zu 01.023 Botschaft zum Sitz des Bundesstrafgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts (Zusatzbotschaft zur Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege) vom 28. September 2001

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen die Botschaft zum Sitz des Bundesstrafgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts (Zusatzbotschaft zur Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege) und beantragen Ihnen, den beiliegenden Entwürfen zu Artikel 4 Absatz 1 des Strafgerichtsgesetzes und Artikel 4 des Verwaltungsgerichtsgesetzes zuzustimmen.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

28. September 2001

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

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Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2001-1994

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Übersicht Mit der am 28. Februar 2001 verabschiedeten Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege hat der Bundesrat die gesetzlichen Grundlagen für die Schaffung eines Bundesstrafgerichts und eines Bundesverwaltungsgerichts unterbreitet. Das Bundesstrafgericht wird als erste Instanz Straftaten beurteilen, die das Gesetz der Strafgerichtsbarkeit des Bundes unterstellt. Das Bundesvewaltungsgericht ersetzt als erstinstanzliches Gericht die Rekurskommissionen und Beschwerdedienste des Bundes.

Der Sitz der beiden Gerichte soll im Strafgerichtsgesetz und im Verwaltungsgerichtsgesetz festgelegt werden. Wegen zeitlichen Verzögerungen bei der Standortevaluation sah sich der Bundesrat jedoch gezwungen, die Sitzfrage bei der Verabschiedung der Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege offen zu lassen.

Diese Lücke soll mit der vorliegenden Zusatzbotschaft geschlossen werden.

Der Bundesrat hat sich bei der Standortwahl von der Überlegung leiten lassen, dass die Gerichte im Interesse einer für das Ansehen von unabhängigen Justizbehörden wünschbaren Distanz zu Bundesanwaltschaft und Zentralverwaltung ausserhalb von Bern anzusiedeln seien. Er hat daher jene Kantone in die Standortevaluation einbezogen, die mit Blick auf ihre geografische Lage sowie auf Grund von weiteren Voraussetzungen für die Unterbringung der neuen Gerichte in Frage kommen.

Die Festlegung der Gerichtssitze hat der Bundesrat anhand von verschiedenen Kriterien vorgenommen. Beim Bundesstrafgericht standen operationelle Gesichtspunkte im Vordergrund: Wegen der häufigen und wiederholten Kontakte des Gerichts zu den in Bern stationierten Staatsanwälten des Bundes sowie den weiteren Verfahrensbeteiligten entschied sich der Bundesrat, das Gericht im zentral gelegenen Aarau anzusiedeln.

Beim Entscheid über den Standort des Bundesverwaltungsgerichts war für den Bundesrat entscheidend, dass ein erfolgreicher Start des Gerichts die Übernahme eines Teils des Personals der in den Grossräumen Bern und Lausanne stationierten Rekurskommissionen und Beschwerdedienste bedingt. Ferner trug der Bundesrat dem Umstand Rechnung, dass die Rekrutierung der rund 50 bis 60 französischsprachigen sowie der rund 10 bis 15 italienischsprachigen Juristinnen und Juristen des Bundesverwaltungsgerichts auch längerfristig am besten gewährleistet ist, wenn sich das Gericht in der Nähe der Sprachgrenze befindet. Der Bundesrat entschied daher, das Bundesverwaltungsgericht in Freiburg zu realisieren.

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Justizreform und Totalrevision der Bundesrechtspflege

Mit der Annahme der Justizreform durch Volk und Stände ist der Bund zur Schaffung eines selbstständigen Bundesstrafgerichts sowie von richterlichen Behörden für die Beurteilung von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Zuständigkeitsbereich der Bundesverwaltung verpflichtet worden (Art. 191a Abs. 1 und 2 BVJustizreform, BBl 1999 8633). Mit der Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, enthaltend die Gesetzesentwürfe zum Bundesgesetz über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG), zum Bundesgesetz über das Bundesstrafgericht (Strafgerichtsgesetz, SGG) sowie zum Bundesgesetz über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG), hat der Bundesrat dem Parlament die erforderlichen Gesetzesgrundlagen für die Organisation und Zuständigkeiten dieser Justizbehörden unterbreitet. Dabei hat er sich gestützt auf den Bericht der Expertenkommission für die Totalrevision der Bundesrechtspflege vom Juni 1997 sowie eine betriebswirtschaftliche Studie der Ernst & Young Consulting AG vom 25. September 2000 unter Abwägung aller Vor- und Nachteile entschieden, dem Verfassungsauftrag durch die Schaffung von zwei eigenständigen Fachgerichten Nachachtung zu verschaffen.

1.2

Regelung der Sitzfrage im Rahmen des SGG und des VGG

Nachdem der Bundesrat ursprünglich vorgesehen hatte, die Frage des Standorts der neuen Gerichte gleichzeitig mit den übrigen Teilen der Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege zu verabschieden, sah er sich auf Grund von Verzögerungen bei der Evaluation der Gerichtsstandorte gezwungen, die Sitzfrage vorerst zurückzustellen. Er hat daher bei der Verabschiedung der Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege die Standorte in den Artikeln 4 Absatz 1 SGG und 4 VGG, welche den Sitz der Gerichte festlegen sollen, offen gelassen und angekündigt, dem Parlament die Entwürfe zu den entsprechenden Bestimmungen im Rahmen einer Zusatzbotschaft zu unterbreiten.

Die zeitliche Verzögerung ändert nichts an der systematischen Zugehörigkeit der Sitzfrage zum Strafgerichtsgesetz und zum Verwaltungsgerichtsgesetz. Genauso wie Artikel 19 Absatz 1 des heute geltenden Bundesrechtspflegegesetzes (OG; SR 173.110) festhält, Sitz des Bundesgerichts sei Lausanne, sollen die Artikel 4 Absatz 1 SGG und 4 VGG den Sitz des Bundesstrafgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts bestimmen.

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2

Dezentrale Ansiedlung der neuen Gerichte

In ihrem Schlussbericht vom Juni 1997 hatte die Expertenkommission für die Totalrevision der Bundesrechtspflege vorgeschlagen, das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) vollständig ins Bundesgericht zu integrieren. Als Ersatz für den Wegzug des EVG aus der Zentralschweiz hatte sie empfohlen, Luzern als Sitz des Bundesverwaltungsgerichts zu bestimmen. Die mit einer solchen Standortwahl verbundene Distanz des neuen Gerichts zu Bern hätte auch den Vorteil, so die Expertenkommission, dass damit in wünschbarer Weise die Unabhängigkeit von der Bundesverwaltung markiert würde.

