01.063 Botschaft betreffend das Zweite Zusatzabkommen zum Abkommen zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein über Soziale Sicherheit vom 17. Oktober 2001

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen den Entwurf zu einem Bundesbeschluss über das am 29. November 2000 unterzeichnete Zweite Zusatzabkommen zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein über Soziale Sicherheit mit dem Antrag auf Genehmigung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

17. Oktober 2001

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

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Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

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Übersicht Das geltende schweizerisch-liechtensteinische Abkommen über Soziale Sicherheit vom 8. März 19891 enthält keine zwischenstaatliche Rechtsgrundlage für die Übertragung von Freizügigkeitsleistungen zwischen schweizerischen und liechtensteinischen Vorsorgeeinrichtungen. Weil beide Staaten ein vergleichbares Obligatorium in der beruflichen Vorsorge kennen, ist der Abschluss einer solchen Vereinbarung jedoch möglich.

Die durch das Zweite Zusatzabkommen eingeführte Regelung gewährleistet bei einem Stellenwechsel von einem Staat in den anderen einen Vorsorgeschutz ohne Unterbruch. Auch das auf einem Freizügigkeitskonto oder einer Freizügigkeitspolice bei einer Freizügigkeitseinrichtung gutgeschriebene Vorsorgekapital zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes kann übertragen werden. Die Barauszahlung der Austrittsleistung bei einer Verlegung des Wohnsitzes von der Schweiz nach Liechtenstein ist nicht mehr möglich.

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AS 1990 638

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Botschaft 1

Allgemeiner Teil

1.1

Ausgangslage

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein auf dem Gebiet der Sozialen Sicherheit sind derzeit durch das Abkommen vom 8. März 1989 in der Fassung des Zusatzabkommens vom 9. Februar 1996 geregelt. Dieses Abkommen erfasst die üblichen Versicherungszweige, enthält aber keine Regelung im Bereich der beruflichen Vorsorge.

Seit einiger Zeit häuften sich die Anfragen von Personen, die ihr Freizügigkeitsguthaben wegen eines Stellenwechsels zu einem liechtensteinischen Arbeitgeber von einer schweizerischen auf eine liechtensteinische Vorsorgeeinrichtung übertragen wollten. Mangels gesetzlicher Grundlagen mussten die Vorsorgeeinrichtungen diese Anfragen ablehnen.

Aus diesem Grund stellte Liechtenstein das Begehren, in der beruflichen Vorsorge eine zwischenstaatliche Rechtsgrundlage zu schaffen, die die Übertragung der Freizügigkeitsguthaben von Vorsorgeeinrichtungen des einen Staates in diejenigen des anderen Staates regelt.

1.2

Bedeutung des Zweiten Zusatzabkommens

Fast 4000 schweizerische Arbeitskräfte fahren heute als Grenzgängerinnen oder Grenzgänger täglich zu ihrer Arbeit nach Liechtenstein. Es ist im Interesse solcher Personen, dass schweizerische Freizügigkeitsguthaben auf die Vorsorgeeinrichtung des liechtensteinischen Arbeitgebers übertragen werden können, damit dort ihre berufliche Vorsorge ohne Unterbruch weiter aufgebaut werden kann. Umgekehrt ist mit der zwischenstaatlichen Übertragung der Freizügigkeitsleistung der Vorsorgezweck, nämlich die Erhaltung des Vorsorgeschutzes, auch bei der Rückkehr zu einem schweizerischen Arbeitgeber gewährleistet.

Mit der Möglichkeit, die Freizügigkeitsleistung bzw. das Vorsorgekapital zu übertragen, und dem Verbot der Barauszahlung im schweizerisch-liechtensteinischen Raum trägt die neue Regelung dem Vorsorgezweck der nationalen Rechtsvorschriften beider Staaten im Bereich der 2. Säule optimal Rechnung.

