97.457 Parlamentarische Initiative Klärung des Erbrechts des überlebenden Ehegatten Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 22. Januar 2001

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen nach Artikel 21quater Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) den vorliegenden Bericht und überweisen ihn gleichzeitig dem Bundesrat zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Gesetzesentwurf zuzustimmen.

22. Januar 2001

Im Namen der Kommission Der Präsident: J. Alexander Baumann

2001-0247

1121

Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Einreichung der Parlamentarischen Initiative

Am 18. Dezember 1997 reichte Nationalrat Marc Suter eine Parlamentarische Initiative in der Form einer allgemeinen Anregung mit folgendem Wortlaut ein: Artikel 473 ZGB sei in der Weise zu präzisieren, dass inskünftig geklärt ist, in welchem Ausmass dem überlebenden Ehepartner neben der Nutzniessung eine Eigentumsquote zugewendet werden darf, ohne den Pflichtteil der Nachkommen zu verletzen.

1.2

Vorprüfung

Die Kommission für Rechtsfragen (RK) hat am 9. November 1998 die Initiative gemäss Artikel 21ter des Geschäftsverkehrsgesetzes vorgeprüft und den Initianten angehört. Einstimmig beantragte sie ihrem Rat, der Initiative Folge zu geben. Am 8. März 1999 hat der Nationalrat ohne Opposition dem Antrag seiner Kommission zugestimmt.

1.3

Verlauf der Arbeiten in der Kommission

In der Folge wurde die RK mit der Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage beauftragt.

Diese setzte an ihrer Sitzung vom 31. Januar 2000 eine Subkommission ein, der die Nationalräte Joder, Aeschbacher, Bosshard, Jutzet, Mariétan und Gendotti sowie Nationalrätin Aeppli Wartmann angehörten.

Diese Subkommission hat sich an ihren Sitzungen vom 9. Mai und 26. Juni 2000 mit der Parlamentarischen Initiative auseinandergesetzt. An ihrer ersten Sitzung hat sie zwei Experten angehört, die unterschiedliche Standpunkte vertraten: Während Professor Peter Weimar, Universität Zürich, die Dreiachtelstheorie verficht (Kapitel 2.2), setzte sich Professor Thomas Geiser, Universität Bern und St. Gallen, für die Einachtelstheorie ein. In einer ersten Phase diskutierte die Subkommission verschiedenste Lösungsansätze (Kapitel 2.3). Grundsätzlich stellten sich die Fragen, ob die von der Parlamentarischen Initiative geforderte Präzisierung von Artikel 473 ZGB überhaupt notwendig ist oder ob dem Anliegen mit anderen Mitteln Rechnung getragen werden könnte. Die Subkommission kam zum Schluss, dass Handlungsbedarf eindeutig gegeben ist. Weiter fragte sie sich, ob nicht Artikel 473 als Ganzes aufgehoben werden könnte oder ob dem überlebenden Ehegatten, der nur die Nutzniessung hat, ausnahmsweise auch die Erbenstellung verschafft werden könnte.

Nach eingehender Diskussion verwarf die Subkommission alle diese Möglichkeiten wieder.

An ihrer zweiten Sitzung hat die Subkommission über die Lösung Beschluss gefasst, die sie ihrer Kommission vorlegte. Diese stimmte an ihrer Sitzung vom 22. Januar 2001 dem Entwurf mit 17 Stimmen bei 2 Enthaltungen zu. Es ist festzuhalten, dass es sich hierbei um einen politischen Entscheid handelt, denn nach der Auslegung des geltenden Rechts wäre sowohl eine verfügbare Quote von einem Achtel wie 1122

auch von drei Achteln zu begründen (siehe Kapitel 2.2). Die Kommission sprach sich mit 12 zu 8 Stimmen für die Dreiachtelstheorie aus. Damit will sie dem Erblasser eine möglichst grosse Verfügungsfreiheit einräumen und somit genügend Spielraum schaffen, um im konkreten Fall die geeignetste Lösung zu treffen. Eine Minderheit (Jutzet, de Dardel, Gross, Hollenstein, Hubmann, Lauper, Seiler, Thanei) beantragt eine Kompromisslösung, nämlich eine verfügbare Quote von zwei Achteln. Entscheidend für die Praxis ist, dass in dieser Frage einmal Klarheit geschaffen wird.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Begründung der Initiative

Die Einsetzung des überlebenden Ehegatten als Nutzniesser am gesamten Nachlassvermögen nach Art. 473 ZGB ist wohl die meistverbreitete Verfügung von Todes wegen unter Ehegatten beim Vorhandensein gemeinsamer Nachkommen. Diese Lösung hat sich vor allem überall dort eingebürgert, wo die Eltern etwa gleichen Alters sind; die Kinder empfinden es in der Regel als natürlich, ihre Eltern erst nach Ableben des zweiten Elternteils zu beerben. Die Zuweisung der Nutzniessung nach Art.