Dem Vorschlag einer Vollintegration des EVG ins Bundesgericht erwuchs in der Vernehmlassung heftige Kritik von Seiten des Bundesgerichts in Lausanne (Zustimmung fand der Vorschlag hingegen beim EVG). Dies bewog den Bundesrat ­ nebst anderen Gründen ­, in seinem Entwurf zum Bundesgerichtsgesetz auf eine Vollintegration zu verzichten und stattdessen eine Teilintegration des EVG ins Bundesgericht vorzuschlagen. Nach dem nunmehr vom Bundesrat verabschiedeten Organisationsmodell hat das Bundesgericht zwar seinen Sitz in Lausanne; das Gesetz sieht aber einen zweiten Standort in Luzern für eine bis zwei Abteilungen vor.

Diese Änderung in der Organisation der obersten Gerichtsbarkeit rückte die Frage des Standorts des Bundesverwaltungsgerichts in ein neues Licht. Eine Wahl von Luzern als Sitz für das Bundesverwaltungsgericht stand nicht mehr im Vordergrund.

Hingegen behielt das von der Expertenkommission angeführte Argument der Distanz des neuen Gerichts zur Bundesverwaltung in Bern seine Gültigkeit: Der Umstand, dass das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen der Verwaltung zu beurteilen hat, gebot, bei der Standortwahl eine gewisse räumliche Distanz zur Zentralverwaltung zu wahren. Gleiches galt für das Bundesstrafgericht.

Auch hier musste bei der Wahl des Gerichtssitzes dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Bundesstrafgericht als unabhängige Justizbehörde eine gewisse Entfernung zur Bundesanwaltschaft und damit zu jener Partei einhalten sollte, die im Strafprozess die Anklage vertritt.

3

Vorgehen bei der Standortevaluation

Der Bundesrat hatte von Anfang an die Absicht, nur jene Kantone in die Standortevaluation einzubeziehen, die mit Blick auf ihre geografische Lage und die Erreichbarkeit sowie auf Grund von weiteren Voraussetzungen (etwa die Personalrekrutierung bzw. die Erhaltung des bisherigen Personals oder die Nähe zu einer Universität mit Rechtsfakultät) für die Beherbergung der neuen Gerichte in Frage kommen könnten. Das bei der Ausarbeitung der Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege federführende Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) hat sich daher mit Schreiben vom 20. September 2000 bei den Kantonen Bern, Luzern, Freiburg, Solothurn, Basel-Landschaft, St. Gallen, Aargau und Thurgau erkundigt, ob diese am Sitz eines der neuen Gerichte interessiert seien und in ihrem Kanton eine konkrete Möglichkeit für die Unterbringung des einen oder anderen Gerichts sähen bzw. in der Lage wären, termingerecht (d.h. bis ins Jahr 2004/05) eine solche Gebäulichkeit zu erstellen. Sämtliche angeschriebenen Kantone bekundeten ihr Interesse und reichten Vorschläge für die Realisierung der Gerichte ein. Ins-

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gesamt resultierten aus der Umfrage 55 konkrete Vorschläge an 21 verschiedenen Standorten.

In der Folge evaluierte der Bundesrat die eingegangenen Vorschläge. Dabei liess er sich insbesondere von folgenden Kriterien leiten: ­

Verkehrslage / Erreichbarkeit der Standorte

­

Gewähr für das reibungslose Funktionieren der neuen Gerichte ab Beginn (z.B. die Erhaltung des Personals und die Vermeidung von Know-how-Verlusten bei der Zusammenfügung der Rekurskommissionen beim Verwaltungsgericht oder die optimale Sicherstellung der funktionellen Abläufe bei einer grösseren Distanz zwischen den Ermittlungsbehörden und dem Strafgericht)

­

Regionalpolitische Überlegungen (Ausgleich für fehlende oder vom Abbau bedrohte Bundesarbeitsplätze; Förderung von Regionen ohne wirtschaftliche Zentrumsfunktion durch Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze usw.)

­

Personalpolitische Kriterien (etwa die Attraktivität für Gerichtsmitglieder der anderen Sprachgebiete, die Grösse des Rekrutierungsgebietes usw.)

­

Nähe zu Universitäten mit Rechtsfakultät

­

Attraktivität der konkreten Angebote (Lage, Raumvolumen, geschätzte Kosten, Qualität und Attraktivität der konkreten Gebäude usw.).

Am 17. Januar 2001 fällte der Bundesrat erste Vorentscheide über den Sitz der neuen Gerichte. Er legte fest, dass die Orte Freiburg, Solothurn, Olten, St. Gallen und Aarau in die engere Wahl kommen. Gleichzeitig beauftragte er das EJPD, die Frage des Standorts der neuen Strafverfolgungsorgane des Bundes (Bundesanwaltschaft und Eidgenössisches Untersuchungsrichteramt; Bundesamt für Polizei inklusive Bundeskriminalpolizei) in die Evaluation der Gerichtssitze miteinzubeziehen.

Im März 2001 wurden im Rahmen der im Tessin stattfindenden Frühjahrssession der eidgenössischen Räte drei parlamentarische Vorstösse eingereicht, welche die Berücksichtigung des Kantons Tessin beim Standortentscheid verlangten (Interpellation Marty Dick, 01.3026; Interpellation Simoneschi Chiara, 01.3158; Postulat Mörgeli Christoph, 01.3203). In seinen Antworten vom 30. Mai 2001 vertrat der Bundesrat die Auffassung, dass eine Realisierung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundesstrafgerichts im Kanton Tessin nicht sachgerecht wäre.

Am 2. Juli 2001 hat ein Petitionskomitee aus der Ostschweiz der Bundeskanzlei Petitionsbogen mit insgesamt 11 545 Unterschriften von Ostschweizer Bürgerinnen und Bürgern für die Ansiedlung eines Bundesgerichts in St. Gallen übergeben. Die Gesamtzahl der Unterschriften hat in der Folge weiter zugenommen; sie betrug am 24. Juli dieses Jahres 15 725.

Am 3. Juli 2001 bestimmte der Bundesrat Freiburg als Sitz des Bundesverwaltungsgerichts. Zudem erteilte er dem EJPD den Auftrag, die Kriterien für die Festlegung des Standorts des Bundesstrafgerichts unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die neuen Strafverfolgungsorgane des Bundes im Raum Bern untergebracht würden, neu zu analysieren und die Kantone Aargau, Solothurn, St. Gallen und Tessin in die engere Auswahl einzubeziehen.

6053

Mit Beschluss vom 12. September 2001 bestimmte der Bundesrat Aarau als Standort für das Bundesstrafgericht.