1.3

Ergebnisse des Vorverfahrens

Nach einem Korrespondenzwechsel zwischen den zuständigen Behörden beider Staaten wurde in einer Verhandlungsrunde ein Entwurf für ein Zweites Zusatzabkommen ausgearbeitet. In der Folge wurde der Text von beiden Seiten nochmals eingehend intern geprüft und auf schriftlichem Weg bereinigt.

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2

Besonderer Teil

2.1

Die betriebliche Personalvorsorge in Liechtenstein

Die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorgesysteme beider Staaten sind sich sehr ähnlich. Das liechtensteinische System orientiert sich wie das schweizerische am Drei-Säulen-Prinzip. Liechtenstein kennt ein vergleichbares Obligatorium in der beruflichen Vorsorge. Auch die Freizügigkeit bei einem Stellenwechsel ist gewährleistet.

Im Jahre 1988 hat Liechtenstein in Anlehnung an das schweizerische BVG ein Gesetz über die betriebliche Personalvorsorge eingeführt. Die betriebliche Personalvorsorge (2. Säule) dient als Vorsorgesystem der Arbeitnehmer sowie Arbeitnehmerinnen und stellt zusammen mit der AHV/IV (l. Säule) einen wesentlichen Teil der finanziellen Absicherung gegen Alter, Tod und Invalidität dar. Jeder Arbeitgeber ist verpflichtet, für seine Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen die betriebliche Personalvorsorge zu verwirklichen, sofern diese Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nach dem Gesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung beitragspflichtig sind und den versicherungspflichtigen Mindestjahreslohn erreichen.

Der Arbeitgeber hat mindestens die Hälfte der Beiträge aufzubringen. Die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen werden bei der Lohnauszahlung zurückbehalten und zusammen mit dem entsprechenden Arbeitgeberbeitrag der Vorsorgeeinrichtung überwiesen. Der Staat und einige grössere Betriebe haben eigene Pensionskassen, kleinere Unternehmen können sich einer gemeinsamen Vorsorgeeinrichtung (Sammel- oder Gemeinschaftsstiftung) anschliessen.

Aus der Versicherung entstehen Ansprüche auf Altersrente, Invalidenrente und Kinderrenten sowie Hinterlassenenrenten, Witwen- bzw. Witwer- und Waisenrenten.

Selbstständigerwerbende können sich der Vorsorgeeinrichtung ihrer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen freiwillig anschliessen.

2.2

Inhalt des Zweiten Zusatzabkommens

Nach liechtensteinischem Recht ist es möglich, im Falle des Ausscheidens eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin aus einer liechtensteinischen Vorsorgeeinrichtung die Freizügigkeitsleistung an eine schweizerische Vorsorgeeinrichtung überweisen zu lassen. Die Barauszahlung der Austrittsleistung ist nur bei endgültigem Verlassen des Wirtschaftsraums Schweiz/Liechtenstein zulässig.

Nach schweizerischem Recht wird Liechtenstein hingegen als Ausland betrachtet.

Das hat bei einem Stellenwechsel von einem schweizerischen zu einem liechtensteinischen Arbeitgeber zur Folge, dass die Austrittsleistung (Art. 3 Freizügigkeitsgesetz [FZG]) von der bisherigen schweizerischen Vorsorgeeinrichtung nicht auf eine liechtensteinische Vorsorgeeinrichtung übertragen werden kann. Die Austrittsleistung verbleibt somit in schweizerischen Freizügigkeitseinrichtungen. Bei einer Verlegung des Wohnsitzes ins Fürstentum kann die Austrittsleistung auf Grund von Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a FZG als Barauszahlung bezogen werden.

Die neue Regelung des Zweiten Zusatzabkommens wurde ins Schlussprotokoll des Abkommens aufgenommen, da der sachliche Geltungsbereich des Abkommens (Art. 2) den Bereich der beruflichen Vorsorge nicht einschliesst. Artikel 1 des Zwei6260

ten Zusatzabkommens fügt eine neue Ziffer 20 ins Schlussprotokoll zum Abkommen ein.