473 ZGB erlaubt es, das eheliche Vermögen zu bewahren und dem überlebenden Ehegatten den angestammten Lebensstandard auch im Alter zu sichern. Neben diesen wirtschaftlichen Vorteilen sprechen auch die Einfachheit der Anordnung und des Vollzuges dieser Lösung sowie die fehlenden steuerrechtlichen Komplikationen für die Nutzniessungszuweisung gemäss Art. 473 ZGB. Im Fall der Wiederverheiratung des überlebenden Ehegatten entfällt die Nutzniessung soweit, dass die belasteten Nachkommen in den Genuss des Pflichtteils gelangen, den sie ohne die Nutzniessungsbestimmung im Zeitpunkt des Erbfalls hätten beanspruchen können (Art. 473 Abs. 3 ZGB); auch von daher besehen ist die rechtliche Ausgestaltung der Nutzniessungszuweisung wirklichkeitsgerecht und angemessen.

Wird dem überlebenden Ehegatten ausschliesslich die Nutzniessung (nach Art. 473 ZGB) zugewiesen, kommt er freilich nicht in den Genuss der Erbenstellung. Gerade in strittigen Erbteilungen empfiehlt es sich für den überlebenden Ehegatten, diese Erbenstellung beanspruchen zu können, ansonsten er dem Willen der Nachkommen im Rahmen der Erbteilung schutzlos ausgeliefert wäre. Um ihm die Erbenstellung1 zu sichern, empfiehlt es sich daher, ihm einen Teil des Nachlassvermögen zu Eigentum zuzuweisen. In aller Regel wird denn auch zu diesem Mittel gegriffen und in den Verfügungen von Todes wegen angeordnet, der überlebende Ehegatte werde als Erbe für die frei verfügbare Quote eingesetzt und erhalte vom verbleibenden Restnachlass die lebenslange Nutzniessung. Erbrechtlich wird diese sehr verbreitete Verfügung wie folgt beurteilt: Die Nutzniessung des überlebenden Ehegatten tritt an die Stelle des ihm neben den Nachkommen zustehenden gesetzlichen Erbrechts (Art. 473 Abs. 2 ZGB). Es ist möglich und zulässig, die Nachkommen auf den Pflichtteil zu setzen und die frei verfügbare Quote dem
überlebenden Ehegatten oder allenfalls einer Drittperson zuzuwenden (vgl. dazu das wegleitende Urteil des Bundesgerichtes vom 8.7.1919, BGE 45 II 381).

Soweit ist die Ausgangslage klar. Problematisch und offen ist hingegen die Frage, wie weit der Pflichtteilsschutz der Nachkommen reicht, mithin welches das Ausmass 1

Siehe Kap. 2.3.4

1123

der disponiblen Quote sei. Bemerkenswert ist, dass das Bundesgericht diese in der Praxis äusserst wichtige Frage bisher nie zu entscheiden hatte. Umso wichtiger ist es, dass der Gesetzgeber nunmehr eine Klärung vornimmt. Für die Betroffenen ist es unzumutbar, mit der geschilderten Rechtsunsicherheit leben zu müssen. Diese Rechtsunsicherheit hat bereits dazu geführt, dass vom praktischen Institut der Begünstigung nach Artikel 473 ZGB in vielen Fällen nicht mehr Gebrauch gemacht wird. Entscheidend ist an sich nicht einmal, welches die Höhe der frei verfügbaren Quote sein soll; wichtig ist vielmehr, dass endlich feststeht, welche Regelung gilt.

