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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend das Begnadigungsgesuch der Rangierleiter Jakob Hungerbühler und Christian Bucher in Zürich.

(Vom 2. Februar 1900.)

Tit.

Die beiden Potenten Jakob H u n g e r b ü h l e r und Christian B u c h e r , Rangierleiter im Bahnhofe in Zürich, wurden gemeinschaftlich mit vier anderen Angestellten der schweizerischen N. 0. B.

in Zürich von der Bezirksanwaltschaft Zürich angeklagt, am Nachmittag des 21. Juni 1898 auf fahrlässige Weise verschuldet zu haben, daß im Vorbahnhof Zürich auf der Weiche Nr. 47 ein Rangierzug seitlich in den im V. Geleise einfahrenden N. 0. B.

Güterzug mit Personenbeförderung Nr. 792 hineinfuhr, wodurch sieben Wagen des letzteren Zuges und die Rangiermaschiene zum Entgleisen gebracht und zwei Wagen umgeworfen wurden. Bei diesem Unfall sind zwei Personen unbedeutend verletzt worden und entstand ein Schaden am Kollmaterial und an der Weiche im Betrage von Fr. 3900.

Das Bezirksgericht Zürich hat am 5. September 1899 drei der Angeklagten freigesprochen, dagegen die beiden Petenten und den Weichenwärter Ulrich Demuth des eingeklagten Vergehens schuldig befunden. Es bestrafte den Hungerbühler und den Bucher mit je einer Woche Gefängnis und Fr. 30 Geldbuße, den Demuth mit drei Tagen Gefängnis und Fr. 30 Buße (eventuell, bei Unerhältlichkeit der Bußen mit je weitern sechs Tagen Gefängnis) und legte ihnen die Kosten auf mit Inbegriff von Fr. 30 Staatsgebühr.

Die Appellationskammer des Obergerichtes des Kantons Zürich bestätigte am 23. November 1899 unter Verwerfung der von den drei Verurteilten ergriffenen Berufung die Schuldigerklärung der samtlichen Appellanten, und ebenso die über Hungerbühler und

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Dcmuth vorhängten Strafen, dagegen ermäßigte sie die Haftstrafe Buchera auf drei Tage. Die zweitinstan/Aichen Kosten samt einer Staatsgebühr von Fr. 34 wurden den Appellanten auferlegt.

Die thatsächlichen Verhältnisse, unter welchen der Eisenbahnunfall passierte, sind ausführlich und richtig geschildert in der Begründung des erstinstanzlichen Urteiles, welche von der Appellati ons-Kam m er im wesentlichen .als zutreffend anerkannt und aufgenommen wurde. Aus denselben wird der Schluß gezogen, daß den drei Verurteilten ein strafrechtlich zu ahnendes Verschulden deswegen zur Last falle': A. Weil H u n g e r b ü h l er, der von Bucher die Führimg des Rangierzuges als sogen. Rangierleiter übernommen hatte, nicht auf den im Geleise V einfahrenden Güterzug 792 geachtet, weil er ferner über die von Demuth bediente Weiche Nr. 55 in das Geleise V eingefahren sei, trotzdem diese Weiche bei seinem Herannahen verschlossen gewesen und erst auf ein ungehöriges Kommando des Mitangeklagten Bucher geöffnet worden war und weil er endlich in das Geleise V eingefahren sei, trotzdem das für ihn maßgebende Rangiersignal F 2 auf .,,Halt1'' gestanden sei (bezirksgerichtliches Urteil, Erwägung III), B. weil B u e h er, nachdem er die Führung des Rangierzuges an Hungerbühler abgetreten hatte, die Aufmerksamkeit des letztem durch Aufsteigen auf die Lokomotive und gesprächsweise Unterhaltung von der Erfüllung seiner Dienstpflicht abgelenkt und namentlich weil er bei dieser Gelegenheit den Weichenwärter Demuth durch Zuruf veranlaßt habe, die geschlossene Weiche Nr. 55 mittelst Umlegen zu öffnen (bezirksgerichtliches Urteil, Erwägung V), und C. weil D e m u t h auf den Zuruf Buchers hin die Weiche Nr. 55 geöffnet und so dem Rangierzug zur Einfahrt auf das von Zug Nr. 792 besetzte Geleise V freie Bahn gegeben habe (Erwägung VII daselbst).

Die kantonalen Gerichte anerkannten zwar bei Fällung ihrer Urteile durchaus, daß neben diesen Handlungen der drei fehlbarcn Bahnbediensteten noch andere Momente zur Verursachung des Unfalles mitgewirkt haben, insbesondere ungünstige Lokalverhältnisse, verspätete Einfahrt des Güterzuges Nr. 792 u. s. w. (Erwägung IX daselbst). Dagegen qualifizieren sie die Pflichtverletzungen und Verstöße der drei Sehuldigerklärten als gröbliche, wobei sie wesentlich abstellen auf den Amtsbericht des Kontrollingenieurs Glauser vom 27. Juni 1898 (Nr. 92 der Untersuchungsakten), der dahin schließt:

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·,,Die Nichtbeachtung von zwei auf ..Halt"1 stehenden Signalen durch ein so zahlreiches Personal, dazu am hellen Tage, zu einer Zeit, wo die Einfahrt des Linienzuges vermutet werden mußte, die Fahrt in gleicher Richtung neben demselben her bis zum Kreuzungspunkte, ohne diesen Zug selbst zu sehen, alles das ist ein Fall von ganz unerhörter Disciplinlosigkeit und Unachtsamkeit, der zudem ein schweres Unglück hätte bewirken können.a (Bezirksgerichtl. Erwägung IX, Obergericht, Erwägung 1.)