Ziffer 20 Buchstabe a regelt die Übertragung der Austrittsleistung von einer schweizerischen in eine liechtensteinische Vorsorgeeinrichtung. Auch das in einer Freizügigkeitseinrichtung, auf einem Freizügigkeitskonto oder einer Freizügigkeitspolice gutgeschriebene Vorsorgekapital zur Erhaltung des Vorsorgeschutzes kann entsprechend übertragen werden.

Die Überweisung der Austrittsleistung oder des Vorsorgekapitals erfolgt nach Massgabe des schweizerischen Rechts, die Verwendung des überwiesenen Betrages nach liechtensteinischem Recht. Auf diese Weise erübrigt sich eine Anpassung der nationalen Rechtsvorschriften. Falls die schweizerische Vorsorgeeinrichtung Hinterlassenen- oder Invalidenleistungen erbringen muss, ist die teilweise Rückerstattung des überwiesenen Betrages wie im schweizerischen Recht (Art. 3 Abs. 2 FZG) vorgesehen.

Die Gleichstellung der schweizerischen und liechtensteinischen Vorsorgeeinrichtungen in Bezug auf die Übertragung der Austrittsleistung ermöglicht eine steuerfreie Überweisung der Leistung. Dabei wird vorausgesetzt, dass ein Stellenwechsel vorliegt und die Überweisung der Leistung an eine Vorsorgeeinrichtung erfolgt. Die Steuerfreiheit gilt demnach nicht für eine Austrittsleistung, die auf ein Freizügigkeitskonto oder auf eine Freizügigkeitspolice übertragen wird.

Ziffer 20 Buchstabe b stellt das Gebiet Liechtensteins dem schweizerischen Territorium gleich und schliesst damit die Barauszahlung im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a FZG bei einer Verlegung des Wohnsitzes von der Schweiz nach Liechtenstein aus. Diese Bestimmung wurde unilateral abgefasst, da, wie erwähnt, das liechtensteinische Recht für den umgekehrten Fall bereits ein Barauszahlungsverbot vorsieht.

Buchstabe c regelt die Übertragung der Austrittsleistung von einer liechtensteinischen in eine schweizerische Vorsorgeeinrichtung.

Buchstabe d dehnt die Anwendung der Buchstaben a­c auf Drittstaatsangehörige aus.

Artikel 3 des Zweiten Zusatzabkommens enthält die Übergangs- und Schlussbestimmungen. Nach der Unterzeichnung dauert es in der Regel ein Jahr, bis die notwendigen innerstaatlichen Genehmigungsverfahren abgeschlossen sind und ein Vertrag in Kraft treten kann. Da der Zusatzvertrag so rasch als möglich Anwendung
finden muss, damit bei den betreffenden Personen ­ es handelt sich dabei vorwiegend um schweizerische Staatsangehörige ­ keine Lücken im Versicherungsschutz entstehen, wurde vorgesehen, dass er rückwirkend auf den Zeitpunkt seiner Unterzeichnung in Kraft tritt (Abs. 2). Auf Grund eines Bundesratsbeschlusses vom 18. Oktober 2000 und eines entsprechenden liechtensteinischen Regierungsbeschlusses wird das Zusatzabkommen seit seiner Unterzeichnung vorläufig angewendet. Artikel 25 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge, welcher die Schweiz beigetreten ist, sieht die vorläufige Anwendung eines Vertrages bis zu seinem Inkrafttreten vor, wenn der Vertrag dies vorsieht oder wenn die Verhandlungsstaaten dies auf andere Weise vereinbart haben.

Die neuen Übertragungsregelungen sind nicht nur auf Vorsorgekapitalien anwendbar, die nach Inkrafttreten des Zusatzabkommens auf einem Freizügigkeitskonto 6261

oder in einer Freizügigkeitspolice gutgeschrieben wurden, sondern auf Antrag der berechtigten Personen auch auf solche, die vor Inkrafttreten bei einer Freizügigkeitseinrichtung gutgeschrieben wurden. Das neue Recht gilt ansonsten nur für laufende Vorsorgeverhältnisse. Ausgeschlossen von der Übertragungsmöglichkeit sind im Zeitpunkt des Inkrafttretens bereits abgegoltene Ansprüche (z.B. durch Barauszahlung oder Renten).