2.2

Der so genannte Achtelsstreit

Die Revision des Ehe- und Erbrechts von 1984, die am 1. Januar 1988 in Kraft getreten ist, brachte eine wesentliche Besserstellung der überlebenden Ehegattin. In güterrechtlicher Hinsicht führte die Einführung der Errungenschaftsbeteiligung und die hälftige Aufteilung des gemeinsam Erworbenen zu einer Begünstigung gegenüber der früheren Regelung. In erbrechtlicher Hinsicht liegt die Verbesserung darin, dass der überlebende Ehegatte nicht mehr wahlweise ein Viertel zu Eigentum oder die Nutzniessung an der Hälfte erbt, sondern die Hälfte zu Eigentum (Art. 462 Ziff.

1 ZGB). Zusätzlich bleibt die Möglichkeit nach Artikel 473, den überlebenden Ehegatten durch Zuweisung der Nutzniessung an der ganzen Hinterlassenschaft zu begünstigen. Die Hälfte des gesetzlichen Erbteils, also ein Viertel, ist als Pflichtteil geschützt (Art. 471 Ziff. 3 ZGB). Damit wurde zwischen dem gesetzlichen Erbteil und dem Pflichtteil eine Differenz geschaffen, und die Frage, wie Artikel 473 zu interpretieren sei, stellte sich in neuer Weise. Absatz 2 lautet: «Diese Nutzniessung tritt an die Stelle des dem Ehegatten neben diesen Nachkommen zustehenden gesetzlichen Erbrechts.» Wird dieses gesetzliche Erbrecht mit dem gesetzlichen Erbteil gleichgesetzt, so ist damit die Hälfte, d. h. vier Achtel des Nachlasses abgedeckt. Es bleibt die andere Hälfte, die nach Gesetz den Nachkommen zusteht, wovon drei Viertel pflichtteilsgeschützt sind. Die verfügbare Quote beträgt somit ein Achtel des Nachlasses. Wird dagegen der gesetzliche Erbteil mit dem Pflichtteil gleichgesetzt, ist damit nur ein Viertel, d. h. zwei Achtel der Erbschaft abgedeckt; zusammen mit dem Pflichtteil der Nachkommen, der drei Achtel beträgt, sind dies fünf Achtel. In diesem Fall beträgt die verfügbare Quote drei Achtel. Bei der Revision des Ehe- und Erbrechts hat man dieser Frage keine Beachtung geschenkt, und in der Folge haben sich verschiedene Lehrmeinungen dazu herausgebildet, ohne dass sich bisher eine Klärung ergeben hat. Während in der französischsprachigen Schweiz die Dreiachtelstheorie mehr Zustimmung findet, herrscht in der deutschen Schweiz eher die Einachtelstheorie vor. Die Zürcher Steuerbehörden zum Beispiel sollen nach Aussagen eines Experten für die Besteuerung sogar dann von der Einachtelstheorie ausgehen, wenn das Testament etwas anderes vorgesehen hat
oder die Parteien sich auf etwas anderes geeinigt haben.

Das Bundesgericht hatte sich seit der Revision von 1984 nicht zu dieser Frage zu äussern. Das heisst nicht, dass die Frage nicht von praktischer Bedeutung ist; sie scheint aber nicht zu gerichtlichen Streitigkeiten zu führen. Von Bedeutung ist die Frage in erster Linie für die Notare, die es oft vorziehen würden, wenn sie ihren Klienten eindeutige Angaben über die Höhe der verfügbaren Quote machen könnten.

1124

2.2.1

Begründung der Einachtelstheorie

2.2.1.1

De lege lata

Artikel 473 Absatz 2 ZGB lautet: «Diese Nutzniessung tritt an die Stelle des dem Ehegatten neben diesen Nachkommen zustehenden gesetzlichen Erbrechts.» Das gesetzliche Erbrecht, d. h. der Teil, der dem hinterbliebenen Ehegatten von Gesetzes wegen zusteht, beträgt die Hälfte. Somit bleibt als verfügbarer Teil nur noch jener Teil, der gegenüber den Nachkommen nicht pflichtteilsgeschützt ist, das heisst ein Viertel von der Hälfte. Nach dem Wortlaut bleibt keine andere Möglichkeit der Auslegung. Eine Abweichung vom klaren Wortlaut einer Gesetzesbestimmung ist aber nur zulässig, wenn triftige Gründe dafür sprechen, dass dieser nicht den wahren Sinn dieser Bestimmung wiedergibt. Hätte der Gesetzgeber es anders gewollt, hätte er wie folgt formuliert: «Diese Nutzniessung tritt an die Stelle des dem Ehegatten neben diesen Nachkommen zustehenden pflichtteilsgeschützten Erbrechts.»2

