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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Karl Jahn, Fürsprecher in Bern, gegen die vom Regierungsrate des Kantons Bern erteilte Genehmigung der Gemeindeordnung der Stadt Bern vom 10. November 1899 (Wahl des Stadtrates durch das Proportionalwahlverfahren).

(Vom 7. Juli 1900.)

Der schweizerische Bundes rat hat über die Beschwerde des Karl J a h n , Fürsprecher in Bern, gegen die vom Regierungsrate des Kantons Bern erteilte Genehmigung der Gemeindeordnung der Stadt Bern vom 10. November 1899 (Wahl des Stadtrates durch das Proportionalwahlverfahren) ; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements,

folgenden Beschluß gefaßt: A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

In der Abstimmung vom 26. November 1899 wurde mit 1623 gegen 542 Stimmen die vom Stadtrate den Stimmberechtigten der

581 Stadt Bern zur Annahme unterbreitete .,,Gemeindeordnung für die Stadt Bern", vom 10. November 1899, angenommen. Gemäß Absatz l der Übergangsbestimmungen sollte dieselbe sofort nach deren Annahme und erhaltener regierungsrätlieher Sanktion in Kraft treten.

Der zweite Abschnitt dieser Verordnung regelt unter litt, a die Wahlart und die Befugnisse des ,,Stadtrates"' ; die auf die Wahlen bezüglichen Bestimmungen lauten : Art. 16. Die Amtsdauer der (80) Mitglieder des Stadtrates beträgt vier Jahre. Auf den 31. Dezember jedes Jahres treten 20 Mitglieder aus. Die Austretenden sind wieder wählbar.

Jede in der Zwischenzeit erledigte Stelle wird durch einen Kandidaten derjenigen Gruppe ersetzt, welcher das austretende Mitglied angehört hatte, und zwar durch denjenigen unter diesen Kandidaten, der bei der letzten Wahl, an welcher diese Gruppe sich beteiligte, nach den als gewählt Erklärten die meisten Stimmen erhalten hat. Sind bei einer Gruppe keine Ersatzkandidaten vorhanden, so bleibt die Stelle bis zur nächsten Wahl unbesetzt.

Die in der Zwischenzeit eintretenden Mitglieder des Stadtrates vollenden die Amtsdauer ihrer Vorgänger.

Art. 17. Der Gemeinderat macht die Tage, an welchen die Wahlen in den Stadtrat stattfinden sollen, und die Zahl der zu treffenden Wahlen wenigstens 14 Tage vor der Wahlverhandlung im ,,Anzeiger für die Stadt Berna bekannt.

Art. 18. Die Wahlvorschläge (Listen) sind der Stadtkanzlei bis spätestens Dienstags vor dem Wahltage, mittags 12 Uhr, einzureichen. Dieselben dürfen nicht mehr Namen enthalten, als Wahlen zu treffen sind. Sie sollen eine deutliche Bezeichnung ihres Ursprungs (Partei, Verein, Versammlung, Gruppe) enthalten und die Unterschrift von drei stimmberechtigten Bürgern tragen.

Art. 19. Die Stadtkanzlei unterwirft die Wahlvorschläge sofort einer Prüfung und macht die Überbringer auf allfällige Mängel aufmerksam. Ergeben sieh solche nachträglich oder hat die Stadtkanzlei sonst Veranlassung zu Aussetzungen, so wendet sie sich an den Bürger, welcher den Wahlvorschlag als Erster unterzeichnet hat.

Art. 20. Ein Kandidat darf nur auf einer Liste vorgeschlagen werden ; steht er auf mehreren Listen, so ist er zu veranlassen, sich für eine Liste zu erklären. Erklärt er sich, so ist er durch die Stadtkanzlei auf den übrigen Listen zu streichen. Erklärt er sich nicht, oder ist es nicht möglich, ihn rechtzeitig zu einer Er-

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klärung zu veranlasset!, so wird die Liste, welcher er zuzuteilen ist, vom Stadtpräsidenten in Gegenwart des Stadtschreibers durch das Los bestimmt und der Kandidat auf den übrigen Listen gestrichen.

Art. 21. Wenn auf einer Liste ein Kandidat wegfällt, so sind die Bürger, welche die Liste unterzeichnet haben, berechtigt, denselben bis Freitag, mittags 12 Uhr, durch einen andern zu ersetzen. Nach diesem Zeitpunkte darf an den eingereichten Listen keine Veränderung mehr vorgenommen werden.

Art. 22. Die Stadtkanzlei veröffentlicht die eingereichten Listen erstmals in der Donnerstagsnummer und die definitiv hereinigten Listen in der Samstagsnummer des ,,Anzeigers für die Stadt Bern1'-.

Art. 23. Während der Wahlverhandlung sind die eingereichten Listen im Wahllokale zu jedermanns Einsicht aufzulegen.

Art. 24. Jeder Wähler ist berechtigt, für so viele Kandidaten zu stimmen, als Stellen zu besetzen sind. Es ist gestattet, dem gleichen Kandidaten auf dem Wahlzettel einmal, zweimal oder dreimal zu stimmen. Der Wähler kann seine Kandidaten nach Belieben aus den eingereichten Listen auswählen.

Namen, welche auf keiner eingereichten Liste stehen, fallen außer Betracht.

Gedruckte Wahlzettel mit Namen von Kandidaten aus verschiedenen Listen sind ungültig.

