Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Entwurf

(Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG) vom

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf die Artikel 8 Absatz 4, 87, 92 Absatz 1 und 112 Absatz 6 der Bundesverfassung1, nach Einsicht in die Botschaft des Bundesrates vom 11. Dezember 20002, beschliesst:

1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 1

Zweck

1

Das Gesetz hat zum Zweck, Benachteiligungen zu verringern oder zu beseitigen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind.

2 Es setzt Rahmenbedingungen, die es diesen Menschen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und fortzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben.

Art. 2

Begriffe

1

In diesem Gesetz bedeutet Mensch mit Behinderung (Behinderter) eine Person, der es eine voraussichtlich dauernde körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und fortzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben.

2 Eine Benachteiligung liegt vor, wenn Behinderte rechtlich oder tatsächlich anders als nicht Behinderte behandelt und dabei ohne sachliche Rechtfertigung schlechter gestellt werden als diese, oder wenn eine unterschiedliche Behandlung fehlt, die zur tatsächlichen Gleichstellung Behinderter und nicht Behinderter notwendig ist.

3

Eine Benachteiligung beim Zugang zu einer Baute, einer Anlage, einer Wohnung oder einer Einrichtung oder einem Fahrzeug des öffentlichen Verkehrs liegt vor, wenn der Zugang für Behinderte aus baulichen Gründen nicht oder nur unter erschwerenden Bedingungen möglich ist.

1 2

SR 101 BBl 2001 1715

1840

2000-2658

Behindertengleichstellungsgesetz

4 Eine Benachteiligung bei der Inanspruchnahme einer Dienstleistung liegt vor, wenn diese für Behinderte nicht oder nur unter erschwerenden Bedingungen möglich ist.

5

Als Erneuern gilt das Renovieren, Umbauen oder Umnutzen von Gebäuden oder Anlagen, sofern der gesamte Kostenaufwand 40 Prozent des Neuwertes des Gebäudes oder der Anlage übersteigt.

Art. 3

Geltungsbereich

Das Gesetz gilt für:

3 4 5 6 7 8 9

a.

öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen, die nach Inkrafttreten dieses Gesetzes bewilligt oder erneuert werden;

b.

öffentlich zugängliche Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs (Bauten, Anlagen, Kommunikationssysteme, Billettbezug) und Fahrzeuge, die einem der folgenden Gesetze unterstehen: 1. dem Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 19573, 2. dem Bundesgesetz vom 20. März 19984 über die Schweizerischen Bundesbahnen, 3. dem Personenbeförderungsgesetz vom 18. Juni 19935, ausgenommen die Skilifte sowie Sesselbahnen und Gondelbahnen mit weniger als 9 Plätzen pro Transporteinheit, 4. dem Bundesgesetz vom 29. März 19506 über die Trolleybusunternehmungen, 5. dem Bundesgesetz vom 3. Oktober 19757 über die Binnenschifffahrt, oder 6. dem Luftfahrtgesetz vom 21. Dezember 19488;

c.

Wohngebäude mit mehr als acht Wohneinheiten, die nach Inkrafttreten dieses Gesetzes bewilligt oder erneuert werden;

d.

Gebäude mit mehr als 50 Arbeitsplätzen, die nach Inkrafttreten dieses Gesetzes bewilligt oder erneuert werden;

e.

grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen Privater, der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), weiterer konzessionierter Unternehmen und des Gemeinwesens;

f.

Arbeitsverhältnisse nach dem Bundespersonalgesetz vom 24. März 20009.

SR 742.101 SR 742.31 SR 744.10 SR 744.21 SR 747.201 SR 748.0 SR 172.220.1; AS 2001 894

1841

Behindertengleichstellungsgesetz

Art. 4

Verhältnis zum kantonalen Recht

Dieses Gesetz steht weitergehenden Bestimmungen der Kantone zu Gunsten der Menschen mit Behinderungen nicht entgegen.

2. Abschnitt: Beseitigung von Benachteiligungen Art. 5

Massnahmen von Bund und Kantonen

1

Bund und Kantone ergreifen Massnahmen, um Benachteiligungen zu verhindern, zu beseitigen oder auszugleichen; sie tragen dabei den besonderen Bedürfnissen behinderter Frauen Rechnung.

