00.089 Botschaft zur Volksinitiative «für Mutter und Kind ­ für den Schutz des ungeborenen Kindes und für die Hilfe an seine Mutter in Not» (Initiative «für Mutter und Kind») vom 15. November 2000

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen die Botschaft über die Volksinitiative «für Mutter und Kind ­ für den Schutz des ungeborenen Kindes und für die Hilfe an seine Mutter in Not» (Initiative «für Mutter und Kind») und beantragen Ihnen, diese Volk und Ständen mit der Empfehlung auf Ablehnung und ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung vorzulegen.

Der Entwurf zum Bundesbeschluss liegt bei.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

15. November 2000

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

11166

Der Bundespräsident: Adolf Ogi Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2000-1633

675

Übersicht Die Volksinitiative «für Mutter und Kind» wurde am 19. November 1999 mit 105 001 gültigen Unterschriften in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs bei der Bundeskanzlei eingereicht. Die Initiative verlangt, die Bundesverfassung sei durch eine Bestimmung zu ergänzen, die das Leben des ungeborenen Kindes schützt und Richtlinien aufstellt über die erforderliche Hilfe an seine Mutter in Not.

Nach der Volksinitiative wäre es nicht mehr möglich, eine Schwangerschaft abzubrechen, es sei denn, die Fortsetzung dieser Schwangerschaft bringe die Mutter in eine akute, nicht anders abwendbare, körperlich begründete Lebensgefahr. Eine solche Regelung, welche allein auf eine enge Auslegung des Gesundheitsbegriffs abstellt, würde jedoch gegenüber dem geltenden Recht einen Rückschritt bedeuten.

Ausserdem trägt sie den in den letzten dreissig Jahren eingetretenen Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und Werte namentlich hinsichtlich der Stellung der Frau keine Rechnung. Die Volksinitiative verlangt sogar von der Frau, die wegen einer Vergewaltigung schwanger wird, dass sie ihre Schwangerschaft zu Ende bringt, bietet ihr allerdings die Möglichkeit an, in die Adoption ihres Kindes einzuwilligen. In der Praxis gilt eine solche Situation seit langem als Indikation für einen Abbruch der Schwangerschaft. Es ist denn auch kaum angängig, eine Frau, die Opfer einer Vergewaltigung geworden ist, zu zwingen, dieses Kind auf die Welt zu bringen. Im Übrigen werden die von der Initiative verwendeten unscharfen Begriffe die gleichen Auslegungsprobleme bereiten, die schon das geltende Recht kennt.

Der Bundesrat begrüsst zwar den Grundsatz, wonach die Kantone Müttern in Not Hilfe leisten sollen, doch ist daran zu erinnern, dass ihnen diese Pflicht schon heute auf Grund des Bundesgesetzes über die Schwangerschaftsberatungsstellen obliegt.

Selbstverständlich muss jeder Vorschlag zur Verbesserung des Schutzes des werdenden Lebens berücksichtigt werden. Der Bundesrat ist zudem der Meinung, dass dieser Schutz nicht ausschliesslich mit den Mitteln des Strafrechts gewährleistet werden darf; vielmehr gehört er in ein Gesamtkonzept, das Vorbeugung, Hilfe und Beratung umfasst, wobei die Beratung im Vordergrund steht, und das Recht der schwangeren Frau auf Selbstbestimmung ebenfalls zu berücksichtigen ist. Der Bundesrat
stellt fest, dass dieser Aspekt in dem von der Volksinitiative vorgeschlagenen Entwurf fehlt.

Aus all diesen Gründen beantragt der Bundesrat den eidgenössischen Räten, Volk und Ständen zu empfehlen, die Volksinitiative «für Mutter und Kind» ohne Gegenvorschlag abzulehnen.

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Botschaft 1

Allgemeiner Teil

1.1

Formelles

1.1.1

Wortlaut

Die Volksinitiative «für Mutter und Kind ­ für den Schutz des ungeborenen Kindes und für die Hilfe an seine Mutter in Not» (Initiative «für Mutter und Kind») wurde am 19. November 1999 mit 105 001 gültigen Unterschriften eingereicht. Die Initiative ist in die Form des ausgearbeiteten Entwurfs gekleidet und lautet: I Die Bundesverfassung wird wie folgt ergänzt: Art. 4bis (neu) 1

Der Bund schützt das Leben des ungeborenen Kindes und erlässt Richtlinien über die erforderliche Hilfe an seine Mutter in Not.

2

Die Gesetzgebung des Bundes beachtet dabei Folgendes: a.

Wer ein ungeborenes Kind tötet oder massgeblich zur Tötung beiträgt, macht sich strafbar, es sei denn, die Fortsetzung der Schwangerschaft bringt die Mutter in eine akute, nicht anders abwendbare, körperlich begründete Lebensgefahr.

b.

Jede Form von Druck zur Tötung eines ungeborenen Kindes ist unzulässig.

c.

Ist die Schwangerschaft eine Folge von Gewaltanwendung, kann die Mutter ihre allein notwendige Zustimmung zur Freigabe zur Adoption bereits ab Feststellung der Schwangerschaft erteilen.

d.

Im Falle einer Notlage der Mutter auf Grund einer Schwangerschaft gewähren die Kantone die erforderliche Hilfe. Sie können private Institutionen damit betrauen.

II Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt ergänzt: Art. 24 (neu) Für die Zeit bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung wird jede Bestimmung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB), die den straflosen Schwangerschaftsabbruch vorsieht, durch die Regelung von Artikel 4bis Absatz 2 Buchstabe a der Bundesverfassung ersetzt.

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1.1.2

Zustandekommen

Mit Verfügung vom 18. Januar 2000 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative «für Mutter und Kind» formell zu Stande gekommen ist1.