4

Gründe für die Wahl der Standorte Aarau und Freiburg

4.1

Bundesstrafgericht

4.1.1

Anwesenheit von Parteien und Verfahrensbeteiligten bei mündlichen Verhandlungen

4.1.1.1

Ausgangslage

Zentrale Kriterien für die Festlegung des Sitzes des Bundesstrafgerichts sind die Verkehrslage und die Erreichbarkeit für die Prozessparteien. Dies ergibt sich aus der Tätigkeit des Gerichts, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass es in direktem Kontakt zu den jeweiligen Parteien eines Strafprozesses steht. Die Verfahren vor dem Bundesstrafgericht sind zum grössten Teil mündlich. An den mündlichen Verhandlungen beteiligt sind nebst den Gerichtsmitgliedern die Prozessparteien (beschuldigte Person, Privatklägerschaft, Staatsanwaltschaft) sowie allfällige weitere Verfahrensbeteiligte wie z.B. Zeugen, Dolmetscher, Auskunftspersonen oder Experten.

4.1.1.2

Mündliche Verhandlungen vor den Strafkammern des Bundesstrafgerichts

Mündliche Verhandlungen finden vor allem vor den Strafkammern des Bundesstrafgerichts statt. Den Strafkammern obliegt die erstinstanzliche Beurteilung der in die Kompetenz des Bundes fallenden Strafsachen. Nach Schätzungen der Bundesanwaltschaft werden die mit dem Inkrafttreten der vom Parlament am 22. Dezember 1999 verabschiedeten Vorlage über «Massnahmen zur Verbesserung der Effizienz und der Rechtsstaatlichkeit in der Strafverfolgung» (sog. Effizienzvorlage) verbundenen neuen Ermittlungskompetenzen des Bundes zu einer massiven Zunahme der Ermittlungsverfahren führen. Gestützt auf vorsichtige Hochrechnungen erwartet die Bundesanwaltschaft für das Jahr 2002 34 zusätzliche Ermittlungsverfahren, für das Jahr 2003 44, für das Jahr 2004 55 und für das Jahr 2005 65 zusätzliche Verfahren.

Im Jahre 2007 ist mit ca. 85 neuen Verfahren in den Bereichen Wirtschaftskriminalität (WK) und Organisierte Kriminalität (OK) zu rechnen. Bei diesen Prognosen handelt es sich um eher zurückhaltende Einschätzungen auf Grund der Angaben von kantonalen Strafverfolgungsbehörden.

Prognosen über die sprachregionale Verteilung dieser (erwarteten) Strafsachen, die der Bundesstrafgerichtsbarkeit unterstehen, liegen nicht vor. Allerdings geht die Bundesanwaltschaft davon aus, dass die zukünftigen Strafverfahren im neuen Kompetenzbereich (OK, WK, Geldwäscherei, Korruption) einen stärkeren Anknüpfungspunkt bei den wichtigsten Finanzplätzen der Schweiz haben werden, als dies bisher der Fall war. Weil in der Schweiz die Städte Zürich, Genf und Lugano als Wirtschafts- und Finanzzentren im Vordergrund stehen, ist in diesen drei Ballungsgebieten mit einer besonderen Häufung von Straffällen im OK- und WK-Bereich zu 6054

rechnen. Eine vorsichtige Prognose könnte daher in die Richtung gehen, dass der Bund im neuen Zuständigkeitsbereich Verfahren führen wird, bei denen der Ort der mutmasslichen strafbaren Handlung in ca. 65 Prozent der Fälle in der Deutschschweiz, in ca. 25 Prozent der Fälle in der Westschweiz und in ca. 10 Prozent der Fälle in der italienischen Schweiz liegen wird.

Nicht alle Ermittlungsverfahren münden in ein Hauptverfahren vor dem urteilenden Gericht. Ausgehend von einer durchschnittlichen Verfahrensdauer von zwei Jahren pro Fall und unter der Annahme, dass rund 50­80 Prozent der Fälle zur Anklage gelangen und richterlich beurteilt werden müssen, werden die Strafkammern des Bundesstrafgerichts im Jahre 2007 über ca. 33­52 Fälle zu befinden haben. Deren Beurteilung erfolgt im mündlichen Verfahren unter Beteiligung der Vertreter der Bundesanwaltschaft.

4.1.1.3

Mündliche Verhandlungen vor anderen Spruchkörpern des Bundesstrafgerichts

Mündliche Verhandlungen können auch vor anderen Spruchkörpern des Bundesstrafgerichts stattfinden. So ist die Beschwerdekammer des neuen Gerichts zuständig für die Anordnung von Zwangsmassnahmen, soweit das Bundesgesetz über die Bundesstrafrechtspflege (BStP, SR 312.0) oder ein anderes Gesetz dies ausdrücklich vorsieht (Art. 27 Abs. 1 Bst. b des Entwurfs für ein Bundesgesetz über das Bundesstrafgericht [E SGG]). Dazu gehören die Verlängerung der wegen Kollusionsgefahr angeordneten Untersuchungshaft (Art. 51 BStP), die Bestimmung von Art und Betrag der Sicherheit im Falle der Freilassung einer wegen Fluchtverdachts verhafteten Person (Art. 54 Abs. 2 BStP), die Durchsuchung von Papieren gegen den Willen des Inhabers (Art. 69 Abs. 3 BStP) sowie die Festsetzung einer Entschädigung für die Untersuchungshaft (Art. 122 BStP). Auch wenn die meisten dieser Fälle im schriftlichen Verfahren abgewickelt werden, kann es durchaus vorkommen, dass das Gericht in Einzelfällen ­ etwa auf Antrag der Verteidigung ­ eine mündliche Verhandlung anordnet.

Von erheblicher Bedeutung für die Häufigkeit von mündlichen Verhandlungen am Bundesstrafgericht sind ferner die Arbeiten für eine Vereinheitlichung des Strafprozessrechts. Der zur Zeit in der Vernehmlassung befindliche Vorentwurf zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung (VE StPO) verpflichtet den Bund als Folge des vorgesehenen Übergangs vom Untersuchungsrichtermodell zum Staatsanwaltsmodell zur Schaffung eines Zwangsmassnahmengerichts (Art. 22 VE StPO). Diesem Gericht wird ­ nebst anderem ­ die Anordnung der Untersuchungshaft und der Sicherheitshaft obliegen (Art. 233 ff. und 242 ff. VE StPO). Zwar ist zur Zeit noch nicht absehbar, welche Behörde im Bund die Aufgaben des Zwangsmassnahmengerichts übernehmen wird, falls der VE StPO in der heute vorliegenden Form verwirklicht wird. In Frage kämen für die Umsetzung des Gebots eines solchen Gerichts etwa die Einrichtung eines eigenständigen (neuen) Zwangsmassnahmengerichts in der Nähe des Standorts der zentralen Einheit von Bundesanwaltschaft (BA) und Bundesamt für Polizei (BAP) inklusive Bundeskriminalpolizei. Denkbar wäre sodann die Errichtung von regionalen Zwangsmassnahmengerichten ­ etwa an den Standorten allfälliger regionaler Zweigstellen von BA und BAP ­ oder die alternative Zuweisung der Haftanordnungskompetenzen an die kantonalen Haftgerichte. Im

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Vordergrund dürfte aber wohl die Zuweisung der Aufgaben des Zwangsmassnahmengerichts an das Bundesstrafgericht stehen. Diese Möglichkeit der Angliederung beim erstinstanzlichen Gericht sieht Artikel 22 Absatz 2 VE StPO ausdrücklich vor.

