00.090 Botschaft über das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und eine Revision des Strafrechts vom 15. November 2000

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen mit dieser Botschaft mit dem Antrag auf Zustimmung den Entwurf eines Bundesbeschlusses betreffend die Genehmigung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, den Entwurf des Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und den Entwurf des Bundesgesetzes über eine Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (Rechtspflegedelikte vor internationalen Gerichten).

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

15. November 2000

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

11225

Der Bundespräsident: Adolf Ogi Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2000-2375

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Übersicht Das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs («Statut») wurde am 17. Juli 1998 von der Diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs in Rom mit überwältigender Mehrheit verabschiedet (120 gegen 7 Stimmen bei 21 Enthaltungen).

Das Statut bildet die rechtliche Grundlage eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Den Haag (in der Folge auch «Gerichtshof» genannt). Der künftige Gerichtshof ist zuständig für die Beurteilung von besonders schweren Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes betreffen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und die noch genauer zu definierende Aggression.

Der Gerichtshof beruht auf dem Grundsatz der Komplementarität: Er wird nur dann tätig, wenn die für die Strafverfolgung in erster Linie zuständigen innerstaatlichen Behörden nicht willens oder nicht in der Lage sind, eines dieser Verbrechen, das auf ihrem Hoheitsgebiet oder von einem ihrer Staatsangehörigen begangen wird, ernsthaft zu verfolgen. Dieser Fall kann etwa dann eintreten, wenn das staatliche Strafverfolgungssystem als Folge kriegerischer Ereignisse zusammengebrochen ist. Denkbar ist auch, dass die zuständigen innerstaatlichen Behörden von Personen kontrolliert werden, welche die fraglichen Verbrechen selbst mitzuverantworten haben, sodass keine ernsthafte Strafverfolgung stattfindet. Durch die komplementäre Ausgestaltung des Statuts soll sichergestellt werden, dass die in der Wirklichkeit immer wieder auftretenden Lücken bei der strafrechtlichen Verfolgung dieser besonders verabscheuungswürdigen Verbrechen geschlossen werden können.

Der Gerichtshof will die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit keinesfalls ersetzen.

Ebenso wenig ist er eine Rechtsmittelinstanz, mit welcher letztinstanzliche innerstaatliche Strafurteile einer internationalen Überprüfung unterzogen würden.

Das Statut anerkennt den völkerrechtlichen Grundsatz der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit für schwerste Völkerrechtsverletzungen, ohne sich zur Frage einer allfälligen Staatenverantwortlichkeit zu äussern. Die bedeutende Errungenschaft des Römer Statuts besteht darin, dass sich Einzelpersonen, welche die minimalsten Verhaltensregeln der Mitmenschlichkeit verletzt haben,
unter Umständen vor einem internationalen Gericht verantworten müssen. Der Internationale Strafgerichtshof ist damit Ausdruck einer im Namen der Staatengemeinschaft ausgeübten Justiz.

Das Statut tritt am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf den 60. Tag nach Hinterlegung der 60. Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen folgt. Bis zum heutigen Tag (Stand: 15. Nov. 2000) haben 115 Staaten das Statut unterzeichnet ­ darunter am 18. Juli 1998 die Schweiz. Zwar haben im gleichen Zeitraum erst 22 Staaten das Statut ratifiziert; zahlreiche weitere haben jedoch eine baldige Ratifikation angekündigt. Angesichts der weltweit grossen politischen Anstrengungen zur raschen Schaffung des Gerichtshofs ist davon auszugehen, dass das Statut in naher Zukunft in Kraft treten wird.

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Vor dem Hintergrund der humanitären Tradition unseres Landes, der Rolle der Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen und ihrer nicht unmassgeblichen Rolle beim Zustandekommen dieses Statuts ist es wichtig, dass die Schweiz zu den 60 erstratifizierenden Staaten gehört. Mit diesem Schritt stellt unser Land sein Engagement für das humanitäre Völkerrecht und den Schutz der Menschenrechte unter Beweis. Zu diesen Gründen gesellt sich ein weiteres, praktisches Motiv: Nach Inkrafttreten des Statuts wird eine Versammlung der Vertragsstaaten einberufen, an der bedeutende Entscheide gefällt werden: Wahlen der Richter und des Anklägers, Genehmigung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Genehmigung der «Verbrechenselemente» (eines Hilfsinstruments zur Auslegung der im Statut umschriebenen Verbrechenstatbestände), Festlegung der Finanzierungsordnung und des Budgets, Behandlung der Beziehungen des Gerichtshofs zu den Vereinten Nationen und Regelung der Privilegien und Immunitäten des beim Gerichtshof beschäftigten Personals. Bei diesen wichtigen, zum Teil wegweisenden Entscheiden sollte die Schweiz mitwirken können; Voraussetzung ist aber, dass sie das Statut vor diesem Zeitpunkt ratifiziert hat.

Aus den genannten Gründen steht die Ratifikationsvorlage unter einem gewissen Zeitdruck. Der Bundesrat unterbreitet deshalb den eidgenössischen Räten zusammen mit der vorliegenden Botschaft über die Genehmigung des Römer Statuts nur die dringend erforderlichen gesetzgeberischen Umsetzungsarbeiten. Es handelt sich dabei um Bestimmungen, die vom Statut unmittelbar verlangt werden. Dazu gehören insbesondere die gesetzlichen Grundlagen für eine wirksame Zusammenarbeit der schweizerischen Behörden mit dem Gerichtshof.

Von seiner Zielsetzung und seiner komplementären Ausgestaltung her lässt das Statut auch weiter gehende Anpassungen des innerstaatlichen Rechts wünschbar erscheinen. So enthält das Römer Statut beispielsweise erstmals eine auf internationaler Ebene ausgehandelte Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Daraus ergibt sich die Frage, ob nicht der Zeitpunkt gekommen sei, auch im innerstaatlichen Recht die Aufnahme eines Straftatbestandes der «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» anzustreben. Da sich gesetzgeberische Massnahmen solcher Art jedoch nicht aus den im Statut enthaltenen
unmittelbaren Verpflichtungen ergeben, sollen diese Fragen nicht zusammen mit der Genehmigung des Statuts, sondern erst in einer zweiten Phase behandelt werden. Die Zweiteilung der Umsetzungsarbeiten in einen Bereich des vom Statut «Geforderten» und einen Bereich des «Erwünschten» erlaubt eine vertieftere Auseinandersetzung mit dem letzteren Gebiet, ohne dass dadurch die Ratifikation des Statuts verzögert würde.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Ratifikation des Römer Statuts keinen Aufschub duldet. Er unterbreitet den eidgenössischen Räten deshalb heute die Ratifikationsvorlage zusammen mit den vom Statut unmittelbar verlangten Umsetzungsarbeiten. Er ist sich jedoch bewusst, dass weiter gehende Anpassungen des schweizerischen Rechts angezeigt sind. Er hat die diesbezüglichen Arbeiten bereits in die Wege geleitet. Die Ergebnisse werden den Räten in einer späteren Vorlage unterbreitet, die dannzumal ohne äusseren Zeitdruck beraten werden kann.

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Botschaft 1

Allgemeiner Teil

1.1

Das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs: ein Instrument zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte 1

Durch die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs will das Römer Statut dem Völkerstrafrecht zu einer grösseren universalen Durchsetzung verhelfen. Das Völkerstrafrecht ist ein altes, aber noch immer im Entstehen begriffenes Rechtsgebiet. Zu seinem wesentlichen Bestand gehören die in bewaffneten Konflikten anwendbaren Regeln des humanitären Völkerrechts und der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit welchen schwere Menschenrechtsverletzungen auch in Friedenszeiten geahndet werden2. In seinem Kern auferlegt das Völkerstrafrecht der Einzelperson die grundlegendsten Verhaltensregeln der Humanität.

Ungeachtet des Bestandes dieser Rechtsnormen sind auch in der jüngeren Geschichte Millionen von Kindern, Frauen und Männern Opfer von Gräueltaten geworden, die, wie die Präambel des Römer Statuts festhält, «das Gewissen der Menschheit zutiefst erschüttern». Nur allzu oft sind die hierfür verantwortlichen Täter nie zur Rechenschaft gezogen worden. Oft mag es gar scheinen, als werde gerade ein besonders brutales Gebaren von Despoten und ihren Handlangern dadurch «belohnt», dass sie sich langfristig an der Macht erhalten und dem Zugriff von Justizbehörden entziehen können. Diesem zu allen Zeiten verbreiteten Übel der Straflosigkeit ein Ende zu setzen, ist das ehrgeizige Ziel des Römer Statuts.

Recht verlangt nach seiner Durchsetzung. Die rechtsgeschichtliche Erfahrung zeigt, dass die Strafverfolgungsbehörden der Einzelstaaten zuweilen überfordert sind, die Normen im Kernbereich des Völkerstrafrechts wirksam durchzusetzen. Mit dem Römer Statut wird eine ständige und unabhängige internationale Gerichtsbehörde geschaffen, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn die Staaten ihrer Pflicht nicht nachkommen wollen oder können, Strafgerichtsbarkeit über die Personen auszuüben, die für internationale Verbrechen verantwortlich sind. Die Schaffung einer solchen Instanz stellt die lange ersehnte Antwort auf die Forderung dar, dass die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes betreffen, nicht ungesühnt bleiben dürfen und dass ­ wo nötig ­ ihre wirksame Verfolgung auf der internationalen Ebene gewährleistet werden muss. Das Römer Statut ist eine grosse völkerrechtliche Errungenschaft, der von vielen eine historische Bedeutung zugemessen wird, noch bevor das Statut
überhaupt in Kraft getreten ist. Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass das Römer Statut ein bedeutendes Instrument zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts und zur Einhaltung fundamentaler Regeln der Menschlichkeit verkörpert. Das Statut darf auch als zivilisatorische Leistung betrachtet werden, weil es einen auf dem Recht ­ und nicht nur der Macht ­ 1

2

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Vgl. Lucius Caflisch, Der neue Internationale Strafgerichtshof: ein Instrument zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte , Liechtensteinische Juristen-Zeitung 1999, S. 3­12.

Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 31. März 1999 betreffend das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision des Strafrechts (BBl 1999 5327).

fussenden Beitrag zur Bewältigung und zur Verhinderung einiger der schlimmsten Grausamkeiten leistet, die sich Menschen zuweilen antun.

1.2

Geschichte und Werdegang des Internationalen Strafgerichtshofs

Geschichtliche Vorläufer Einzelne Vorformen überstaatlicher Justiz finden sich vermutlich schon in der Zeit des antiken Griechenlands. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Kleinstaaten im ägäischen Raum haben anscheinend von Fall zu Fall gebildete, mit Angehörigen der siegreichen Allianzen besetzte Gerichte die Führer der unterlegenen Streitkräfte abgeurteilt.3 Später, im ausgehenden Mittelalter, wird über ein Verfahren gegen einen von Karl dem Kühnen eingesetzten elsässischen Landgrafen, Peter von Hagenbach, berichtet, dem wegen übermässiger Gewalt an der Bevölkerung im Jahre 1474 der Prozess gemacht wurde.4 Als Richter amteten dort Angehörige verschiedener Gebiete innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation: Elsässer, Österreicher, Deutsche und auch Schweizer.

Von einer eigentlichen «internationalen» Strafjustiz kann aber begriffsnotwendig frühestens mit dem Aufkommen des Nationalstaates im 19. Jahrhundert gesprochen werden. Die Forderung nach der Errichtung eines in diesem modernen Sinne zwischenstaatlichen Strafgerichtshofs wurde erstmals 1872 erhoben. Es ist bemerkenswert, dass die erste Initiative zur Schaffung einer solchen Instanz ausgerechnet von einem jungen Genfer Juristen ausging: Gustave Moynier, Mitbegründer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz um Henry Dunant und langjähriger Präsident dieser Organisation. Unter dem Eindruck der im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 begangenen Grausamkeiten legte Moynier den Entwurf einer «Konvention zur Schaffung einer internationalen Gerichtsbehörde für die Verhütung und die Bestrafung von Verletzungen der Genfer Konvention» von 1864 über den Schutz der Verwundeten und Kranken der Heere im Felde vor. Der zukunftsweisende, ja revolutionäre Vorschlag stiess damals auf beinahe einhellige Ablehnung der Machthaber Europas. Es mussten 130 Jahre vergehen, in denen unzählige Menschen Opfer unvorstellbarer Gewalt geworden sind, bis die Idee Moyniers Wirklichkeit werden konnte.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Gedanke einer zwischenstaatlichen Strafjustiz in den Artikeln 227­230 der Versailler Verträge wieder belebt. Darin bekundeten die Siegermächte die Absicht, einen Gerichtshof einzuführen, um namentlich den deutschen Kaiser Wilhelm II. von Hohenzollern anzuklagen. Es blieb jedoch bei dieser Absichtserklärung. Auch
andere Bemühungen, einschliesslich privater Initiativen internationaler Vereinigungen, ein internationales Strafgericht ins Leben zu rufen, blieben während der Zeit des Völkerbundes erfolglos.

3 4

Christopher Keith Hall, The International Criminal Court Monitor Nr. 6 (Nov. 1997), www.iccnow.org/html/monitor.htm.

Cherif M. Bassiouni, Crimes against Humanity in International Criminal Law , Den Haag, London, Boston (Kluwer), 2. Auflage 1999, S. 463.

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Die Militärtribunale von Nürnberg und Tokio Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schufen die Alliierten die Internationalen Militärtribunale von Nürnberg und Tokio. Damit wurde zum ersten Mal auf zwischenstaatlicher Ebene eine Instanz geschaffen, die es erlaubte, die Hauptverantwortlichen für Verbrechen, welche die gesamte menschliche Gemeinschaft betreffen, zur Rechenschaft zu ziehen. Die Zuständigkeit der Tribunale erstreckte sich auf «Kriegsverbrechen», «Verbrechen gegen den Frieden» und «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Durch ihre Arbeit trugen die beiden Tribunale Entscheidendes dazu bei, dass die Schrecken des Zweiten Weltkriegs auf rechtlichem Gebiet so weit bewältigt werden konnten, wie es die Umstände zuliessen.