1.1.3

Behandlungsfrist

Nach Artikel 29 Absatz 1 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG)2 und Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung vom 26. Februar 1997 über die Inkraftsetzung der Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte3 hat der Bundesrat bis zum 18. November 2000 Zeit, um dem Parlament die Botschaft zu dieser Initiative zu unterbreiten, hat er doch entschieden, selber keinen Gegenvorschlag vorzulegen. Die Bundesversammlung beschliesst innert 30 Monaten seit der Einreichung der Initiative, ob sie ihr zustimmt oder nicht. Sie kann die Frist um ein Jahr verlängern, wenn mindestens ein Rat über einen Gegenentwurf oder einen mit der Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlass Beschluss gefasst hat (Art. 27 Abs. 1 und 5bis GVG und Art. 2 Abs. 2 der Verordnung vom 26. Februar 1997 über die Inkraftsetzung der Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte).

1.1.4

Anpassung an die neue Bundesverfassung

Volksinitiativen, die sich noch auf die Bundesverfassung von 1874 stützen, müssen formal an die neue Bundesverfassung angepasst werden. Ziffer III des Bundesbeschlusses vom 18. Dezember 1998 über eine neue Bundesverfassung4 gesteht der Bundesversammlung das Recht zu, solche Anpassungen vorzunehmen.

Folglich muss die in der Volksinitiative «für Mutter und Kind» vorgesehene Artikelnummerierung der Systematik der neuen Verfassung angeglichen werden. Die vorgeschlagene Nummerierung (Art. 4bis) scheint darauf hinzuweisen, dass die neue Bestimmung in den Katalog der Grundrechte eingefügt werden könnte. Die Bestimmung weist freilich alle Eigenschaften einer Kompetenznorm auf. Es geht ja darum, dem Staat die Aufgabe zu überbinden, Massnahmen zum Schutz des ungeborenen Kindes und seiner Mutter in Not zu ergreifen. Der erste Absatz statuiert ein Ziel des Bundes und verleiht diesem eine Gesetzgebungskompetenz. Absatz 2 nennt seinerseits die Grundsätze der zu schaffenden Bundesgesetzgebung. Abgesehen von Absatz 2 Buchstabe d, der sich auf die Kantone bezieht, richten sich beide Absätze ausdrücklich und ausschliesslich an den «Bund» und die «Gesetzgebung des Bundes». Der Wortlaut der Verfassungsbestimmung lässt darum auf eine Kompetenznorm schliessen. Die Urheber der Initiative stützen sich auf das Recht auf Leben, und sie verlangen, dass Massnahmen ergriffen werden, um dieses Recht zu konkretisieren. Da der überwiegende Teil des gesetzgeberischen Auftrags zur Umsetzung des Rechts auf Leben dem Bund obliegt, beantragen wir, die neue Vorschrift in den 3. Titel, 2. Kapitel, 8. Abschnitt «Wohnen, Arbeit, soziale Sicherheit und Gesund-

1 2 3 4

678

BBl 2000 234 SR 171.11 AS 1997 760 AS 1999 2556 2610

heit» als Artikel 116a einzufügen. Dieser Artikel wird ebenfalls mit dem Randtitel «Schutz der Kinder vor der Geburt» versehen.

Wir beantragen zugleich, die von der Initiative vorgeschlagene Übergangsbestimmung (Art. 24) wie folgt anzupassen: Art. 196 Sachüberschrift Übergangsbestimmungen gemäss Bundesbeschluss vom 18. Dezember 1998 über eine neue Bundesverfassung Art. 197

Übergangsbestimmungen nach Annahme der Bundesverfassung vom 18. April 1999

1. Übergangsbestimmung zu Artikel 116a (Schutz der Kinder vor der Geburt) Für die Zeit bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung wird jede Bestimmung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB), die den straflosen Schwangerschaftsabbruch vorsieht, durch die Regelung von Artikel 116a Absatz 2 Buchstabe a der Bundesverfassung ersetzt.

Um der Klarheit und Deutlichkeit Willen verwenden wir im Folgenden diese neue Nummerierung.

1.2

Gültigkeit

1.2.1

Einheit der Form

Nach Artikel 139 Absätze 2 und 3 und Artikel 194 Absatz 3 BV ist eine Initiative auf Teilrevision der Bundesverfassung nur in der Form der allgemeinen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfs zulässig; Mischformen sind nicht gestattet. Die vorliegende Initiative ist ausschliesslich als vollständig ausgearbeiteter Entwurf abgefasst. Das Gebot der Einheit der Form ist somit erfüllt.

Die als vollständig ausgearbeiteter Entwurf abgefassten Initiativen müssen das von ihnen verfolgte Ziel klar und bestimmt ausdrücken, sodass die Stimmberechtigten mit der nötigen Sachkenntnis darüber entscheiden können. Nach dem Wortlaut der Volksinitiative wird ihr Ziel ­ der Schutz des ungeborenen Kindes und die Hilfe an seine Mutter in Not ­ auf dem Wege der Gesetzgebung zu erreichen sein, welche den in Artikel 116a Absatz 2 Buchstaben a­d (neu) BV umschriebenen Auftrag zu beachten hat. Unter dem Blickwinkel der Einheit der Form ist das vorgeschlagene Vorgehen nicht zu beanstanden, lässt es doch dem Gesetzgeber die Wahl der Mittel, um die Initiative umzusetzen.

1.2.2

Einheit der Materie

Das Gebot der Einheit der Materie (Art. 139 Abs. 3 und Art. 194 Abs. 2 BV) will vermeiden, dass ein Initiativbegehren mehrere, sachlich nicht zusammenhängende Themen umfasst. Das Gebot dient der Gewährleistung einer freien und unverfälschten Willensbildung.

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Das Ziel der vorliegenden Volksinitiative ist klar bestimmt: Die Eidgenossenschaft schützt das Leben des Kindes vor der Geburt und erlässt Richtlinien über die erforderliche Hilfe an seine Mutter in Not. Die Bundesgesetzgebung muss jede Handlung, welche die Tötung des ungeborenen Kindes verursacht, mit Strafe bedrohen, ebenso jede Form von Druck im Hinblick auf eine solche Tat. Es besteht somit eine Verbindung zwischen den verschiedenen Teilen der Volksinitiative; das Gebot der Einheit der Materie ist deshalb erfüllt.