Diesfalls müsste beim Bundesstrafgericht ein neuer Spruchkörper (z.B. «Zwangsmassnahmenkammer») geschaffen werden, da die Beschwerdekammer in gewissen Fällen Beschwerden gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts behandeln muss und daher selbst nicht die Funktionen des Zwangsmassnahmengerichts übernehmen kann (vgl. z.B. Art. 462 Bst. d i.V.m. Art. 241 VE StPO).

Die Anordnung der Untersuchungshaft sowie der Sicherheitshaft ohne vorbestehende Untersuchungshaft erfolgt grundsätzlich in einem mündlichen Verfahren mit Beteiligung der Staatsanwaltschaft (Art. 237 und 244 Abs. 4 VE StPO). Konkrete Prognosen über die Anzahl an Haftanordnungen sind schwierig. Die Bundesanwaltschaft geht jedoch davon aus, dass ­ nach vorsichtigen Schätzungen ­ mit durchschnittlich mindestens drei Verhaftungen in jedem OK- und WK-Verfahren gerechnet werden muss. Im Jahre 2007 würden damit allein im neuen Zuständigkeitsbereich ca. 250 Anträge auf Anordnung von Untersuchungshaft gestellt werden (dazu kämen ca. 20 Haftanordnungsverfahren im bisherigen Zuständigkeitsbereich).

4.1.2

Konsequenzen für die Standortfrage

4.1.2.1

Aus der Sicht der Strafverfolgungsbehörden

Die grosse Zahl an mündlichen Haupt- und Zwangsmassnahmenverhandlungen ist zunächst für die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte des Bundes von Bedeutung.

Betroffen sind aber auch jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAP, denen die Zuführung der Inhaftierten obliegt.

Vor allem die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte des Bundes sind auf eine möglichst gute Erreichbarkeit des neuen Gerichts angewiesen. Wie aus den vorstehend genannten Zahlen hervorgeht, werden sie regelmässig und oft über mehrere Tage hinweg vor den Strafkammern des Bundesstrafgerichts vorsprechen müssen. Da sie ihren Arbeitsplatz grösstenteils im Raum Bern haben werden, müssten sie bei einem Bundesstrafgericht mit Sitz in St. Gallen für Hin- und Rückreise per Zug rund 5,5 Stunden Reisezeit aufwenden. Hätte das Gericht seinen Sitz im Kanton Tessin, so würde sich die Zeit für die Hin- und Rückreise auf ca. 8 Stunden belaufen. Dabei könnte der Umstand, dass zum Kanton Tessin Flugverbindungen bestehen, nur unzureichend Abhilfe schaffen. Der Flug in die Südschweiz führt über die Alpen und endet auf dem Flugplatz Agno, der nach Erfahrungen des Bundessicherheitsdienstes häufiger als Bern wegen Nebels nicht angeflogen werden kann. Als Ersatz wird diesfalls auf den Flughafen Milano-Malpensa ausgewichen, was weitere logistische Probleme und massive Zeitverluste nach sich zieht. Ganz allgemein gilt, dass Flugverbindungen nur beschränkt offen stehen. Einzelne Flüge fallen wegen Nebel, Schnee, Eis oder Sturm in den Alpen entweder ganz aus oder sie werden verschoben. Probleme bei der Anreise bilden aber keinen hinreichenden Grund für die Verschiebung eines Gerichtstermins.

Lange Reisezeiten sind für die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesanwaltschaft aus mehreren Gründen nachteilig. Zunächst kann die Arbeit im Zug oder im Flugzeug die Arbeit im Büro nur zum Teil ersetzen. Ferner ist zu beachten, dass eine zu

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grosse Distanz zwischen dem Standort der zentralen Einheit BA/BAP und dem Sitz des Bundesstrafgerichts zur Folge hätte, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesanwaltschaft bei längeren Prozessen auch die Nächte am Ort des Gerichts verbringen müssten. Dies wiederum würde die Leitung und Überwachung der parallel zu den Strafverfahren vor Bundesstrafgericht laufenden Ermittlungsverfahren erheblich erschweren. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass längere Abwesenheiten der BA-Vertreterinnen und BA-Vertreter sich nachteilig auf die parallel zu den Verhandlungen vor Bundesstrafgericht laufenden Verfahren auswirken würden, zumal die Staatsanwälte des Bundes gerade in den ersten Tagen und Wochen der operativen Phase eines grossen Ermittlungsverfahrens, in der es oft zu Verhaftungen kommt, unter grossem Zeitdruck stehen (Verfahrensorganisation, Instruktion der Polizei, Durchführung von Einvernahmen, Verfassen von Verfügungen, Rechtsschriften und Korrespondenz, Besprechung mit Verteidigern, Finanzanalysten usw.). Was in dieser Zeit versäumt wird, lässt sich später meist nicht mehr korrigieren. Längere Abwesenheiten von Büro und ermittelnder Polizei gefährden den Erfolg eines Ermittlungsverfahrens. Die Gefahr, dass die an gleichzeitig laufenden Verfahren beteiligten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte des Bundes Prioritäten setzen und gegenüber der Verteidigung sachlich nicht gerechtfertigte Konzessionen eingehen würden, um eine mündliche Verhandlung in St.Gallen oder im Kanton Tessin zu vermeiden, ist nicht von der Hand zu weisen. Sie bestünde bei einem zentralen Standort des Bundesstrafgerichts nicht bzw. weniger ausgeprägt.

Die beschriebenen Probleme würden zusätzlich verschärft, falls, wie es nach VE StPO möglich ist, das neue Zwangsmassnahmengericht am Bundesstrafgericht angegliedert, d.h., nicht dezentral organisiert würde. Die grosse Anzahl Haftverhandlungen sowie der Umstand, dass solche Verhandlungen oft nur wenig Zeit in Anspruch nehmen, würden zu einem unverhältnismässig grossen Aufwand für die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte des Bundes führen, falls das Bundesstrafgericht an einem peripheren Standort realisiert würde.