Die Internationalen Militärtribunale von Nürnberg und Tokio stellen in mancher Hinsicht einen Meilenstein in der Geschichte des Völkerstrafrechts dar. Trotz ihrer unbestreitbaren Verdienste entsprechen die Art und Weise ihrer Einsetzung ­ als Ad-hoc-Tribunale durch die Siegermächte ­ und die erst nachträglich erfolgte Definition der zu beurteilenden Verbrechen aber nicht den Vorstellungen einer mustergültigen internationalen Justiz. Auch geht von Tribunalen, die erst geschaffen werden, nachdem die Verbrechen, für deren Beurteilung sie zuständig sind, bereits begangen worden sind, naturgemäss keine präventive Wirkung aus. All diesen Bedenken kann nur durch eine ständige Einrichtung entgegengetreten werden.

Initiativen im Rahmen der UNO zur Errichtung eines ständigen Strafgerichts hofs Aus den soeben genannten Gründen blieb die Forderung nach einem ständigen Internationalen Strafgerichtshof nach der Nürnberger Erfahrung aktuell. Die 1948 abgeschlossene Völkermordkonvention5 sah in Artikel VI bereits ein solches «internationales Strafgericht» vor; dessen Schaffung schien damals unmittelbar bevorzustehen. Tatsächlich beauftragte die Generalversammlung der Vereinten Nationen im selben Jahr die gerade ins Leben gerufene Völkerrechtskommission mit einem solchen Vorhaben. Die Kommission stellte 1949 fest, dass die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs wünschenswert und möglich sei, und begann mit den Vorarbeiten für dessen Errichtung. Das Vorhaben wurde jedoch mit dem Einsetzen des kalten Krieges bald unrealisierbar. Die entsprechenden Arbeiten der Völkerrechtskommission
wurden auf Fragen des materiellen Rechts begrenzt (Arbeiten an einem «Kodex der Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit»), während die institutionelle Thematik, die Schaffung einer internationalen Gerichtsbehörde, auf Eis gelegt wurde.

Im Jahr 1989 reichte Trinidad und Tobago in der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Initiative ein, um «Wege zur Bekämpfung des internationalen Drogenhandels und anderer internationaler Verbrechen» zu finden. Die Generalversammlung nahm diese Eingabe im darauf folgenden Jahr zum Anlass, ihren Auftrag an die Völkerrechtskommission zu erneuern: Über 40 Jahre nach ihrem ersten Mandat befasste sich die Völkerrechtskommission damit wiederum mit der Idee der Schaffung eines internationalen Strafgerichts. Mit der Überwindung des jahrzehntelangen Ost-West-Konflikts fiel das Vorhaben nun endlich auf fruchtbaren Boden.

5

396

BBl 1999 5327

Die vom Sicherheitsrat eingesetzten Ad-hoc-Tribunale Ein zweiter ­ allerdings unerfreulicher ­ Umstand gab dem Projekt weiteren Auftrieb: der Ausbruch der bewaffneten Konflikte in Jugoslawien und Ruanda. Als Reaktion auf diese Feindseligkeiten entschloss sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Schaffung von Sondertribunalen. Erstmals seit den Nürnberger Prozessen wurde damit wieder die Möglichkeit geschaffen, Einzelpersonen wegen besonders schwerwiegender Verletzungen des Völkerstrafrechts vor ein internationales Gericht zu stellen. Damit haben die beiden Ad-hoc-Tribunale die unveränderte Aktualität des Themas aufgezeigt und gleichzeitig unter Beweis gestellt, dass internationale Strafrechtsinstanzen auch in heutiger Zeit grundsätzlich realisierbar sind.

Noch auf eine andere Weise aber haben die beiden Ad-hoc-Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda dem Vorhaben eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs den Rücken gestärkt. Die beiden Tribunale wurden durch Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geschaffen.6 Diese Entschliessungen ergingen gestützt auf Kapitel VII der Satzung der Vereinten Nationen, das die dem Sicherheitsrat zur Verfügung stehenden «Massnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen» zum Gegenstand hat. Das Vorgehen des Sicherheitsrats auf der Grundlage von Kapitel VII hatte den Vorteil, dass sämtliche Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen diesen Resolutionen unterworfen und zur Zusammenarbeit mit den Sondertribunalen verpflichtet wurden.7 Auf längere Frist gesehen brächte dieses Vorgehen allerdings ­ nicht zuletzt wegen des Vetorechts der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ­ die Gefahr der Selektivität mit sich: Nach welchen Kriterien sollte der Sicherheitsrat entscheiden, in welchen Konflikten ein Sondergericht nötig oder wünschbar ist und in welchen nicht? Ausserdem erfordert eine solche Vorgehensweise, dass in jedem neuen Fall wieder ein weiteres Tribunal ins Leben gerufen werden muss. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Rufe nach einem internationalen Strafgericht in jüngster Zeit auch als Folge von Konflikten in Kambodscha, Burundi, Osttimor oder Tschetschenien erschallt sind.

Für Sierra Leone ist die Schaffung eines unabhängigen Sondergerichts im Grundsatz beschlossen worden.8 Die Vorstellung,
für jeden neuen Konflikt ein neues Sondergericht zu schaffen, erschien mancherorts weder attraktiv noch zukunftsträchtig: Ein solches Vorgehen wäre nicht nur aufwendig und zeitraubend, sondern könnte langfristig zu einer für den Bestand des humanitären Völkerrechts unerwünschten «Proliferation» internationaler Gerichtshöfe führen. Mit der Schaffung der beiden Sondertribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda hat sich deshalb auch gezeigt, dass die unvermeidlichen Nachteile bei der Einsetzung von internationalen Gerichten auf einer Ad-hoc-Grundlage ein halbes Jahrhundert nach den Prozessen von Nürnberg und Tokio noch immer nicht behoben sind.

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7

8

Ad-hoc-Tribunal für Ex-Jugoslawien: Resolutionen 808 und 827 des Sicherheitsrats vom 22.2. und 25.5.1993; Ad-hoc-Tribunal für Ruanda: Resolution 955 des Sicherheitsrats vom 8.11.1994.

Auch die Schweiz hat sich zur Zusammenarbeit verpflichtet: Botschaft des Bundesrates vom 18. Okt. 1995 betreffend den Bundesbeschluss über die Zusammenarbeit mit den internationalen Gerichten zur Verfolgung von schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts (BBl 1995 IV 1101).

Resolution 1315 des Sicherheitsrats vom 14.8.2000.

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Vorarbeiten zur Römer Konferenz Zur gleichen Zeit, als das erste der beiden Sondertribunale vom Sicherheitsrat ins Leben gerufen wurde, legte die Völkerrechtskommission den Vorentwurf eines Statuts für einen zukünftigen ständigen Internationalen Strafgerichtshof vor. Dieser Vorentwurf von 1993 wies die Form eines völkerrechtlichen Vertrags auf. Auf Grund der eingegangenen Bemerkungen der zur Vernehmlassung eingeladenen Staaten wurde der Text von der Völkerrechtskommission überarbeitet und 1994 zuhanden der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Die Vollversammlung setzte zur Erörterung des Entwurfs einen aus Regierungsvertretern zusammengesetzten Ad-hoc-Ausschuss ein, der 1995 während insgesamt vier Wochen tagte.9 Ab 1996 wurde dieser Ausschuss zum «Vorbereitenden Ausschuss» aufgewertet, weil sich bereits abzeichnete, dass das Ziel der Arbeiten in der Vorbereitung einer Staatenkonferenz bestehen sollte. Der Vorbereitende Ausschuss schloss im Frühjahr 1998, nach weiteren fünfzehn Verhandlungswochen, seine Arbeiten ab.

Der Schlussbericht des Ausschusses enthielt den der Staatenkonferenz in Rom unterbreiteten Verhandlungstext.10 Dieser fast 200 Seiten starke Text war wenig konsolidiert. Er umfasste einen Katalog von etwa 100 Optionen und wies um die 1600 eingeklammerte Textpassagen auf, die Diskussionsbedarf anzeigten. Dieses Zwischenergebnis unmittelbar vor der Römer Konferenz widerspiegelte die zwischen den Staaten herrschende Uneinigkeit im Umgang mit dem Vorhaben.

Einige Staaten standen der Idee der Schaffung eines ständigen Strafgerichtshofs grundsätzlich skeptisch gegenüber, wobei die Gründe hierfür vielfältig waren: Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates konnten sich etwa mit der Möglichkeit eines Machtverlustes konfrontiert sehen, da das Schicksal eines ständigen, auf Vertragsbasis beruhenden Strafgerichtshofs nicht mehr vom Willen des Sicherheitsrats abhängig war. Andere Staaten fürchteten gerade umgekehrt die Schaffung einer Art «ständigen Ad-hoc-Gerichts», einer Institution, die im praktischen Ergebnis nur auf Initiative des Sicherheitsrats hin tätig werden könnte. Wieder andere fürchteten die Intervention jeglicher zwischenstaatlicher Instanz in einem Bereich, den sie (unter Missachtung der diesbezüglichen Entwicklungen des Völkerrechts) noch immer als «innere
Angelegenheit» betrachten wollten.

Den verschiedenen kritischen Stimmen trat schon früh eine den Internationalen Strafgerichtshof befürwortende Gruppe von Staaten entgegen. Diese Koalition, die sich zu einem grossen Teil aus europäischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten zusammensetzte, wurde zu Beginn von Kanada, später von Australien koordiniert. Ihr gehörte von allem Anfang an auch die Schweiz an. Diese Gruppe nannte sich ursprünglich «Freunde des Gerichtshofs». Um die Nichtmitglieder aber nicht gerade zu «Feinden» des Gerichtshofs zu stempeln, bezeichnete sich die Koalition später als «Gruppe der Gleichgesinnten» («like-minded group»). Diese Koalition setzte sich für einen starken und unabhängigen Gerichtshof ein. Sie genoss auch die weitgehende Unterstützung der im gesamten Verhandlungsprozess sehr zahlreichen und aktiven Nichtregierungsorganisationen.

9 10

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Rapport du Comité ad hoc pour la création d'une Cour criminelle internationale, Nations Unies, Assemblée générale, document officiel, 50e session, 1995, A/50/22.

Rapport du Comité préparatoire pour la création d'une Cour criminelle internationale, Nations Unies, document A/CONF/183/2 und A/CONF/183/2/add. 1 vom 14.4.1998.

Einige der Hauptanliegen der «Gruppe der Gleichgesinnten» waren die folgenden: ­

Reduktion des Verbrechenskatalogs auf wenige Kernverbrechen;

­

im Gegenzug automatische Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs für jeden Vertragsstaat bezüglich aller Verbrechen (ohne besondere Anerkennungserklärung);

­

grosszügige Ausgestaltung der territorialen Zuständigkeit, um dem Gerichtshof die grösstmögliche Universalität zu sichern; und

­

Möglichkeit der Verfahrenseröffnung durch einen unabhängigen Ankläger.

Gerade in diesen Punkten wichen die Forderungen der Koalition jedoch vom Entwurf der Völkerrechtskommission aus dem Jahr 1994 ab, was aus der Sicht dieser Staatengruppe eine grundsätzliche Neukonzeption des Statuts erforderlich machte.

Das Dokument, das zu Beginn der Römer Konferenz vorlag, widerspiegelte deshalb einige fundamentale Unterschiede in der Gesamtkonzeption, die sich bis in alle Einzelheiten des Textes fortsetzte. Zu diesen Schwierigkeiten hinzu kam eine Unzahl eher technischer Fragen, welche die Vertreter der verschiedenen Rechtstraditionen zu entzweien drohten. Die Vorzeichen für die fünfwöchige Konferenz in Rom standen deshalb eher ungünstig. Mit einem Scheitern der Konferenz musste ebenso gerechnet werden wie mit der Möglichkeit, sie zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen zu müssen.

Die Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs, Rom, 15. Juni bis 17. Juli 1998 11 Die Staatenkonferenz zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs wurde am 15. Juni 1998 vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, feierlich eröffnet. Die Konferenz wählte den ehemaligen italienischen Justizminister Giovanni Conso zu ihrem Präsidenten und den Rechtsberater der kanadischen Regierung, Botschafter Philippe Kirsch, zum Vorsitzenden des Gesamtausschusses. Die Schweiz wurde in den Redaktionsausschuss der Konferenz gewählt. Die Konferenz wurde von einer grossen Zahl von Nichtregierungsorganisationen und von den Medien aufmerksam begleitet, was die Teilnehmenden aus über 160 Staaten unter zusätzlichen Erfolgsdruck setzte.

In langen und intensiven Verhandlungen konnten in dieser Ausgangslage substanzielle Kompromisse auf der Grundlage des Konsenses gefunden werden. Diese bezogen sich jedoch vorerst eher auf technische Fragen. Gegen Ende der Konferenz zeichnete sich ab, dass in den zentralen Fragen keine Einigung hergestellt werden konnte. Am vorletzten Tag der Konferenz legte daher das Konferenzbüro nach umsichtigen Konsultationen einen sorgfältig ausgewogenen Kompromisstext für ein Statut vor. Dieser Text übernahm die hauptsächlichsten Anliegen der Koalition der «Gruppe der Gleichgesinnten», machte hingegen auch den Skeptikern verschiedene Zugeständnisse, besonders bei der Frage der Jurisdiktion.

Dieses Kompromisspaket wurde am
letzten Konferenztag, dem 17. Juli 1998, nur noch von Indien und den Vereinigten Staaten von Amerika in Frage gestellt. Die Konferenz entschied mit deutlicher Mehrheit, sich mit den Einwänden dieser beiden Staaten nicht mehr zu befassen. In der anschliessenden Plenarsitzung der Staaten11

Philippe Kirsch und John T. Holmes: The Rome Conference on an International Criminal Court: The Negotiating Process , American Journal of International Law 1999, S. 2­12.