2.2.1.2

De lege ferenda

Mit der Revision des Eherechts sind die Möglichkeiten für eine Begünstigung des überlebenden Ehegatten stark erweitert worden. Zunächst im Ehegüterrecht, beim ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung: Aufgrund von Artikel 216 ZGB kann mittels Ehevertrag der ganze Vorschlag dem überlebenden Ehegatten zugewiesen werden, wobei nur die nicht gemeinsamen Kinder pflichtteilsgeschützt sind. Auch ohne Ehevertrag erhält die Ehefrau nicht mehr einen Drittel des gemeinsam Erwirtschafteten wie früher, sondern die Hälfte.

In der ganzen europäischen Rechtsgeschichte stand bisher der Versorgungsgedanken für den überlebenden Ehegatten ­ vor allem die Ehegattin ­ immer im Vordergrund.

Bei den Nachkommen musste nicht nach dem Bedarf gefragt werden, denn nach der herkömmlichen Anschauung «Das Gut folgt dem Blut» waren in erster Linie sie die Erben. Artikel 457 ZGB stellt fest: «Die nächsten Erben eines Erblassers sind seine Nachkommen», und erst Artikel 462 ZGB befasst sich mit dem Erbe des überlebenden Ehegatten. Somit wurde bisher immer nach dem Bedarf des überlebenden Ehegatten gefragt. In Anbetracht der neuen rechtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten könnte man die Frage nach dem Bedarf umfassender stellen.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel hat der Vorsorgegedanke für den Ehegatten im Erbrecht an Bedeutung verloren. Aufgrund des Ausbaus der Sozialversicherungen, insbesondere der AHV und der beruflichen Vorsorge, erfolgt die Vorsorge weitgehend auf diesem Weg. Ausserdem hat der überlebende Ehegatte auch im Rahmen der Säule 3a eine Vorzugsstellung: Seine primäre Stellung darf hier nicht tangiert werden (Art. 2 der Verordnung über die steuerlichen Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte Vorsorgeformen [BVV3]).

Die neue Regelung sollte wie die bisherige für kleine, mittlere und auch für sehr grosse Vermögen Anwendung finden. Bei sehr grossen Vermögen kann es dann zu Vermögensverschiebungen von einer Familie in die andere kommen, wenn an der

2

Roland Pfäffli, Die Meistbegünstigung des Ehegatten nach Güterrecht und Erbrecht, SJZ 92 (1996) Nr. 1, S. 7

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Erbschaft des zweitversterbenden Ehegatten auch nicht gemeinsame Nachkommen beteiligt werden. Diese Verschiebungen entsprechen nicht dem allgemeinen Rechtsempfinden und sollten aus diesem Grunde einen eher kleinen Anteil umfassen.

2.2.2

Begründung der Dreiachtelstheorie

2.2.2.1

De lege lata

Mit Anordnung der Nutzniessung trifft der Erblasser eine Verfügung; somit gilt nicht mehr die Intestaterbfolge nach Artikel 457ff ZGB, sondern die Pflichtteilsregelung nach Art. 470ff ZGB. Das «gesetzliche Erbrecht», wie es in Artikel 473 ZGB heisst, entspricht aber nur dann dem gesetzlichen Erbteil, wenn der Erblasser auf die disponible Quote nicht andere Erben eingesetzt hat. Wenn der Erblasser von der Verfügungsfreiheit Gebrauch gemacht und wen auch immer ­ die Ehegattin, seine Kinder, eine Drittperson oder eine Organisation ­ zu Erben eingesetzt hat, besteht das gesetzliche Erbrecht im Extremfall nur noch aus dem Pflichtteil. Wenn also der Erblasser die Nutzniessung anordnet, kann er gleichzeitig über jene Teile seines Nachlasses verfügen, die nicht pflichtteilsgeschützt sind, nämlich über drei Achtel.