2 Angemessene Massnahmen zum Ausgleich von Benachteiligungen der Behinderten stellen keine Ungleichbehandlung nach Artikel 8 Absatz 1 der Bundesverfassung dar.

Art. 6

Dienstleistungen Privater

Private, die Dienstleistungen öffentlich anbieten, dürfen Behinderte nicht auf Grund ihrer Behinderung diskriminieren.

Art. 7

Rechtsansprüche

1

Wer im Sinne von Artikel 2 Absatz 3 benachteiligt wird, kann beim Gericht oder bei der Verwaltungsbehörde verlangen, dass die Eigentümerin oder der Eigentümer die Benachteiligung beseitigt.

2 Wer im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 durch die SBB, andere konzessionierte Unternehmen oder das Gemeinwesen benachteiligt ist, kann beim Gericht oder bei der Verwaltungsbehörde verlangen, dass der Anbieter der Dienstleistung die Benachteiligung beseitigt.

3 Wer im Sinne von Artikel 6 diskriminiert wird, kann bei einem Gericht eine Entschädigung beantragen.

Art. 8

Verhältnismässigkeit

1

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde ordnet die Beseitigung der Benachteiligung nicht an, wenn der für Behinderte zu erwartende Nutzen in einem Missverhältnis steht: a.

zum wirtschaftlichen Aufwand;

b.

zu Interessen des Umweltschutzes sowie des Natur- und Heimatschutzes;

c.

zu Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicherheit.

2

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde trägt bei der Interessenabwägung nach Absatz 1 der Übergangsfrist für Anpassungen im öffentlichen Verkehr (Art. 16) Rechnung; dabei sind auch das Umsetzungskonzept des Bundes für die Ausrichtung

1842

Behindertengleichstellungsgesetz

der Finanzhilfen (Art. 17 Abs. 3) und die darauf gestützte Betriebs- und Investitionsplanung der Unternehmen des öffentlichen Verkehrs zu beachten.

3

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde verpflichtet die SBB, das vom Bund konzessionierte Unternehmen oder das Gemeinwesen, eine angemessene Ersatzlösung anzubieten, wenn es nach Absatz 1 darauf verzichtet, die Beseitigung einer Benachteiligung anzuordnen.

4 Das Gericht trägt bei der Festsetzung einer Entschädigung nach Artikel 7 Absatz 3 den Umständen, der Schwere der Diskriminierung und dem Wert der Dienstleistung Rechnung. Die Entschädigung beträgt höchstens 5000 Franken.

3. Abschnitt: Besondere Bestimmungen für den Bund Art. 9

Massnahmen im Personalbereich

1

Der Bund setzt als Arbeitgeber alles daran, Behinderten gleiche Chancen wie nicht Behinderten anzubieten. Bei allen Arbeitsverhältnissen und auf allen Ebenen, namentlich jedoch bei den Anstellungen, trifft der Bund die zur Umsetzung des Gesetzes erforderlichen Massnahmen.

2

Absatz 1 gilt für Arbeitgeber nach Artikel 3 des Bundespersonalgesetzes vom 24. März 200010.

Art. 10

Vorschriften über technische Normen

1

Um ein behindertengerechtes öffentliches Verkehrssystem sicherzustellen, erlässt der Bundesrat für die SBB sowie für weitere Unternehmen, die einer bundesrechtlichen Konzession bedürfen, Vorschriften über die Gestaltung: a.

der Bahnhöfe und Haltestellen sowie der Flugplätze;

b.

der Kommunikationssysteme und der Billettausgabe;

c.

der Fahrzeuge;

2

Der Bundesrat erlässt für Bauten und Anlagen, die der Bund erstellt oder mitfinanziert, Vorschriften über Vorkehren zu Gunsten Behinderter.

3

Die Vorschriften nach Absatz 1 und 2 werden periodisch dem Stand der Technik angepasst. Der Bundesrat kann technische Normen oder andere Festlegungen privater Organisationen für verbindlich erklären.

4

Für bestehende und für neue Bauten, Anlagen, Kommunikations- und Billettausgabesysteme sowie Fahrzeuge können unterschiedliche Vorschriften erlassen werden.