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konferenz verlangten die Vereinigten Staaten von Amerika, dass über den Entwurf für das Statut in einer nicht namentlichen Abstimmung abgestimmt werde. Das Statut wurde daraufhin mit einer eindrucksvollen Mehrheit von 120 Ja-Stimmen gegenüber 7 Nein-Stimmen bei 21 Enthaltungen verabschiedet. Dieses Ergebnis war insofern überraschend, als die «Gruppe der Gleichgesinnten» auch zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als 60 Mitglieder zählte. Durch einige insgesamt nicht allzu schmerzliche Kompromisse war es also gelungen, nochmals eine ähnliche Anzahl Staaten mit an Bord zu nehmen.

Die Schlussabstimmung wurde nicht offiziell aufgezeichnet, sodass nur aus den Umständen auf das Abstimmungsverhalten geschlossen werden kann. Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass offenbar fast ausnahmslos alle europäischen Staaten dem Statut zugestimmt haben, einschliesslich der drei europäischen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates: Frankreich, Vereinigtes Königreich und Russland.

Neben dem Statut wurde die Schlussakte der Diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz verabschiedet, die insbesondere die Resolution F enthält. Darin wird die Schaffung einer Vorbereitungskommission beschlossen, welche die erforderlichen Nebeninstrumente des Statuts erarbeiten und alle sonstigen Arbeiten erledigen soll, die für die effektive Errichtung des Gerichtshofs erforderlich sind.

Die Arbeiten der Vorbereitungskommission zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs seit 1999 Die in der Resolution F der Schlussakte erwähnte Vorbereitungskommission nahm im Frühjahr 1999 ihre Arbeit auf. Sie bereitet die folgenden Nebeninstrumente des Statuts vor: ­

die «Verbrechenselemente» (eine Auslegungshilfe für die im Statut definierten Verbrechen);

­

die Verfahrens- und Beweisordnung;

­

ein Abkommen über das Verhältnis zwischen dem Gerichtshof und den Vereinten Nationen;

­

Grundzüge des Sitzabkommens zwischen dem Gerichtshof und dem Gaststaat (den Niederlanden);

­

Finanzvorschriften und die Finanzordnung;

­

ein Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten des Gerichtshofs;

­

ein Budget für das erste Finanzjahr;

­

die Geschäftsordnung für die Versammlung der Vertragsstaaten.

Diese Instrumente sollen an der ersten Versammlung der Vertragsstaaten nach dem Inkrafttreten des Statuts verabschiedet werden. Die Kommission hat ausserdem den Auftrag, Vorschläge zum Straftatbestand der Aggression vorzubereiten, die von der Versammlung der Vertragsstaaten bei der ersten Überprüfungskonferenz ­ sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts ­ beraten werden sollen. Die Vorbereitungskommission soll bis zum Schluss der ersten Versammlung der Vertragsstaaten bestehen bleiben.

400

1.3

Bedeutung des Internationalen Strafgerichtshofs im System der internationalen Friedenssicherung

Rechtsverwirklichung als Frieden stiftender Beitrag Das Römer Statut beruht auf der Philosophie, dass Friede langfristig der Gerechtigkeit bedarf, Gerechtigkeit wesentlich auf dem Recht fusst und das Recht wiederum dessen Durchsetzung erfordert. Indem das Römer Statut einen Beitrag zur Rechtsverwirklichung leistet, will es auch zur nachhaltigen internationalen Friedenssicherung beitragen. Bei der Verfolgung dieses Ziels setzt es auf die Verhinderung von Straftaten und, wo dies nicht gelingt, mindestens auf deren juristische Bewältigung.

Was zunächst die Prävention betrifft, so haben Despoten, ihre Helfer und Helfershelfer bis anhin allzu einfach darauf vertrauen dürfen, für ihre Schandtaten nie zur Verantwortung gezogen zu werden. Mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs ist die Wahrscheinlichkeit, für diese Verbrechen vor einem Gericht Rechenschaft ablegen zu müssen, dagegen erheblich gestiegen. Schon das blosse Bestehen des Internationalen Strafgerichtshofs dürfte den Staaten Ansporn sein, ihre Verantwortung zur Verfolgung dieser Straftaten ernster zu nehmen als bisher. Es geht nicht nur darum, wie abschreckend der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wirkt, sondern mehr noch darum, wie abschreckend all die Strafrechtsordnungen der Staaten in ihrer Gesamtheit sind. Indem das Römer Statut einen Strafgerichtshof schafft, der nur im Fall von Lücken in der Strafverfolgung tätig wird, ist es gleichzeitig ein Auftrag an die Staaten, solche Lücken schon auf einzelstaatlichem Niveau zu schliessen, wo immer dies möglich ist. Vom Strafgerichtshof darf in dieser Hinsicht eine katalytische Wirkung für die innerstaatlichen Rechtsordnungen erwartet werden. Das Übel der Straflosigkeit muss auf allen Ebenen, in erster Linie auf der einzelstaatlichen, bekämpft werden.

Der Gerichtshof ist Beleg dafür, dass die internationale Gemeinschaft nicht mehr gewillt ist, die Begehung von barbarischen Verbrechen, die eine Verletzung der eigentlichen Grundlagen eines friedlichen Zusammenlebens und der Menschlichkeit darstellen, tatenlos hinzunehmen, sondern dass sie im Gegenteil alles daran setzt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Wie zudem die Erfahrung mit den beiden Ad-hoc-Tribunalen zeigt, wird auch im für die internationale Justiz schlechtesten Fall, dass ein Angeklagter vorläufig
nicht gefasst und deshalb nicht vor ein nationales oder internationales Gericht gestellt werden kann, zumindest die Bewegungsfreiheit dieser Person empfindlich eingeschränkt. Selbst wenn es vielleicht auch in Zukunft nicht in jedem Fall auf Anhieb gelingen sollte, aller Schwerverbrecher habhaft zu werden: Die Selbstverständlichkeit, mit der sie bisher meist unbehelligt die Welt bereisen konnten, wird zu Ende sein.

Die zweite Säule des Frieden stiftenden Beitrags des Internationalen Strafgerichtshofs besteht darin, dass er ­ zumindest auf der juristischen Ebene ­ bei der Bewältigung von Situationen mithilft, in denen sich ganze Gesellschaften in einer tiefgreifenden Krise befinden. Wer einen Völkermord überlebt, systematische oder weit verbreitete Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlitten hat oder durch einen Krieg gegangen ist, in dem grundlegende humanitäre Verhaltensregeln mit Füssen getreten wurden, hat eine traumatische Erfahrung hinter sich. Eine solche traumatische Krise betrifft aber nicht nur das einzelne Opfer und seine Angehörigen, sondern unter Umständen ein ganzes Volk. Wenn einem solchen Zustand nicht rasch abgeholfen werden kann, ist er in der Lage, eine Gesellschaft über Generationen hinweg zu prägen und zu destabilisieren und die Bildung einer neuen Zivilgesellschaft längerfristig zu 401

verzögern. Aus der psychologischen Betreuung von traumatisierten Menschen ist bekannt, dass sie das traumatische Erlebnis ­ Folter, Vergewaltigung, Geiselnahme usw. ­ oft als weniger schlimm empfinden als das Gefühl danach, mit dem Erlittenen allein dazustehen und auf Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung zu stossen. Diese Erfahrung lässt sich womöglich auf die kollektive Ebene übertragen12.

Wohl stellt der Internationale Strafgerichtshof keine Instanz dar, die umfassend auf alle Bedürfnisse der Opfer der schwersten Verbrechen eingehen kann. Er ist jedoch ein Ort, wo sich einige dieser Opfer zumindest Gehör verschaffen können. Er ist ein Zeichen, dass das Schicksal der Menschen, die grösstes Leid ertragen haben, die internationale Gemeinschaft etwas angeht. Dies erklärt auch die wichtige Rolle, die den Opfern im Verfahren vor dem Gerichtshof zukommt ­ freilich ohne dass dabei die Gefahr von Rache- oder Opferjustiz aufkäme. Durch die schonungslose Aufklärung der Wahrheit, durch die unmissverständliche Bezeichnung der eigentlichen Verantwortlichen können Verfahren vor dem Gerichtshof einen Beitrag zur individuellen und gleichzeitig zur kollektiven Bewältigung tiefgreifender Traumata von möglicherweise historischem Ausmass leisten. Nur wenn die Verarbeitung des Erlittenen gelingt, kann auf längere Sicht Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zwischen ehemaligen Feinden bestehen. Dabei ist auch der Gesichtspunkt besonders wichtig, dass der Internationale Strafgerichtshof Völker von diffusen Vorstellungen über Kollektivschuld befreit, indem er die Verantwortung individualisiert. Dies ist von unschätzbarer Bedeutung für die Verhinderung von Folgekonflikten.

Nicht nur durch die Abschreckung, sondern auch in dieser stabilisierenden Wirkung besteht ein befriedender Beitrag des Internationalen Strafgerichtshofs.

Widersprüchliche Anforderungen von Friedenssicherung und Strafgerichtsbarkeit?

Bei der Verfolgung der soeben genannten Ziele stellt der Gerichtshof keinen absoluten Anspruch. Zum einen ist der Gerichtshof im Verhältnis zu den innerstaatlichen Anstrengungen komplementär ausgestaltet (dazu unten Ziff. 2.3.2) und überlässt den Vorrang damit den innerstaatlichen Justizbehörden. Zum anderen anerkennt das Römer Statut, dass weiteren ­ nicht juristischen ­ Mechanismen zur Friedenssicherung durchaus
Bedeutung zukommt. Der eingangs erwähnte Zusammenhang zwischen Friede, Gerechtigkeit, Recht und Rechtsverwirklichung schliesst nicht aus, dass kurzfristig Friktionen zwischen den Interessen der Friedenssicherung und jenen der völkerrechtlichen Strafjustiz bestehen können. So kann es etwa notwendig sein, mit einem mutmasslichen Kriegsverbrecher Verhandlungen über die Beilegung eines bewaffneten Konflikts zu führen, was erschwert oder gar verunmöglicht werden kann, wenn gegen diese Person vor dem Internationalen Strafgerichtshof bereits Anklage erhoben wurde oder eine solche bekanntermassen unmittelbar bevorstehen könnte. In einem solchen Fall könnte eine Gelegenheit zur Beilegung eines Konflikts gefährdet sein, wollte die Strafjustiz zu diesem Zeitpunkt mit ihrer ganzen Konsequenz durchgreifen. Während die internationale Strafgerichtsbarkeit die Friedensförderung im Allgemeinen ergänzt und längerfristig wohl gar bedingt, kann es im Einzelfall also durchaus zu Spannungen zwischen den beiden Interessen kommen.

Für die Friedenssicherung ist auf der institutionellen Ebene in erster Linie der Sicherheitsrat verantwortlich; für die völkerrechtliche Strafjustiz ist es das auf dem 12

402

Vgl. Yael Danieli, International Handbook of Multigenerational Legacies of Trauma , New York (Plenum/Kluwer), 1998.

Zusammenwirken von nationaler und internationaler Strafverfolgung beruhende komplementäre System des Römer Statuts. Auf das Verhältnis zwischen Sicherheitsrat und Gerichtshof wird unten (Ziff. 2.4) näher eingegangen. An dieser Stelle sei aber schon darauf hingewiesen, dass das Statut durchaus anerkennt, dass zwischen Friedenssicherung und Strafjustiz im Einzelfall Reibungsflächen bestehen können; es weist insbesondere mit den in Artikel 16 (befristeter Aufschub der Ermittlungen und der Strafverfolgung) und in Artikel 53 (gemässigtes Opportunitätsprinzip) vorgesehenen Mechanismen differenzierte Lösungen für solche Fälle auf.

Internationale Friedenstruppen Eine Würdigung des Statuts im Rahmen der internationalen Friedenssicherung wäre unvollständig, wenn nicht auch das Verhältnis des Gerichtshofs zu internationalen Friedenstruppen beleuchtet würde. Dabei sind zwei Gesichtspunkte zu beachten. Der Gerichtshof verfügt über keine eigenen Polizeitruppen. Er ist deshalb zum grossen Teil auf die Zusammenarbeit mit Staaten angewiesen. Gerade im Fall von Staaten, deren Strukturen zusammengebrochen sind, kann dies zu ernsthaften Schwierigkeiten führen. In einem solchen Fall ist es denkbar ­ und im Statut als Möglichkeit anerkannt ­, dass sich der Gerichtshof allenfalls auf die Hilfeleistungen von internationalen Friedenstruppen stützen möchte, die in einem solchen Staat im Einsatz stehen.

Ein zweiter Gesichtspunkt des Verhältnisses des Gerichtshofs zu den Friedenstruppen besteht in der gegenwärtigen Befürchtung einiger Länder ­ einschliesslich der Vereinigten Staaten von Amerika, die bis anhin bedeutende Kontingente von Friedenstruppen gestellt haben ­, wonach Truppen bei ihrem Einsatz auf dem Gebiet eines Staates, der das Statut ratifiziert hat, der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterstellt sind. Kritiker des Römer Statuts halten es daher für möglich, dass Einsätze internationaler Friedenstruppen durch die Errichtung des Strafgerichtshofs gefährdet sein könnten.

Der Bundesrat teilt diese Bedenken nicht. Auch im Fall, dass Teile internationaler Friedenstruppen bei ihrem Einsatz völkerrechtliche Kernverbrechen (vgl. dazu Ziff. 1.4.1) begehen würden, käme der Grundsatz der Komplementarität zum Zug, wonach der Internationale Strafgerichtshof nur dann zuständig wird, wenn die nationalen Behörden (in diesem
Fall die Behörden der Entsendestaaten) diese Verbrechen nicht ernsthaft verfolgen. An einer Strafverfolgung hat aber jeder Staat, der ein Kontingent im Rahmen internationaler Friedenstruppen zur Verfügung stellt, grösstes Interesse. Die Gefahr, dass internationale Friedenstruppen bei ihren Einsätzen Verbrechen in grossem Ausmass begehen, ohne dass die Entsendestaaten dagegen eingreifen, ist deshalb gering. Und sollte dieser Fall doch einmal eintreten, so wäre unverständlich, warum der Gerichtshof ausgerechnet vor diesen Verbrechen die Augen verschliessen sollte.