Die Verfügung der Nutzniessung wird vom Gesetz nicht als Verfügung über die verfügbare Quote behandelt. Es gibt nämlich im Zivilgesetzbuch keinen Hinweis darauf, dass die Artikel 470 und 471 ZGB, die den Umfang der Verfügungsbefugnis regeln, auf Artikel 473 ZGB einen Einfluss haben oder dass sich diese Bestimmungen gegenseitig ausschliessen. Die Anordnung der Nutzniessung ist möglich, auch wenn die disponible Quote durch andere Verfügungen von Todes wegen oder unter Lebenden erschöpft ist, sie kann selbst keine Pflichtteilsverletzung verursachen, und sie kann auch nicht mit der Herabsetzungsklage angefochten werden. Artikel 473 hat gewissermassen die Funktion, Verletzungen des Pflichtteils von bestimmten Kategorien von Erben zu legalisieren. Den Nachkommen wird zwar einstweilen die Nutzung der Erbschaft entzogen, was als Eingriff in deren Pflichtteil erscheint; gleichzeitig erhalten sie aber einen wesentlich grösseren Erbschaftsanteil. Die Begünstigung des Ehegatten geht daher weder zulasten der Pflichtteile der Kinder noch zulasten der verfügbaren Quote.

Daran, dass Artikel 473 Absatz 2 die wertneutrale Ersetzung des Erbrechtes durch die Nutzniessung anordnet und jeden Einfluss auf die disponible Quote ausschliesst, wollte der Gesetzgeber bei der Revision des Erbrechtes von 1984 nichts ändern.

Weder in den vorberatenden Kommissionen noch in den eidgenössischen Räten wurde die Möglichkeit auch nur zur Sprache gebracht, dass die Zuweisung der Nutzniessung nach der Änderung von Artikel 462
Auswirkungen auf den verfügbaren Teil haben werde. Der einzige Bundesgerichtsentscheid, den es zu Artikel 473 ZGB bisher gibt (BGE 45 II 381), sagt es folgendermassen: «Gemäss Artikel 473 Absatz 2 tritt das Nutzniessungsvermächtnis zu Gunsten des überlebenden Ehegatten an die Stelle des dem Ehegatten neben den gemeinsamen Nachkommen zustehenden gesetzlichen Erbrechts. Daraus folgt, dass auch sonst, namentlich also bezüglich der Berechnung der verfügbaren Quote, diese vermachte Nutzniessung dem gesetzlichen Erbrecht des überlebenden Ehegatten gleichzustellen ist, so dass die verfügbare Quote durch dieses Vermächtnis so wenig erschöpft wird, als sie durch die Geltendmachung des gesetzlichen Erbrechts des Ehegatten erschöpft würde.» Die Geltendmachung des gesetzlichen Erbrechts bezog sich auf das alte Wahlrecht:

1126

auch wenn der Ehegatte nach altem Recht den Viertel zu Eigentum anstelle der Nutzniessung an der Hälfte wählte, hatte das mit der verfügbaren Quote nichts zu tun.

2.2.2.2

De lege ferenda

Im Gegensatz zu früher sind die Nachkommen heute, wenn sie erben, oft bereits 50 oder 60 Jahre alt und haben sich ihr Leben eingerichtet. Eine angemessene finanzielle Unterstützung seitens der Eltern in der Ausbildungsphase und in der Zeit der Familiengründung trägt mehr zur materiellen Existenzsicherung der Kinder bei als ein möglichst grosses Erbe in diesem Zeitpunkt. Dagegen wird von vielen Erblassern gewünscht, dass der hinterbliebene Ehegatte seinen gewohnten Lebensstandard bis zu seinem Tode erhalten kann.

2.3

Andere Lösungsansätze

2.3.1

Der Mittelweg: die Zweiachtelslösung

Im Sinne eines Kompromisses ist es auch denkbar, die verfügbare Quote auf zwei Achtel, d. h. einen Viertel der Erbschaft, festzulegen. Der Nachteil dieser Lösung ist, dass sich die zwei Achtel nicht in das Grundsystem einordnen lassen, während sowohl ein Achtel als auch drei Achtel logisch aus dem bestehenden System abgeleitet werden können. Dafür stellt diese Lösung einen Mittelweg zwischen den beiden von der Lehre anerkannten Meinungen dar. Auch ist sie mathematisch einfach, was in der Praxis sicher von Vorteil sein könnte.

2.3.2

Streichung von Artikel 473 ZGB

Schon die allgemeinen Regeln über das Nutzniessungsvermächtnis (Art. 530 ff ZGB) erlauben eine weitgehende Begünstigung des überlebenden Ehegatten. Man könnte sich daher fragen, ob Artikel 473 ZGB wirklich noch nötig ist oder ob man ihn als Ganzes streichen könnte.