4.1.2.2

Aus der Sicht der übrigen Prozessbeteiligten

Auch die übrigen Prozessbeteiligten wären von einem peripher gelegenen Gericht betroffen: Je zentraler der Standort des Bundesstrafgerichts ist, desto kleiner sind die durchschnittlichen Reisezeiten aus sämtlichen Landesgegenden für Beschuldigte/Angeklagte, Verteidigerinnen, Zeugen, Experten, Dolmetscherinnen und Medienvertreter. Die Wahl von St.Gallen oder einem Standort im Kanton Tessin als Sitz des Bundesstrafgerichts wäre daher für die Mehrzahl der potenziellen Prozessbeteiligten mit grösseren persönlichen Belastungen und mehr Unannehmlichkeiten verbunden als die Wahl eines gut erreichbaren Standorts im Zentrum der Schweiz. Davon abgesehen würden sich grosse Distanzen zwischen dem Standort des Bundesstrafgerichts und den übrigen Regionen der Schweiz auch kostenmässig auswirken (höhere Verteidigerhonorare, gesteigerte Transportkosten, Kosten für Übernachtungen usw.).

Besonderer Beachtung bedarf in diesem Zusammenhang die Zuführung der inhaftierten Personen. Sie erfolgt heute per Zug und stützt sich auf einen zwischen der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren und der Securitas AG abgeschlossenen Rahmenvertrag über interkantonale Häftlingstransporte. Der Vertrag definiert folgende Eisenbahnstrecken: Zürich­Basel­Bern und

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Genf­Lausanne­Freiburg­Bern. Auf diesen Strecken verkehren die Züge nach heutigem Fahrplan einmal pro Tag. Häftlingstransporte von der Westschweiz nach St. Gallen erfolgen ab Zürich auf der Strasse, ebenso Transporte aus der West- und Deutschschweiz in den Kanton Tessin. Bei einem Standort des Gerichts in St. Gallen oder im Kanton Tessin wäre demnach nach heutigem Fahrplan ein Rücktransport der Häftlinge in die West- bzw. Deutschschweiz noch am gleichen Tag ausgeschlossen. Wohl könnten sowohl der Rahmenvertrag als auch der Fahrplan des sog. Jail-Trains je nach Standort des Bundesstrafgerichts neu ausgehandelt und den jeweiligen Bedürfnissen angepasst werden. Eine Erhöhung der Transportfrequenz und eine Erweiterung des Streckennetzes wären jedoch in jedem Fall mit erheblichen zusätzlichen Kosten verbunden.

Was die bereits unter Ziffer 4.1.2.1 angesprochenen Flugverbindungen zum Kanton Tessin anbelangt, so ist festzuhalten, dass Flüge für den Transport von Häftlingen ungeeignet sind. Das Flugzeug käme als Transportmittel von vorneherein nur für Häftlinge in Betracht, die keine besonderen Sicherheitsprobleme stellen und über die erforderlichen Ausweisschriften verfügen. Zudem wäre der Anflug des Ausweichflughafens Milano-Malpensa bei Häftlingstransporten speziell problematisch (Notwendigkeit der zeitgerechten Bereitstellung eines Gefangenentransporters; Gefahr, dass Häftlinge den Umstand des Aufenthalts in einem Drittland zu einem Asylgesuch nutzen könnten usw.).

Es kann somit festgehalten werden, dass ein zentraler Standort als Sitz des Bundesstrafgerichts gegenüber einem peripheren Standort auch für die übrigen Prozessbeteiligten erhebliche Vorteile bringt.

4.1.3

Massnahmen zur Entschärfung der Situation im Falle eines peripheren Gerichtsstandorts

Mit Blick auf die dargelegten Schwierigkeiten eines peripher gelegenen Gerichts hat der Bundesrat geprüft, inwiefern im Falle einer Wahl von St. Gallen oder eines Standorts im Kanton Tessin als Sitz des neuen Bundesstrafgerichts Massnahmen zur Entschärfung der Situation ergriffen werden könnten.

4.1.3.1

Massnahmen zur Entschärfung der Situation an den Strafkammern des Bundesstrafgerichts

Zur Vermeidung von Reisen sowie der damit verbundenen Zeit- und Effizienzverluste fallen für die Hauptverhandlungen an den Strafkammern des Bundesstrafgerichts die folgenden Massnahmen in Betracht: ­

Einsetzung von Korrespondenz-Staatsanwälten des Bundes am Ort des Bundesstrafgerichts;

­

Einrichtung einer Zweigstelle («Field-Office») der Bundesanwaltschaft am Ort des Bundesstrafgerichts;

­

Einsatz von Videoübertragungen;

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Sämtliche dieser Vorkehren sind nicht geeignet, die aufgezeigten Schwierigkeiten massgeblich zu verbessern. Die drei ersten Massnahmen (Korrespondenz-Staatsanwälte, Zweigstelle der BA, Videoübertragungen) können zwar in gewissen Fällen für eine Entlastung der Strafverfolgungsorgane sorgen. Die übrigen Prozessbeteiligten ­ Beschuldigte, Verteidigerinnen, Zeugen, Expertinnen, Dolmetscher, Medienvertreterinnen usw. ­ wären aber nach wie vor mit den Problemen eines peripher gelegenen Gerichts konfrontiert. Dazu kommt, dass KorrespondenzStaatsanwälte oder BA-Vertreterinnen einer regionalen Zweigstelle nur einen minimalen Beitrag zur Entlastung der Bundesanwaltschaft leisten könnten. Grundsätzlich muss die Anklage vor dem Bundesstrafgericht von jenen Staatsanwältinnen und Staatsanwälten vertreten werden, die am Ermittlungsverfahren beteiligt waren und das Dossier kennen. Die Übergabe des Dossiers an einen lokalen Staatsanwalt am Standort des Gerichts bringt Reibungsverluste (Instruktion des neuen Anklagevertreters, Einarbeitungszeit) und ist in vielen Fällen wohl undenkbar. So dürfte ein in der Ostschweiz tätiger Staatsanwalt ohne unverhältnismässig grossen Aufwand kaum in der Lage sein, einen in der Süd- oder Westschweiz ermittelten Fall vor einem allfälligen Bundesstrafgericht in St. Gallen zu vertreten. Was den Einsatz von Videoübertragungen anbelangt, so müsste eine solche Hilfsmassnahme auf wenige Einzelfälle beschränkt bleiben. Der persönliche Kontakt zwischen Richter oder Richterin und befragter Person ist ein wesentlicher Bestandteil eines Strafprozesses.

Gewisse Eindrücke ­ z.B. über die Gefühlslage der befragten Person (Erröten, Schwitzen o.ä.) ­ können nur bei physischer Nähe transportiert werden.