1.2.3

Weiteres Gültigkeitserfordernis

Neben der Einheit der Form und der Materie verlangt die Bundesverfassung in Artikel 194 Absatz 2 die Beachtung der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Die Volksinitiative tangiert das zwingende Völkerrecht nicht.

1.2.4

Durchführbarkeit

Jede Volksinitiative ist unter dem Blickwinkel ihrer praktischen Durchführbarkeit zu prüfen. Die Umsetzung der Initiative «für Mutter und Kind» könnte zwar gewisse vorab praktische Schwierigkeiten bereiten, doch tut dies ihrer grundsätzlichen Durchführbarkeit keinen Abbruch.

Die Volksinitiative «für Mutter und Kind» ist somit gültig.

2

Ziel und Inhalt der Initiative

Die Volksinitiative «für Mutter und Kind» hebt alle Bestimmungen des Strafgesetzbuches über die straflose Unterbrechung der Schwangerschaft auf. Es betrifft namentlich Artikel 120 des Strafgesetzbuches, bedrohen doch die anderen einschlägigen Vorschriften (Art. 118 und 119 StGB) die Abtreibung mit Strafe. Sie verlangt Regeln, wonach wer ein ungeborenes Kind tötet oder massgeblich zur Tötung beiträgt, bestraft wird. Ausserdem soll es unzulässig sein, dass Dritte auf die Schwangere Druck ausüben, damit sie sich zur Tötung des ungeborenen Kindes entschliesse (Abs. 2 Bst. a und b). Nach der Initiative gibt es nur eine einzige Indikation für die straflose Tötung des Kindes vor der Geburt, nämlich den Fall, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft die Mutter in eine akute, nicht anders abwendbare, körperlich begründete Lebensgefahr bringt. Für den Fall einer Schwangerschaft als Folge von Gewaltanwendung sieht die Initiative «für Mutter und Kind» eine besondere Regelung vor: Nachdem die Schwangerschaft festgestellt wurde, kann die Mutter ihre Zustimmung zur Adoption ihres künftigen Kindes erteilen (Abs. 2 Bst. c). Die künftige Gesetzgebung hat ferner Leistungen vorzusehen für schwangere Frauen, die sich in einer Notlage befinden. Nach Absatz 2 Buchstabe d obliegt diese Unterstützung den Kantonen. Diese können aber private Institutionen damit betrauen.

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3

Besonderer Teil

In den industrialisierten Ländern waren die letzten 30 Jahre im Bereich der Sexualität insbesondere durch einen besseren Zugang der Bevölkerung zu Verhütungsmitteln und durch die Entwicklung der Sexualerziehung geprägt. Dieser zweifache Fortschritt hatte Folgen für die ungewollten Schwangerschaften, die seltener geworden sind.

Stellt sich in einem bestimmten Moment dennoch die Frage eines Schwangerschaftsabbruchs, so ist dies durchaus als Zeichen eines gewissen Versagens der Verhütung im Vorfeld zu werten, da eine unerwünschte Schwangerschaft nicht verhindert werden konnte. Im Falle der Schwangerschaften Jugendlicher ist ein solches Versagen besonders augenfällig. Dieses in der Schweiz noch wenig verbreitete Phänomen hat sich insbesondere in den USA zu einem echten gesellschaftlichen Problem entwickelt. Frühschwangerschaften bei sehr jungen Frauen verweisen aber nicht nur auf die heute praktizierte Sexualerziehung ­ wie soll informiert, welche Botschaft vermittelt, wie geholfen werden ­ sondern in einem weiteren Sinne auch auf die soziale Gleichstellung, handelt es sich doch um ein Phänomen, das vorwiegend die am meisten benachteiligten sozioökonomischen Schichten betrifft.

Die Frage der Schwangerschaftsunterbrechung lässt sich daher nicht trennen von dem sehr viel breiteren Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, zu dem beispielsweise Themen wie Sexualerziehung, Verhütung, Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten und Familienplanung gehören. Auch kann sie nicht losgelöst vom soziokulturellen und wirtschaftlichen Kontext betrachtet werden, in dem sie stattfindet.

3.1

Geltendes Recht

Nach den Artikeln 118 und 119 StGB ist die Abtreibung strafbar, wenn sie durch die Schwangere selber oder durch Drittpersonen ausgeführt wird. Die Unterbrechung der Schwangerschaft ist dagegen nach Artikel 120 StGB straflos, wenn sie vorgenommen wird, um eine nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder grosse Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit von der Schwangeren abzuwenden (sog. medizinische Indikation). Die Schwangere muss einer solchen Schwangerschaftsunterbrechung schriftlich zugestimmt haben, und der Eingriff muss durch einen patentierten Arzt nach Einholung eines Gutachtens eines zweiten patentierten Arztes vorgenommen werden.

Artikel 120 StGB erlaubt somit einen Schwangerschaftsabbruch einzig bei Vorliegen einer medizinischen Indikation. Während der seinerzeitige Gesetzgeber5 in erster Linie an körperliche Gefahren für Leben und Gesundheit der Schwangeren dachte, wird heute der weite Gesundheitsbegriff verwendet, wie er von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert wird; danach ist Gesundheit ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Daraus folgt aber, dass eine Frau nicht verpflichtet werden kann, ihre Schwangerschaft, die Folge eines Verbrechens ist, zu Ende zu bringen (sog. juristische Indikation). Gleiches gilt für 5

Der Gesetzgeber von 1937 stützte sich auf einen Text, der auf den Vorentwurf einer Expertenkommission aus dem Jahre 1918 zurückgeht; vgl. Botschaft vom 30. September 1974 zu einem Bundesgesetz über den Schutz der Schwangerschaft und die Neuordnung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs (BBl 1974 II 703).