Nach den allgemeinen Regeln über die Nutzniessung kommt man zum gleichen Ergebnis wie nach Artikel 473 ZGB, unter der Voraussetzung, dass der überlebende Ehegatte im Zeitpunkt des Erbfalles ein gewisses Alter hat. Nach neueren Berechnungen muss man bei einer Frau, die im Zeitpunkt, in dem sie Witwe wird, mindestens 73 Jahre alt ist, nicht auf Artikel 473 ZGB zurückgreifen, um ihr die Nutzniessung und überdies drei Achtel zu Eigentum zuzuwenden. Bei den Männern, die eine etwas kürzere Lebenserwartung aufweisen, ist dies bereits im Alter von mindestens 67 Jahren der Fall. Ebenfalls nach Artikel 530 ZGB kann man dem überlebenden Ehegatten ein Achtel zu Eigentum zuweisen, wenn die Frau im Alter von 53 Jahren Witwe und der Mann im Alter von 48 Jahren Witwer wird.

Im Wesentlichen sprechen zwei Gründe gegen die Aufhebung von Artikel 473 ZGB: 1. Er ermöglicht dem überlebenden Ehegatten die volle Beibehaltung des gewohnten wirtschaftlichen Umfeldes. Dieser kann die Nutzniessung ­ das bedeutet insbesondere auch den Besitz ­ am ganzen Nachlass erhalten. Das ist etwas, was vielen Erb-

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lassern am Herzen liegt. Sie haben den Wunsch, dass der überlebende Ehegatte bis zu seinem Tode ungestört in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen bleiben soll, weil die Nachkommen nachher ohnehin alles erhalten. 2. Auch ohne die Zuweisung des verfügbaren Teils ist Artikel 473 ZGB eine sehr wertvolle gesetzliche Regelung, denn er ermöglicht es, die Kinder «auf anständige Weise» zu Alleinerben zu machen. Dies kann zum Beispiel aus steuerlichen Gründen oder im Hinblick auf Altersheimtarife ­ die in der Regel nach Vermögen abgestuft sind ­ durchaus erwünscht sein.

Unbestritten ist, dass es nur über Artikel 473 ZGB möglich ist, unabhängig von der Höhe des Erbes und vom Alter der Hinterbliebenen den ganzen Nachlass mit der Nutzniessung zu belasten. Die Anwendung ist unproblematisch: Ein Anteil im Wert der verfügbaren Quote wird dem Ehegatten zugewiesen, der übrige Nachlass mit der Nutzniessung belastet. In Anbetracht dessen, dass dieser Artikel in der Praxis sehr beliebt ist und dass dessen Streichung eine Reihe anderer Fragen aufwerfen würde, ist von dieser Möglichkeit abzusehen.

2.3.3

Keine Änderung vornehmen

Da es bisher keine Streitfälle gegeben hat, könnte man auch davon ausgehen, dass sich die Regelung bewährt hat und nichts zu ändern ist. Nachdem aber der Nationalrat den Regelungsbedarf anerkannt hat, müsste es gute Gründe geben, um zu einem gegenteiligen Schluss zu kommen. Insbesondere in der Beratung des Scheidungsrecht wurde betont, dass hier ein Entscheid des Gesetzgebers getroffen werden muss3. Es ist eine sehr verbreitete Testiergewohnheit, den überlebenden Ehegatten im Umfang der disponiblen Quote als Erben einzusetzen und ihm ausserdem die Nutzniessung an dem den Nachkommen zufallenden Teil der Erbschaft zuzuwenden. Daher ist es wünschenswert, dass die Frage, worin diese disponible Quote denn bestehe, einmal geklärt wird. Da die Frage in erster Linie eine politische ist, muss sie durch den Gesetzgeber geklärt werden.

2.3.4

Zusprechung der Erbenstellung an den überlebenden Ehegatten, an den die Nutzniessung, aber kein Eigentum, vermacht wurde

Ein wichtiger Grund für die Zusprechung der verfügbaren Quote neben der Verfügung der Nutzniessung ist die Frage der Erbenstelllung des überlebenden Ehegatten.