Möglicherweise sind die geäusserten Befürchtungen letztlich mehr darauf ausgerichtet, dass die Sorge besteht, der Gerichtshof könnte sich in Fragen der Strategie oder der Einsatzdoktrin bei militärischen Einsätzen einmischen. Auch diese Bedenken scheinen unbegründet. Das Römer Statut stellt nicht die Kriegführung als solche unter Strafe, sondern nur einige besonders verwerfliche Methoden der Kriegführung, deren Strafwürdigkeit entweder bereits gewohnheitsrechtlichen Rang erlangt hat oder so allgemein anerkannt ist, dass diese Stufe der Rechtsentwicklung kurz bevorsteht. Erst das Überschreiten bestimmter, im Statut definierter Schwellen macht ein Verbrechen zu einem Verbrechen im Sinne des Statuts.

403

1.4

Die schweizerische Haltung zum Internationalen Strafgerichtshof

1.4.1

Rolle der Schweiz in den Verhandlungen und Würdigung des Verhandlungsergebnisses

Die Schweiz hat seit Beginn der Arbeiten aktiv an der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs mitgewirkt. Die wichtigsten Arbeiten wurden im Rahmen von Gremien erbracht, in denen die Schweiz vollberechtigt mitwirken konnte. Anders als bei anderen unter der Obhut der Vereinten Nationen erarbeiteten Konventionen hat die Schweiz bei der Ausarbeitung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs deshalb kaum unter ihrem Status als Nichtmitglied der Vereinten Nationen gelitten, sondern konnte ihren Einfluss im Wesentlichen in gleicher Weise geltend machen wie jeder andere Staat.

Die Schweiz war Gründungsmitglied der «Gruppe der Gleichgesinnten», der Staatenkoalition, die sich für einen starken und unabhängigen Strafgerichtshof einsetzte und nach wie vor einsetzt. Sie konnte dabei massgeblich an der Willensbildung dieser Gruppe mitwirken. An der Staatenkonferenz in Rom hat die Schweiz etwa wichtige Teile der Arbeiten am Verbrechenskatalog ­ insbesondere im Bereich der Liste der Kriegsverbrechen ­ im Rahmen der «Gruppe der Gleichgesinnten» koordiniert.

Ein besonderes Anliegen der Schweiz war die Einführung eines Systems der automatischen Gerichtsbarkeit («inherent jurisdiction»). Damit ist gemeint, dass die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs nur davon abhängt, ob ein Staat Vertragstaat ist; indem dieser Vertragspartei geworden ist, hat er automatisch seine Zustimmung zur Ausübung der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs für alle im Statut umschriebenen Verbrechen erklärt. Damit trat die Schweiz ­ und mit ihr die «Gruppe der Gleichgesinnten» ­ zum einen Vorstellungen entgegen, wonach der Gerichtshof nur dann tätig werden sollte, wenn mehrere beteiligte Staaten kumulativ ihre Zustimmung erteilt hätten. Als «beteiligte Staaten» standen zur Debatte: der Staat, dessen Angehöriger der Täter ist, der Staat, auf dessen Gebiet das Verbrechen begangen wurde, der Staat, dessen Angehöriger das Opfer ist, und der Staat, auf dessen Gebiet der mutmassliche Täter gefasst wurde. Mit der Forderung nach der automatischen Gerichtsbarkeit wurden zum andern Vorschläge abgelehnt, wonach den Staaten das Recht zukommen sollte, die Ausübung der Gerichtsbarkeit nur für bestimmte Verbrechenskategorien zu anerkennen («opting out» oder «opting in»), entweder mittels einer allgemeinen Erklärung bei der Ratifikation oder
sogar mittels einer Erklärung im Einzelfall. Derartige Systeme wären mit Sicherheit weitgehend wirkungslos geblieben. Erfreulicherweise obsiegte in Rom die einfachere, von der Schweiz verfochtene Lösung.

Um mit der Forderung nach der automatischen Gerichtsbarkeit reelle Chancen zu haben, wünschte die Schweiz eine Beschränkung der Verbrechenskategorien auf die Verbrechen, über die weltweit grosse Einigkeit herrscht. Es sind dies die so genannten völkerrechtlichen Kernverbrechen («core crimes»): Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Innerhalb dieser wenigen Kategorien verfocht die Schweiz dann jedoch verhältnismässig umfassende Definitionen dieser Verbrechen: Keinesfalls durfte die Umschreibung der Tatbestände des Statuts damit enden, dass gegenüber dem gegenwärtigen Stand des Völkerrechts (und insbesondere dem Stand des humanitären Völkerrechts) ein Rückschritt zu verzeichnen gewesen wäre. Auch diese Forderung wird durch das Statut weitgehend 404

erfüllt. Auch im Bereich der den Verbrechensdefinitionen nachgeordneten «Verbrechenselemente» (vgl. Ziff. 2.5 und Anhang 1) hat sich die Schweiz dafür eingesetzt, dass der im Statut und in der Rechtsprechung erreichte Standard des humanitären Völkerrechts gewahrt wird. In der Vorbereitungskommission hat die Schweiz deshalb auf der Grundlage von Vorarbeiten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im Bereich der Kriegsverbrechen Vorschläge für «Verbrechenselemente» eingebracht, die von einem eindrücklichen Mehr der anderen Delegationen unterstützt wurden. In ihrer heutigen Form beruhen die entsprechenden «Verbrechenselemente» weitgehend auf den schweizerischen Textvorschlägen.

Die Beschränkung der sachlichen Zuständigkeit auf Kernverbrechen hätte nach Ansicht der Schweiz auch eine grosszügige Regelung der territorialen Anknüpfung des Statuts gerechtfertigt. Wie die meisten anderen Staaten der «Gruppe der Gleichgesinnten» hatte die Schweiz gefordert, der Gerichtshof müsse zuständig werden können, wenn mindestens einer der drei folgenden Staaten Vertragspartei ist: der Staat, dessen Staatsangehöriger der Täter ist (Täterstaat), der Staat, auf dessen Gebiet das Verbrechen begangen wurde (Begehungsstaat), oder der Staat, in dem der Täter gefasst wurde (Detentionsstaat). Das Statut sieht demgegenüber nun eine auf die beiden ersten Fälle beschränkte Zuständigkeit vor13. Dies ist zu bedauern; umso wichtiger ist jedoch, dass möglichst viele Staaten dem Statut beitreten.

Die Schweiz unterstützte ausserdem die schon im Entwurf der Völkerrechtskommission angelegte Idee der Komplementarität: Der Gerichtshof steht zu den innerstaatlichen Behörden grundsätzlich in einem Verhältnis strenger Subsidiarität, verfügt aber dann über verhältnismässig weit gehende Kompetenzen, wenn einmal dargetan ist, dass ein Vertragsstaat eine Strafverfolgung nicht ernsthaft an die Hand nehmen kann oder will. Dieser Gedanke ist im Statut im Wesentlichen umgesetzt.

Um die Unabhängigkeit des Gerichtshofs von anderen Instanzen zu untermauern, unterstützte die Schweiz die Idee eines Anklägers, der von sich aus ein Verfahren eröffnen kann, bei Schlüsselentscheidungen im Gegenzug aber einer juristischen Kontrolle durch eine besondere Kammer des Gerichtshofs, der Vorverfahrenskammer, untersteht. Diese Lösung erwies sich als weitgehend
kompromissfähig.

Im Bereich des Verfahrensrechts legte die Schweiz Wert auf die Verfahrenseffizienz bei gleichzeitiger Beachtung der Rechte des Angeklagten und der Opfer. Die Rechte des Angeklagten sind im Statut vorbildlich gewahrt, und die Opfer verfügen über weit gehende Mitwirkungsmöglichkeiten. Ob die Verfahrenseffizienz ebenfalls ohne Tadel ist, wird wohl erst die Praxis weisen. Allerdings ging es hier um die schwierige Aufgabe, unterschiedliche Vorstellungen der grossen Rechtstraditionen der Welt zu einem funktionsfähigen Ganzen zu vereinen. Unter diesen Vorzeichen ist das Ergebnis auch in verfahrensmässiger Hinsicht beachtlich.

In seiner Gesamtheit und in zahlreichen Einzelfragen besitzt das Römer Statut den Charakter vielfältiger Kompromisse. Diese sind zum Teil schöpferischer Art, etwa in Teil 3 über Allgemeine Grundsätze des Strafrechts oder in den Verfahrensregeln (Teile 5­8), wo gegensätzliche Vorstellungen aus verschiedenen Rechtssystemen der Welt zu einem neuartigen Gebilde zusammengefügt werden konnten. Die eingegangenen Kompromisse sind aber zum Teil auch schmerzlich, insbesondere in der Frage der Zuständigkeit.

13

Näheres dazu unter Ziff. 2.3.1.

405

Gesamthaft darf aber festgestellt werden, dass das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in allen wichtigen Punkten den Vorstellungen und Anforderungen entspricht, welche die Schweiz an eine internationale Strafgerichtsinstanz gestellt hat. Zu unterstreichen ist ferner, dass keines der Zugeständnisse von der Art wäre, die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs zu untergraben. Die breite Zustimmung, die das Statut an der Schlussabstimmung in Rom von 120 Staaten aus allen Erdteilen, Rechtstraditionen und Kulturkreisen erfahren hat, und die ganz überwiegend positive Aufnahme des Statuts in den Kreisen der Nichtregierungsorganisationen stellen unter Beweis, dass das Statut eine solide und breit abgestützte Grundlage für eine erfolgreiche Errichtung des zukünftigen Gerichtshofs darstellt.

1.4.2

Die Haltung der Bundesbehörden

Die Schweiz unterstützt traditionell Massnahmen, welche die Wahrung und Förderung von Sicherheit und Frieden sowie der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaats zum Ziel haben. Als Depositarstaat der Genfer Konventionen von 1949 und der beiden Zusatzprotokolle sowie als Sitzstaat des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz kommt der Schweiz eine besondere Rolle bei den Anstrengungen zum Schutz, zur Weiterentwicklung und zur effektiven Durchsetzung des humanitären Völkerrechts zu.

Mit dem Beitritt zum Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 194814 wird der Tatbestand des Völkermordes in das schweizerische Recht übernommen. Die Schweiz hat überdies erfolgreich mit den beiden Adhoc-Tribunalen für Ex-Jugoslawien und Ruanda zusammengearbeitet und so dazu beigetragen, dass Straftäter ihrer gerechten Strafe zugeführt werden konnten.

Die Ratifikation des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs stellt einen weiteren logischen Schritt dieser Politik der Achtung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte dar.

1.4.3

Das Vernehmlassungsverfahren

Am 5. Juni 2000 ermächtigte der Bundesrat das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten, bei den Kantonen, den eidgenössischen Gerichten, den politischen Parteien, den Spitzenverbänden der Wirtschaft und anderen interessierten Organisationen ein Vernehmlassungsverfahren durchzuführen. Dieses dauerte bis zum 15. September 2000.

Insgesamt gingen 48 Stellungnahmen ein, davon 42 in der Sache. Die Ratifizierung des Römer Statuts wurde ­ abgesehen von einer einzigen Organisation ­ von sämtlichen Vernehmlassungsteilnehmern befürwortet, zum Teil nachdrücklich. Insbesondere haben alle 20 Kantone, die materiell Stellung nahmen, die Vorlage begrüsst.

Dem Ziel, dass sich die Schweiz nach Möglichkeit unter den ersten sechzig Staaten 14

406

Das Parlament hat den Bundesbeschluss betreffend die Genehmigung des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes am 24. März 2000 genehmigt. Am 7. September 2000 hat die Schweiz ihren Beitritt zum Übereinkommen erklärt; der Tatbestand des Völkermords wird im schweizerischen Strafgesetzbuch auf den 15. Dez. 2000 in Kraft gesetzt.

befindet, die das Statut ratifizieren, wurde ganz überwiegend ein hoher Stellenwert zugemessen. Aus fast allen Stellungnahmen ergab sich ferner, dass eine sorgfältige Umsetzungsgesetzgebung für erforderlich gehalten wird.

Die Erläuterungen zum Statut und die Entwürfe zur Umsetzung der daraus fliessenden Verpflichtungen haben insgesamt eine sehr positive Aufnahme gefunden. Zahlreiche Anregungen sind bezüglich rechtlicher Einzelfragen eingegangen, die in der vorliegenden Botschaft zum Teil berücksichtigt wurden. Vereinzelt wurde eine Änderung der Bundesverfassung verlangt.

2

Besonderer Teil: Inhalt und Anwendungsbereich des Statuts

2.1

Allgemeines

Das Römer Statut ist ein umfangreiches Vertragswerk, das 128 zum Teil ausführliche Artikel umfasst. Es weist neben einer Präambel dreizehn Teile auf. Teil 1 enthält institutionelle Bestimmungen. Teil 2 behandelt die Fragen der Gerichtsbarkeit, der Zulässigkeit und des anwendbaren Rechts. Dieser Teil kann als der zentrale Teil des Statuts bezeichnet werden: Darin werden nicht nur die Verbrechen definiert, für deren Beurteilung der Gerichtshof zuständig ist, sondern auch die Wesenszüge des Gerichtshofs insgesamt festgehalten (Komplementarität, Zulässigkeitsvoraussetzungen, Auslösung des Verfahrens, örtliche Zuständigkeit). Teil 3 enthält allgemeine Grundsätze des Strafrechts. Teil 4 legt die Organisation und die Verwaltung des Gerichtshofs fest. Die Teile 5, 6 und 8 regeln das Verfahren vor dem Gerichtshof. Strafarten und Strafdrohungen werden in Teil 7 behandelt. Die Teile 9 und 10 befassen sich mit der Zusammenarbeit und der Vollstreckung. Teil 11 betrifft die Versammlung der Vertragsstaaten, Teil 12 die Finanzierung. Teil 13 enthält die Schlussbestimmungen.