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den Fall, da der Erziehung des Kindes unüberwindliche Hindernisse zumal finanzieller Art entgegenstehen (sog. soziale Indikation) oder wenn absehbar ist, dass das Kind mit körperlichen oder psychischen Gebrechen zur Welt kommen wird (früher sog. eugenische Indikation, heute auch embryopathische oder genetische Indikation genannt). Diese Indikationen stehen zwar nicht ausdrücklich als Rechtfertigungsgründe in Artikel 120 StGB, doch können sie nach vorherrschender Auffassung bei der Beurteilung der medizinischen Indikation mit berücksichtigt werden6. In der Praxis wird immer häufiger die so genannte psychiatrische Indikation angewendet, die alle diese Indikationen berücksichtigt.

Zwischen den Kantonen gibt es freilich grosse Unterschiede in der Auslegung des Gesetzes und damit seiner Anwendung. Zudem fühlen sich die Ärzte durch ihre eigenen Überzeugungen in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs gebunden. Dies kann für die Betroffenen zu einer gewissen Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit führen, hängt doch die Praxis des Schwangerschaftsabbruchs von der mehr oder weniger restriktiven Gesetzesauslegung ab. Frauen haben in den strengeren Kantonen geringere Möglichkeiten, ihre Schwangerschaft abzubrechen, als in Kantonen, in denen das Gesetz liberaler ausgelegt wird. Diese Rechtsungleichheit führt zu einem «Abtreibungstourismus».

Seit Bestehen der Regelung über den Schwangerschaftsabbruch haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und Wertvorstellungen geändert. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft hat sich verändert. Im Jahre 1971 haben die Schweizer Bürgerinnen das Stimm- und Wahlrecht erhalten; 1981 haben Volk und Stände den Verfassungsartikel über die Gleichberechtigung von Mann und Frau gutgeheissen. Im Familienrecht erfolgte die Gleichstellung der Geschlechter etappenweise, und schliesslich trat 1996 das Gleichstellungsgesetz in Kraft. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte die Idee der Autonomie des Einzelnen eine wachsende Bedeutung. Ende der Achtzigerjahre leitete man das Recht auf Selbstbestimmung aus dem Grundrecht der persönlichen Freiheit ab. In diesem Zusammenhang machte sich der Anspruch der Frauen immer deutlicher bemerkbar, über den Abbruch einer Schwangerschaft frei bestimmen zu können; dies ging einher mit einer offeneren Haltung gegenüber der Sexualität. Ausserdem ist
eine Veränderung des herkömmlichen Familienbildes festzustellen. Immer häufiger trägt die Frau allein die mit der Kindererziehung verbundene Verantwortung. Namentlich aus diesen Gründen gilt der Schwangerschaftsabbruch heute als eine Frage, die unter das Selbstbestimmungsrecht der Frau fällt. Es ist hier auch festzustellen, dass seit 1980 praktisch keine Strafurteile gestützt auf die Artikel 118 und 119 StGB ergangen sind (gestützt auf Art. 118 StGB: 1982 eine Verurteilung, 1986 zwei Verurteilungen, 1988 eine Verurteilung; gestützt auf Art.

119 Abs. 2 StGB: 1997 eine Verurteilung)7. Dies belegt, dass in der heutigen Gesellschaft offenbar der Wille fehlt, die Vorschriften über den strafbaren Schwangerschaftsabbruch durchzusetzen. In Bezug auf die Indikationen für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch üben ausser Uri, Obwalden, Nidwalden und AppenzellInnerrhoden alle Kantone in den letzten Jahren eine mehr oder weniger liberale Praxis8 aus.

6 7 8

682

Vgl. Rehberg/Schmid, Strafrecht III Delikte gegen den Einzelnen, 6. Aufl., Zürich 1994, S. 21.

Vgl. die vom Bundesamt für Statistik erstellte Statistik der gestützt auf Art. 118 ff. StGB ergangenen Urteile.

Hurtado Pozo, Droit pénal, partie spéciale I, 3. Aufl., Zürich 1997, Rz. 273.

3.2

Rechtsvergleich9

Bei einem internationalen Vergleich des geltenden Rechts kann man unterscheiden zwischen den Staaten, in welchen der Schwangerschaftsabbruch allein zur Rettung des Lebens der Schwangeren zulässig ist, denjenigen, die eine enge medizinische Indikation kennen, denen, welche die medizinische und die soziale Indikation verbinden, sowie jenen, die sich für die Fristenregelung entschieden haben. Die Schweiz gehört de iure zur Gruppe von Ländern, die nur die medizinische Indikation kennen.

In den industrialisierten Ländern ist die Fristenregelung am weitesten verbreitet. Die Vereinigten Staaten und die Mehrzahl der europäischen Länder (Deutschland, Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Ungarn, Italien, Norwegen, Niederlande, Schweden, Tschechische Republik) haben sich für sie entschieden. Unterschiede zwischen diesen Ländern bestehen nur in Detailpunkten: Regelung im Strafgesetzbuch oder in einem Spezialgesetz, unterschiedliche Fristen (zwischen 10 und 24 Wochen nach der letzten Periode), unterschiedliche Ausgestaltung der Beratung usw. In Spanien, Grossbritannien und in Polen ist der Schwangerschaftsabbruch nur nach der jeweiligen gesetzlichen Indikation zulässig. In Kanada hat das oberste Gericht im Jahre 1988 entschieden, das geltende Abtreibungsgesetz sei mit der Würde der Frau nicht vereinbar, und es ersatzlos aufgehoben.

Das Europäische Parlament hat 1990 eine Resolution verabschiedet, worin die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie des Europäischen Wirtschaftsraums aufgefordert werden, den Frauen das Recht zu gewähren, über ihren Körper zu bestimmen, das heisst zwischen Mutterschaft und dem Abbruch einer unerwünschten Schwangerschaft zu wählen10.