Die ganze Frage der verfügbaren Quote würde an Relevanz verlieren, wenn dem überlebenden Ehegatten im Sinne einer Ausnahmeregelung Erbenstellung eingeräumt werden könnte. Zu dieser Frage wurden folgende Abklärungen gemacht: Das Erbrecht geht vom Prinzip des Numerus clausus der Verfügungsarten aus und kennt zwei Formen, nämlich die Stellung als Erbe (vgl. Art. 483 ZGB) und als Vermächtnisnehmer (vgl. Art. 484 ZGB). Die beiden Rechtspositionen schliessen sich gegenseitig insofern nicht aus, als jemand Erbe und zusätzlich Vermächtnisnehmer sein kann (vgl. auch Art. 608 Abs. 3 ZGB). Nicht vorgesehen ist jedoch eine Mischform der beiden Rechtsinstitute. Dies ist auch sachgerecht, weil die erbrechtli3

17. Dez. 1997, AB NR 2740 ff

1128

chen Wirkungen und Konsequenzen unterschiedlich sind. Der Erbe ist infolge der Universalsukzession unmittelbar dinglich am Nachlass berechtigt (vgl. Art. 560 ZGB), er ist an den Aktiven des Nachlasses im Sinne eines Gesamthandverhältnisses mit all den daraus folgenden Konsequenzen, namentlich dem Erfordernis gemeinschaftlichen Handelns, beteiligt (vgl. Art. 602 ZGB). Für die Schulden des Erblassers werden die Erben solidarisch haftbar (Art. 603 Abs. 1 ZGB).

Dagegen ist der Vermächtnisnehmer Singularsukzessor, d.h. er leitet seine Rechte nicht direkt vom Erblasser ab, sondern er hat einen persönlichen Anspruch gegenüber dem oder den mit dem Legat beschwerten Personen (vgl. Art. 562 Abs. 1 ZGB). Auf der anderen Seite haftet der Vermächtnisnehmer aber auch nicht für die Schulden des Erblassers.

Die spärliche Gerichtspraxis und der Grossteil der Lehre vertreten klar die Auffassung, dass der überlebende Ehegatte, dem die Nutzniessung im Sinne von Artikel 473 ZGB zugewiesen wird, der aber nicht zugleich im Rahmen der verfügbaren Quote als Erbe eingesetzt wird, Vermächtsnisnehmer und nicht Erbe ist 4.

Diese Unterscheidung zwischen Erbe und Vermächtnisnehmer hat den Vorteil, dass in allen übrigen Bestimmungen des Erbrechts, die an die Rechte und Pflichten der Erben anknüpfen, ebenfalls eine klare Rechtslage besteht (vgl. etwa Art. 553 Abs. 1 Ziff. 3, 557 Abs. 2, 580 Abs. 3, 604, 626 ZGB). Die Differenzierung dient nicht nur der Rechtssicherheit, sondern verhindert auch, dass neue, heute nur schwer abschätzbare Schwierigkeiten im Erbrecht entstehen können, weil unklar sein kann, ob in erster Linie die Vorschriften über die Erben oder diejenigen über das Vermächtnis relevant sind. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass in anderen Bereichen, die heute gar nicht zur Diskussion stehen, neue Schwierigkeiten entstehen könnten. Als Beispiel sei hier nur etwa die Haftung der Erben (Art. 603 ZGB) genannt. Dieses rechtspolitische Vorgehen hat das Parlament im übrigen auch bei der Revision der Ungültigkeitsklage (vgl. Art. 520a ZGB) eingeschlagen, indem ausdrücklich nur für die eigenhändige letztwillige Verfügung, nicht aber für das öffentliche Testament und den Erbvertrag die Mängel des damals geltenden Rechts beseitigt wurden.

An dieser klaren systematischen Unterscheidung zwischen der Stellung als Erbe und als
Vermächtnisnehmer sollte nicht nur festgehalten werden, sondern im Rahmen der parlamentarischen Beratungen im Plenum ausdrücklich darauf hingewiesen werden, um allfällige Unklarheiten für die Zukunft möglichst zu vermeiden.

Was den Rechtsschutz eines nach Artikel 473 ZGB begünstigten Ehegatten betrifft, der nicht zugleich Erbe ist, so steht ihm die Nutzniessungsklage zur Verfügung.

Geht es um die Wahrung von Nutzniessungsrechten an Grundstücken, kann der betreffende Ehegatte eine vorsorgliche Massnahme im Sinne von Artikel 960 Absatz 1 ZGB erwirken.