4.1.3.2

Massnahmen zur Entschärfung der Situation im Falle einer Angliederung des Zwangsmassnahmengerichts gemäss VE StPO beim Bundesstrafgericht

Zur Entschärfung der Schwierigkeiten eines peripher gelegenen Zwangsmassnahmengerichts fallen folgende Massnahmen in Betracht: ­

Ausgestaltung der neuen Strafverfahrensordnung (VE StPO) in dem Sinn, dass die Bundesanwaltschaft Antrag auf Anordnung von Untersuchungshaft beim kantonalen Haftgericht stellen kann, wenn die Anrufung des Bundesstrafgerichts aus zeitlichen Gründen nicht möglich ist;

­

«fliegende Haftrichter» reisen je nach Bedarf zum Standort des Verfahrens, d.h. nach Bern oder an den allfälligen Standort einer Zweigstelle der eidgenössischen Strafverfolgungsbehörden;

­

das peripher gelegene Bundesstrafgericht verfügt über eine dauernd besetzte Zweigstelle der Zwangsmassnahmenkammer an einem zentralen Ort (z.B.

Bern);

­

Einsatz von Videoübertragungen.

Im Gegensatz zu den Hauptverhandlungen wäre es für den Bereich der Haftverhandlungen eher möglich, Lösungen zur Umgehung von zeitraubenden Reisen an den Standort eines peripher gelegenen Bundesstrafgerichts zu finden. Im Vordergrund dürfte dabei die Möglichkeit stehen, das jeweilige kantonale Haftgericht auch für die Anordnung von Verhaftungen im Bereich der Bundeskompetenzen als zuständig zu 6059

erklären. Allerdings ist es zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht, vertiefte Überlegungen zur Umsetzung des erst in der Vernehmlassung befindlichen Vorentwurfs zu einer schweizerischen Strafprozessordnung anzustellen.

4.1.3.3

Folgerungen

Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass flankierende Massnahmen das Grundproblem eines peripher gelegenen Bundesstrafgerichts nicht lösen können.

Ein solches dezentral gelegenes Gericht bringt es mit sich, dass sämtliche Beteiligten eines Strafprozesses ­ Anklage, Verteidigung, Beschuldigte, Expertinnen, Zeugen, Dolmetscherinnen, Medienvertreter ­ an den peripher gelegenen Gerichtsort reisen müssen, was, je nach Deliktsort, für viele der Betroffenen mit langen Reisezeiten verbunden ist.

4.1.4

Ergebnis: Notwendigkeit eines zentral gelegenen Bundesstrafgerichts

Die dargelegten Schwierigkeiten eines peripher gelegenen Bundesstrafgerichts haben den Bundesrat dazu bewogen, das Gericht im Interesse einer effizienten und erfolgreichen Strafverfolgung im Zentrum der Schweiz anzusiedeln.

Von den im Vordergrund stehenden zentralen Standorten Solothurn, Olten und Aarau bietet Aarau am besten Gewähr für eine erfolgreiche und zeitgerechte Installation des Gerichts (der ebenfalls zentrale Standort Freiburg soll nach Ansicht des Bundesrats Sitz des Bundesverwaltungsgerichts werden und steht daher aus regionalpolitischen Gründen für eine Unterbringung des Bundesstrafgerichts nicht mehr zu Verfügung [vgl. hierzu nachfolgend Ziff. 4.2]). Der Standort Aarau verfügt über sehr geeignete Objekte in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs und damit der JailTrain-Achse. Ausserdem sprechen regionalpolitische Überlegungen für eine Wahl von Aarau. So verfügt der Kanton Aargau ­ im Gegensatz zum Kanton Solothurn ­ über keine Verwaltungseinheiten der zivilen zentralen Bundesverwaltung. Zudem kann mit der Realisierung des Bundesstrafgerichts in Aarau dem Gebot der regionalen Verteilung der Justiz etwas besser Nachachtung verschafft werden als mit der Wahl eines Standorts im Kanton Solothurn. Schliesslich gilt es zu beachten, dass Solothurn und Olten in Bezug auf die Rekrutierung von Personal traditionell zum Einzugsgebiet der zentralen Bundesverwaltung in Bern gehören, was bei Aarau kaum der Fall ist.

4.2

Bundesverwaltungsgericht

4.2.1

Primäre Standortfaktoren

4.2.1.1

Bisherige und neue Strukturen

Bei der Wahl des Standorts des Bundesverwaltungsgerichts stehen andere Kriterien im Vordergrund als bei der Festlegung des Sitzes des Bundesstrafgerichts (vgl. zu den Standortkriterien im Allgemeinen vorstehend Ziff. 3). Da die Beschwerdever6060

fahren vor dem Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich schriftlich ablaufen, und mündliche Verhandlungen die Ausnahme bilden (vgl. Art. 37 E-VGG) ­ weite Teile des Zuständigkeitsbereichs des neuen Gerichts wie etwa das Asyl- und Ausländerrecht fallen nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK und erfordern daher in der Regel keine öffentliche Verhandlung ­, sind Erreichbarkeit und zentrale Lage nicht die entscheidenden Kriterien.

Hingegen gilt es zu berücksichtigen, dass das Bundesverwaltungsgericht ­ anders als das Bundesstrafgericht ­ nicht neu, aus dem Nichts gebildet, sondern an die Stelle von rund 30 Rekurskommissionen und mehreren departementalen Beschwerdediensten treten wird. Diese befinden sich heute in den Regionen Lausanne (so die Rekurskommissionen des EDI und des EFD) und Bern (so u.a. jene des UVEK, des EVD und des EJPD, insbesondere die Asylrekurskommission, ferner die Beschwerdedienste der Departemente und des Bundesrates). Es ist also zu beachten, dass vom Standortentscheid rund 250 bereits auf diesem Gebiet tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundes sowie ihre Familien betroffen sein werden.

4.2.1.2

Rekrutierung des juristischen Personals

Es ist weder notwendig noch möglich, sämtliche Mitglieder der heutigen Justizbehörden ins neue Bundesverwaltungsgericht zu transferieren. Zumindest teilweise sollte aber eine Funktionsübernahme durch die jetzigen Behördemitglieder stattfinden, da das neue Bundesverwaltungsgericht die grossen Herausforderungen ­ es werden in den neuen Strukturen jährlich weiterhin 12­15 000 Fälle zu bearbeiten sein ­ nur mit erfahrenen Richterinnen und Richtern wird bewältigen können.