Art. 25. Nach Schluß der Wahlverhandlung und nachdem deren Gültigkeit festgestellt ist CAvt. 12), ermittelt der Wahlausschuß zunächst : 1. die Stimmenzahl, welche jeder einzelne Kandidat erhalten hat ; 2. die Stimmenzahl, welche die Kandidaten einer eingereichten Liste zusammen erhalten haben; 3. die Gesamtzahl der gültig abgegebenen Stimmen.

Art. 26. Hierauf wird die Gesamtzahl der gültig abgegebenen Stimmen (Art. 25, Ziffer 3) durch die Zahl der zu treffenden Wahlen -)- l dividiert. Das Ergebnis dieser Division heißt die Wahlzahl. Sodann wird die Stimmenzahl, welche jede eingereichte Liste auf sich vereinigt hat (Art. 25, Ziffer 2), durch die Wahlzahl dividiert. Das Ergebnis zeigt an, wie viele Vertreter jeder eingereichten Liste zukommen.

Bei diesen Berechnungen werden Bruchzahlen nicht in Betracht gezogen.

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Art. 27. Wenn die Summe der auf diese Weise den verschiedenen Listen zugeteilten Vertreter die Zahl der zu treffenden Wahlen nicht erreicht, so wird der noch fehlende Vertreter derjenigen Liste zugeteilt, welche nach der im Art. 26, Absatz 2, vorgeschriebenen Division den größten Stimmenrest aufweist. Sollten mehrere Wahlen noch ausstehen, so werden die Vertrecer nach dem gleichen Grundsatz auf die Listen verteilt.

Wenn dagegen die Summe der nach Art. 26 den verschiedenen Listen zugeteilten Vertreter die Zahl der zu treffenden Wahlen übersteigt, so ist derjenigen Liste, welche den kleinsten Stimmenrest aufweist, ein Vertreter weniger zuzuteilen, als ihr nach Art. 26, Absatz 2, zukäme. Beträgt der Überschuß mehr als l, so wird denjenigen Listen je ein Vertreter abgezogen, welche die kleinsten Stimmenreste aufweisen.

Art. 28. Nachdem die Zahl der Vertreter jeder einzelnen Liste zugeteilt worden ist, werden diejenigen Kandidaten jeder Liste als gewählt erklärt, welche die größte Stimmenzahl auf sich vereinigt haben. Bei Stimmengleichheit ist der auf der Liste zuerst genannte Kandidat gewählt.

Art.

zugeteilt auf den Stimmen

29. Enthält eine Liste weniger Namen, als ihr Vertreter wurden, so ist derjenige als gewählt zu erklären, welcher andern Listen unter den Nichtgewählten die meisten erhalten hat.

Art. 30. Das Protokoll über die Wahlverhandlung soll außer den in Art. 13 der Gemeindeordnung verlangten Angaben enthalten : 1. die eingereichten Listen ; 2. die Gesamtzahl der gültig abgegebenen Wahlstimmen; 3. die Zahl der den sämtlichen Kandidaten einer Liste zugefallenen Stimmen ; 4. die Zahl der auf jeden einzelnen Kandidaten gefallenen Stimmen ; 5. die Wahlzahl ; 6. die Zahl der jeder eingereichten Liste zugeteilten Vertreter ; 7. die Namen der Gewählten.

Das Protokoll wird durch die Stadtkanzlei unverzüglich im ^Anzeiger für die Stadt Bern'' veröffentlicht.

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n.

Den 3. Dezember 'J899 erhob Fürsprecher Karl Jahn, in Bern, beim Regierungsrate des Kantons Bern Einsprache gegen diejenigen Bestimmungen der Verordnung, welche die Wahl des Stadtrates behandeln, nämlich die Art. 18--30, sowie Art. 16, Absatz 2.

Er stellte das Gesuch: es sei dem Entwürfe die Genehmigung nicht zu erteilen, jedenfalls seien die Bestimmungen über die Wahlurt des Stadtrates nicht zu genehmigen. Zur Begründung wurde angeführt: Die .1Gemeindeordnungu ist mit demjenigen identisch, was im Gemeindegesetz als ,,Gemeindereglement11'' bezeichnet wird. Sie ist vorläufig nur als Entwurf anzusehen, welcher vom Regierungsstatthalter begutachtet und sodann zu weiterer Behandlung der Direktion des Gemeindewesens zugestellt werden muß. Erst wenn der Entwurf die Genehmigung des Regierungsrates erhalten hat, wird er zur verbindlichen Gemeindeordnung. In demselben stehen nun aber Bestimmungen, welche mit der Kantonsverfassung und mit denjenigen gesetzlichen Vorschriften, auf welchen die Ordnung des tremeindewesens beruht, unvereinbar sind. Gegen dieselben wird gemäß § 9 der Verordnung vom 15. Juni 1869, über die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten, Einsprache erhoben. Die bei Beurteilung der Einsprache in Betracht fallenden Gesetze sind : das Gesetz über das Gemeindewesen, vom 6. Dezember 1852, und dasjenige betreffend die teilweise Abänderung und Ergänzung desselben, vom 11. Mai 1884. Das erste Gesetz bezeichnet als ordentliche Verwaltungsbehörde der Gemeinde den Gemeinderat und überträgt die Wahl desselben der Gemeindeversammlung; wahlfähig ist jeder Bürger, der in der Gemeindeversammlung persönlich stimmberechtigt ist und in der Gemeinde wohnt (§§ 18, 26, litt, a, und 29). Das Ergänzungsgesetz vom 11. Mai 1884 wollte dem Übelstande abhelfen, der sich in größern Gemeinden bezüglich der Beratung wichtiger Traktanden gezeigt hatte; es gab denselben eine neue Behörde, die es als Großer Gemeinde- oder Stadtrat bezeichnete. Es hat aber ausdrücklich bestimmt, daß gewisse Gegenstände der Gemeinde zur Behandlung vorbehalten bleiben sollen (§ 3) ; darunter gehört namentlich die Wahl der Mitglieder des Stadtrates, die entweder durch die Gemeindeversammlung oder durch Urnenabstimmung zu erfolgen hat. Da über die Wahlfähigkeit in den Stadtrat keine Vorschriften aufgestellt sind, müssen wohl die oben angeführten Bestimmungen des Gemeindegesetzes von 1852 als maßgebend angesehen werden. Bei der Beratung