Im Folgenden soll das Statut in seinen wesentlichen Zügen erläutert werden.

2.2

Der Gerichtshof15

2.2.1

Institutionelles (Teil 1: Art. 1­4 und 21)

Der Internationale Strafgerichtshof beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag. Er entfaltet ­ weiter gehende separate Übereinkünfte vorbehalten ­ nur für die Vertragsstaaten Rechtsverbindlichkeit. Denkbar gewesen wären auch andere institutionelle Lösungen.

Hinsichtlich der wünschbaren Universalität des Gerichtshofs wäre eine Errichtung des Gerichtshofs auf dem Wege einer Änderung der Satzung der Vereinten Nationen von Vorteil gewesen, denn eine solche Änderung ist für alle Mitgliedstaaten der Organisation verbindlich. Eine solche Revision hätte aber die Zustimmung von zwei Dritteln aller Mitglieder sowie jene aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates erfordert (China, Frankreich, Russland, Vereinigtes Königreich und Vereinigte 15

Roy S. Lee (Hrsg.), The International Criminal Court ­ The Making of the Rome Statute ­ Issues, Negotiations, Results, Den Haag (Kluwer) 1999; Otto Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court ­ Observer's Notes, Article by Article, Baden-Baden (Nomos) 1999.

407

Staaten von Amerika). Es war schon früh klar, dass dieser Weg nicht gangbar gewesen wäre. Anders als etwa der bereits in Den Haag ansässige Internationale Gerichtshof (IGH), der sich mit zwischenstaatlichen Streitigkeiten beschäftigt16, ist der Internationale Strafgerichtshof deshalb nicht Teil der Vereinten Nationen17. Vielmehr muss er durch ein besonderes, von der Versammlung der Vertragsstaaten zu verabschiedendes Abkommen erst noch in eine Beziehung zu den Vereinten Nationen gebracht werden (Art. 2 des Statuts).

Die Schaffung eines internationalen Gerichtshofs durch Beschluss des Sicherheitsrates, wie dies bei der Errichtung der Ad-hoc-Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda der Fall war, musste ­ von rechtlichen Bedenken ganz abgesehen ­ allein schon darum ausgeschlossen werden, weil nicht mit der Zustimmung aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats gerechnet werden konnte.

Dass schliesslich die Vertragslösung gewählt werden musste, mag im Hinblick auf die nur schrittweise zu erlangende Universalität des Gerichtshofs bedauerlich erscheinen. Für die Akzeptanz dieser Instanz in der Staatenwelt ist die Vertragslösung jedoch gewiss von Vorteil.

Der Gerichtshof ist ­ im Unterschied zu allen historischen Vorläufern ­ eine ständige Einrichtung (Art. 1). Im vierten Teil des Statuts wird die praktische Bedeutung dieser Aussage ausgeführt (vgl. hinten Ziff. 2.2.2). Der Gerichtshof besitzt Völkerrechtspersönlichkeit (Art. 4). Sein Sitz ist Den Haag in den Niederlanden. Der Gerichtshof schliesst mit dem Gaststaat ein Sitzabkommen ab, das von der Versammlung der Vertragsstaaten zu genehmigen ist. Der Gerichtshof tagt normalerweise an seinem Sitz; er kann unter Umständen aber auch an einem anderen Ort tagen, wenn er dies für wünschenswert hält (Art. 3). Überhaupt kann er seine Aufgaben und Befugnisse im Hoheitsgebiet eines jeden Vertragsstaats ­ und auf Grund einer besonderen Übereinkunft im Hoheitsgebiet eines jeden anderen Staats ­ wahrnehmen (Art. 4).

Ausserdem wird schon in Teil 1 der Grundsatz der Komplementarität unterstrichen, wenn ausdrücklich betont wird, der Gerichtshof «ergänze» die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit (Art. 1). Dieses Grundprinzip der Komplementarität wird in Artikel 17 des Statuts im Detail ausgeführt (vgl. dazu hinten Ziff. 2.3.2).

Gemäss Artikel 21 wendet der
Gerichtshof in erster Linie das Statut, die «Verbrechenselemente» sowie die Verfahrens- und Beweisordnung an. An zweiter Stelle nimmt er, soweit dies angebracht ist, Bezug auf die Grundsätze und Regeln des Völkerrechts, einschliesslich der anerkannten Grundsätze des internationalen Rechts des bewaffneten Konflikts. Wo solche Grundsätze fehlen, wendet der Gerichtshof allgemeine Rechtsgrundsätze an, die er aus einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Rechtssysteme der Welt ableitet, einschliesslich, soweit angebracht, der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Staaten, die im Regelfall Gerichtsbarkeit über das Verbrechen ausüben würden. Solche Grundsätze dürfen selbstredend nicht mit dem Statut, dem Völkerrecht und den international anerkannten Regeln und Normen unvereinbar sein, so wie die gesamte Anwendung und Auslegung des anwendbaren Rechts mit international anerkannten Menschenrechten vereinbar sein muss und insbesondere keine diskriminierenden Unterscheidungen vorsehen darf.

16 17

408

Nach Art. 34 Abs. 1 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH) sind nur Staaten berechtigt, als Parteien vor dem IGH aufzutreten, SR 0.193.501.

Vgl. Kapitel XIV (Art. 92­96) der Satzung der Vereinten Nationen und Art. 1 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs.

Die Rechtsquellenordnung des Internationalen Strafgerichtshofs unterscheidet sich von derjenigen des zwischenstaatliche Streitigkeiten beurteilenden Internationalen Gerichtshofs (IGH)18, was sich durch die unterschiedlichen Aufgaben der beiden Instanzen erklärt. Bemerkenswert ist der subtile Verweis auf mögliche nationale Unterschiede bei der Rechtsanwendung durch die an Artikel 21 des Römer Statuts vorgesehene Möglichkeit, allgemeine Rechtsgrundsätze aus einzelstaatlichen Rechtsvorschriften abzuleiten, einschliesslich derjenigen von Staaten, die im Regelfall Gerichtsbarkeit über das Verbrechen ausüben würden. Damit konnte ein direkter Verweis auf nationales Recht, wie ihn noch der Entwurf der Völkerrechtskommission vorgesehen hatte19, vermieden werden. Ein solcher Verweis hätte unter Umständen die Universalität des Gerichtshofs gefährdet.

2.2.2

Zusammensetzung und Verwaltung des Gerichtshofs (Teil 4: Art. 34­52)

Der vierte Teil des Statuts regelt die Organisation des Internationalen Strafgerichtshofs, seine personelle Zusammensetzung sowie die Grundsätze seiner Verwaltung.

Kennzeichnend ist das Bemühen der Vertragsparteien, die Organisation des Gerichtshofs möglichst flexibel zu gestalten. Damit soll gewährleistet werden, dass sich die Institution jederzeit veränderten Bedürfnissen anpassen kann, ohne ihre Funktionstüchtigkeit zu gefährden. Da sich die Arbeitslast des künftigen Gerichts nicht vorhersehen lässt und damit zu rechnen ist, dass sie starken Schwankungen ausgesetzt sein wird, galt es, eine Organisationsstruktur zu finden, die solchen Schwankungen Rechnung zu tragen erlaubt und gleichzeitig sicherstellt, dass der Gerichtshof jederzeit innert kürzester Frist voll funktionsfähig ist. Während der Verhandlungen war denn auch die Einsicht weit verbreitet, dass der Gerichtshof nicht schon am ersten Tag seines Bestehens voll ausgebaut dastehen, sondern dass er mit seiner Arbeit wachsen soll. Diese Flexibilität konnte durch eine Reihe von Massnahmen erreicht werden; diese stellen ebenfalls sicher, dass das Gericht nach intensiven Arbeitsphasen auch wieder schrumpfen kann.

Der Strafgerichtshof setzt sich aus vier Organen zusammen: dem Präsidium, den Abteilungen, der Anklagebehörde sowie der Kanzlei (Art. 34). Die eigentlichen Rechtsprechungsfunktionen des Gerichts obliegen den Abteilungen, die sich in eine Berufungs-, eine Hauptverfahrens- sowie eine Vorverfahrensabteilung aufteilen. Das Richterkollegium besteht aus achtzehn Richtern.

Die verwaltungsmässige Führung des Gerichtshofes obliegt dem Präsidium, welches sich aus dem Präsidenten sowie dem Ersten und dem Zweiten Vizepräsidenten zusammensetzt. Die Richter wählen den Präsidenten und die anderen Mitglieder des Präsidiums für drei Jahre aus ihrer Mitte mit absoluter Mehrheit. Das Präsidium entscheidet unter anderem über die Zuteilung der Fälle an die Kammern und unterbreitet der Versammlung der Vertragsstaaten Anträge über Erhöhungen und Verminderungen des Richterbestandes (Art. 35, 36 und 38).

18 19

Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs.

Rapport de la Commission du droit international sur les travaux de sa 46 e session, Nations Unies, Assemblée générale, document officiel, 49e Session, 1994, A/49/10, Art. 33 des Entwurfs des Statuts.

409

Die Abteilungen und Kammern des Gerichts (Art. 39) Die Rechtsprechungsfunktionen des Gerichts werden von drei verschiedenen Abteilungen wahrgenommen: einer Vorverfahrens-, einer Hauptverfahrens- sowie einer Berufungsabteilung. Diese Einteilung entspricht dem Ablauf der Verfahren vor dem Gerichtshof, der sich in drei zeitliche Phasen einteilen lässt: Die Vorverfahrensabteilung trifft während der Phase von der Anklagebehörde geführten Ermittlungen die notwendigen richterlichen Entscheide bis hin zur abschliessenden Bestätigung der Anklagepunkte. Die Hauptverfahrensabteilung führt sodann den eigentlichen Prozess durch und fällt das Urteil. Legen entweder der Ankläger oder der Verurteilte Berufung gegen dieses ein, so geht die Rechtssache an die Berufungsabteilung weiter. Diese entscheidet abschliessend.

Die drei Abteilungen werden vom Gerichtshof in eigener Verantwortung gebildet, und zwar so bald als möglich nach der Wahl der Richter. Bei der Zuteilung der Richter zu den Abteilungen sind sowohl die Art der von jeder Abteilung wahrzunehmenden Aufgaben als auch die individuellen Befähigungen und Erfahrungen der Richter zu berücksichtigen. Die Abteilungen sollen nicht ausschliesslich aus Richtern mit strafrechtlichem oder solchen mit einem völkerrechtlichen Berufs- und Erfahrungshintergrund zusammengesetzt sein, sondern müssen eine Durchmischung beider Richtungen aufweisen. Wie schon im Entwurf der Völkerrechtskommission vorgesehen, setzen sich indes die Vor- und die Hauptverfahrensabteilungen gemäss Artikel 39 Absatz 1 vorwiegend aus Richtern mit Erfahrung in der Verhandlung von Strafsachen zusammen.

Die der Berufungsabteilung zugewiesenen Richter üben ihr Amt für die gesamte Dauer ihrer Amtszeit ausschliesslich in dieser Abteilung aus, während die Richter der Vor- und der Hauptverfahrensabteilung nur für jeweils drei Jahre einer Abteilung zugewiesen sind. Danach können sie die Abteilung wechseln, sofern alle Rechtsfälle abgeschlossen sind, deren Verhandlung in der betreffenden Abteilung bereits begonnen hat. Das Statut lässt aber noch eine weiter gehende personelle Durchmischung der Vor- und der Hauptverfahrensabteilung zu, indem das Präsidium bei grossem Arbeitsanfall Richter der einen Abteilung zeitweilig der anderen zuteilen kann. Allerdings darf ein Richter schon aus grundrechtlichen Gesichtspunkten
unter keinen Umständen zweimal in unterschiedlicher Funktion ­ einmal als Mitglied der Vor- und einmal als Mitglied der Hauptverfahrenskammer ­ in derselben Sache mitwirken.

Der wohl wichtigste Unterschied zwischen den Abteilungen besteht freilich darin, dass sich die Vor- und die Hauptverfahrensabteilung zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben in zwei oder mehr Kammern aufteilen können, während die Berufungsabteilung gleichzeitig auch die Berufungskammer bildet. Während der Verhandlungen war lange Zeit umstritten gewesen, ob eine einzige oder mehrere Vorverfahrenskammern geschaffen werden sollten. Zahlreiche Delegationen befürworteten die Bildung von mehr als einer einzigen Vorverfahrenskammer, um mehrere Verfahren parallel durchführen und damit die Arbeit des Gerichtshofs beschleunigen zu können. Dem Ruf nach grösstmöglicher Flexibilität gehorchend, verzichtete die Römer Konferenz schliesslich darauf, die Feinorganisation des Gerichts im Statut vorwegzunehmen und die Zahl der Kammern starr festzulegen. Vielmehr entschied die Konferenz, dass der Gerichtshof seine Organisation im Rahmen der fest vorgegebenen Abteilungsstruktur selbst den jeweiligen Bedürfnissen anpassen kann. Die damit für das Vorverfahren geschaffene Flexibilität wurde konsequenterweise auf die Hauptverfahrensabteilung ausgedehnt. Durch die Bildung von zwei Hauptver410

fahrenskammern soll sichergestellt werden, dass die parallele Vorarbeit der Vorverfahrenskammern nicht in einen «Flaschenhals» mündet, sondern auch im Hauptverfahren nebeneinander weitergeführt werden kann.

