01.038 Botschaft zum Abkommen zwischen der Schweiz und Marokko über die Überstellung verurteilter Personen und zu einer Änderung des Rechtshilfegesetzes vom 15. Juni 2001

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses zu dem am 14. Juli 2000 unterzeichneten Abkommen zwischen der Schweiz und Marokko über die Überstellung verurteilter Personen sowie den Entwurf zu einer Änderung des Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG).

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

15. Juni 2001

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

11488

Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2001-0289

4687

Übersicht Das am 14. Juli 2000 unterzeichnete Abkommen mit Marokko über die Überstellung verurteilter Personen gibt schweizerischen und marokkanischen Strafgefangenen die Möglichkeit, die ausländische Strafe künftig im Heimatstaat zu verbüssen. Das Abkommen hat vor allem einen humanitären Zweck. Die verurteilte Person soll ihre Strafe in einer vertrauten Umgebung und unter Bedingungen verbüssen, die ihre soziale Wiedereingliederung begünstigen.

Das Abkommen begründet keine Überstellungspflicht. Es liegt im freien Ermessen der Vertragsparteien, ob sie einem Ersuchen um Überstellung Folge geben. Die verurteilte Person kann aus dem Abkommen kein Recht auf eine Strafverbüssung im Heimatstaat ableiten. Eine Überstellung bedarf der Zustimmung der Vertragsparteien und der verurteilten Person.

Das Abkommen verfolgt das gleiche Ziel wie das Europarat-Übereinkommen (Nr. 112) vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen, dem die Schweiz seit 1988 angehört (SR 0.343). Alle wichtigen Grundsätze, die im Übereinkommen verankert sind, wurden übernommen. Ergänzend enthält das Abkommen eine Bestimmung mit Ablehnungsgründen und sieht eine vorläufige Anwendung bis zum Inkrafttreten vor.

Die Umsetzung des Abkommens bestimmt sich nach den einschlägigen Bestimmungen des Rechtshilfegesetzes (IRSG; SR 351.1).

Im Hinblick auf neue Überstellungsabkommen soll mit einer Änderung des IRSG eine Kompetenznorm geschaffen werden, die es dem Bundesrat künftig erlaubt, Abkommen dieser Art in eigener Kompetenz abzuschliessen.

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Botschaft 1

Allgemeiner Teil

1.1

Ausgangslage

Die Haftbedingungen in einem ausländischen Gefängnis können für Strafgefangene, die mit einer fremden Kultur und Sprache konfrontiert sind, belastend sein. Sprachliche und kulturelle Schranken führen oftmals dazu, dass ausländische Strafgefangene im Vergleich zu den anderen Gefängnisinsassen benachteiligt werden. Dadurch schmälern sich die Resozialisierungsmöglichkeiten für ausländische Strafgefangene.

Das Europarat-Übereinkommen (Nr. 112) vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen (nachfolgend: das Überstellungsübereinkommen) gibt ausländischen Strafgefangenen, die in einem Vertragsstaat verurteilt wurden, die Möglichkeit, für die Strafverbüssung in den Heimatstaat zurückzukehren. Die Schweiz gehört dem Übereinkommen seit 1988 an1. Zweck des Übereinkommens ist es, die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Personen im Heimatstaat zu fördern.

Das Überstellungsübereinkommen steht auch Nichtmitgliedstaaten des Europarates offen2. Die Schweiz hätte es deshalb begrüsst, wenn auch Marokko dem Übereinkommen beigetreten wäre. Marokko bevorzugte indessen mit der Schweiz eine bilaterale Regelung. Das Abkommen mit Marokko ermöglicht schweizerischen und marokkanischen Strafgefangenen, die Strafe im Heimatstaat zu verbüssen3.

1.2

Verlauf der Verhandlungen

Nachdem der multilaterale Weg über das Überstellungsübereinkommen ausgeschlossen war und Marokko auf einem bilateralen Abkommen bestand, entschied die Vorsteherin des EJPD Ende 1999, mit Marokko Vertragsgespräche aufzunehmen.