585 des Zusatzgesetzes ist im Großen Rate auch der Antrag gestellt worden, für die Wahl des Stadtrates die sogenannte Minoritätenvertretung einzuführen ; derselbe wurde aber abgelehnt (Tagblatt des Großen Kates vom Jahre 1883). Dagegen hat das Gesetz die Einteilung einer Gemeinde in Wahlkreise zur Vornahme der Stadtratswahlen als zulässig erklärt; von dieser Befugnis hat die Gemeinde Bern keinen Gebrauch gemacht.

Mit den gesetzlichen Vorschriften, nach welchen die Mitglieder des Stadtrates aus der Zahl der wahlfähigen Bürger frei gewählt werden sollen, steht die ,,Gemeindeordnung11 im Widerspruche.

Unter der Berechtigung der Gemeindeversammlung, oder der Gesamtheit der stimmberechtigten Burger, die Mitglieder des Stadtrates zu wählen, ist das Recht jedes einzelnen Bürgers verstanden : 1. so manchem Kandidaten zu stimmen, als gewählt werden müssen ; 2. die Wahl nach freiem Ermessen aus allen wahlfähigen Bürgern zu treffen.

Der Entwurf der Gemeindeordnung für die Stadt Bern anerkennt ein solches Recht nicht. Er beschränkt das Recht der Wählbarkeit auf solche Kandidaten, welche auf den Wahlvorschlägen stehen. Allerdings wird ein solches Recht zur Einreichung von Wahlvorschlägen in weiter Weise erteilt. Allein wenn auch die Zahl der Wahlvorschlagsgruppen sich noch so sehr vermehren würde, so wird man doch niemals sagen dürfen, es seien diese Gruppen mit der Gesamtheit der stimmberechtigten Bürger identisch.

Zudem kann niemand gezwungen werden, sich einer Wahlgruppe anzuschließen. Es besteht also gar keine Gewähr dafür, daß, trotz der lebhaftesten Entwicklung des Wahlvorschlagswesens, wirklich allen Stimmberechtigten die Möglichkeit geboten ist, Wahlvorschläge aufzustellen. Sollten, was ja anzunehmen ist, nur Vereine, die sich speciell mit politischen Angelegenheiten befassen, Wahlvorschläge einreichen, so würde damit solchen Vereinen das ausschließliche Recht nicht nur zur Aufstellung der Vorschläge, sondern geradezu zur Erledigung der Wahlen gegeben. Alle andern Bürger würden dieses Rechtes verlustig sein. In Bern giebt es aber an die 7000 Bürger, welche keinen politischen Vereinen angehören ; diese würden also der Möglichkeit beraubt, bei den Stadtratswahlen mitzureden. Das ist eine schreiende Beeinträchtigung der verfassungsmäßigen Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz; es ist gar nicht gesagt, daß diejenigen Bürger, welche sich politischen Vereinen fernhalten, an Einsicht den Mitgliedern solcher Vereine nachstehen.

586 An die Stelle des freien Wahlrechtes setzt der Entwurf einen verbindlichen Wahlvorschlag. Das ist etwas ganz anderes. Und dieser Wahlvorschlag wird überdies zu einer Befugnis, von welcher die überwiegende Mehrheit der Bürger thatsächlich ausgeschlossen ist. Damit erteilt der Entwurf den politischen Parteien ein ausschließliches Vorrecht, neben welchem das freie Vorschlags- und Wahlrecht der politisch neutralen Bürger nicht mehr besteht; es liegt also eine verfassungswidrige Bevor/ugung der politischen Parteien vor.