10

SR 172.220.1; AS 2001 894

1843

Behindertengleichstellungsgesetz

Art. 11

Beschwerderecht von Behindertenorganisationen

1

Beschwerde gegen Benachteiligungen können auch gesamtschweizerische Behindertenorganisationen erheben, die mindestens zehn Jahre vor Einreichung der Beschwerde gegründet worden sind. Der Bundesrat bezeichnet die zur Beschwerde berechtigten Organisationen.

2

Das Beschwerderecht besteht gegen Verfügungen der Bundesbehörden über die Plangenehmigung sowie die Zulassung oder Prüfung von Fahrzeugen nach: a.

Artikel 13 Absatz 1 des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 195811;

b.

Artikel 18 und 18w des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 195712;

c.

Artikel 11 und 13 des Bundesgesetzes vom 29. März 195013 über die Trolleybusunternehmungen;

d.

Artikel 8 des Bundesgesetzes vom 3. Oktober 197514 über die Binnenschifffahrt;

e.

Artikel 37 des Luftfahrtgesetzes vom 21. Dezember 194815;

f.

Artikel 27 der Seilbahnverordnung vom 10. März 198616;

3

Das Beschwerderecht besteht ferner gegen Verfügungen der Bundesbehörden über die Erteilung von Konzessionen nach: a.

Artikel 28 und 30 des Luftfahrtgesetzes vom 21. Dezember 1948;

b.

Artikel 14 des Fernmeldegesetzes vom 30. April 199717;

c.

Artikel 10 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 199118 über Radio und Fernsehen.

4

Die Behörde eröffnet solche Verfügungen nach den Absätzen 2 und 3, die für Behinderte von Bedeutung sind, den Behindertenorganisationen durch schriftliche Mitteilung oder durch Veröffentlichung im Bundesblatt oder im kantonalen Publikationsorgan. Eine Organisation, die kein Rechtsmittel ergreift, kann sich am weiteren Verfahren nur noch als Partei beteiligen, wenn die Verfügung so geändert wird, dass Behinderte dadurch benachteiligt werden.

5

Wird vor dem Erlass der Verfügung ein Einspracheverfahren durchgeführt, so ist eine Organisation nur beschwerdebefugt, wenn sie sich an diesem Verfahren beteiligt hat. In diesem Fall ist das Gesuch nach Absatz 4 mitzuteilen.

11 12 13 14 15 16 17 18

SR 741.01 SR 742.101 SR 744.21 SR 747.201 SR 748.0 SR 743.12 SR 784.10 SR 784.40

1844

Behindertengleichstellungsgesetz

Art. 12

Programme zur Integration Behinderter

1

Der Bund kann Programme durchführen, die der besseren Integration Behinderter in die Gesellschaft dienen.

2

Die Programme betreffen insbesondere folgende Bereiche: a.

Bildung;

b.

berufliche Tätigkeit;

c.

Wohnen;

d.

Personentransport;

e.

Kultur;

f.

Sport.

3

Der Bund kann sich an solchen Programmen gesamtschweizerischer oder sprachregionaler Organisationen beteiligen, insbesondere mit Finanzhilfen.

Art. 13

Information, Beratung und Überprüfung der Wirksamkeit

1

Der Bund kann Informationskampagnen durchführen, um das Verständnis der Bevölkerung für die Probleme der Gleichstellung und für die Integration Behinderter zu erhöhen und um den betroffenen Kreisen die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

2

Er kann Private und Behörden beraten und ihnen Empfehlungen abgeben.

3

Er untersucht, wie sich seine Massnahmen auf die Integration auswirken. Er kann auch die Auswirkungen von Massnahmen untersuchen, die andere Gemeinwesen oder Privatpersonen ergreifen.

4. Abschnitt: Besondere Bestimmungen für die Kantone Art. 14 1

Die Kantone sorgen dafür, dass behinderte Kinder und Jugendliche eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist.

2

Insbesondere sorgen sie dafür, dass wahrnehmungs- oder artikulationsbehinderte Kinder und Jugendliche und ihnen besonders nahe stehenden Personen eine auf die Behinderung abgestimmte Kommunikationstechnik erlernen können.

5. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 15

Änderung bisherigen Rechts

Die Änderung bisherigen Rechts wird im Anhang geregelt.

1845

Behindertengleichstellungsgesetz

Art. 16

Anpassungsfristen für den öffentlichen Verkehr

1

Bestehende Bauten und Anlagen sowie Fahrzeuge für den öffentlichen Verkehr müssen spätestens nach 20 Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht sein.

2

Kommunikationssysteme und Billette müssen spätestens zehn Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht angeboten werden.

3 Während der Anpassungsfristen nach Absatz 1 und 2 haben die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs einen Anspruch darauf, dass ihre auf das Umsetzungskonzept des Bundes für die Ausrichtung der Finanzhilfen (Art. 17 Abs. 3) gestützte Betriebsund Investitionsplanung beachtet wird.

Art. 17

Finanzhilfen

1

Der Bund und die Kantone richten im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Finanzierung des öffentlichen Verkehrs Finanzhilfen aus für die Massnahmen nach Artikel 16.

2

Der Bund legt einen Zahlungsrahmen für eine Zeitspanne von 20 Jahren fest.

3

Der Bundesrat legt insbesondere die Prioritäten, die Bedingungen und die anwendbaren Sätze für die Finanzhilfen fest.

Art. 18

Referendum und Inkrafttreten

1

Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum.

2

Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten.

11303

1846

Behindertengleichstellungsgesetz

Anhang (Art. 15)

Änderung bisherigen Rechts Die nachstehenden Erlasse werden wie folgt geändert: 1. Bundesgesetz vom 14. Dezember 199019 über die direkte Bundessteuer Art. 33 Abs. 1 Bst. hbis (neu) 1

Von den Einkünften werden abgezogen: hbis. für Personen mit Behinderungen im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes vom ...20 die in Buchstabe h genannten, selber getragenen Kosten zu zwei Dritteln, wenn diese Kosten 8 Prozent der steuerbaren Einkünfte übersteigen; Kosten von über 10 Prozent der steuerbaren Einkünfte sind vollständig abziehbar.

2. Bundesgesetz vom 14. Dezember 199021 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden Art. 9 Abs. 2 Bst. h 2

Allgemeine Abzüge sind: h.

die Krankheits-, Unfall- und Invaliditätskosten des Steuerpflichtigen und der von ihm unterhaltenen Personen, soweit der Steuerpflichtige die Kosten selber trägt und diese einen vom kantonalen Recht bestimmten Selbstbehalt übersteigen; für Personen mit Behinderungen im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes vom ...22 entfällt der Selbstbehalt gänzlich, wenn die Kosten einen vom kantonalen Recht bestimmten Anteil der steuerbaren Einkünfte übersteigen;

3. Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 195823 Art. 8 Abs. 2, zweiter Satz (neu) 2

... Er beachtet zudem die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen.

19 20 21 22 23

SR 642.11 SR ...; AS ... (BBl 2001 1840) SR 642.14 SR ...; AS ... (BBl 2001 1840) SR 741.01

1847

Behindertengleichstellungsgesetz

4. Fernmeldegesetz vom 30. April 199724 Art. 16 Abs. 1 Bst. e und 1bis (neu) 1 Die Konzessionärin der Grundversorgung erbringt in ihrem Konzessionsgebiet auf dem jeweils aktuellen Stand der Technik und nachfrageorientiert folgende Dienste:

e.

Aufgehoben

1bis

Die Dienste der Grundversorgung müssen so angeboten werden, dass Menschen mit Behinderungen sie in qualitativer, quantitativer und wirtschaftlicher Hinsicht unter vergleichbaren Bedingungen wie Menschen ohne Behinderungen beanspruchen können. Zu diesem Zweck hat die Konzessionärin der Grundversorgung insbesondere dafür zu sorgen, dass: a.

die öffentlichen Sprechstellen den Bedürfnissen der sensorisch oder bewegungsbehinderten Menschen entsprechen;

b.

für Hörbehinderte ein Transkriptionsdienst zur Verfügung steht;

c.

für Sehbehinderte ein Auskunftsdienst und ein Vermittlungsdienst zur Verfügung steht.

11303

24

SR 784.10

1848