Einzig die Berufungsabteilung ist nicht unterteilbar und bildet als solche die Berufungskammer. Zudem zählt sie als einzige der Kammern fünf Mitglieder. Die Kammern der Hauptverfahrensabteilung zählen jeweils drei Mitglieder, und die Aufgaben der Vorverfahrensabteilung werden grundsätzlich ebenfalls von drei Mitgliedern wahrgenommen. Das Statut oder die Verfahrens- und Beweisordnung kann aber vorsehen, dass auch ein einzelner Richter der Vorverfahrensabteilung deren Aufgaben nachkommen kann. Diese Möglichkeit wird durch Artikel 57 Absatz 2 Buchstabe a eingeschränkt, der die Mitwirkung der gesamten Vorverfahrenskammer bei Entscheidungen über die Gerichtsbarkeit oder die Zulässigkeit einer Sache, bei der Entscheidung über die Genehmigung von Ermittlungen auf dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates, bei Entscheidungen über Informationen betreffend die nationale Sicherheit und im Rahmen des Anklagebestätigungsverfahrens vorsieht. Hingegen wäre beispielsweise denkbar, dass haftrichterliche Entscheidungen in erster Instanz (die Entscheidung ist beschwerdefähig) durch einen Einzelrichter der Vorverfahrenskammer getroffen werden. Sollten die Vertragsparteien zu einem späteren Zeitpunkt die Gesamtzahl der Richter erhöhen, so nehmen die neuen Richter in der Vor- oder der Hauptverfahrensabteilung Einsitz. Eine Erhöhung der Zahl der Berufungsrichter würde dagegen eine vorgängige Änderung von Artikel 39 des Statuts voraussetzen.

Die Richter (Art. 35­37 und 40) Die achtzehn Richter des Gerichts üben ihr Amt nicht alle hauptamtlich aus. Ständig am Sitz des Gerichtshofes anwesend sind nur die drei Mitglieder des Präsidiums.

Diese entscheiden auf der Grundlage des Arbeitsanfalls, inwieweit die anderen Richter ihr Amt vollzeitlich auszuüben haben. Kann sich der Gerichtshof dank dieser Regelung rasch geänderten Bedürfnissen anpassen, so müssen die nicht hauptamtlich in Den Haag anwesenden Richter ein anderweitiges festes Einkommen haben, weil Artikel 35 Absatz 4 festhält, dass sie nicht die gleiche Entlöhnung erhalten wie die ständig anwesenden Richter. Artikel 40 legt fest, dass eine solche Erwerbstätigkeit
sich nicht auf ihre richterlichen Aufgaben auswirken und das Vertrauen in ihre Unabhängigkeit nicht beeinträchtigen darf. Als Beispiele solcher Tätigkeiten wurden während der Verhandlungen das Innehaben von Universitätslehrstühlen und Richterposten in den nationalen Gerichtssystemen erwähnt. Die hauptamtlichen Richter dürfen gar keiner anderen Beschäftigung beruflicher Art nachgehen.

Eine weitere Möglichkeit zur flexiblen Anpassung des Gerichtshofes an sich ändernde Bedürfnisse stellt die Möglichkeit dar, die Zahl der Richter zu erhöhen und gegebenenfalls auch wieder zu vermindern. Jegliche Änderung der Anzahl Richter muss auf Antrag des Präsidiums von der Versammlung der Vertragsstaaten beschlossen werden. Werfen Erhöhungen grundsätzlich wenig Probleme auf, so war an der Römer Konferenz die Möglichkeit, die Zahl der Richter auch zu verringern, wenn ein Rückgang an Fällen vor dem Gerichtshof dies rechtfertigt, sehr umstritten.

Es wurde argumentiert, dass ein Stellenabbau für die Betroffenen unangenehme Folgen haben kann. Die Kompromisslösung konnte schliesslich darin gefunden werden, dass eine einmal beschlossene Reduktion nicht sofort greift, was die Entlassung von Richtern bedingen würde. Vielmehr wird die neue zahlenmässige Vorgabe dadurch erreicht, dass Richter mit abgelaufener Amtsperiode so lange nicht mehr ersetzt wer-

411

den, bis das neue Quorum erreicht ist. In keinem Fall darf die Anzahl der Richter jedoch weniger als die im Statut vorgeschriebene Mindestzahl von achtzehn betragen.

Die Richter müssen Personen von hohem sittlichem Ansehen sein, sich durch Unparteilichkeit und Ehrenhaftigkeit auszeichnen sowie fliessend Französisch oder Englisch ­ die beiden Arbeitssprachen des Gerichtes ­ sprechen. Fachlich müssen sie entweder Spezialisten des Strafrechts oder des Völkerrechts, namentlich des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, sein. Kandidaten mit Fachkenntnissen auf dem Gebiet des Straf- und des Strafverfahrensrechts müssen auch über einschlägige Erfahrung als Richter, Ankläger oder Anwalt verfügen, während Völkerrechtsspezialisten weit reichende Erfahrungen in einem Rechtsberuf, der für die richterliche Arbeit des Gerichtshofs von Bedeutung ist, nachweisen können müssen.

Durch diese Verbindung von theoretischem Fachwissen und praktischer Berufserfahrung soll sichergestellt werden, dass die Richter in der Lage sind, nicht nur die rechtlichen Fragestellungen angemessen würdigen, sondern auch die praktischen Aspekte der Prozessführung effizient meistern zu können.

Jeder Vertragsstaat kann Kandidaten für die Wahl zum Gerichtshof vorschlagen.

Diese brauchen nicht unbedingt seine eigene Staatsangehörigkeit zu besitzen, müssen aber Staatsangehörige eines Vertragsstaates sein. Für das Vorschlagsverfahren überlässt das Statut den Vertragsstaaten die Auswahl aus zwei möglichen Vorgehensweisen (Art. 36 Abs. 4): Entweder werden die Kandidaten nach dem Verfahren für die Benennung der Kandidaten für die höchsten richterlichen Ämter des jeweiligen Staates bestimmt oder aber nach dem gleichen Verfahren, wie es das Statut des 1945 gegründeten Internationalen Gerichtshofes (im Folgenden IGH-Statut)20 für die Benennung von Bewerbern für dieses Gericht vorsieht.

In der Schweiz können Bewerber für einen Sitz im Bundesgericht gemäss Reglement der Vereinigten Bundesversammlung21 sowohl von den Fraktionen als auch von jedem einzelnen Ratsmitglied vorgeschlagen werden. Das IGH-Statut überlässt die Auswahl der Kandidaten für einen Sitz im Internationalen Gerichtshof einem unabhängigen Sachverständigenausschuss, welcher die fachliche Eignung der in Frage kommenden Personen am ehesten einschätzen kann (Art. 4
IGH-Statut). Dieser Ausschuss, der vom IGH-Statut als «nationale Gruppe» bezeichnet wird, setzt sich zusammen aus den Völkerrechtsspezialisten, die ihr Land als Schiedsrichter im 1899 gegründeten Ständigen Schiedsgerichtshof vertreten. Die Schweiz ist seit 1900 Mitglied dieser Institution22. Die vier Mitglieder der schweizerischen nationalen Gruppe werden gemäss der Verordnung über die Zuständigkeit der Departemente und der ihnen unterstellten Amtsstellen zur selbstständigen Erledigung von Geschäften (Delegationsverordnung)23 vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten bestimmt24.

20 21 22

23 24

412

SR 0.193.501 SR 171.12 Vgl. Art. 23 der Konvention für die friedliche Regelung internationaler Streitigkeiten von 1899 (SR 0.193.211) sowie Art. 44 des Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle von 1907 (SR 0.193.212).

SR 172.011 Zurzeit setzt sich die Gruppe aus den ehemaligen Völkerrechtsprofessoren D. Schindler (Zürich) und J.-M. Grossen (Neuenburg), dem früheren Bundesrichter R. Patry sowie dem früheren Rechtsberater des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten, Prof. L. Caflisch, zusammen.

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass dieses Verfahren auch für die Benennung der schweizerischen Kandidaten für einen Sitz im internationalen Strafgerichtshof zur Anwendung kommen sollte. Das Verfahren zur Aufstellung von Bundesrichtern würde sich in der Tat wenig für den Strafgerichtshof eignen, weil zwar zahlreiche Verfahrensbeteiligte Kandidaten vorschlagen können, niemand aber eine Auswahl trifft, um schliesslich, wie vom Statut verlangt, nur einen einzigen Kandidaten vorzuschlagen. Diese Selektion wird erst von der Vereinigten Bundesversammlung durch die Wahl der Richter vorgenommen. Zudem sind die oben geschilderten Anforderungen an die Richter des Strafgerichtshofes derart spezifisch, dass der Entscheid, welcher Kandidat sie am ehesten erfüllt und damit die besten Chancen auf eine Wahl hat, Fachleuten überlassen bleiben soll.

Vor der Wahl der Richter durch die Versammlung der Vertragsstaaten werden zwei Listen erstellt: eine Liste mit den Kandidaten, die über eine strafrechtliche Qualifikation verfügen, und eine zweite mit den Völkerrechtsspezialisten. Die Richter werden von der Versammlung der Vertragsstaaten in geheimer Abstimmung für eine Amtsdauer von neun Jahren gewählt, wobei anlässlich der ersten Wahl eine zeitliche Staffelung vorgesehen ist: Die Amtsdauer eines Drittels der Richter wird bei der ersten Wahl durch das Los auf drei, die eines zweiten Drittels auf sechs Jahre beschränkt. Gewählt sind die Kandidaten, welche die höchste Stimmenzahl, zumindest aber eine Zweidrittelsmehrheit der anwesenden und abstimmenden Vertragsstaaten auf sich vereinen. Bei der ersten Wahl zum Gerichtshof werden mindestens neun Richter aus der ersten Liste und mindestens fünf Richter aus der zweiten Liste gewählt. Darauf folgende Wahlen sind so zu gestalten, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Völker- und Strafrechtlern gewahrt bleibt. In den Verhandlungen hat sich die Schweiz stark dafür eingesetzt, dass der Gerichtshof zu jedem Zeitpunkt über ein ausreichendes völkerrechtliches Fachwissen verfügt, wogegen andere Delegationen dafürhielten, dass die Prozessführung an sich wichtiger sei als die Kenntnis des anzuwendenden Rechts, weshalb eine Mehrzahl an Strafrechtlern wünschbar sei.

Der in Rom geschlossene Kompromiss stellt nun sicher, dass sich Völker- und Strafrechtler die Waage halten und
nicht eine der beiden fachlichen Richtungen auf der Richterbank überhand nehmen kann. Artikel 39 des Statuts hält zudem ausdrücklich fest, dass zwar in jeder Abteilung eine angemessene Mischung von Fachwissen auf dem Gebiet des Straf- und des Strafverfahrensrechts sowie des Völkerrechts vorhanden sein muss, dass aber die Hauptverfahrens- und die Vorverfahrensabteilung mehrheitlich aus Richtern mit Erfahrung auf dem Gebiet der Verhandlung von Strafsachen bestehen sollen.

Etwas flexibler handhabt das Statut die übrigen Anforderungen an das Richtergremium: Artikel 36 Absatz 8 des Statuts legt fest, dass die Vertragsstaaten bei der Auswahl der Richter die Notwendigkeit berücksichtigen, sowohl die Vertretung aller hauptsächlichen Rechtssysteme der Welt, eine gerechte geografische Verteilung als auch eine ausgewogene Vertretung weiblicher und männlicher Richter zu gewährleisten. Auch die Wahl von Richtern mit juristischen Fachkenntnissen auf dem Gebiet der Gewalt gegen Frauen oder Kinder wird ausdrücklich ermutigt. Um die Unabhängigkeit der Richter zu gewährleisten, ist schliesslich ihre Wiederwahl ausgeschlossen (eine Ausnahme besteht nur für die Richter, deren Amtsdauer ­ wegen der zeitlichen Staffelung bei der ersten Wahl ­ durch das Los auf drei Jahre beschränkt wurde). Dadurch werden die Richter vor Druck- und Beeinflussungsversuchen durch die Staaten geschützt.

413

Die Anklagebehörde und die Kanzlei (Art. 42 und 43) Die Anklagebehörde und die Kanzlei bilden gemäss Artikel 34 je eigene Organe des Gerichtshofes. Allerdings ist die Anklagebehörde in der Ausübung ihrer Aufgaben sehr viel unabhängiger als die Kanzlei. Artikel 42 betont, dass die Anklagebehörde als selbstständiges Organ des Gerichtshofs handelt, und Artikel 38 nimmt sie ausdrücklich von der Verwaltungshoheit des Präsidiums aus. Die Anklagebehörde nimmt Unterbreitungen und Informationen über Verbrechen entgegen, die der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterliegen, führt die Ermittlungen durch und vertritt die Anklage vor dem Gerichtshof. Geleitet wird die Behörde vom Ankläger, der hauptamtlich tätig ist und von der Versammlung der Vertragsstaaten gewählt wird.

Ihm zur Seite stehen ein oder mehrere Stellvertreter, die alle Handlungen ausüben können, welche das Statut dem Ankläger überantwortet.

Die Kanzlei (Art. 43) bildet zwar auch ein Organ des Gerichtshofes, untersteht aber der Aufsicht des Präsidenten. Ihr obliegt mit Ausnahme der Anklagebehörde die Verwaltung des ganzen Gerichtes, welchem sie als Stabsstelle dient. Neben ihren rein administrativen Aufgaben obliegt ihr auch die Betreuung der Opfer und Zeugen, deren Anwesenheit am Gericht notwendig ist. Für diese richtet der Kanzler eine eigene Abteilung ein, welche die geeigneten Schutzmassnahmen, Hilfs- und Sicherheitsvorkehrungen trifft. Ein ursprünglicher Vorschlag, die Zeugen der Anklage von den übrigen zu trennen und direkt vom Büro des Anklägers betreuen zu lassen, wurde erst in Rom zu Gunsten dieser Lösung fallen gelassen.