In Art. 24, Absatz 2, beschränkt der Entwurf die Wählbarkeit ausdrücklich auf diejenigen Kandidaten, welche auf den Listen stehen; alle andern werden nicht berücksichtigt. Selbst wenn die große Mehrheit der Wähler andere Personen, als die von den Parteien vorgeschlagenen, ernennen würde, könnte sie die Wahl nicht bewerkstelligen. Man wird einwenden : Es wird sowieso Tiiemand gewählt, er werde denn durch irgend eineo Vorschlag auf den Schild gehoben. Das ist an und für sich richtig. Aber gerade deswegen geht es nicht an, das Vorschlagsrecht so zu beschränken, wie es die Verordnung thut. Nicht nur überantwortet dieselbe faktisch dieses Recht einzig den politischen Parteien, sondern sie verklausuliert es noch in einer Weise, die es dem einzelnen Bürger unmöglich macht, sich des Vorschlagsrechtes zu bedienen. Die Vorschläge müssen bis spätestens am Dienstag vor dem Wahltage eingereicht sein ; sie müssen von drei stimmberechtigten Bürgern unterschrieben werden. Das kann eine Vorschlagsgruppe schon bewerkstelligen, der Einzelne kann es nicht. Da/u kommt noch, daß es verboten ist, den nämlichen Namen auf mehr als eine Liste zu setzen (Art. 20}. Geschieht es zufällig gleichwohl, so wird der Kandidat infolge eigener Erklärung, oder durchs Los einer Vorschlagsgruppe angegliedert. Das heißt denn doch, dem Kandidaten das Parteimesser auf die Brust setzen und die Parteigegensätze auf die Spitze treiben. Es geht nicht an, die Parteien so mit Sonderrechten auszustatten und ihnen die Besorgung des Gemeindewesens ganz einfach zu übergeben. Eine Konsequenz dieses Ausschlusses individueller Bethätigung ist es auch, daß der Gewählte sich nicht mehr als Vertreter der Gemeinde erachtet, sondern als Beauftragter einer Partei oder Interessengruppe.

Aber auch das System der Verhältniswahl selber beruht auf Voraussetzungen, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind.

Als solche Voraussetzungen sind zu bezeichnen:

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1. daß jeder Stimmberechtigte Mitglied einer politischen Partei sei; 2. daß sich jeder Stimmberechtigte an den Wahlen beteilige ; 3. daß sich der Stimmberechtigte bei Abgabe seiner Stimme nur von Parteirücksichten leiten lasse, also einem Kandidaten nur deshalb stimme, weil derselbe diese oder jene politische Farbe trägt.

Alle diese Voraussetzungen sind unzutreffend. Insbesondere ist es durchaus unwahr, daß sich der Wähler einzig und allein von Parteiinteressen leiten lasse. Er stimmt einem Kandidaten, weil er ihm sein Vertrauen schenkt; damit ist noch gar nicht gesagt, daß er diejenige politische Partei unterstützen wolle, welcher dieser Kandidat angehört. Die Vorschriften des Entwurfes beruhen aber gerade auf dieser Voraussetzung (Art. 25, Zifi. 2). Der Entwurf ist so beschaffen, daß ein ,,zügiger" Kandidat einer ganzen Liste durchhelfen kann. Man ersieht dies aus folgendem Beispiele: Es sind 5 Wahlen zu treffen, die Parteien I, II, III haben Vorsehläge aufgestellt. An der Wahl beteiligen sich 9000 Stimmende, und es kommt folgendes Ergebnis heraus: Liste I.

Abel . .

Adam .

Adler .

Antenen Anderegg

.

.

.

.

.

Liste II.

7,346 2,205 2,171 2,161 2,151 16,034

Bähler Bigler Bill .

Bloch Bucher

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

Liste III.

3,338 3,171 3,158 3,138 2,871 15,676

Danz. . .

Derendinger Dick . . .

Dubach . .

Dummermuth

3,160 2,683 2,671 2,438 2,338 13,290

Nach Art. 26 ist das Wahlergebnis nun so zu berechnen, daß zuerst die Wahlzahl ermittelt wird. Da 45,000 gültige Stimmen abgegeben worden und 5 Wahlen vorzunehmen sind, muß die Zahl 45,000 durch 5 plus l dividiert werden. Wir erhalten so die Wahlzahl 7500. Nun kommen folgende Divisionsrechnungen: I. 16,034 : 7500 = 2 und 1034 Rest.

II. 15,676 : 7500 = 2 und 676 Rest.

III. 13,290 : 7500 = l und 6790 Rest.

Demnach erhält Liste I zwei Vertreter, Liste II ebenso zwei und Liste III einen Vertreter. Gewählt sind Abel mit 7346, Adam mit 2205, Bähler mit 3338, Bigler mit 3171 und Danz mit 3160 Stimmen.

588 Die Reihenfolge der Kandidaten nach der Stimmenzahl ist dagegen: Abel 7346, Bähler 3338, Bigler 3171, Danz 3160, Bill 3158, Bloch 3138, Bucher 2871, üerendinger 2683, Dick 2671, Dubach 2438, Dummermuth 2338, Adam 2205, Adler 2171, Antenen 2161, Andoregg 2151.

Adam ist in dieser Reihenfolge der zwölfte, er ist aber gewählt, weil die Liste I, ani welcher er steht, zwei Vertreter bekommt. Diesen Erfolg hat die Liste keineswegs den Vorschlägen Adam, Adler, Antenen und Anderegg zu verdanken, sondern dem Umstände, daß Abel auf ihr steht. Es liegt wohl auf der Hand, daß eben nur die 7346 dem Abel zugefallenen Stimmen bewirkt haben, daß die erste Liste 16,034 Stimmen bekommen hat. Von diesen Stimmenden wollten aber über 5000 den andern Kandidaten der Liste I gar nicht stimmen; sie haben das in unzweideutiger Weise zu erkennen gegeben. Dessenungeachtet sagt der Entwurf, es haben die 5000 der Liste I zugestimmt, da er auf der Voraussetzung beruht, wer dem Kandidaten einer Liste seine Stimme gebe, erkläre damit, daß er zu dieser Liste stehe.