3.3

Parlamentarische und politische Vorstösse11

Die strafrechtlichen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch (Art. 118­121 StGB) sind über 50 Jahre alt. Zahlreich sind die parlamentarischen und politischen Vorschläge zu Gunsten einer Änderung des geltenden Rechts. Die vorliegende Initiative stellt den jüngsten Vorstoss in dieser Reihe dar. Die seit 1971 eingebrachten Änderungsvorschläge verfolgten unterschiedliche Ziele: einige strebten die völlige Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs an, andere suchten eine Liberalisierung zu verhindern. Alle diese Regelungsentwürfe wurden von Volk und Ständen abgelehnt12.

Der letzte Vorschlag ­ vor dieser Volksinitiative ­ auf Änderung des Strafgesetzbuches wurde 1993 von Nationalrätin Haering Binder in Form einer parlamentarischen Initiative eingereicht. Diese parlamentarische Initiative strebt die Straflosigkeit des 9 10 11

12

Vgl. Eser A./Koch H.-G., Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil I, Baden-Baden 1988.

Resolution des Europäischen Parlaments Doc. B3-396/90.

Vgl. Botschaft vom 30. September 1974 zu einem Bundesgesetz über den Schutz der Schwangerschaft und die Neuordnung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs (BBl 1974 II 703 ff.); Botschaft vom 19. Mai 1976 über die Volksinitiative «für die Fristenlösung» (BBl 1976 II 798 ff.); Botschaft vom 28. Februar 1983 zur Volksinitiative «Recht auf Leben» (BBl 1983 II 1 ff.).

Vgl. die im Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 19. März 1998 erwähnte Chronologie (BBl 1998 3008).

683

Schwangerschaftsabbruchs während der ersten drei Monate der Schwangerschaft und damit die Einführung einer Fristenregelung an. Im Februar 1995 hat ihr der Nationalrat Folge gegeben13. Der Rat hielt dafür, dass die vom geltenden Recht verursachten Ungleichheiten nicht mehr tolerierbar seien und deshalb die heutige Gesetzgebung revidiert werden müsse. Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates hat daraufhin einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der eine Fristenregelung vorsieht, und am 19. März 1998 einen diesbezüglichen Bericht verabschiedet 14.

In einem breit angelegten Vernehmlassungsverfahren, an dem die Kantone, die politischen Parteien sowie die interessierten Kreise teilnahmen, stiess der Vorschlag mehrheitlich auf Zustimmung. In seiner Stellungnahme vom 26. August 199815 kommt der Bundesrat seinerseits zum Schluss, es sei notwendig, die Strafbestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch zu ändern. Eine neue Regelung müsse freilich das Selbstbestimmungsrecht der Frau sowie die Verantwortung des Staates für den Schutz des werdenden Lebens in Rechnung stellen. Die Fristenregelung, wie sie von der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vorgeschlagen wird, erfülle diese Bedingungen nicht hinreichend und werde deshalb vom Bundesrat abgelehnt.

Am 5. Oktober 1998 hat der Nationalrat jedoch der Fristenregelung zugestimmt, so wie sie von seiner Kommission für Rechtsfragen vorgeschlagen war16. Am 21. September 2000 hat sich der Ständerat ebenfalls für diese Lösung entschieden, sie jedoch in einigen Punkten ergänzt17. Die Lancierung der Volksinitiative «für Mutter und Kind im Jahre 1998 ist offensichtlich eine Reaktion auf die parlamentarische Initiative Haering Binder.

4

Würdigung der Initiative

4.1

Im Allgemeinen

Die Volksinitiative «für Mutter und Kind» wurde 1998 lanciert, also zur gleichen Zeit, als die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates gestützt auf die parlamentarische Initiative Haering Binder ihren Vorentwurf mit Begleitbericht zu einer Fristenregelung veröffentlichte; die Volksinitiative kann daher als eine Art «Gegenthese» zur Fristenlösung aufgefasst werden. Während die vom Nationalrat vorgeschlagene Fristenregelung allein auf das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren achtet, beschränkt sich der Wortlaut der Volksinitiative auf den Schutz des Kindes vor der Geburt und fordert Hilfe für seine Mutter in Not. Die Initiative spricht weder von Abtreibung noch von Schwangerschaftsabbruch, sondern verwendet den Begriff «ein ungeborenes Kind töten». Diese Tötung eines Kindes vor der Geburt soll einzig und allein dann straflos sein, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft die Mutter in eine akute, nicht anders abwendbare, körperlich begründete Lebensgefahr bringt.

Es handelt sich hier also klar und ausschliesslich um eine eng gefasste medizinische Indikation, so wie sie seinerzeit vom historischen Gesetzgeber vorgesehen war.

Hingegen stellt die heutige Praxis, wenn sie das Bestehen einer medizinischen Indikation zu prüfen hat, auf den Gesundheitsbegriff ab, wie ihn die WHO definiert. Die

13 14 15 16 17

684

AB 1995 N 339 ff.

BBl 1998 3005 BBl 1998 5376 AB 1998 N 1989 ff.

AB 2000 S 533

Volksinitiative macht somit unbestreitbar einen Rückschritt gegenüber dem geltenden Recht und der heutigen Praxis. Die Annahme der Volksinitiative käme praktisch einem allgemeinen Verbot der Abtreibung sowie einer Gebärpflicht gleich. Eine rein medizinische Indikation, wie sie von der Volksinitiative verlangt wird und die allein das körperliche Wohlbefinden der Schwangeren berücksichtigt, wäre nur in den seltensten Fällen gegeben. Das würde die Frauen, welche ihre Schwangerschaft abbrechen möchten, dazu zwingen, auf andere Methoden auszuweichen oder sich an unqualifizierte Personen zu wenden; dies kann aber schwere Folgen für die Gesundheit dieser Frauen nach sich ziehen. Eine Revision der Strafbestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch ist zweifellos notwendig; der von der Volksinitiative dafür eingeschlagene Weg ist aber offensichtlich nicht der richtige.