Weitere Bestimmungen Der Gerichtshof hat sowohl Amts- als auch Arbeitssprachen (Art. 50). Diese Lösung stellt sicher, dass die politische Forderung nach einer möglichst universellen Ausstrahlung des Gerichts nicht durch ein undurchdringliches Sprachengewirr dessen Arbeit lähmt. Seine tägliche Arbeit verrichtet der Gerichtshof in französischer und englischer Sprache. Alle Urteile sowie Entscheide über grundlegende Fragen werden sodann in die sechs UNO-Sprachen ­ Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Russisch und Chinesisch ­ übersetzt. Diese Aufteilung wurde auch aus Kostengründen gewählt.

Die Verfahrens- und Beweisregeln des Gerichtes schliesslich werden von der Vorbereitungskommission erarbeitet und von der
Versammlung der Vertragsstaaten mit Zweidrittelsmehr verabschiedet (Art. 51). In Teil 4 bedürfen der weiteren Ausführung in der Verfahrens- und Beweisordnung insbesondere die Bestimmungen, die sich mit der Freistellung und dem Ausschluss von Richtern (Art. 41) oder mit der Amtseinsetzung, der Amtsenthebung und den Disziplinarmassnahmen (Art. 45­47) befassen. Daneben gibt sich das Gericht selber seine Geschäftsordnung (Art. 52).

2.3

Zuständigkeit des Gerichtshofs

2.3.1

Ausübung der Gerichtsbarkeit (Art. 12)

Nach Artikel 12 erkennt ein Staat, der Vertragspartei des Statuts wird, die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die in Artikel 5 aufgeführten Verbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und die noch näher zu definierende Aggression) automatisch an. Diese automatische Gerichtsbarkeit («inherent jurisdiction») war im Entwurf der Völkerrechtskommission von 1994 nur für das Verbrechen des Völkermordes, nicht aber für alle übrigen Verbrechen vorge414

sehen25. Die Ausübung der Gerichtsbarkeit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder für Kriegsverbrechen durch den Gerichtshof wäre also selbst im Verhältnis zu Vertragsstaaten noch von deren vorgängiger Zustimmung für das in Frage stehende Verbrechen abhängig gewesen. Einige Staaten hatten im Verlaufe der Verhandlungen sogar noch weiter gehend vorgeschlagen, der Gerichtshof dürfe seine Gerichtsbarkeit nur ausüben, wenn a) der Staat, auf dessen Territorium das Verbrechen begangen wurde, b) der Staat, dessen Angehöriger der Täter ist, c) der Staat, dessen Angehöriger das Opfer ist, und d) der Staat, auf dessen Gebiet der mutmassliche Täter gefasst wurde, ihre jeweiligen Zustimmungen zur Ausübung der Gerichtsbarkeit erteilt hätten. Damit wäre das Statut nicht nur zu einer «À-la-carte»Konvention verkommen; der Gerichtshof hätte, um in einem konkreten Fall tätig werden zu können, sich auch noch der kumulativen Zustimmung aller «beteiligten Staaten» in Bezug auf die in Frage stehenden Verbrechenskategorien versichern müssen. Ein solches System hätte den Gerichtshof in vielen Fällen blockiert. Dass mit der Annahme der automatischen Gerichtsbarkeit, basierend auf alternativen und nicht auf kumulativen Anknüpfungskriterien, schliesslich eine einfache und konsequente Lösung Eingang ins Statut gefunden hat, darf als grosser Erfolg gewertet werden.

Überdies sieht das Statut vor, dass auch ein Staat, der nicht Vertragspartei des Statuts ist, die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs durch Hinterlegung einer entsprechenden Erklärung beim Kanzler des Gerichtshofs anerkennen kann. Das Statut sagt hierzu, dass eine solche Anerkennung «in Bezug auf ein bestimmtes Verbrechen» erfolgen soll (Art. 12 Abs. 3). Dies kann nach allgemeiner Auffassung nur bedeuten, dass eine Anerkennung nicht für ein ganz bestimmtes Verbrechen, zum Beispiel ein vom Gegner begangenes Kriegsverbrechen, zulässig sein kann, sondern als Anerkennung für sämtliche Verbrechen gelten muss, die für eine bestimmte Situation von Bedeutung sind. Ein Nichtvertragsstaat, der die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Artikel 12 Absatz 3 anerkennt, muss mit dem Gerichtshof wie ein Vertragsstaat zusammenarbeiten. Er unterliegt damit sämtlichen, sich aus Teil 9 ergebenden Verpflichtungen des Statuts.

Die Frage der Anknüpfung für die Ausübung der Gerichtsbarkeit
des Internationalen Strafgerichtshofs war lange umstritten. Gemäss Artikel 12 Absatz 2 kann der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit ausüben, wenn entweder der Staat, in dessen Hoheitsgebiet das fragliche Verhalten stattgefunden hat (Begehungsstaat), oder der Staat, dessen Staatsangehörigkeit die des Verbrechens beschuldigte Person besitzt (Täterstaat), Vertragspartei des Statuts ist (beziehungsweise die Gerichtsbarkeit gemäss dem vorerwähnten Artikel 12 Absatz 3 anerkannt hat). Die «Gruppe der Gleichgesinnten» und mit ihr die Schweiz hätte gerne einen weiteren Anknüpfungspunkt im Statut verankert gesehen: den Staat, in dessen Gebiet die des Verbrechens beschuldigte Person gefasst wurde (Detentionsstaat). Diese Forderung musste am Ende der Römer Konferenz leider preisgegeben werden, um das Konzept der automatischen Gerichtsbarkeit im Statut verankern zu können. Mit der Anknüpfung an den Begehungs- oder den Täterstaat allein verfügt der Gerichtshof mindestens in einer ersten Phase nach dem Inkrafttreten des Statuts noch über keine Gerichtsbarkeit, die ihrem universellen Anspruch gerecht würde. Die universale Ausstrahlung des Statuts muss mit der steigenden Anzahl der Ratifikationen (oder Anerkennungs25

Rapport de la Commission du droit international sur les travaux de sa 46 e session, Nations Unies, Assemblée générale, document officiel, 49e Session, 1994, A/49/10, Art. 21 des Entwurfs des Statuts.

415

erklärungen) vielmehr erst noch wachsen. Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass einigen Staaten schon die im Statut vorgesehene bescheidene Lösung zu weit geht, weil damit ihre eigenen Staatsangehörigen potenziell der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs unterstehen, sobald sie ein Verbrechen auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates begehen. Dagegen ist einzuwenden, dass alle Staaten seit jeher die auf ihrem eigenen Staatsgebiet begangenen Verbrechen unabhängig von der Nationalität des Täters verfolgen und diesen verurteilen. Die als Ergänzung zur innerstaatlichen Strafgerichtsbarkeit konzipierte Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs führt diesen Grundsatz nur auf eine höhere Ebene.

Schliesslich ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof dann nicht an die vorstehend erläuterten Schranken der Anknüpfung gebunden ist, wenn der Sicherheitsrat gestützt auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen dem Gerichtshof eine Situation unterbreitet (Art. 13 Bst. b).

Eine Ausnahme von den hier erläuterten allgemeinen Regeln stellt Artikel 124 dar, der in Ziffer 2.12 (Schlussbestimmungen) erläutert wird.

2.3.2

Komplementarität (Art. 17)

Die Zuständigkeit des Gerichtshofs verhält sich zur innerstaatlichen Strafverfolgung komplementär. Selbst beim Vorliegen schwerster Straftaten von internationalem Belang sollen in erster Linie die zuständigen innerstaatlichen Behörden mit der Strafverfolgung betraut sein. Dieser schon im Entwurf der Völkerrechtskommission von 1994 vorgesehene26 und in den Verhandlungen unbestrittene Grundgedanke stellt gegenüber allen historischen Vorläufern internationaler Strafgerichte, einschliesslich der beiden Ad-hoc-Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda, eine Neuheit dar. Der als ständige Einrichtung konzipierte Internationale Strafgerichtshof soll einzig dort eingreifen müssen, wo im Einzelfall ein echtes Bedürfnis für eine zwischenstaatliche Instanz ausgewiesen ist. Der Gerichtshof soll sich nur dann einschalten, wenn das an sich zuständige Land unwillig oder unfähig ist, die Strafverfolgung in angemessener Weise zu betreiben. Die internationale Strafgerichtsbarkeit ergänzt die nationale, der nach wie vor Vorrang zukommt, also nur punktuell.

Damit stellt das Römer Statut eine massgeschneiderte Lösung für die tatsächlich bestehenden Bedürfnisse zur Verfügung. Durch die komplementäre Ausgestaltung wird eine unnötige Aufblähung eines internationalen Apparats vermieden und gleichzeitig die Strafhoheit der Vertragsstaaten so weit wie möglich geschont. Der Sinn des Römer Statuts besteht darin, Lücken in der Strafverfolgung zu füllen, wo klare Anzeichen bestehen, dass ansonsten eine für die internationale Gemeinschaft unerträgliche Straflosigkeit die Folge wäre. Gleichzeitig wird mit dieser Konzeption die primäre Verantwortung der Einzelstaaten für die Strafverfolgung unterstrichen, was nicht das geringste Verdienst des Römer Statuts darstellen dürfte.

Die Komplementarität wird in Artikel 17 des Statuts als eine Frage der Zulässigkeit behandelt. Einleitend wird dort festgestellt, die Bestimmung sei im Hinblick auf das in der Präambel (Abs. 10) und in Artikel 1 verankerte Komplementaritätsprinzip zu lesen. Artikel 17 führt sodann eine Reihe von Kriterien an, auf Grund deren eine Sache als unzulässig erachtet werden muss. Wichtig ist in erster Linie, dass es der Gerichtshof ist, der über diese Fragen befindet (Kompetenzkompetenz). Der Gerichts26

416

A.a.O., Abs. 3 der Präambel und Art. 35 des Entwurfs.

hof entscheidet, eine Sache sei nicht zulässig, wenn in «der Sache von einem Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen oder eine Strafverfolgung durchgeführt werden, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen». Eine Sache ist auch unzulässig, wenn «in der Sache von einem Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen durchgeführt worden sind und der Staat entschieden hat, die betreffende Person nicht strafrechtlich zu verfolgen, es sei denn, die Entscheidung war das Ergebnis des mangelnden Willens oder des Unvermögens des Staates, eine Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen». Eine Sache ist überdies unzulässig, wenn die «betreffende Person wegen des Verhaltens, das Gegenstand des Tatvorwurfs ist, bereits gerichtlich belangt worden ist», sofern nicht eine Ausnahmebestimmung greift (die unter «ne bis in idem» erläutert wird: Ziff. 2.3.4). Schliesslich ist eine Sache unzulässig, wenn sie «nicht schwerwiegend genug ist, um weitere Massnahmen des Gerichtshofs zu rechtfertigen».

Nach Absatz 2 muss der Gerichtshof bei der Prüfung des «mangelnden Willens» eines Staates die völkerrechtlich anerkannten Grundsätze eines ordnungsgemässen Verfahrens berücksichtigen. Dabei kann er feststellen, dass das Verfahren geführt wird, um die betreffende Person vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit für die in der Zuständigkeit des Gerichtshofs liegenden Verbrechen zu schützen, oder dass sonstige Umstände vorliegen, die mit der Absicht unvereinbar sind, die betreffende Person tatsächlich zur Rechenschaft zu ziehen («de traduire en justice»/«to bring to justice»).

Der «Unfähigkeit» des betreffenden Staates zur Durchführung eines Strafverfahrens wird in Absatz 3 von Artikel 17 näher ausgeführt: Als «unfähig» gilt ein Staat, dessen innerstaatliches Justizsystem völlig oder weitgehend zusammengebrochen oder nicht verfügbar ist, um den mutmasslichen Täter zu fassen, Beweismittel und Zeugenaussagen zu erlangen oder ein Verfahren durchzuführen.

Der Komplementaritätsgedanke ist Ausdruck des föderalistischen Prinzips, wonach Probleme auf der Stufe geregelt werden sollten, wo sie am besten gelöst werden können. Solange die staatlichen Instanzen zu einer ernsthaften Strafverfolgung im Bereich der Kernverbrechen des Völkerrechts fähig und willens sind, braucht die internationale Instanz nicht einzuschreiten; die Strafhoheit der Vertragsstaaten bleibt unberührt.

2.3.3

Auslösung der Verfahren (Art. 13­15, 18 und 19)

Mit der Regelung der Zulässigkeitsfrage ist noch nichts darüber ausgesagt, wer ein Verfahren vor dem Gerichtshof auslösen kann und welches Prozedere dabei zu befolgen ist. Die Antworten auf diese Fragen finden sich in den Artikeln 13­15, beziehungsweise 18 und 19 des Statuts.

Stets unbestritten war zunächst, dass die Staaten ein Verfahren vor dem Gerichtshof auslösen können. Artikel 14 des Statuts sieht vor, dass ein Vertragsstaat eine «Situation», in der anscheinend ein Verbrechen im Sinne des Statuts begangen wurde, dem Ankläger unterbreiten kann, der die Sache daraufhin untersucht.

Umstrittener war schon die Frage, ob auch der Sicherheitsrat den Gerichtshof mit einer Situation befassen könne. Gegen diese Möglichkeit wurde etwa angeführt, dem Sicherheitsrat dürften im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages ­ bei dem weder er selbst noch mit Bestimmtheit die Gesamtheit seiner ständigen und nicht stän417

digen Mitglieder Vertragspartei seien ­ keine Kompetenzen eingeräumt werden.

Diesem auf den ersten Blick einleuchtenden Argument standen aber andere Erwägungen entgegen: Der Sicherheitsrat hatte in der Vergangenheit auf der Grundlage von Kapitel VII der Satzung der Vereinten Nationen zwei Ad-hoc-Tribunale eingesetzt. Einer der Gründe für die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs im Sinne einer ständigen Einrichtung bestand gerade darin, die Schaffung solcher Sondergerichte zu Gunsten des ständigen Strafgerichtshofs in Zukunft unnötig zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen, musste dem Sicherheitsrat ermöglicht werden, an den Internationalen Strafgerichtshof zu gelangen. Die Einräumung der Möglichkeit, ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof auszulösen, bedeutet weniger, dem Sicherheitsrat neue Zuständigkeiten zu gewähren, als vielmehr Zuständigkeiten zu anerkennen, die der Rat unter der Satzung der Vereinten Nationen bereits wahrnimmt. Artikel 13 Buchstabe b des Statuts folgt nun diesem Gedanken und sieht vor, dass der Sicherheitsrat, der nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen tätig wird, dem Ankläger eine Situation, in der anscheinend ein Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs begangen wurde, zur weiteren Untersuchung unterbreiten kann.