Hier hat also Abel der Liste I zum Siege verhelfen. Er kann aus freier Wahl oder durch das blinde Los auf die Liste I geraten sein, das ändert nichts. Hätte ihn das Schicksal einer« andern Liste zugeteilt, so hätte sich sein Einfluß noch viel wirksamer geäußert. Derart kann ein ,,zügiger" Kandidat das ganze Wahlergebnis beeinflussen, wo der Wähler nicht dem Manne, sondern der Partei seine Stimme geben soll.

Der Entwurf bringt noch eine weitere Errungenschaft dieses Wahlsystems in Gestalt der sogenannten Kumulation. Er gestattet es, dem nämlichen Kandidaten dreimal zu stimmen. Es ist aber gar nicht einzusehen, aus welchem Grunde die Zugehörigkeit eines Kandidaten zu einer Partei ihm das Privilegium verschaffen soll, dreimal erkoren zu werden. Es ist auch das eine durchaus ungerechtfertigte Bevorzugung der Parteien. Man rühmt nun allerdings dem Proportionalwahlsysteme nach, es gestalte die Volksvertretung zu einem getreuen, verkleinerten Abbilde der Gesamtheit. Aber auch das ist unrichtig, es kann höchstens ein Abbild der Parteiverhältnisse geben ; die überwiegende Mehrheit der Wähler aber stimmt nicht der Partei, sondern dem Manne, der ihr Zutrauen genießt. Daß sogar ein Zerrbild der Partei entstehen kann, ist an dem obigen Beispiele nachgewiesen worden.

Nach dem Proporzsysteme sind denn auch die weitern angefochtenen Bestimmungen des Entwurfes zugeschnitten. Wird in

589 der Zwischenzeit eine Stelle frei, so tritt der nächstfolgende Kandidat der betreffenden Liste in die Reihe. Eine gut disciplinierte Partei kann wohl auch ihre Stadträte zum Rücktritte veranlassen, um solchen Platz zu machen, die außerhalb der Partei einfach unmöglich wären.

Wenn es Aufgabe der Gesetzgebung sein soll, den Parteien das politische Leben zu überantworten, so ist der Proporz begründet; erblickt man aber die Aufgabe des Gesetzgebers darin, daß niemand in seinen politischen Rechten verkürzt werden darf, so ist er ein Unding ; jedenfalls aber fehlt es ihm zur Stunde im Kanton Bern an jeder verfassungsmäßigen und gesetzlichen Grundlage. In praktischer Richtung ist darauf hinzuweisen, daß infolge der Einführung des Proporzes nach und nach an Stelle des Gemeinwesens eine mehr oder weniger große Zahl von Interessengruppen tritt.

Ein gegenseitiges Markten und Feilschen wird Platz greifen.

Gruppe A wird Gruppe B unterstützen, wenn ihr diese gelegentlich auch wieder beisteht. Eine Gemeinde aber ist nicht der Inbegriff von so und so viel Einzelinteressen, sie ist ein Ganzes.

Der Beschwerdeführer giebt zu, daß er seinen Einspruch gegen eine solche Änderung des bisherigen Wahlrechtes schon gegen die ,,Ergänzenden Bestimmungen zum Gemeindereglementa, vom 5. Mai 1895, hätte anbringen können, indem, mit Ausnahme der Kumulation, die Vorschriften über die Wahl des Stadtrates in jener Ergänzung mit denjenigen des nun angefochtenen Entwurfes übereinstimmen. Es wird sogar anerkannt, daß schon das Gremeindereglement vom 11. Dezember 1887 in dieser Beziehung hätte angefochten werden dürfen, da es in Art. 4 die Bestimmung enthielt : ,,Bei den Wahlen der Mitglieder des Stadtrates darf jeder Wähler nur für drei Vierteile der zu wählenden Mitglieder seine Stimme abgeben." Aber die Unterlassung jener Einsprachen kann das Kecht nicht aufheben, das Versäumte innert der jetzigen Einsprachefrist gegen die neue ,,Gemeindeordnung" nachzuholen.

III.

Der Regierungsrat des Kantons Bern genehmigte am 25. Januar 1899 die angefochtene Verordnung in allen Teilen; der Beschluß wurde dem Einsprecher den 8. Februar 1900 zur Kenntnis gebracht. Den 3. April 1900 reichte derselbe gegen diese Schlußnahme beim Bundesgerichte die staatsrechtliche Beschwerde ein, mit dem Antrage : Es seien die Bestimmungen der erwähnten Gemeindeordnung, welche sich auf die Wahl des Stadtrates beBundesblatt. 52. Jahrg.

Bd. III.

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ziehen, als unzulässig zu erklären. Zur Begründung beruft sich der Rekurrent vorerst auf die in der Eingabe vom 3. Dezember 1899 beim bernischen Regierungsrate gemachten Vorstellungen, die er als integrierenden Bestandteil der staatsrechtlichen Beschwerde erklärt. Er führt weiter aus: Die angefochtenen Bestimmungen der Gemeindeordnung nehmen dem einzelnen Bürger das Recht, die Mitglieder des Stadtrates frei aus der Zahl der wahlfähigen Personen zu ernennen. An Stolle des freien Wahlrechtes tritt der verbindliche Wahlvorschlag einer Partei, eines Vereins, einer Versammlung oder einer Gruppe. Nur Derjenige ist wählbar, dessen Name auf einem solchen Wahlvorschlage steht. Der einzelne Bürger hat kein Recht, einen Wahlvorschlag zu machen, und ist in seiner Stimmabgabe auf diejenigen Namen beschränkt, welche die Parteien in Vorschlag gebracht haben. Hierin erblickt der Beschwerdeführer eine Bevorzugung der Parteien, Vereine, Versammlungen und Gruppen gegenüber dem Einzelbürger, der nicht solchen Personenverbänden angehört.