Anlässlich der Beratung der parlamentarischen Initiative Haering Binder hat der Bundesrat die Notwendigkeit, die Strafbestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch zu revidieren, anerkannt. Er hat jedoch mehrfach wiederholt und unterstrichen, dass eine neue Regelung ein Gleichgewicht herstellen müsse zwischen dem Recht der Frau auf Selbstbestimmung und der Verantwortung des Staates für den Schutz des werdenden Lebens. Dieses Gleichgewicht fehlt in der Volksinitiative, die offensichtlich nur das ungeborene Kind schützen will und so praktisch die Mutter zwingt, das Kind auszutragen.

4.2

Im Besonderen

Artikel 116a Absatz 1 der Volksinitiative stellt den Grundsatz auf, dass das Leben des ungeborenen Kindes geschützt ist und dass der Staat zu diesem Zweck Richtlinien erlässt, um eine Hilfe an seine Mutter in Not zu gewährleisten. Die Initiative erläutert die Begriffe «Richtlinien» und «Mutter in Not» nicht näher. Absatz 2 nennt in sehr allgemeiner Weise die vom Bund bei seiner Gesetzgebung zu beachtenden Leitplanken.

Die Initiative überlässt es also dem Bund, den Begriff der «Not» in einem Gesetz zu definieren. Es sind indes just solche unscharfen Begriffe, die zu unterschiedlichen Auslegungen des geltenden Rechts geführt haben mit der Folge der Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit. Man hätte also eine ebenso unbefriedigende Situation wie schon heute.

Nach Absatz 2 Buchstabe a macht sich strafbar, wer ein Kind vor der Geburt tötet oder massgeblich zur Tötung beiträgt. Anders als im geltenden Recht werden hier keine unterschiedlichen Strafen für den Arzt, für den Dritten und für die Schwangere vorgesehen. Artikel 118 StGB sieht für die Abtreibung durch die Schwangere eine mildere Strafe vor, während Artikel 119 StGB Drittpersonen mit schärferer Strafe bedroht. Einer der am wenigsten umstrittenen Punkte in der gegenwärtigen Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch ist aber gerade der Wille, die Repression der betroffenen Frau zu verringern18. Das von der Volksinitiative verlangte Verbot bedeutet zudem praktisch eine Verpflichtung der Schwangeren, das Kind um jeden Preis zur Welt zu bringen, es sei denn, als einzige Ausnahme, die Fortsetzung der Schwangerschaft würde sie in eine akute, nicht anders abwendbare körperlich begründete Lebensgefahr bringen. Diese ausserordentlich restriktive Bedingung stellt

18

Vgl. Hurtado Pozo, a.a.O., Rz 237.

685

eine Indikation dar, die allein auf die körperliche Gesundheit der Schwangeren abstellt.

Die heute praktizierte medizinische Indikation gründet aber auf einem weiten Begriff der Gesundheit und berücksichtigt - aber in den einzelnen Kantonen auf sehr unterschiedliche Art und Weise - die juristische, embryopathische und soziale Indikation. Die Volksinitiative verwirft alle diese Indikationen und lässt nur eine enge medizinische Indikation zu. Die Initiative sagt auch nicht, wer auf welche Weise feststellt, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft die Mutter in Lebensgefahr bringt und diese körperlich begründete Lebensgefahr akut ist. Eine künftige Gesetzgebung müsste all diese Fragen beantworten. Zumal der Bundesrat sich immer für eine Neuregelung ausgesprochen hat, die klar ist und die sowohl den Interessen des ungeborenen Kindes als auch denen der Schwangeren Rechnung trägt, sowie aus den oben genannten Gründen ist Buchstabe a abzuweisen.

Buchstabe b, wonach jede Form von Druck zur Tötung eines Kindes vor der Geburt unzulässig ist, richtet sich an alle Drittpersonen, in erster Linie aber an den Vater des künftigen Kindes und an die Angehörigen der Schwangeren. Die Durchsetzung dieser Bestimmung dürfte in der Praxis aber grosse Schwierigkeiten bereiten.

Für den Fall, dass die Schwangerschaft eine Folge von Gewaltanwendung ist, sieht Buchstabe c eine Sonderregelung vor: die Möglichkeit der Mutter, ihre Zustimmung zur Adoption zu erteilen. Damit müsste sie ihre Schwangerschaft zu Ende bringen und ein Kind gebären, das, weil Frucht eines Verbrechens, unerwünscht ist. Diese Verpflichtung, nach einer Vergewaltigung das Kind auszutragen, ist inakzeptabel und muss abgelehnt werden. Man kann ja nicht von einer schwangeren Frau verlangen, eine Schwangerschaft zu bejahen, die Folge eines Sexualdelikts ist. Heute kann eine Frau, die auf Grund einer Vergewaltigung schwanger ist, ihre Schwangerschaft abbrechen, sind doch die Voraussetzungen der psychiatrischen Indikation erfüllt 19.

Die Umsetzung der Initiative würde eine Anpassung der Vorschriften des Zivilgesetzbuches (ZGB)20 über die Adoption bedingen, namentlich eine Änderung von Artikel 265b ZGB, welcher den Zeitpunkt der Zustimmung zur Adoption regelt.