Weiter gilt es zu beachten, dass die sprachliche Zusammensetzung der Juristinnen und Juristen des Bundesverwaltungsgerichts in etwa der Aufteilung der Wohnbevölkerung auf die drei Amtssprachen entsprechen muss. Dies ist notwendig, da die Arbeit als Richter oder Gerichtsschreiber bzw. als Richterin oder Gerichtsschreiberin vor allem bei schriftlichen Beschwerdeverfahren ein ganz besonders ausgeprägtes Sprachgefühl erfordert. Das Redigieren von schriftlichen Urteilsbegründungen auf hohem Niveau ist letztlich nur in der Muttersprache möglich. Das juristische Personal des Bundesverwaltungsgerichts muss daher zwingend zu ca. 65­70 Prozent aus Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern, zu ca. 20­25 Prozent aus Romands und zu ca. 5­10 Prozent aus italienischsprachigen Juristinnen und Juristen bestehen.

Das Bundesverwaltungsgericht umfasst ca. 175 Richter- und Gerichtsschreiberstellen. Diese werden wegen der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit von ca. 200­220 Personen besetzt werden. Mit Blick auf die vorstehend wiedergegebenen Verhältniszahlen wird es somit nötig sein, für das neue Bundesverwaltungsgericht ca. 50­60 französischsprachige Juristinnen und Juristen zu rekrutieren. Wie bereits ausgeführt worden ist, sollten diese zumindest teilweise aus dem Kreis der heutigen Rekurskommission und Beschwerdedienste stammen.

4.2.1.3

Auswirkungen auf die Standortfrage

Es entspricht der Erfahrung, dass die Rekrutierung von Personal aus einem anderen Sprachgebiet umso schwieriger ist, je weiter der Arbeitsort von der Sprachregion der 6061

betroffenen Person entfernt ist. Kritisch wird die Rekrutierung dabei insbesondere, wenn sich der Arbeitsort ausserhalb der Pendeldistanz zur eigenen Sprachregion bzw. zum Wohnort innerhalb dieser Region befindet. Insbesondere für grössere Betriebe, die auf eine grosse Anzahl an Fachkräften deutscher und französischer Muttersprache angewiesen sind, ist daher eine Ansiedlung nahe der Sprachgrenze von erheblichem Vorteil (die Rekrutierung von italienischsprachigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist unter diesem Gesichtswinkel weniger schwierig, da die Tessiner Juristinnen und Juristen in der Regel bereits ihre Universitätsausbildung in der Deutschschweiz oder in der Romandie absolvieren).

Die Erhaltung des qualifizierten und erfahrenen Personals der Rekurskommissionen und Beschwerdedienste hat beim Entscheid des Bundesrates über den Standort des Verwaltungsgerichts eine wesentliche Rolle gespielt. Bedeutsam war vorweg, dass zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit ein Standort ausserhalb von Bern gewählt werden musste. Ein eher peripher gelegenes Verwaltungsgericht würde jedoch vermutlich zu erheblichen Personalabgängen, zu grösseren Rekrutierungsproblemen und damit möglicherweise zu Verzögerungen beim Aufbau und bei der Bewältigung der andauernd hohen Aufgabenlast führen. Auch Mehrkosten müssten in Kauf genommen werden. Anders als in der Privatwirtschaft wären höhere Löhne (insbesondere zur Erhaltung oder Gewinnung von Fachkräften, wie etwa beim Bundesgericht in Lausanne), Dislokations- und Ausbildungsentschädigungen an die Familien und Jugendlichen sowie Hilfen beim Kauf und Verkauf von Wohneigentum wohl auf Opposition gestossen. Dabei galt es stets auch das Hauptziel der Justizreform vor Augen zu halten: nämlich durch die Schaffung effizienter Vorinstanzen möglichst rasch zur Entlastung unserer obersten Gerichte beizutragen. Wegen des neuen Instanzenzuges im Bereich der Bunderechtspflege wird das neue Bundesgerichtsgesetz erst in Kraft gesetzt werden können, wenn die neuen vorinstanzlichen Gerichte ihre Tätigkeit aufnehmen.

4.2.2

Weitere Standortfaktoren (insbesondere Dezentralisierung und Regionalisierung)

Nebst den dargelegten strukturellen und personalpolitischen Kriterien hat der Bundesrat bei der Wahl des Standorts des Bundesverwaltungsgerichts auch die übrigen unter Ziffer 3 erwähnten Standortkriterien in seine Überlegungen einbezogen und sich vertieft auseinander gesetzt mit der an sich angestrebten Dezentralisierung von Bundesbehörden und den regionalpolitischen Gesichtspunkten. Angesichts des Umstandes, dass sich das Bundesgericht in der Westschweiz und das Eidgenössische Versicherungsgericht in der Zentralschweiz befinden, hätte sich mit der Errichtung des Bundesverwaltungsgerichts in der Ostschweiz oder im Kanton Tessin Gelegenheit geboten für eine gleichmässigere geografische Verteilung der Justizgewalt. Die Erfahrungen mit der Dezentralisierung bestehender Einheiten der Bundesverwaltung in den letzten Jahrzehnten sind allerdings eher ernüchternd und sprechen gegen eine Zusammenfassung der Rekurskommissionen und Beschwerdedienste an peripherer Lage.

Was die regionalpolitischen Aspekte anbetrifft, ist dem Bundesrat nicht entgangen, dass sich in der Ostschweiz und im Kanton Tessin bei Volk und Behörden das Gefühl ausbreitet, von der Bundespolitik zusehends übergangen und benachteiligt wor6062

den zu sein. Das hat verschiedene Gründe, die u.a. in der Verkehrspolitik (Bahn 2000, NEAT, Autobahnanschlüsse), in der Regional- und Wirtschaftspolitik (Abbau von Bundesarbeitsplätzen, Landesausstellung), aber auch in der Möglichkeit, sich «in Bern» angemessen Gehör zu verschaffen, zu suchen, hier aber nicht zu diskutieren sind. Der Bundesrat ist sich der Bedeutung einer ausgewogenen Berücksichtigung regionaler Ansprüche für das bundesstaatliche Gleichgewicht sehr bewusst, glaubt aber, dass die Zusammenführung der bereits bestehenden Rekurskommissionen und Beschwerdedienste an einem Standort in der Ostschweiz (St. Gallen) oder im Tessin (Bellinzona) hier nur beschränkt Abhilfe schaffen und dabei den übrigen Standortbestimmungsfaktoren nicht ausreichend Rechnung tragen könnte.

Als weiteres Kriterium wurde auch die Nähe des Gerichtssitzes zu einer Universität mit Rechtsfakultät herangezogen. Diese Voraussetzung schafft optimale Bedingungen für die Rekrutierung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie ermöglicht zudem einen befruchtenden Austausch zwischen Justiz und Wissenschaft und dient damit letztlich der Funktionalität des neuen Gerichts. Ferner hat der Bundesrat die Eignung der von den beteiligten Kantonen konkret vorgeschlagenen Objekte geprüft und bestehende Gebäude evaluiert.