Ein solches Vorrecht widerspricht dem Grundsatze der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze, wie er in dem Art. 72 der bernischen Staatsverfassung und Art. 4 der Bundesverfassung ausgesprochen ist. Welches auch die Bezeichnung, das Programm, die numerische und geistige Bedeutung einer Partei sein mag, es geht nicht an, die Wahl einer Behörde solchen Personen verband en in der Weise auszuliefern, daß der Bürger in seinem Wahlrechte auf diejenigen Personen beschränkt wird, welche diese Verbände vorgeschlagen haben. Der Staat darf diejenigen Bürger, welche keiner Partei angehören, nicht zwingen, sich einer Partei anzuschließen, um nicht in der Ausübung ihrer politischen Rechte geschmälert zu werden. Er hat vielmehr den verschiedenen Parteien gegenüber in der Gesetzgebung eine durchaus neutrale Stellung einzunehmen.

So wenig Kantons- und Bundesverfassung individuelle und politische Vorrechte von ,,Ort, Gebuit, Personen und Familien" kennen, so wenig darf das Gesetz oder eine Gemeindeordnung den Parteien, Vereinen, Versammlungen oder Gruppen ein Vorrecht einräumen. Dies geschieht aber in der angefochtenen GemeindeOrdnung für die Stadt Bern.

Eine weitere Verletzung des Gleichheitsprinzips liegt darin, daß es dem Wähler gestattet ist, dem gleichen Kandidaten z\veioder dreimal zu stimmen. Es
kann diese Bestimmung nur den Zweck haben, einer Partei, welche befürchten muß, ihre Kandidaten möchten eicht die erforderliche Zahl Stimmen erhalten, doch zu einer Wahl zu verhelfen. Also handelt es sich auch hier einzig

591 und allein darum, einer Partei als solcher ein Vorrecht zu verschaffen, eine Bevorzugung, auf welche sie keinen Anspruch zu erheben hat.

IV.

Den 6. April 1900 teilte das schweizerische Bundesgericht dem Bundesrate mit, daß es sich in seiner Sitzung vom 5. April dahin ausgesprochen habe, es handle sich in der vorliegenden Sache um eine Beschwerde betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger im Sinne von Art. 189, Absatz 5, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, deren Behandlung ausschließlich, auch was die Frage des Grundsatzes der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze anlange, in die Kompetenz des Bundesrates, bezw. der Bundesversammlung falle. Da immerhin Zweifel über die Zuständigkeit nicht ausgeschlossen seien, halte das Gericht für angezeigt, den in Art. 194 des obgenannten Bundesgesetzes vorgesehenen Meinungsaustausch zwischen Bundesgericht und Bundesrat zu eröffnen. Nachdem sich das eidgenössische Justizund Polizeidepartement mit dieser Auffassungsweise einverstanden erklärt hatte, beschloß das Bundesgericht den 3. Mai d. J., auf den Rekurs nicht einzutreten und die Akten zu weiterer Behandlung dem Bundesrate zuzustellen.

V.

a. Der Regierungsrat des Kantons Bern, dem nun die Beschwerde zur Vernehmlassung übermittelt wurde, beantragte in seiner Rekursbeantwortung vom 8. Juni 1900 Nichteintreten, event.

Abweisung. Zur Begründung wurde ausgeführt: Auf die Frage der Zuständigkeit ist nicht einzutreten, weil der Bundesrat die Kompetenz von Amtes wegen zu prüfen haben wird. In der Sache selbst ist vorerst festzustellen, daß die Bundesverfassung zur Begründung des Einspruches gegen das neue Keglement der Stadt Bern und dessen Genehmigung durch den Regierungsrat nicht herangezogen werden kann, weil die Bundesbehörden wiederholt das Proportionalwahlverfahren revidierter Kantonsverfassungen sanktioniert haben. Aber auch die bernische Verfassung bietet der Einsprache keinen Rückhalt. Art. 72, auf den sich Rekurrent beruft, hat auf das passive Wahlrecht in Gemeindeangelegenheiten keinen Bezug. Für alles, was die Gemeinden angeht, besteht ein besonderer Titel, die Art. 63--71 der Verfassung umfassend, gleich wie das politische Stimmrecht und das

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passive Wahlrecht betreffend die Staatsbeamtungen ebenfalls in .besondern Artikeln (3--5, 13) geregelt sind und also auch nicht unter den Titel ,,Allgemeine Grundsätze und Gewährleistungen10, zu dem Art. 72 gehört, fallen. Übrigens ist zu bemerken, daß von einer Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz nur dann gesprochen werden könnte, wenn Bürger beim Vorhandensein ganz gleicher Voraussetzungen ungleich behandelt würden. Dies trifft hier nicht zu.