Nach dieser Vorschrift darf die Mutter ihre Zustimmung nicht vor Ablauf von sechs Wochen seit der
Geburt des Kindes erteilen. Diese Zustimmung kann zudem während der folgenden sechs Wochen widerrufen werden. Mit dieser Bestimmung soll verhindert werden, dass die Frau, die sich durch ihre Schwangerschaft in einem depressiven Zustand befinden kann, gedrängt oder genötigt wird, auf ihr Kind zu verzichten21. In der Praxis kann eine Frau jederzeit, also auch schon während der Schwangerschaft, erklären, das werdende Kind nicht behalten und es zur Adoption freigeben zu wollen. Sie weiss, dass das Kind gleich nach der Geburt in fremde Obhut gegeben wird, bis sie nach Ablauf der gesetzlichen Frist ihre Zustimmung erteilt und ­ wenn sie sie nicht widerruft ­ diese in Kraft tritt. Die Zustimmung, wie sie die Initiative vorsieht, wäre jedoch keine blosse Absichtserklärung, sondern würde, sobald sie abgegeben wurde, Rechtswirkungen entfalten. Selbst bei einer Schwangerschaft als Folge einer Vergewaltigung könnte eine solche Regelung weder im Interesse der Mutter noch in dem ihres werdenden Kindes liegen. Ausserdem stünde die 19

20 21

686

Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Aufl., Bern 1995, § 2 Rz. 13; Trechsel, StGB Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, Art. 120 Rz. 10; Rehberg/Schmid, a.a.O., S. 21.

SR 210 Botschaft vom 12. Mai 1971 über die Revision des Zivilgesetzbuches; BBl 1971 I 1225 f.

Initiative im Widerspruch zu Artikel 5 Ziffer 4 des Europäischen Übereinkommens über die Adoption von Kindern22, das die gleiche Bedenkfrist vorsieht. Aus all diesen Gründen ist Buchstabe c abzulehnen.

Nach Buchstabe d haben die Kantone der Mutter, die wegen einer Schwangerschaft in eine Notlage geraten ist, die erforderliche Hilfe zu leisten; sie können private Institutionen damit betrauen. Der Schutz des ungeborenen Kindes darf nicht allein dem Strafrecht überlassen werden; er soll auch eine Hilfe umfassen, die nicht nur der schwangeren Frau zu gewähren ist, sondern ebenso der Mutter, die sie nach der Geburt ihres Kindes nötig hat. So betrachtet, strebt die Initiative eine Solidarität der gesamten Bevölkerung mit den Frauen in Not an. Abgesehen vom Problem der Definition des Begriffs «Notlage», ist dieses Ziel sicher zu begrüssen. Es muss jedoch hier daran erinnert werden, dass die Kantone schon seit 1981 verpflichtet sind, Schwangerschaftsberatungsstellen einzurichten23. In allen Kantonen bieten diese seit 1984 bestehenden Einrichtungen den Schwangeren sowie allen direkt durch eine Schwangerschaft Betroffenen Rat und Hilfe an. Die Beratung ist kostenlos; sie bezieht sich auf die private und öffentliche Unterstützung, welche diese Personen bei Fortsetzung der Schwangerschaft beanspruchen können, auf die medizinische Bedeutung des Schwangerschaftsabbruchs und auf die Schwangerschaftsverhütung.

Buchstabe d kann und darf zwar begrüsst werden, doch ist dessen Ziel durch das geltende Recht bereits erfüllt.

Schliesslich sieht die Volksinitiative eine Übergangsbestimmung vor, wonach für die Zeit bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung jede Bestimmung des Strafgesetzbuches, die den straflosen Schwangerschaftsabbruch vorsieht, durch die Regelung von Artikel 116a Absatz 2 Buchstabe a BV ersetzt wird. Dies bedeutet, dass die medizinische Indikationenregelung von Artikel 120 StGB am Tage nach der Abstimmung ausser Kraft träte und jeder Schwangerschaftsabbruch bis zum Vorliegen einer neuen einschlägigen Gesetzgebung im Sinne des neuen Verfassungsauftrags praktisch strafbar wäre. Man geriete so in eine heikle Situation, in der allein die restriktive medizinische Indikation anwendbar bliebe; es wäre bedauerlich, wenn die bisherigen Bemühungen um ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen
Interessen umsonst gewesen wären.

Aus all diesen Gründen lehnt der Bundesrat die Volksinitiative «für Mutter und Kind» ab. In der Vergangenheit (vgl. oben Ziff. 3.3) und zuletzt im Jahre 1998 hatte der Bundesrat Gelegenheit, zu Vorschlägen für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs Stellung zu nehmen. Dabei hat er zwar die Fristenregelung abgelehnt, aber gleichwohl die Notwendigkeit anerkannt, das Strafgesetzbuch im Sinne einer Anpassung des Rechts an die Wirklichkeit zu revidieren. Er hat nicht nur die Notwendigkeit einer Revision bejaht, sondern auch sein Anliegen bekräftigt, eine Lösung zu finden, die sowohl dem Schutz des werdenden Lebens als auch den Interessen der schwangeren Frau Rechnung trägt. Eine Fristenregelung, wie sie der Nationalrat im Rahmen der parlamentarischen Initiative Haering Binder vorschlägt, erfüllt nur eine dieser beiden Voraussetzungen. Die Volksinitiative «für Mutter und Kind» geht zwar in die umgekehrte Richtung, erfüllt die Voraussetzungen aber ebenfalls nicht. Der Schutz des ungeborenen Kindes erweist sich als nachteilig für die Selbstbestimmung der Frau. Für den Bundesrat ist es unerlässlich, eine Regelung anzustreben, welche die in den letzten Jahren namentlich in Bezug auf die gesell22 23

SR 0.211.221.310 Bundesgesetz vom 9. Oktober 1981 über die Schwangerschaftsberatungsstellen, SR 857.5 und die entsprechende Verordnung vom 12. Dezember 1983; SR 857.51.

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schaftlichen Errungenschaften der Frau eingetretenen Entwicklungen aufnimmt.

Nach seiner Ansicht obliegt es jedoch dem Staat, seinen Teil der Verantwortung für den Schutz des werdenden Lebens zu tragen. Es liegt auf der Hand, dass die Schwierigkeit gerade darin besteht, dieses Anliegen mit dem Recht der Frau auf Selbstbestimmung zu verbinden und ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden notwendigen Voraussetzungen zu finden.