3

Auswirkungen

3.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Der für die betroffenen Vorsorge- und Freizügigkeitseinrichtungen entstehende, zusätzliche Verwaltungsaufwand lässt sich im Einzelnen nicht beziffern, dürfte im Ganzen gesehen jedoch kaum ins Gewicht fallen. Diese Einrichtungen tragen im Übrigen die Verwaltungskosten selber.

3.2

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

Die Vorlage hat keine nennenswerten Auswirkungen in volkswirtschaftlicher Hinsicht.

3.3

Auswirkungen auf die Informatik

Die Vorlage zeitigt keine nennenswerten Auswirkungen im Bereich der Informatik.

4

Legislaturplanung

Die Vorlage ist in der Legislaturplanung 1999­2003 nicht vorgesehen. Da die Vorlage dringlich ist, wird sie dennoch vorgelegt.

5

Verhältnis zum europäischen Recht

Das bestehende Abkommen zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein im Bereich der Sozialen Sicherheit entspricht wie unsere übrigen bilateralen Sozialversicherungsabkommen in der Zielsetzung wie in der Ausgestaltung der Regelungen bereits weitgehend den für diesen Bereich massgebenden Grundsätzen des europäischen Rechts.

Im Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft und im Rahmen des revidierten EFTA-Abkommens2 ist vorgesehen, dass die Schweiz bei den gemeinschaftsrechtlichen Koordinationsbestimmungen im Bereich der Sozialen Sicherheit mitwirkt.

2

Unterzeichnung am 21. Juni 2001; s. Botschaft des Bundesrates vom 5. September 2001.

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Nach diesen Bestimmungen steht es den Staaten offen, soweit ein Bedürfnis besteht, nach den Grundsätzen und im Geist des Koordinationsrechts miteinander Abkommen im Bereich der Sozialen Sicherheit abzuschliessen. Das vorliegende Zusatzabkommen entspricht dem Bedürfnis beider Staaten und ist wegen der Gleichartigkeit der Vorsorgesysteme nur im schweizerisch-liechtensteinischen Verhältnis realisierbar. Die vorgesehenen Bestimmungen entsprechen den Grundsätzen und dem Geist der gemeinschaftsrechtlichen Koordination. Für die Durchführung der Vorsorge werden die beiden Staatsgebiete einander gewissermassen gleichgestellt, was den Versicherten auch bei Weiterbeschäftigung im jeweils anderen Staat eine optimale Erhaltung des Vorsorgeschutzes garantiert.

Die Regelung geht über den EG-Acquis hinaus und ist in den sektoriellen Abkommen und im revidierten EFTA-Abkommen (abgesehen vom Verbot der Barauszahlung der Austrittsleistung bei Weiterversicherung im Vertragsgebiet) nicht vorgesehen. Obschon das EFTA-Abkommen nach seinem Inkrafttreten das geltende schweizerisch-liechtensteinische Sozialversicherungsabkommen grösstenteils ersetzen wird, wird die neue bilaterale Übertragungsregelung auf Grund eines besonderen Eintrags im EFTA-Vertrag (Abschnitt A Ziff. 12 Nr. 110 des Anhangs über die Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit) auch künftig anwendbar bleiben.

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Verfassungsmässigkeit

Nach den Artikeln 111 und 113 der Bundesverfassung ist der Bund zur Gesetzgebung im Bereich der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge ermächtigt. Artikel 54 der Bundesverfassung gibt ihm ferner das Recht, Staatsverträge mit dem Ausland abzuschliessen. Die Zuständigkeit der Bundesversammlung zur Genehmigung solcher Verträge ergibt sich aus Artikel 166 Absatz 2 der Bundesverfassung.

Das Zusatzabkommen mit Liechtenstein ist kündbar, sieht weder den Beitritt zu einer internationalen Organisation vor, noch führt es eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbei; es unterliegt deshalb nicht dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d der Bundesverfassung.

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