Was nun freilich den vierten Titel der bernischen Vorfassung, welcher von den Gemeinden handelt, anbelangt, so ist zu bemerken, daß derselbe über die Materie, welche Gegenstand der Einsprache bildet, keine ausdrücklichen Bestimmungen enthält ; es muß demnach die Gemeindegesetzgebung, auf die Art. 65 verweist, herangezogen werden. Da machen Regel das Geseta über das Gemeindewesen, vom 6. Dezember 1852, und das Gesetz vom 11. Mai 1884, betreffend teilweise Abänderung und Ergänzung des Gesetzes vom 6. Dezember 1852. Das Gemeindegesetz vom 6. Dezember 1852 kennt ,,Stadträte1'- noch nicht. Die Möglichkeit der Einführung von solchen wurde vielmehr erst im Gesetz vom 11. Mai 1884 vorgesehen. In Hinsicht auf die Wahlart dieser Gemeindebehörden enthält dasselbe weiter keine Bestimmungen als die, daß die Mitglieder des Großen Gemeinde- oder Stadtrates durch die Gemeindeversammlung zu wählen seien (§ 3, Ziffer 1); für alles weitere, betreffend Wahl, Organisation, Amtsdauer und Art der Verhandlungen ist in § l, AI. 3, auf das Gemeindegesetz verwiesen, ,,sofern das Gemeindereglement nichts bestimmt"1. Demnach ist in dieser Gesetzesvorschrift den Gemeinden, welche einen Großen Gemeinde- oder Stadtrat einführen, das Recht zugestanden worden, die Wahlart dieser Behörde im Gemeindereglement nach Gutfinden zu regeln, wobei freilich dem Regierungsrate die Befugnis zusteht, bei der Genehmigung von Gemeindereglementen und mit Rücksicht auf das ihm über alle Gemeinden und Gemeindebehörden zustehende Oberaufsichtsrecht (§ 48 des Gemeindegesetzes) allfälligen Mißbräuchen entgegenzutreten. Daß der Regierungsrat aber in dem von der Gemeinde Bern mit großem Mehr gutgeheißenem Vcrhältnissystem, gegen das anläßlieh seiner Neueinführung kein Einspruch erhoben worden war, eine von Amtes wegen zu untersagende Unregelmäßigkeit nicht erblicke, hat er dadurch bekundet,
daß er die ^Ergänzenden Bestimmungen" vom 8. Mai 1895 sanktionierte.

Neu ist in der nun angefochtenen Gemeindeordnung die sogenannte beschränkte Kumulation, welche dem für die Stadtrats-

593 wählen geltenden Proportionalsystem hinzugefügt wurde. Diese Neuerung steht, wie schon aus dem Vorstehenden sich ergiebt, mit Verfassung und Gesetz ebensowenig im Widerspruch, als der Proporz selbst. Aus andern Gründen, gestützt auf das Aufsichtsrecht, dagegen Stellung zu nehmen, hatte der Regierungsrat auch nicht Veranlassung.

Es ergiebt sich aus dem Gesagten, daß § 29 des Gemeindegesetzes, auf welchen der Beschwerdeführer besonders auch abstellt, in demjenigen Sinne, in welchem er sich darauf beruft, hier gar nicht in Anwendung kommt. Es sei übrigens noch bemerkt, daß die von den Erfordernissen zur Wahl in den Gemeinderat handelnde Gesetzesbestimmung von 1852 wohl von Anfang an cum grano salis aufzufassen war und bald durch notwendige reglementarische Einschränkungen stark beeinträchtigt wurde. Es sei erinnert an die verwandtschaftlichen Ausschließungsgründe, an die Vertretung der Gemeindebezirke im Gemeinderat, an die grundsätzliche Repräsentation politischer Minderheiten (ohne Proporz), welche auch im Gemeindereglement der Stadt Bern vom 11. Dezember 1887 sanktioniert worden war etc.

b. Der Bericht des Gemeinderates der Stadt Bern an den Regierungsrat macht noch auf folgendes aufmerksam : Die Gleichheit der Bürger ist gewährleistet durch die Staatsund durch die Bundesverfassung. Die Garantie der Grundrechte der Bürger fußt überhaupt auf den Bundesvorschriften, zumal die Kantonsverfassungen der Bundesgarantie bedürfen. Nun ist die Verhältniswahl in den Verfassungen resp. Verfassungsgesetzen der vier Kantone Tessin, Genf, Zug und Solothurn eingeführt, welche sämtlich die Bundesgarantie erhalten haben; es ist also in vier Bundesbeschlüssen von den eidgenössischen Räten unzweideutig anerkannt worden, daß die Verhältniswahl zu dem Grundsatze der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz in keinem Widerspruche steht. Bemerkenswert ist noch, daß in den Debatten über die revidierte Verfassung des Kantons Solothurn im Nationalrate ausdrücklich bemerkt wurde, die Bundesgarantie betreffe die grundsätzliche Einführung der Verhältniswahl ; die Art der Abänderung des Wahlsystems und des Wahlverfahrens bleibe dem Kanton Solothurn und seinen Behörden überlassen. Es verstößt also auch nicht gegen den Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze, daß nach Einführung des Proportionalwahlsystems aus demselben die Konsequenzen gezogen werden, welche zu richtiger Anwendung des Systems notwendig sind. Eine solche einschränkende,