Anfang Februar 2000 fand in Rabat eine erste Gesprächsrunde zwischen Vertretern der Justiz- und Aussenministerien statt. Grundlage für die Gespräche waren ein schweizerischer Vertragsentwurf und das Überstellungsabkommen zwischen Marokko und den Niederlanden. Gestützt auf diese beiden Texte wurde ein erster Abkommensentwurf erarbeitet. An der zweiten Gesprächsrunde in Bern konnten alle offenen Punkte bereinigt werden, sodass das Abkommen im März 2000 paraphiert wurde.

Am 14. Juli 2000 fand in Rabat die Unterzeichnung des Abkommens statt.

1 2

3

SR 0.343 Folgende aussereuropäische Staaten sind dem Übereinkommen beigetreten: Armenien, Aserbaidschan, Bahamas, Chile, Costa Rica, Israel, Kanada, Panama, Tonga, Trinidad und Tobago, USA (Stand März 2001).

Ende 2000 waren in der Schweiz fünf Marokkaner insbesondere wegen Gewaltdelikten im Strafvollzug. In Marokko verbüsste ein Schweizer eine 20-jährige Freiheitsstrafe.

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2

Besonderer Teil

2.1

Kommentar zum Abkommen

Das Abkommen mit Marokko schafft die Rechtsgrundlage, damit schweizerische und marokkanische Strafgefangene die ausländische Strafe künftig im Heimatstaat verbüssen können. Das Abkommen hat vor allem einen humanitären Zweck und dient dazu, die Resozialisierungsmöglichkeiten für ausländische Strafgefangene im Heimatstaat zu verbessern.

Mit dem Abkommen werden beide Staaten ermächtigt, der Vollstreckung einer ausländischen Strafe zuzustimmen. Das Abkommen enthält weder eine Verpflichtung zur Überstellung einer verurteilten Person noch gibt es einer verurteilten Person ein Recht, für den Strafvollzug in den Heimatstaat zurückzukehren. Es liegt im freien Ermessen der Vertragsparteien, ob sie einem Überstellungsersuchen Folge geben wollen oder nicht. Grundvoraussetzung für eine Überstellung ist, dass der Urteilsund der Heimatstaat sowie die verurteilte Person zustimmen.

Das Abkommen folgt dem Überstellungsübereinkommen des Europarates, das zwischen knapp 50 europäischen und nichteuropäischen Staaten gilt. Ergänzend wurde eine Bestimmung mit Ablehnungsgründen (Art. 3) aufgenommen. Ausserdem kann das Abkommen nach der Unterzeichnung vorläufig angewendet werden (Art. 24).

Diese Regelung stützt sich auf das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge4, das in Artikel 25 die vorläufige Anwendung bis zum Inkrafttreten ausdrücklich vorsieht. Mit Marokko drängt sich eine vorzeitige Anwendung des Abkommens vor allem aus humanitären und politischen Gründen auf: König Mohammed VI. gewährte im Frühjahr 2000 einem Schweizer, der in Marokko wegen illegalen Waffenbesitzes und Verletzung der öffentlichen Sicherheit des Staates zu einer 20-jährigen Strafe verurteilt wurde, eine Strafermässigung von zehn Jahren. Diese Geste Marokkos rechtfertigt eine rasche Anwendung des Abkommens.

Die Umsetzung des Abkommens richtet sich nach dem ersten und dem fünften Teil des Rechtshilfegesetzes (IRSG)5 sowie den einschlägigen kantonalen Erlassen. Die Bestimmungen des IRSG sind sinngemäss anwendbar, soweit der Vertrag nichts anderes bestimmt. Diese Regelung entspricht derjenigen im Überstellungsübereinkommen6.

Wir beschränken uns darauf, die Kernbestimmungen des Abkommens zu erläutern und die wesentlichen Abweichungen vom Überstellungsübereinkommen aufzuzeigen.

4 5 6

SR 0.111 SR 351.1 Siehe dazu Botschaft vom 29. Okt. 1986 zum Überstellungsübereinkommen, Ziff. 124 (BBl 1986 III 779).

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2.2

Art. 1

Kommentar zu den Kernbestimmungen des Abkommens Begriffsbestimmungen

Die Buchstaben a­d decken sich mit denjenigen im Überstellungsübereinkommen.

Buchstabe e, der neu ist, wurde einzig der Klarheit wegen in das Abkommen aufgenommen.