4

Vgl. den umfassenden Stand über Lehre und Rechtsprechung bei D. Staehelin, Basler Komm. Art. 473 ZGB; a.M. jedoch R. Forni/G. Piatti, Basler Komm., Art. 626 ZGB, N. 6.

1129

2.4

Begründung der Kommissionsmehrheit

Wenn sich die Kommision mehrheitlich für die Dreiachtelslösung ausgesprochen hat, geht es ihr ausdrücklich nicht darum, eine Wertung der Lehrmeinungen abzugeben: In erster Linie soll die Rechtssicherheit erhöht werden, indem die Frage der verfügbaren Quote bei Artikel 473 durch einen Entscheid des Gesetzgebers geklärt wird. Die Frage könnte sowohl durch die Einachtels- als auch durch die Dreiachtelslösung systemkonform entschieden werden. Die Dreiachtelslösung stellt aber die liberalere und offenere Regelung dar. Das Gesetz greift hier weniger stark in die Verfügungsfreiheit des Erblassers ein, und dies ermöglicht eine flexiblere Anpassung an den Einzelfall. Nach Ansicht der Mehrheit kann dem gesellschaftlichen Wandel auf diese Weise besser Rechnung getragen werden.

Ausserdem begrüsst die Kommission, dass mit dieser Lösung für den Erblasser eine verfahrensmässig einfache Möglichkeit geschaffen wird, den Schutz des hinterbliebenen Ehegatten weitgehend zu gewährleisten und dessen Lebensstandard zu erhalten. Dies entspricht dem Ziel von Artikel 473 ZGB, nämlich der Maximalbegünstigung des überlebenden Ehegatten.

2.5

Begründung der Minderheit

Die Minderheit sieht im Entscheid über die disponible Quote eine Chance, den Rechtsstreit durch einen Kompromiss zu beenden, und schlägt daher die Zweiachtelslösung vor. Damit könnte gleichzeitig ein Mittelweg gefunden werden zwischen der welschen Schweiz, wo die Dreiachtelstheorie mehr Anklang findet, und der deutschen Schweiz, wo die Einachtelstheorie vorherrscht (vgl. Kap. 2.2). Da es sich ohnehin um einen politischen Entscheid handelt, sei die dogmatische Einordnung in das geltende System von untergeordneter Bedeutung. Auch unabhängig von allen Theorien sei die Zweiachtels- oder Einviertelslösung die bessere Lösung: Ein Viertel ist auch rein mathematisch einfacher und damit für den Bürger besser nachvollziehbar als ein Achtel oder drei Achtel.

3

Erläuterungen zum Entwurf

3.1

Antrag der Mehrheit

Mit der Ergänzung von Artikel 473 Absatz 2 ZGB ist klar gestellt, dass der Erblasser, der die Nutzniessung für seinen hinterlassenen Ehegatten verfügt, über drei Achtel seines Erbes frei verfügen kann. Die Zahl von drei Achtel wird im Gesetz ausdrücklich genannt, obwohl schon aus Artikel 462 in Verbindung mit Artikel 471 ZGB hervorgeht, dass der verfügbare Teil drei Achtel beträgt, wenn Nachkommen und hinterbliebener Ehegatte sich in das Erbe teilen. Es soll für jedermann klar ersichtlich sein, was er in seinem Testamten festhalten darf.

1130

3.2

Antrag der Minderheit

Mit der Ergänzung von Artikel 473 Absatz 2 ZGB ist klar gestellt, dass der Erblasser, der die Nutzniessung für seinen hinterlassenen Ehegatten verfügt, über einen Viertel seines Erbes frei verfügen kann.

3.3

Die übergangsrechtliche Problematik

In intertemporaler Hinsicht stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber im Übergangsrecht für diejenigen Fälle, in denen der Erbgang eröffnet, der Nachlass aber noch nicht geteilt ist, eine übergangsrechtliche Vorschrift über die Grösse der verfügbaren Quote im Falle von Art. 473 ZGB aufstellen soll. Eine derartige Vorschrift ist wohl überflüssig. Abgesehen davon, dass nur relativ wenig Fälle davon betroffen sein werden, dürfte davon auszugehen sein, dass Gerichte gleich wie bei neurechtlichen Fällen entscheiden würden.

4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Die Revision dürfte für den Bund praktisch keine finanziellen und personellen Konsequenzen haben.

5

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 122 der Bundesverfassung, die dem Bund eine umfassende Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Zivilrechts zuweist.

1131