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Schweizerisches Bundesblatt.

52. Jahrgang. IV.

Nr. 40.

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3. Oktober 1900.

Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend den Rekurs des Karl Jahn, Fürsprecher in Bern, gegen den Beschluß des Bundesrates vom 7. Juli 1900, über seine Beschwerde gegen die vom Regierungsrate des Kantons Bern erteilte Genehmigung der Gemeindeordnung der Stadt Bern vom 10. November 1899 (Wahl des Stadtrates auf dem Wege des Proportionalwahlverfahrens).

(Vom 2. Oktober 1900.)

Tit.

I.

Durch Beschluß vom 7. Juli 1900 erklärte der Bundesrat die Beschwerde des Fürsprechers Karl Jahn, in Bern, gegen die regierungsrätliche Genehmigung der bernischen Gemeindeordnung vom 10. November 1899 als unbegründet. Der Beschwerdeführer hatte gegen diejenigen Bestimmungen der erwähnten Genieindeordnung, welche sich auf die Wahl des Stadtrates auf dem Wege des Proportionalwahlverfahrens beziehen, Beschwerde erhoben, mit dein Antrage, es seien dieselben als unzulässig zu erklären. In seiner Rekursschrift an die h. Bundesversammlung hält Jahn sowohl seinen Antrag als auch dessen Begründung aufrecht. Indem wir auf die Rekursschrift selbst verweisen, fassen wir kurz deren Inhalt zusammen : Bundesblatt.

52. Jahrg. Bd. IV.

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90 a. Es ist selbstverständlich, daß der Rekurs sich nicht darauf gründen kann und will, es sei in der vorliegenden Sache die kantonale Gesetzgebung falsch angewendet oder verletzt worden ; Rekurrent beruft sich vielmehr einzig auf die zutreffenden Bestimmungen der bornischen und der Bundesverfassung. Immerhin mag nicht ohne Interesse sein, folgenden Entwicklungsgang der Wahlart des Stadtrates von Bern zu skizzieren: Nach dem Gemeindegesetz vom Jahre 1852 und dem Ergänzungsgesetze von 1884 ist die Wahl des Stadtrates ein Gegenstand der Gemeindeversammlung. Das galt in allen Beziehungen. In aktiver und passiver Richtung war die Gemeinde an keinerlei Vorschläge gebunden; sie konnte ihre Vertreter frei aus der Zahl der stimmberechtigten Gemeindebürger auswählen. Ein Antrag auf Einführung der Proportionalwahl ist vom Großen Rato des Kantons Bern bei der Beratung über das Ergänzungsgesetz ausdrücklich abgelehnt worden. An Stelle dieses freien Wahlrechtes der Gemeindeversammlung soll jetzt ein von den Parteien aufgestellter Wahlvorschlag treten, und nur Personen, welche auf solchen Wahlvorschlägen stehen, sollen wählbar sein. Also ist die Gemeindeversammlung nicht mehr frei, sondern hat nur noch eine Auswahl aus den gemachten Wahlvorschlägen zu treffen. Dahin führt es, wenn man die Parteien als staatliche Organe anerkennt, denen ein förmliches Recht auf Vertretung in den Behörden zukommt.

b. Das Hauptargument dos bundosrätlichen Entscheides liegt offenbar darin : Die Bundesversammlung hat kantonale Grundgesetze gewährleistet, welche das Proportionalwahlverfahren einführen; damit hat sie erklärt, dieses Verfahren sei verfassungsrechtlich zulässig. Also ist die Sache erledigt; Roma locuta est.

So schlagend dieses Argument auch scheinen mag, so sei doch dessen Prüfung gestattet. Vorerst weiß der Rekurrent nicht, ob bei Beratung der im Entscheide angeführten präjudizierenden Verfassungen auch diejenigen Einwände gehört worden sind, die or in seiner Boschwerde gegen das Proportionalwahlverfahren im allgemeinen und gegen das von der Gemeinde Bern angenommene System im besondere geltend macht. Es mag dem aber sein, wie ihm wolle, so steht einer erneuten Prüfung der ganzen Frage nichts entgegen. Ein Beschluß der Bundesversammlung ist kein gerichtliches Urteil, das den behandelten Fall endgültig und für alle
Zeit erledigt. Aber auch vorausgesetzt, es widerspreche an und für sich die Verhältniswahl der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze nicht, so ist damit nicht gesagt, daß jede Konsequenz, welche aus diesem Grundsatze gezogen wird, verfassungsmäßig sei.

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Fuhrt die Anwendung der Verhältniswahl zu, einer Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetze, so darf diese Form der Anwendung staatsrechtlich nicht geschützt werden.