Art. 2

Grundsätze

Absatz 1 umschreibt den Rahmen der Zusammenarbeit. Er gibt beiden Staaten die Möglichkeit, eine verurteilte Person zur Vollstreckung der gegen sie ergangenen Sanktion in das Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu überstellen. Diese Bestimmung begründet keine Verpflichtung zur Übertragung oder Annahme der Strafvollstreckung. Die verurteilte Person kann daraus kein Recht auf eine Verbüssung der ausländischen Strafe im Heimatstaat (Vollstreckungsstaat) ableiten.

Absatz 2 hält fest, dass die verurteilte Person oder ihr gesetzlicher Vertreter die Initiative für eine Überstellung ergreifen muss.

Absatz 3 lässt dem Urteils- und Vollstreckungsstaat die Wahl, das Ersuchen um Überstellung einzureichen.

Art. 3

Ablehnungsgründe

Artikel 3 bestimmt, in welchen Fällen der Urteils- oder der Vollstreckungsstaat ein Ersuchen um Überstellung ablehnen kann. Im Überstellungsübereinkommen fehlt eine solche Bestimmung. Die Regelung bezweckt, aussichtslose Ersuchen und unnötige Kosten für ein Überstellungsverfahren zu verhindern.

Die Buchstaben f, i und j wurden auf Begehren Marokkos aufgenommen. Die restlichen Buchstaben enthalten klassische Ablehnungsgründe: dem ausländischen Strafurteil liegt ein politisches, fiskalisches oder militärisches Delikt zu Grunde (Bst. a und b), die Überstellung würde einen Eingriff in die Souveränität, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung (ordre public) oder in andere wesentliche Interessen einer Vertragspartei darstellen (Bst. c), die Überstellung hätte eine doppelte Verfolgung oder Bestrafung zur Folge (Bst. d, e und h) oder scheidet wegen Verjährung der Sanktion aus (Bst. g).

Art. 4

Voraussetzungen für die Überstellung

Die in den Buchstaben a, b, e und f aufgelisteten Fälle, in denen eine Überstellung möglich ist, decken sich mit denjenigen im Überstellungsübereinkommen.

Nach Buchstabe c muss die Mindestdauer der Sanktion, die im Urteilsstaat zu verbüssen bleibt, im Zeitpunkt der Einreichung des Ersuchens ein Jahr betragen. Im Überstellungsübereinkommen beträgt die Mindestdauer sechs Monate. Im Verhältnis zu Marokko rechtfertigt sich eine längere Strafdauer, weil der Erfolg und die Kosten der Überstellung in einem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen sollten. Angesichts der kulturellen Unterschiede können die Bemühungen um die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Person nur erfolgreich sein, wenn

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noch eine genügend lange Strafe zu verbüssen bleibt. In Anlehnung an Artikel 3 Absatz 2 des Überstellungsübereinkommens haben die Vertragsparteien die Möglichkeit, sich in Ausnahmefällen auf eine kürzere Mindestdauer zu einigen.

Buchstabe d präzisiert, dass die verurteilte Person oder ihr gesetzlicher Vertreter der Überstellung im vollen Bewusstsein der rechtlichen Folgen zustimmen muss. Diese Bestimmung ist zusammen mit Artikel 8 und Kapitel III des Abkommens zu lesen.

Sie entspricht sinngemäss Artikel 7 Absatz 1 des Überstellungsübereinkommens.

Art. 5

Übermittlungswege

Die Bestimmung regelt die Einzelheiten des Überstellungsverfahrens. Sie wird durch die Artikel 6 und 7 ergänzt.

Überstellungsersuchen werden neu vom Bundesamt für Justiz (BJ) behandelt7. Den Entscheid über das Stellen und Entgegennehmen von Überstellungsersuchen trifft das Bundesamt nach Absprache mit den kantonalen Vollzugsbehörden8.

