunde auffallen würden, werden vom Kanton Neuenburg getragen.

III. Dieser Beschluß ist dem Staatsrath des Kantons Neuenburg, für ihn und zu Händen des neuenburgischen Großen Käthes, sowie dem Schweizerischen Bundesgerichte :zur Kenntnißnahme und Nachachtung mitzutheilen.

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26.10.1892

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599-605

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