5

Frage eines Gegenvorschlags

Aus den oben ausgeführten Gründen beantragt der Bundesrat die Ablehnung der Volksinitiative «für Mutter und Kind», ohne einen Gegenvorschlag vorzulegen. Er möchte indessen, dass die Diskussion, welche die Eidgenössischen Räte über die parlamentarische Initiative Haering Binder begonnen haben, in eine Lösung ausmündet, die unserer Gesellschaft würdig ist und den Schutz des werdenden Lebens sowie die Interessen der Schwangeren berücksichtigt. Die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs darf nicht allein Sache des Strafrechts sein, sondern muss sich vielmehr in ein globales gesellschaftspolitisches Konzept einfügen. In diesem Zusammenhang werden alle Begleitmassnahmen zu berücksichtigen sein. Darunter sind die im Postulat der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 5. Oktober 1998 vorgeschlagenen flankierenden Massnahmen zu nennen24. Sie beziehen sich grossenteils auf die Aufgaben der Schwangerschaftsberatungsstellen.

Auf medizinischem Gebiet enthält das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG)25 Bestimmungen über die Übernahme der Kosten für Leistungen bei Schwangerschaft und für den Schwangerschaftsabbruch.

Hinsichtlich der Familienzulagen werden gegenwärtig zwei Vorschläge diskutiert: Der eine möchte im Sinne einer parlamentarischen Initiative Fankhauser26 auf Bundesebene einen Mindestbetrag für die Kinderzulagen festlegen; der andere strebt im Rahmen des Projekts «Neuer Finanzausgleich» eine einheitliche und kostenneutrale Gesetzgebung an27. Im Gefolge des vom Volk abgelehnten Gesetzesentwurfs über die Mutterschaftsversicherung ist der Schutz der Mutterschaft Gegenstand mehrerer parlamentarischer Vorstösse. Der Bundesrat ist hier der Meinung, dass die heutige Regelung über den Erwerbsausfall bei Mutterschaft verbessert werden sollte, da sie sich unter gesellschaftspolitischen Aspekten als ungenügend erwiesen hat; er wird dem Parlament einen Lösungsvorschlag noch während der laufenden Legislatur unterbreiten.

Angesichts all dieser Massnahmen sind nicht nur das Strafrecht, sondern auch verschiedene andere Bundesgesetze zu ändern; dafür bedarf es aber keiner Änderung der Bundesverfassung.

Auf Grund der vorstehenden Ausführungen und angesichts der beim Parlament hängigen Gesetzgebungsarbeiten verzichtet der Bundesrat auf einen Gegenvorschlag.

24 25 26 27

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Vgl. Postulat RK-N 98.3047 Schwangerschaftsabbruch. Flankierende Massnahmen.

SR 832.10; vgl. Art. 29 (Mutterschaft) und Art. 30 (Strafloser Abbruch der Schwangerschaft).

Pa. Iv. Fankhauser 91.411 Leistungen für die Familie, AB 1992 N 215 ff.; vgl. auch BBl 1999 3220 und 2000 4784.

Vgl. Schlussbericht vom 31.3.1999 der gemeinsam von der EFD und der KdK eingesetzten Projektorganisation, S. 81­82.

6

Finanzielle und personelle Auswirkungen

6.1

Auswirkungen auf den Bund

Die von der Volksinitiative vorgeschlagenen gesetzlichen Änderungen haben keine finanziellen und personellen Auswirkungen auf den Bund.

6.2

Auswirkungen auf die Kantone

Die Volksinitiative verlangt ausdrücklich von den Kantonen, der Mutter im Falle einer Notlage auf Grund einer Schwangerschaft die erforderliche Hilfe zu leisten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass den bestehenden Beratungszentren zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden müssten, um diese ­ ihnen schon heute obliegende ­ Aufgabe zu erfüllen. Diese zusätzlichen Kosten können zurzeit nicht eingeschätzt werden.

7

Verhältnis zum europäischen Recht

Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat ausdrücklich offen gelassen, inwieweit das Leben des Ungeborenen als Leben im Sinne von Artikel 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)28 angesehen werden könne29. Angesichts des Umstandes, dass die nationalen Gesetzgebungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten sich beachtlich unterscheiden, hat sie den Staaten einen gewissen Ermessensspielraum eingeräumt und hat die Möglichkeit einer Einschränkung eines etwaigen Lebensschutzes durch Abtreibungsnormen zum Schutze der Mutter ausdrücklich anerkannt 30.

Die Volksinitiative steht somit nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung der EMRK-Instanzen.

Weder das Recht der Europäischen Gemeinschaft noch jenes der Europäischen Union enthalten Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch.

Wie oben in Ziffer 4.2 vermerkt, entspricht die von der Initiative vorgesehene Regelung nicht dem, was das Europäische Adoptionsübereinkommen verlangt.

8

Schlussfolgerungen

Der Bundesrat lehnt die Volksinitiative «für Mutter und Kind ­ für den Schutz des ungeborenen Kindes und für die Hilfe an seine Mutter in Not» ab. Er hält dafür, dass dieser Vorschlag keine zweckmässige Regelung des Schwangerschaftsabbruchs darstellt. Der Vorschlag trägt den im Spiel stehenden Interessen und den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte nicht genügend Rechnung. Zudem enthält die Initiative Vorschläge, deren Umsetzung unbefriedigende, ja inakzeptable Folgen hätte.

28 29 30

SR 0.101 Bericht der EKMR i.S. Brüggemann und Scheuten / D, DR 10, 115.

Nr. 8416/79, X./UK, DR 19, 244; Nr. 17004/90, H./Norwegen, DR 73, 155.

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Aus all diesen Gründen beantragt der Bundesrat den Eidgenössischen Räten, Volk und Ständen die Initiative «für Mutter und Kind ­ für den Schutz des ungeborenen Kindes und für die Hilfe an seine Mutter in Not» ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung zu empfehlen.

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