Art. 8

Nachprüfung der Zustimmung

Die Zustimmung der verurteilten Person gehört zu den Grundvoraussetzungen der Überstellung. Eine erfolgreiche soziale Wiedereingliederung im Vollstreckungsstaat ist nur realistisch, wenn die verurteilte Person die Zustimmung nicht unter Druck oder in Unkenntnis der konkreten Auswirkungen gibt. Artikel 8 räumt dem Vollstreckungsstaat die Möglichkeit ein, sich vor der Überstellung durch eine Vertrauensperson (z.B. Vertreter der Botschaft) zu vergewissern, dass die verurteilte Person die Zustimmung freiwillig und in voller Kenntnis der rechtlichen Konsequenzen erteilt hat. Die verurteilte Person muss insbesondere darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie nach der Überstellung keinen Spezialitätsschutz geniesst. Dies bedeutet, dass sie im Vollstreckungsstaat ins Recht gefasst und verurteilt werden kann für Straftaten, die nicht Gegenstand des ausländischen Strafurteils sind. Zudem muss sie darüber informiert sein, dass sie im Vollstreckungsstaat unter Umständen eine längere Strafe verbüssen muss, als wenn sie dort für dasselbe Delikt verurteilt worden wäre. Ferner sollte die verurteilte Person auch auf die möglichen finanziellen Folgen nach Artikel 13 Absatz 4 hingewiesen werden.

Art. 9

Widerruf der Zustimmung

Im Überstellungsübereinkommen ist die Frage, ob die verurteilte Person ihre Zustimmung zur Überstellung widerrufen kann, nicht geregelt. Die Schweiz hat zu Artikel 7 Absatz 1 die Erklärung abgegeben, dass sie die Einwilligung zur Überstellung von dem Zeitpunkt an als unwiderrufbar betrachtet, zu dem die Überstellung gestützt auf die Vereinbarung der betroffenen Staaten vom Bundesamt für Polizeiwesen beschlossen worden ist9. Grundlage für die Erklärung der Schweiz bildet Artikel 6 der Rechtshilfeverordnung (IRSV)10, der eine befristete Widerrufsmöglichkeit vorsieht, 7

8 9 10

Im Zuge der Reorganisation des Bundesamtes für Polizei wechselte die für die internationale Rechtshilfe zuständige Abteilung am 1. Juli 2000 in das Bundesamt für Justiz (Art. 7 Abs. 6a der Organisationsverordnung vom 17. Nov. 1999 für das EJPD; SR 172.213.1).

Art. 17 Abs. 2 und 30 Abs. 2 IRSG (SR 351.1) SR 0.343; Botschaft zum Überstellungsübereinkommen, Ziff. 2 (BBl 1986 III 786).

SR 351.11

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wenn ein in der Schweiz inhaftierter Strafgefangener der Strafvollstreckung im Ausland zugestimmt hat.

Artikel 9 übernimmt diese Philosophie. Er stellt klar, dass die verurteilte Person ihre Zustimmung nicht mehr widerrufen kann, wenn sich der Urteils- und Vollstreckungsstaat über die Überstellung geeinigt haben. Der Hauptzweck der Regelung besteht darin, den Vertragsstaaten unnötige Kosten und Verfahrensaufwendungen zu ersparen. Es wäre unverhältnismässig, wenn die verurteilte Person ihre Meinung in letzter Minute, z.B. vor Besteigen des Flugzeuges, plötzlich ändern könnte, nachdem sie das ganze Überstellungsverfahren veranlasst hat und die Vertragsstaaten alle Vorkehrungen für die Überstellung getroffen haben. Wird die Schweiz um Überstellung ersucht, so gilt die Zustimmung der verurteilten Person nach Gutheissung des Ersuchens durch das BJ als definitiv.

Art. 11

Befreiung von der Beglaubigung

Artikel 11 schliesst eine Beglaubigung der Überstellungsersuchen und -unterlagen ausdrücklich aus. Diese Bestimmung dient der Vereinfachung des Verfahrens.

Art. 13

Eskorte und Kosten

Nach Absatz 1 muss der Vollstreckungsstaat für die Eskorte aufkommen. Die Regelung, die auf Wunsch Marokkos in das Abkommen aufgenommen wurde, ist für die Schweiz insofern nicht neu, als sie der geltenden Praxis entspricht.

Die Absätze 2 und 3 enthalten die übliche Kostenregelung. Es gilt der Grundsatz, dass der Vollstreckungsstaat für die Kosten der Überstellung und der Eskorte aufkommen muss. Darunter fallen vor allem die Reisekosten auf dem Luftweg. Im Einzelfall können die Vertragsparteien von dieser Regelung abweichen. Der Urteilsstaat trägt die Kosten, die ausschliesslich auf seinem Hoheitsgebiet entstanden sind. Dazu gehören insbesondere die Vollzugskosten. Ist die Schweiz Vollstreckungsstaat, so gehen die Überstellungskosten zu Lasten des Kantons, der die marokkanische Sanktion vollstreckt11.