4.2.3

Ergebnis

Die Notwendigkeit, die Gerichtsmitglieder aus sämtlichen Sprachregionen der Schweiz zu rekrutieren, sowie der Umstand, dass ein erfolgreicher Start des neuen Gerichts die Übernahme eines grossen Teils des Personals der in den Grossräumen Bern und Lausanne stationierten Rekurskommissionen und Beschwerdedienste bedingt, haben den Bundesrat dazu bewogen, das neue Bundesverwaltungsgericht in der Nähe der Sprachgrenze anzusiedeln. Damit hat der Bundesrat das Interesse am guten Funktionieren des neuen Gerichts höher gewichtet als die ­ an sich ebenfalls sehr berechtigten ­ Interessen an einer regionalen Verteilung der Justiz.

Von den Standorten, die dieser Anforderung gerecht werden, bietet Freiburg am besten Gewähr für eine Erfüllung auch der übrigen Standortkriterien. Die zweisprachige Stadt Freiburg verfügt über eine Universität mit einer angesehenen juristischen Fakultät. Freiburg ist verkehrstechnisch sehr gut erschlossen und enthält mehrere geeignete Objekte für die Realisierung des neuen Gerichts. Schliesslich vermag Freiburg von den in der Nähe der Sprachgrenzen befindlichen Standorten auch aus regionalpolitischer Sicht am meisten zu überzeugen: Die Wahl von Aarau als Standort für das Bundesstrafgericht spricht für eine Berücksichtigung der Westschweiz bei der Standortwahl für das andere unterinstanzliche Bundesgericht.

5

Zeitpunkt der Realisierung der neuen Gerichte

5.1

Bundesstrafgericht

Die Rechtskommission des Ständerats hat am 3. Mai 2001 beschlossen, die Vorlage betreffend die Totalrevision der Bundesrechtspflege in drei Teile aufzuteilen und die Beratung des Strafgerichtsgesetzes vorzuziehen.

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Hintergrund dieses Entscheids ist der Umstand, dass die beiden Hauptteile der Effizienzvorlage auf den 1. Januar 2002 in Kraft gesetzt werden sollen. Die Inkraftsetzung dieser Bestimmungen hat eine erhebliche Zunahme an Ermittlungsverfahren auf Stufe Bund zur Folge (vgl. hierzu vorstehend Ziff. 4.1.1.2). Diese zusätzliche Arbeitslast kann das Bundesgericht höchstens während einer sehr beschränkten Übergangszeit (1­2 Jahre) bewältigen, nicht aber bis zum Inkrafttreten der gesamten Revision der Bundesrechtspflege. Die Rechtskommission des Ständerats hat daher der Verabschiedung und Inkraftsetzung des Strafgerichtsgesetzes oberste Priorität eingeräumt.

Das Bundesstrafgericht muss auf den Zeitpunkt der Inkraftsetzung des Strafgerichtsgesetzes betriebsbereit sein. Die Arbeiten für die Bereitstellung des Gebäudes und der Infrastruktur sind daher unmittelbar nach Verabschiedung des Strafgerichtsgesetzes bzw. der Standortbestimmung (Art. 4 Abs. 1 SGG) durch das Parlament an die Hand zu nehmen. Der Bundesrat hat das EFD und das EJPD beauftragt, mit dem Kanton Aargau und der Stadt Aarau ein Projekt (Grundstück und Gebäude) zu evaluieren und auszuarbeiten, das sich für eine Realisierung des Bundesstrafgerichts eignet. Das Gebäude sollte bis 2004, spätestens aber 2005, bezugsbereit sein. Falls das Strafgerichtsgesetz bereits auf einen früheren Zeitpunkt in Kraft gesetzt werden kann (geplant ist ein Inkrafttreten im Verlaufe des Jahres 2003), müsste für die Anfangszeit eine provisorische Unterbringung des Gerichts ins Auge gefasst werden.

5.2

Bundesverwaltungsgericht

Gemäss dem von der Rechtskommission des Ständerats gewählten Vorgehen werden das Bundesgerichtsgesetz und das Verwaltungsgerichtsgesetz in zweiter Priorität beraten und verabschiedet werden. Dementsprechend wird das Verwaltungsgerichtsgesetz erst nach dem Strafgerichtsgesetz in Kraft treten. Dies wird vermutlich nicht vor Anfang 2005 der Fall sein. Der Bundesrat hat daher das EFD und das EJPD beauftragt, zusammen mit dem Kanton Freiburg und der Stadt Freiburg ein Projekt zu evaluieren und auszuarbeiten, das einen Bezug des Gerichtsgebäudes bis Anfang 2005, spätestens aber 2006, erlaubt.

6

Finanzielle Auswirkungen

Die jährlichen Mehrkosten, die mit der Schaffung eines Bundesstrafgerichts und eines Bundesverwaltungsgerichts verbunden sind, sind in Ziffer 5.1.1 der Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege dargestellt.

Die einmaligen Kosten für die Errichtung der Gebäude und die Bereitstellung der erforderlichen Infrastruktur, an denen sich die Standortkantone angemessen zu beteiligen haben, können zum jetzigen Zeitpunkt nicht beziffert werden. Entsprechende Angaben werden in den Baubotschaften enthalten sein, die das Bundesamt für Bauten und Logistik im Anschluss an die Verabschiedung des Strafgerichtsgesetzes und des Verwaltungsgerichtsgesetzes durch das Parlament erarbeiten wird. Es sei an dieser Stelle lediglich darauf hingewiesen, dass den Kosten für die Errichtung des Bundesverwaltungsgerichts auf der anderen Seite Einsparungen des Bundes für die

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Aufhebung der Rekurskommissionen und Beschwerdedienste gegenüber stehen werden.

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass sich die Standortkantone an den einmaligen Kosten für die Errichtung der Gerichtsgebäude beteiligen sollen. Er hat daher den Zuschlag an die Kantone Aargau und Freiburg an die Bedingung geknüpft, dass die beherbergenden Kantone das Grundstück zur Verfügung stellen und sich an den Gebäudeerstellungskosten in angemessener Weise beteiligen.

Zu erwähnen ist schliesslich, dass die Planung, Koordination und Überwachung der Schaffung dieser Gerichte sowie die Vorbereitung der ersten Richterwahlen eine professionelle Projektorganisation bedingen, die für die termingerechte Bereitstellung des Personals, der Gebäulichkeiten und der übrigen Infrastruktur Gewähr bietet. Die Kosten der Projektorganisation können noch nicht genau beziffert werden.

Sie hängen davon ab, wieviel verwaltungsexternes Know-how beigezogen werden muss.

7

Verfassungsmässigkeit

Die Verfassung lässt den Sitz der unteren Gerichte des Bundes offen und stellt diesbezüglich keine Vorgaben auf.

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