Weichenwärter Demuth scheint sich beim Urteile der Appellationskammer beruhigt zu haben, dagegen stellen Hungerbühler und Bucher nunmehr das Gesuch um Aufhebung der über sie verhängten Strafen mittelst Begnadigung. Sie begründen dasselbe wesentlich mit dem Hinweise darauf, daß der Unfall nicht Hindurch ihre eigene Unvorsichtigkeit, soweit solche überhaupt vorliege, verursacht worden sei, sondern, daß zur Entstehung desselben noch eine Reihe weiterer Momente mitgewirkt haben, für welche sie nicht verantwortlich gemacht werden können. Sie weisen insbesondere darauf hin, daß die Unzulänglichkeit der Rangiersignale, deren Nichtbeachtung dem Hungerbühler vorgeworfen werde, von der N. 0. B. selbst durch nachträgliche Abänderung derselben anerkannt worden sei und daß ferner erst am 21. März 1899 durch Cirkular des Bahnhofinspektors das Wärterpersonal des Hauptbahnhofcs Zürich unter Bußenandrohung eingeladen worden sei, absolut keine Parallelfahrten und Contrefahrten im unverriegelten Teile des Vorbahnhofes zu dulden, die betreffenden Rangierzüge eventuell sofort anzuhalten und Zuwiderhandlungen seitens des Rangierpersonals unverzüglich den Aufsichtsbeamten zur Anzeige zu bringen.

Der Bundesrat ist indessen der Ansicht, daß die beiden Potenten keinen Anspruch auf Begnadigung haben. Ihr Verschulden an dem Unfall vom 21. Juni 1898 ist durch die urteilenden Gerichte in durchaus zutreffender Weise festgestellt worden, und der Umstand, daß andere Personen ein Mitverschulden trifft und auch objektive Momente den Eintritt des Unfalls erleichterten, genügt nicht zu ihrer vollständigen Entlastung. Hungerbühler speciell hätte als Leiter des Rangierzuges unzweifelhaft die Pflicht gehabt, sich zu vergewissern, ob das zu passierende V. Geleise frei sei; er durfte nicht in dasselbe einfahren, solange ihm nicht ein geöffnetes Signal dazu
Erlaubnis gab. Wenn er das Signal aus irgend welchen Gründen nicht sehen konnte, so war eben die Fahrt nicht statthaft. Es ist aber auch klar, daß er bei irgend welcher Aufmerksamkeit das Herannahen und Vorbeifahren des fahrplanmäßigen

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Zuges 792 auf dem V. Greleise hätte bemerken können und bemerken müssen. Ebenso wird ihm von den Gerichten mit Recht anni Vorwurf gemacht, daß er die von Demuth auf Geheiß Buchers so unstatthaft geöffnete Weiche Nr. 55 anstandlos passierte und nicht einmal nach diesem Geschehnis sich genauer darüber orientierte, ob der Weiterfahrt kein Hindernis im Wege stehe, respektive ob das Rangiersignal geöffnet sei.

Die Thatsache, daß die Bahngesellschaft die bei fraglichem Unfall gemachten Erfahrungen zur Verbesserung ihrer maschinellen Sicherheitsvorrichtungen und ihrer dienstlichen Vorschriften verwertete, ist für die Beurteilung der Verantwortlichkeit der Pctenten nicht ausschlaggebend. Daß aber in dem von Bucher an Demuth erteilten Befehl zur Öffnung der geschlossenen Weiche eine grobe Überschreitung dienstlicher Kompetenzen lag und daß, nachdem hierdurch eine schwere Gefährdung und großer Schaden entstanden war, strafrechtliche Ahndung Buchers eintreten mußte, liegt wohl auf der Hand. -- Die Gewährung der Gnade für Bücher würde geradezu eine krasse Unbilligkeit zu seinen Gunsten und zum Nachteil des Weichenwärters, welcher auf Befehl handelte, involvieren.

Die ausgesprochenen Strafen erscheinen in ihrer Hohe den Umständen angemessen, weshalb nach hierseitigem Erachten kein Grund besteht, das ergangene Gerichtsurteil zu gunsten der Petenten abzuändern.

Wir stellen deshalb bei Ihrer hohen Versammlung den A n t r a g:

Es sei aus den oben angebrachten Gründen den Begnadigungsgesuchen der beiden Rangierleiter Jakob H u n g e r b ü h l e r und Christian B u e h e r nicht zu entsprechen.

B e r n , den 2. Februar 1900.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bun d esp r äs id ent : Hauser.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:

lliiigier.

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