Absatz 4 gibt dem Vollstreckungsstaat die Möglichkeit, die Überstellungskosten oder zumindest einen Teil davon bei der verurteilten Person einzuziehen. Die gleiche Regelung findet sich im Überstellungsvertrag mit Thailand12.

Art. 14

Auswirkungen im Urteilsstaat

Eine wichtige Folge der Überstellung ist es, dass der Urteilsstaat sein Recht auf Vollstreckung behält, solange die Strafverbüssung im Vollstreckungsstaat nicht beendet ist. Artikel 14 präzisiert diesen Grundsatz und ist in Verbindung mit Artikel 10 zu lesen, der dem Vollstreckungsstaat eine Informationspflicht auferlegt.

Nach Absatz 1 ruht das Vollstreckungsrecht des Urteilsstaates während des Strafvollzugs im Vollstreckungsstaat. Ist der Strafvollzug im Vollstreckungsstaat, z.B.

wegen Flucht der verurteilten Person, nicht mehr möglich, so lebt das Recht des Urteilsstaates auf Vollstreckung des noch zu verbüssenden Strafrests wieder auf.

11 12

Siehe dazu Botschaft zum Überstellungsübereinkommen, Ziff. 3 (BBl 1986 III 787).

Art. 13 Abs. 3 (BBl 1999 4398).

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Absatz 2 hält fest, dass das Recht des Urteilsstaates auf Vollstreckung seines Urteils erst erlischt, wenn der Strafvollzug im Vollstreckungsstaat abgeschlossen ist.

Art. 15

Auswirkungen im Vollstreckungsstaat

Eine zentrale Folge der Überstellung besteht darin, dass die ausländische Sanktion im Vollstreckungsstaat weiter vollstreckt wird. Der in Absatz 1 verankerte Grundsatz der Fortsetzung des Strafvollzugs entspricht dem Verfahren, das die Schweiz bei der Ratifikation des Überstellungsübereinkommens gewählt hat13. Konkret bedeutet dies, dass der Vollstreckungsstaat das ausländische Strafurteil im Tat- und Schuldpunkt nicht mehr überprüft, sondern die Sanktion nach seiner Rechtsordnung vollstreckt.

Die Absätze 2 und 3 regeln die Einzelheiten der Strafvollstreckung. Absatz 2 enthält die Grundsatzregelung, dass der Vollstreckungsstaat das ausländische Strafurteil übernimmt und die vom Urteilsstaat verhängte Sanktion vollzieht. Absatz 3 ermöglicht dem Vollstreckungsstaat eine Anpassung der ausländischen Sanktion, wenn die Art oder Dauer der Sanktion mit seinem Recht nicht vereinbar ist. Die Regelung entspricht sinngemäss Artikel 10 des Überstellungsübereinkommens.

Absatz 4 stellt klar, dass sich die Vollstreckung der Sanktion nach der Überstellung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates richtet. Diese Bestimmung lehnt sich an Artikel 9 Absatz 3 des Überstellungsübereinkommens an.

Art. 16

Folgen der Überstellung

In Bezug auf die strafrechtliche Situation der verurteilten Person hat die Überstellung zwei wesentliche Folgen: Nach Absatz 1 besteht für den Vollstreckungsstaat ein Verbot der doppelten Verfolgung und Bestrafung. Dies bedeutet, dass der Vollstreckungsstaat gegen die verurteilte Person für die Tat, die dem ausländischen Strafurteil zu Grunde liegt, weder ein Strafverfahren durchführen noch ein Strafurteil erlassen darf.

Nach Absatz 2 hat die verurteilte Person im Vollstreckungsstaat keinen Spezialitätsschutz. Konkret heisst dies, dass der Vollstreckungsstaat sie für Taten, die nicht Gegenstand des ausländischen Strafurteils sind, verfolgen und verurteilen kann.

Diese Bestimmung, die im Überstellungsübereinkommen fehlt, wurde der Klarheit wegen in das Abkommen aufgenommen. Sie soll der verurteilten Person aufzeigen, welche Folgen eine Überstellung für sie haben kann.