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aber notwendige Bestimmung ist diejenige der Berner Verordnung, daß der Bürger in gültiger Weise nur für diejenigen Kandidaten stimmen kann, deren Namen auf den innert nützlicher Frist eingereichten Wahllisten stehen. Diese Bestimmung, wie die Verhältniswahl überhaupt, ist in Bern schon altern Datums. Erstens war die Verhältniswahl in der Form des limitierten Votums im Gemeindereglement vom 11. Dezember 1887 bereits enthalten (Art. 4). Namentlich aber ist das in der neuen Gemeindeordnung beibehaltene Wahlsystem für die Wahl des Stadtrates schon durch die ^Ergänzenden Bestimmungen zum Gemeindereglement"', vom 8. Mai 1895, eingeführt worden. Die genannten Bestimmungen und der Sanktionsbeschluß des Regierungsrates sind neueren Datums als die gegenwärtige Staats Verfassung des Kantons Bern, und es kann somit, da die vom Regierungsrate ausgesprochene Sanktion eine derselben vorangegangene Prüfung der Vorlage auf ihre Verfassungsmäßigkeit in sich schließt, nicht mehr behauptet werden, daß die Verhältniswahl mit der bernischen Staatsverfassung unvereinbar sei. Einzig neu ist in der Gemeindeordnung die Kumulation.

Das kumulative Votum enthält aber keinerlei Einschränkung des aktiven Wahlrechtes der Bürger. Der Bürger kann immer noch in durchaus zulässiger und gültiger Weise für so viele Kandidaten stimmen, als Stellen zu besetzen sind; aber er hat claneben das Recht, seiner Vorliebe für einzelne Kandidaten in der Weise Ausdruck zu geben, daß er für dieselben zwei- oder dreimal stimmt.

Die Rechtssphäre des Wählers wird dadurch erweitert, ohne irgend welche Beeinträchtigung eines andern Rechtes.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: 1. Die schweizerische Bundesversammlung hat, nach dem Antrage des Bundesrates, folgenden kantonalen Grundgesetzen, in welchen das Proportionalwahlverfahren anerkannt worden ist, die eidgenössische Gewährleistung erteilt : dem tessinischen Verfassungsgesetze vom 2. Juli 1892, durch Bundesbeschluß vom 23. Dezember 1892 (A. S. n. F. XHI, 214/215); dem Verfassungsgesetze des Kantons Genf vom 6. Juli 1892, durch Bundesbeschluß vom 23. Dezember 1892 (A. S. n. F. XIII, 216/217); der Verfassung des Kantons Zug vom 31. Januar 1894, durch Bundesbeschluß vom 26. Juni 1894 (A. S. n. F. XIV, 280/281}; der Partialrevision

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der Verfassung des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 1887, durch Bundesbeschluß vom 28. Juni 1895 (A. S. n. F. XV, 169/170); der Partialrevision der Verfassung des eidgenössischen Standes Schwyz vom 23. Oktober 1898, durch Bundesbeschluß vom 21. Dezember 1899 (A. S. n. F. XVII, 758/759).

Damit hat die Bundesversammlung in Übereinstimmung mit dem Bundesrate festgestellt, daß die Einführung des sogenannten Proportionalwahlsystems in den Kantonen und die Ausgestaltung desselben durch die kantonale Gesetzgebung weder dem in Art. 4 der Bundesverfassung niedergelegten Grundsatze der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze, noch sonst einer Bestimmung der Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 widerspricht.

Der Bundesrat ist somit nicht in der Lage, auf die grundsätzlichen Einwendungen des Beschwerdeführers gegen dieses Wahlsystem einzutreten, und es fällt die Behauptung einer Verletzung der Bundesverfassung durch Aufstellung der das Proportionalwahlverfahren enthaltenden und ausführenden Gemeindeordnung für die Stadt Bern, vom 10. November 1899, ohne weiteres dahin.

2. Die Beurteilung der Frage, ob die angefochtene Gemeindeordnung mit den kantonalen Gesetzen und Verordnungen im Einklänge stehe, liegt nicht in der Kompetenz des Bundesrates, da derselbe gemäß Art. 189, Alinea 5, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 22. Märzl893, Beschwerden der Bürger betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen einzig auf Grundlage des kantonalen Verfassungsrechtes und des Bundesrechtes zu prüfen hat (vgl. auch den Entscheid des Bundesrates in Sachen Chappuis & Rais, vom 21. März 1899; Bundesbl. 1899, II, 245/246, und 1900, I, 826/827). Eine materielle Überprüfung der vom Regierungsrate des Kantons Bern dafür angeführten Argumente, daß dieses Reglement dem kantonalen Gesetzesrechte nicht widerspreche, dürfte übrigens die Richtigkeit seiner Beweisführung ergeben.

3. Die Behauptung des Beschwerdeführers, es sei durch die ,,Gemeindeordnung"' der Art. 72 der Staatsverfassung des Kantons Bern, vom 4. Juni 1893, verletzt, ist von den Bundesbehörden mit dem Hinweise auf die Übereinstimmung dieser kantonalen Verfassungsvorschrift mit dem Grundsatze des Art. 4 der Bundesverfassung als unstichhaltig zurückzuweisen.

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Demnach wird erkannt: Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 7. Juli 1900.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Hauser.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Karl Jahn, Fürsprecher in Bern, gegen die vom Regierungsrate des Kantons Bern erteilte Genehmigung der Gemeindeordnung der Stadt Bern vom 10. November 1899 (Wahl des Stadtrates durch das Proportionalwahlverf...

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