Ein Beispiel möge dies erläutern : Es enthält ein Gesetz odor ein Gemeindereglement die Bestimmungen: ,,In diese Behörde sind nur solche Personen wahlfähig, welche von politischen Parteien als Kandidaten bezeichnet worden sind. Das Recht, Wahlvorschläge aufzustellen, steht nur den politischen Parteien zu. Ein Kandidat muß einer politischen Partei angehören und er darf nur ,,von einer einzigen Partei vorgeschlagen werden." Gewiß würde man ein solches Gesetz als verfassungswidrig erklären, weil es das passive und aktive Wahlrecht auf die politischen Parteien beschrankt und alle andern Bürger politisch mundtot macht. Allerdings enthält das angefochtene Gemeindereglement keine derartigen Bestimmungen in nackten Worten ; aber seine Wirkungen entsprechen in allen Beziehungen den oben angeführten Normen ; es beschränkt das passive und aktive Wahlrecht in den Stadtrat auf die politischen Parteien und schließt alle andern Bürger thatsächlich aus. Das im angefochtenen Keglemente zur Ausführung gelangende Proportional\vahlverfahren ist also ein solches, welches den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze verletzt. (Der Beschwerdeführer versucht neuerdings, den bereits in der Beschwerde an den Bundesrat angetretenen Beweis für diese Behauptung zu erbringen.)

II.

Der Regierungsrat des Kantons Bern beschränkt sich in seiner Vernehmlassung vom 15. September 1900 darauf, Nichteintreten, wenn thunlich Abweisung der Beschwerde zu beantragen, unter Verweisung auf seine Beschwerdebeantwortung vom 8. Juni dieses Jahres.

III.

Unter Hinweis auf unsern im Bundesblatte in extenso abgedruckten Entscheid (Bundesbl. 19UO, III, 580 ff.) führen wir nur noch folgendes zur Beantwortung der Hekursschrift vom .31. August/5. September 1900 an: Ad a. In unserer Entscheidung vom 7. Juli cl. J. haben wir gegenüber den Darlegungen des Beschwerdeführers darauf hingewiesen, daß die Beurteilung der Frage, ob die äuge loch tene Croineindeordnung mit den kantonalen Gesetzen und Verordnungen

92 im Einklänge stehe,- nicht in der Kompetenz des Bundesrates --·· demnach auch nicht der Bundesversammlung -- liege; im vorliegenden Kekurse verzichtet der Beschwerdeführer ausdrücklich auf eine Berücksichtigung dieses Bestandteils seiner ersten EingabeDerselbe ist also nicht weiter in Betracht zu ziehen.

Ad b. Zu prüfen ist von der h. Bundesversammlung einzig noch, ob, in Abweichung von der bisherigen Praxis, in der Einführung des Proportionalwahlverfahrens eine Verletzung von Verfassungsgrundsätzen erblickt werden musso, und ob insbesondere,, bei Anerkennung der grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit dieses Wahlsystems, eine Verletzung der Rechtsgleichheit der Bürger in der angefochtenen Gemeindeordnung für die Stadt Bern zu finden sei.

Bezüglich der erstem Frage beschränkt sich der Bundesrat darauf, an die von Ihnen geübte Praxis zu erinnern, ohne die für und gegen das Proportionalwahlverfahren sprechenden grundsätzlichen Erörterungen einer materiellen Prüfung zu unterziehen. Siehaben, unserm Antrage gemäß, folgenden Verfassungen, in welchen das Proportionalwahlverfahren anerkannt worden ist, die eidgenössische Gewährleistung erteilt : dem tessinisehen Verfassungsgesetze vom 2. Juli 1892, durch Bundesbeschluß vom 23. Dezember 1892 ; dem Verfassungsgesetze des Kantons Genf vom 6. Juli 1892, durch Bundesbeschluß vom selben Datum; der Verfassung des Kantons Zug vom 31. Januar 1894, durch Bundesbeschluß vom 26. Juni 1894; der Partialrevision der Verfassung des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 1887, durch Bundesbeschluß vom 28. Juni 1895 ; der Partialrevision der Verfassung des eidgenössischen Standes Schwyz vom 23. Oktober 1898, durch.

Bundesbeschluß vom 21. Dezember 1899.

Was sodann den vom Rckurrenten in zweiter Linie vertretenen' Standpunkt anbetrifft : Bundesrat und Bundesversammlung haben, ungehindert der Anerkennung der grundsätzlichen Verfassungsmaßigkeit des Proportionalwahlverfahrens, in jedem einzelnen Falle,, der zu ihrer amtlichen Kenntnis gelangt, nachzuprüfen, ob nicht in der praktischen Durchführung des Grundsatzes auf dem Wege der kantonalen Gesetzgebung und Verordnungspraxis eine Verletzung der jedem Bürger garantierten Verfassungsrechtc liege, so stehen wir nicht an, dessen Richtigkeit anzuerkennen ; wir behalten uns und Ihnen das Prüfungsrecht für jeden Fall vor, in welchem
eine Verletzung einer kantonalen oder der Bundesverfassung durch derartige Wahlvorschriften behauptet wird.

Nun bestehen aber sämtliche Behauptungen, welche der Rekurrent in dieser Richtung vorbringt, in theoretischen, grundsätz-

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liehen Einwänden, die sich dem Proportionalwahlverfahren ü b e r h a u p t entgegenstellen lassen; einen, über solche Befürchtungen hinausgehenden Nachweis wirklich vorhandener Beeinträchtigung von Verfassungsrechten hat der Rekurrent nicht geleistet. Es kann also seine Beschwerde, soweit sie sich gegen die in derselben aufgeführten Verordnungsbestimmungen richtet, nicht gutgeheißen ·werden.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 2. Oktober 1900.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Hauser.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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03.10.1900

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