Art. 17

Beendigung des Vollzugs der Sanktion

Nach Absatz 1 muss der Urteilsstaat dem Vollstreckungsstaat mitteilen, wenn ein Entscheid ergangen ist, der den Strafvollzug beendet. Dies kann beispielsweise im Rahmen einer Begnadigung, Amnestie oder Revision des Urteils erfolgen. Die Mitteilungspflicht des Urteilsstaates, die im Überstellungsübereinkommen fehlt, ist das Gegenstück zur Informationspflicht des Vollstreckungsstaates nach Artikel 10.

13

Ist die Schweiz Vollstreckungsstaat, so setzt sie die Sanktion nach Art. 9 Bst. a des Überstellungsübereinkommens unmittelbar fort.

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Absatz 2 verpflichtet den Vollstreckungsstaat, die verurteilte Person nach der Mitteilung des Urteilsstaates aus dem Strafvollzug zu entlassen.

Art. 18

Begnadigung und Amnestie

Gestützt auf diese Bestimmung haben sowohl der Urteils- wie auch der Vollstreckungsstaat das Recht, die Sanktion durch eine Amnestie oder eine gnadenweise Strafermässigung abzuändern. Hingegen kann nur der Urteilsstaat über eine Revision des Strafurteils entscheiden (Art. 19).

Art. 20

Durchlieferung

Artikel 20 enthält Regeln für den Fall, dass die verurteilte Person von einer Vertragspartei in einen Drittstaat gebracht werden muss und dabei das Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei durchquert. Die Bestimmung ist weniger umfassend als Artikel 16 des Überstellungsübereinkommens. Sie beschränkt sich auf die wesentlichen Punkte, weil die praktische Bedeutung der Durchlieferung im Verhältnis zu Marokko voraussichtlich gering sein wird.

Art. 24

Vorläufige Anwendung und Inkrafttreten

Die in Absatz 1 vorgesehene Möglichkeit, das Abkommen nach der Unterzeichnung vorläufig anzuwenden, figuriert zum ersten Mal in einem Vertrag auf dem Gebiet der internationalen Strafrechtszusammenarbeit. Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge lässt die vorläufige Anwendung von Verträgen ausdrücklich zu14. Im schweizerischen Verfassungsrecht ist diese Möglichkeit ebenfalls anerkannt. Sofern die Wahrung wesentlicher schweizerischer Interessen eine zeitliche Dringlichkeit verlangt, hat der Bundesrat die Kompetenz, einen Staatsvertrag abzuschliessen und ohne Verzug dessen provisorische Anwendung anzuordnen15. Bisher hat der Bundesrat vor allem im Wirtschaftsbereich von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Nach geltender Praxis rechtfertigt sich eine vorläufige Anwendung, wenn eine besondere Dringlichkeit vorliegt und es unmöglich ist, das Ende des ordentlichen parlamentarischen Genehmigungsverfahrens abzuwarten. Da die vorläufige Anwendung jederzeit beendet werden kann, wird die parlamentarische Genehmigungskompetenz dadurch jedoch nicht beeinträchtigt16.

Beim Abkommen mit Marokko drängte sich eine vorläufige Anwendung aus zwei Gründen auf: Der Resozialisierungsgedanke, der dem Abkommen zu Grunde liegt, sollte so rasch wie möglich umgesetzt werden. Da die Unterzeichnung und die parlamentarische Genehmigung eines Abkommens zeitlich weit auseinander liegen können, darf die Überstellung von Schweizer Staatsangehörigen, die im Ausland unter menschlich schwierigen Bedingungen eine Gefängnisstrafe verbüssen, nicht von der Dauer des parlamentarischen Verfahrens abhängen17. Für die vorläufige Anwendung des Abkommens sprach zudem, dass König Mohammed VI. einem Schweizer, 14 15 16 17

Art. 25 (SR 0.111) VPB 1987, 51/IV, Nr. 58, S. 381 Siehe dazu Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 7. Mai 1999 betreffend Anpassung des GVG an die neue BV, Ziff. 318.5 (BBl 1999 4829).

Der Überstellungsvertrag mit Thailand wurde im November 1997 unterzeichnet und im Juni 2000 vom Parlament genehmigt.

4695

der in Marokko eine 20-jährige Strafe verbüsste, im Frühjahr 2000 eine Strafermässigung von zehn Jahren gewährt hatte. Es lag im Interesse der Schweiz, diese Geste Marokkos mit einer raschen Umsetzung des Abkommens zu würdigen.

2.3

Würdigung des Abkommens

Marokko ist der erste arabische Staat, mit dem die Schweiz ein Überstellungsabkommen abschliesst. Das Abkommen, das hauptsächlich einen humanitären Zweck verfolgt, könnte Signalwirkung auf andere aussereuropäische Länder haben, in denen Schweizer Staatsangehörige eine Freiheitsstrafe verbüssen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Überstellungsabkommen dieser Art künftig nicht in die Abschlusskompetenz des Bundesrates fallen sollten. Die Bundesversammlung hat z.B. im Bereich der Visumspflicht, der Rückübernahme und des Transits von Personen mit unbefugtem Aufenthalt in der Schweiz sowie der beruflichen Aus- und Weiterbildung eine solche Kompetenzdelegation an den Bundesrat beschlossen18. Das gleiche Vorgehen drängt sich bei der Überstellung verurteilter Personen auf19.

3

Finanzielle, personelle und volkswirtschaftliche Auswirkungen

3.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen auf den Bund

Mit dem Abkommen entstehen für die Schweiz im Bereich der Überstellung verurteilter Personen neue Verpflichtungen. Die praktische Umsetzung des Abkommens wird für das BJ Mehrarbeit zur Folge haben. Der zusätzliche Arbeitsanfall wird vom Umfang der Überstellungsersuchen abhängen. Ein allfälliger ressourcenmässiger Mehraufwand wird soweit als möglich departementsintern aufgefangen.

3.2

Finanzielle und personelle Auswirkungen auf die Kantone

Eine Einschätzung der Auswirkungen auf Kantonsebene ist schwierig. In welchem Umfang die Kantone mit Mehrarbeit und einem Anstieg der Vollstreckungskosten zu rechnen haben, hängt massgeblich davon ab, ob sie marokkanische Strafurteile mit langen Freiheitsstrafen vollziehen müssen. Da die Entwicklung der Überstellungsfälle mit Marokko nur schwer abzusehen ist, können die Mehrkosten zurzeit noch nicht beziffert werden. In diesem Zusammenhang wird auch massgebend sein, wieweit die Kantone die Überstellungskosten nach Artikel 13 Absatz 4 des Abkommens auf die betroffenen Strafgefangenen abwälzen können.

18

19

Neuer Art. 25b Abs. 1 ANAG (SR 142.20); Botschaft vom 4. Dez. 1995 zur Totalrevision des Asylgesetzes sowie zur Änderung des BG über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, Ziff. 228 (BBl 1996 II 126).

Siehe Ziff. 7

4696

3.3

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

Das Abkommen hat keine Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Schweiz.

4

Legislaturplanung

Das Abkommen figuriert im Bericht vom 1. März 2000 über die Legislaturplanung 1999­200320.

5

Verhältnis zum europäischen Recht

Mit dem Abschluss des Überstellungsübereinkommens im Jahre 1983 brachten die Mitgliedstaaten des Europarates zum Ausdruck, dass Souveränitätsüberlegungen kein Hindernis für die Anerkennung der Rechtsverbindlichkeit ausländischer Strafurteile mehr sein sollten. Das Übereinkommen hat zum Ziel, dem Heimatstaat die Möglichkeit zu verschaffen, ein Strafurteil zu vollstrecken, das in einem ausländischen Staat gefällt worden ist. Das gleiche Ziel verfolgt das Europäische Übereinkommen (Nr. 70) vom 28. Mai 1970 über die internationale Geltung von Strafurteilen. Während das Übereinkommen von 1970 nur von wenigen Staaten ratifiziert worden ist, sind knapp 50 Staaten, darunter die Schweiz, dem Überstellungsübereinkommen beigetreten21.

Das Abkommen mit Marokko geht in dieselbe Stossrichtung wie die beiden Übereinkommen des Europarates. Es enthält alle wichtigen Grundsätze, die im Überstellungsübereinkommen verankert sind, und entspricht der europäischen Regelung.

6

Verfassungsmässigkeit

Der Bund ist nach Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig. Somit fällt der Abschluss von Staatsverträgen in seine Kompetenz. Grundlage für die Genehmigung der völkerrechtlichen Verträge durch die Bundesversammlung bildet Artikel 166 Absatz 2 BV.

Völkerrechtliche Verträge unterstehen nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV dem fakultativen Referendum, wenn sie unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen. Das Abkommen mit Marokko erfüllt diese Voraussetzungen nicht: Es ist zwar auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, kann aber von jeder Partei jederzeit gekündigt werden. Zudem sieht das Abkommen weder den Beitritt zu einer internationalen Organisation noch eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung vor. Aus diesen Gründen untersteht der Genehmigungsbeschluss der Bundesversammlung nicht dem fakultativen Referendum.

20 21

BBl 2000 2331 Ende 2000 haben 10 Staaten das Übereinkommen von 1970 ratifiziert (Dänemark, Island, Litauen, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Spanien, Türkei und Zypern).

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7

Kompetenznorm zum Abschluss von bilateralen Überstellungsabkommen (Art. 8a IRSG [neu])

Im Hinblick auf neue Überstellungsabkommen mit Staaten, in denen Schweizer Staatsangehörige eine Freiheitsstrafe verbüssen, wäre es sinnvoll, dass der Bundesrat künftig ähnliche bilaterale Vereinbarungen, die sich im Rahmen des EuroparatÜberstellungsübereinkommens bewegen, in eigener Kompetenz abschliessen kann.

Die dazu notwendige Delegationsordnung wird in Artikel 8a IRSG geschaffen.

Nach Artikel 166 Absatz 2 BV obliegt es grundsätzlich der Bundesversammlung, Staatsverträge zu genehmigen. In gewissen Fällen ist jedoch der Bundesrat zuständig, Verträge selbstständig abzuschliessen. Dies trifft dann zu, wenn die Bundesversammlung die Vertragsabschlusskompetenz an den Bundesrat delegiert hat, namentlich bei Verträgen von beschränkter Tragweite. Die Vertragsabschlussermächtigung des Bundesrates ist in einem Bundesgesetz oder in einem von der Bundesversammlung genehmigten Staatsvertrag zu regeln. Dieser Grundsatz wird in Artikel 47bbis Absatz 2 des Geschäftsverkehrsgesetzes22 präzisiert. Zweck der Übertragung der Vertragsabschlusskompetenz an den Bundesrat ist es, die Bundesversammlung von einer Vielzahl von meist bilateralen Vertragsgeschäften zu entlasten, die einen bestimmten Themenkomplex oft technischer Natur betreffen und sich materiell auf ein klar abgegrenztes Gebiet beschränken. Materielle Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Delegation ist, dass es sich nicht um Blankodelegationen handelt und möglichst klare Richtlinien für die Vertragsgestaltung gegeben werden. So wahrt die Bundesversammlung ihre Mitwirkungsrechte beim Vertragsabschluss, die nicht nur formeller, sondern grundsätzlich auch materieller Natur sind23.

Bei den Abkommen über die Überstellung verurteilter Personen sind diese Voraussetzungen erfüllt. Es handelt sich um Standardverträge, die im Wesentlichen die geltenden völkerrechtlichen Prinzipien übernehmen, welche die Schweiz mit der Ratifikation des Überstellungsübereinkommens anerkannt hat. Von der Delegationsordnung in Artikel 8a IRSG kann der Bundesrat selbstverständlich nur Gebrauch machen, wenn das betreffende Abkommen nicht dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV untersteht24.

Nach Artikel 163 Absatz 1 BV ist der Delegationserlass in die Form eines Bundesgesetzes zu kleiden. Der vorgeschlagene neue Artikel 8a IRSG verankert
die Staatsvertragskompetenz des Bundesrates und bestimmt den Umfang der Delegation. Er untersteht dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe a BV.

22 23

24

SR 171.11 BBl 1999 4826; siehe auch Botschaft vom 24. Mai 1963 betreffend den Abschluss von Abkommen über den Schutz und die Förderung der Kapitalinvestitionen (BBl 1963 I 1195).

BBl 1999 4831 und VPB 1987, 51/IV, Nr. 58, S. 371

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