Noch umstrittener war die dritte Frage, ob der Gerichtshof tätig werden könne, indem der Ankläger von sich aus entscheidet, ein Verfahren auszulösen. Die Gegner dieses Vorstosses machten geltend, damit werde dem Ankläger eine allzu starke Stellung eingeräumt, die für politische Zwecke missbraucht werden könnte. Auf Druck der «Gruppe der Gleichgesinnten» wurde dem Ankläger das Recht, aus eigener Initiative Ermittlungen über Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs einzuleiten, schliesslich erteilt. Institutionelle und verfahrensmässige Absicherungen sollen der Gefahr der «Politisierung» dieses Amtes jedoch Einhalt gebieten. So können bestimmte Untersuchungshandlungen des Anklägers und insbesondere die Anklageerhebung von der Vorverfahrenskammer rechtlich überprüft werden.

Nach Artikel 15 kann der Ankläger auf der Grundlage irgendwelcher Informationen, die er auf seine Stichhaltigkeit überprüft hat, Ermittlungen einleiten. Er kann von Staaten, Organen der Vereinten Nationen, zwischenstaatlichen oder
nichtstaatlichen Organisationen oder anderen geeigneten Stellen zusätzliche Auskünfte einholen und kann am Sitz des Gerichtshofs schriftliche oder mündliche Zeugenaussagen entgegennehmen. Gelangt der Ankläger zum Schluss, es bestehe eine hinreichende Grundlage für die Aufnahme von Ermittlungen, so legt er der Vorverfahrenskammer einen entsprechenden Antrag vor. Ist die Vorverfahrenskammer vom Antrag und von dessen Begründung überzeugt, so erteilt sie die Genehmigung zur Einleitung von Ermittlungen. Dieser Entscheid präjudiziert in keiner Weise spätere Entscheidungen des Gerichtshofs in Fragen der Gerichtsbarkeit oder der Zulässigkeit einer Sache. Verweigert die Vorverfahrenskammer die Genehmigung, so schliesst dies umgekehrt nicht aus, dass der Ankläger gestützt auf neue Tatsachen oder Beweismittel später einen neuen Antrag vorbringt.

Artikel 18 beschreibt das Verfahren, nach dem der Gerichtshof eine vorläufige Entscheidung über die Zulässigkeit trifft. Leitet der Ankläger Ermittlungen ein, weil ein Vertragsstaat ihm eine Situation unterbreitet hat oder weil er aus eigener Initiative tätig wird, so benachrichtigt er alle Vertragsstaaten und andere Staaten, die die Gerichtsbarkeit über die betreffenden Verbrechen im Regelfall ausüben würden. Diese Mitteilung kann vertraulich erfolgen. Ein Staat, der selbst entsprechende Ermittlungen führt oder geführt hat, kann den Gerichtshof daraufhin innert eines Monats davon in Kenntnis setzen. Auf Ersuchen dieses Staates stellt der Ankläger seine Er418

mittlungen zu Gunsten der Ermittlungen des Staates zurück, es sei denn, die Vorverfahrenskammer beschliesst, den Ankläger zu den Ermittlungen zu ermächtigen.

Hat der Ankläger seine Ermittlungen zurückgestellt, so kann er den betreffenden Staat ersuchen, ihn regelmässig über den Fortgang seiner Ermittlungen und die anschliessende Strafverfolgung zu unterrichten. Jeder nach Artikel 18 getroffene Entscheid ist vorläufiger Natur und beinhaltet keinen definitiven Entscheid über die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs oder die Zulässigkeit einer Sache. Dennoch bildet schon ein solcher Entscheid wegen seiner schwerwiegenden Folgen für alle Verfahrensbeteiligten eine beschwerdefähige Zwischenverfügung, die in einem Summarverfahren bei der Berufungskammer angefochten werden kann.

Die eigentliche Entscheidung über die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs oder die Zulässigkeit einer Sache ergeht nach Artikel 19 des Statuts. Das Statut bestimmt nicht, zu welchem Zeitpunkt ein solcher Entscheid genau stattzufinden hat, sondern legt nur die Richtlinien fest. Nach Artikel 19 Absatz 1 vergewissert sich der Gerichtshof, dass er in jeder bei ihm anhängig gemachten Sache Gerichtsbarkeit hat.

Der Gerichtshof kann aus eigener Initiative über die Zulässigkeit einer Sache nach Artikel 17 entscheiden. Die Zulässigkeit einer Sache und die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs können angefochten werden von einem Angeklagten oder einer Person, gegen die ein Haftbefehl oder eine Vorladung des Gerichtshofs ergangen ist, einem Staat, der in der Sache Ermittlungen oder eine Strafverfolgung durchführt oder durchgeführt hat, sowie einem Staat, der nach Artikel 12 die Gerichtsbarkeit anerkannt haben muss (Begehungsstaat oder Täterstaat). Jede dieser Personen oder jeder dieser Staaten kann die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs nur einmal anfechten. Dabei hat die Anfechtung in der Regel vor oder bei Eröffnung des Hauptverfahrens zu erfolgen. In diesem Fall entscheidet die Vorverfahrenskammer die Frage. Wird die Anfechtung ausnahmsweise erst im Hauptverfahren vorgebracht, so entscheidet die Hauptverfahrenskammer. Gegen Entscheidungen über die Gerichtsbarkeit oder die Zulässigkeit kann bei der Berufungskammer Beschwerde eingelegt werden. Der Ankläger kann die Frage der Zulässigkeit oder der Gerichtsbarkeit auch von sich aus dem Gerichtshof
vorlegen. Ein Verfahren nach Artikel 19 hat grundsätzlich aufschiebende Wirkung insofern, als der Ankläger seine Ermittlungen aussetzt, bis der Gerichtshof eine Entscheidung getroffen hat. Allerdings kann der Ankläger um Ermächtigung ersuchen, notwendige Ermittlungsmassnahmen zum Zweck der Sicherung von Beweismitteln weiterzuführen (wenn etwa eine einmalige Gelegenheit zur Beschaffung wichtiger Beweismittel oder eine erhebliche Gefahr besteht, dass Beweismittel später nicht verfügbar sein werden). Ausserdem kann er mittels der Ermächtigung des Gerichtshofs schriftliche oder mündliche Zeugenaussagen einholen oder die Erhebung und Prüfung von Beweismitteln abschliessen, mit der vor Erklärung der Anfechtung begonnen worden war. Schliesslich kann er in Zusammenarbeit mit den in Betracht kommenden Staaten die Flucht von Personen verhindern, für die er bereits einen Haftbefehl beantragt hat. Entscheidet der Gerichtshof im Verfahren von Artikel 19, dass die Voraussetzungen der Zulässigkeit nach Artikel 17 nicht gegeben sind, so kann der Ankläger eine Überprüfung dieser Entscheidung nur beim Vorliegen neuer Tatsachen beantragen, die dem früheren Entscheid die Grundlage entziehen.

Gesamthaft ist festzuhalten, dass in der kritischen Phase der Auslösung des Verfahrens und des Übergangs der Zuständigkeit von der nationalen in die internationale Rechtssphäre vielfältige institutionelle und verfahrensmässige Absicherungen bestehen. Dem Ankläger kommt eine verhältnismässig starke und unabhängige Stellung zu, da er von sich aus ein Verfahren einleiten kann. Allerdings ist er in den entschei419

denden Momenten einer rechtlichen Kontrolle der Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs unterworfen.

2.3.4

«Ne bis in idem» und Nichtrückwirkung (Art. 20 und 11)

An dieser Stelle zu erwähnen sind zwei weitere Merkmale des Statuts: das Verbot der doppelten Strafverfolgung und das Rückwirkungsverbot.

Artikel 20 umschreibt den Grundsatz «ne bis in idem», das Verbot der doppelten Strafverfolgung eines Täters wegen derselben Tat. Dieses Verbot wird hier in drei verschiedenen Zusammenhängen erwähnt. Es gilt einmal mit Bezug auf den Gerichtshof selbst: Niemand darf wegen eines Verhaltens vor den Gerichtshof gestellt werden, für das er vom Gerichtshof bereits verurteilt oder freigesprochen wurde (ausgenommen sind selbstverständlich die im Statut selbst vorgesehenen Berufungsund Wiederaufnahmeverfahren). Das Verbot gilt sodann auch gegenüber den innerstaatlichen Behörden: Niemand darf wegen eines Verbrechens, dessentwegen er vom Gerichtshof bereits verurteilt oder freigesprochen wurde, vor ein anderes Gericht gestellt werden.

Schliesslich gilt das Verbot in der umgekehrten Richtung: Niemand, der wegen eines auch nach Artikel 6, 7 oder 8 verbotenen Verhaltens vor ein anderes (insbesondere ein innerstaatliches) Gericht gestellt wurde, darf vom Gerichtshof für dasselbe Verhalten belangt werden. Diese letzte Aussage gilt aber dann nicht, wenn das Verfahren vor dem anderen Gericht a.

dem Zweck diente, die Person vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu schützen, oder

b.

in einer Art und Weise geführt wurde, die unter den gegebenen Umständen mit der Absicht, die betreffende Person zur Rechenschaft zu ziehen, unvereinbar war.

Der Grundsatz «ne bis in idem» bildet hier gewissermassen das individualrechtliche Spiegelbild des in Artikel 17 verankerten Komplementaritätsgrundsatzes.

Ein zweiter Wesenszug des Statuts ist seine Nichtrückwirkung. Gemäss Artikel 11 des Statuts ist der Gerichtshof nur für Verbrechen zuständig, die nach dem Inkrafttreten des Statuts (beziehungsweise nach dem Inkrafttreten für den Staat, an dessen Eigenschaft als Vertragspartei die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs anknüpft: Art. 12) begangen werden. Etwas anderes gilt nur in dem Sonderfall, dass ein Staat, ohne Vertragspartei zu werden, nach Artikel 12 Absatz 3 eine Erklärung abgibt, die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs anzuerkennen. Die Nichtrückwirkung des Statuts mag mit Blick auf die bis zum heutigen Tag weltweit begangenen Untaten gewiss bedauert werden. Diese strikte Lösung war hingegen aus politischen und rechtsstaatlichen Erwägungen der einzig gangbare Weg zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs. Um so wichtiger ist bei dieser Ausgangslage, dass eine grosse Anzahl von Staaten das Statut so bald als möglich ratifiziert.

420

2.4

Das Verhältnis des Gerichtshofs zu den Vereinten Nationen, insbesondere zum Sicherheitsrat27

Es wurde bereits darauf hingewiesen (Ziff. 2.2.1), dass der Internationale Strafgerichtshof eine durch einen völkerrechtlichen Vertrag geschaffene Instanz darstellt, ein «Vertragsorgan». Der Gerichtshof ist insbesondere kein Organ der Vereinten Nationen und ist diesen gegenüber auch nicht rechenschaftspflichtig. Das Römer Statut und dessen Fortentwicklung auf dem Wege der Revision liegt überdies nicht etwa in der Verantwortung eines Organs der Vereinten Nationen (beispielsweise der Generalversammlung); vielmehr wird eine Versammlung der Vertragsstaaten die Geschicke des Gerichtshofs begleiten (Art. 112).

Die Möglichkeit des Sicherheitsrats, im Rahmen seiner Kompetenzen gemäss Kapitel VII der UNO-Charta dem Gerichtshof eine Situation zu unterbreiten, wurde ebenfalls bereits erläutert (Ziff. 2.3.3). Ein solcher Fall könnte für die Vereinten Nationen unter anderem finanzielle Konsequenzen auslösen (Art. 115 Bst. b). Diese und andere Fragen werden von der ersten Versammlung der Vertragsstaaten nach Inkrafttreten des Statuts eingehender erörtert werden, wo unter anderem über die Finanzordnung des Gerichtshofs und über ein Abkommen zwischen dem Gerichtshof und den Vereinten Nationen zu beraten sein wird.

Erst am Rande erwähnt (Ziff. 1.3), aber noch nicht erläutert wurde Artikel 16 des Statuts. Diese Bestimmung gibt dem Sicherheitsrat die Möglichkeit, mit einem Ersuchen an den Gerichtshof zu gelangen; in dessen Folge dürfen für einen Zeitraum von zwölf Monaten keine Ermittlungen und keine Strafverfolgung eingeleitet oder fortgeführt werden. Diese Kompetenz des Sicherheitsrats, in ein juristisches Verfahren einzugreifen, scheint auf den ersten Blick überraschend und schwer verständlich.

Sie ergibt sich aber aus einem berechtigten Anliegen. Zweck des Gerichtshofs ist es, Kapitalverbrechen, welche die gesamte Menschheit betreffen, zu bestrafen und dadurch eine präventive und mittelbar stabilisierende Wirkung zu erzeugen. Der Sicherheitsrat hat eine unmittelbar friedensstiftende und -erhaltende Funktion. Die Aufgaben dieser beiden Instanzen ergänzen sich in der Regel; in Ausnahmefällen kann es jedoch zu Friktionen kommen. Um seiner Rolle gerecht zu werden, kann der Sicherheitsrat gezwungen sein, in kritischen Phasen eines Konflikts mit Führern von Konfliktparteien Verhandlungen zu führen, obwohl diese
Personen mit Verbrechen belastet sind. Eine Festnahme solcher Personen durch den Internationalen Strafgerichtshof oder eine Anklageerhebung durch ihn könnte eine Friedenslösung in einem solchen Ausnahmefall unter Umständen verunmöglichen. Das Dilemma zwischen dem unmittelbaren Interesse, den Frieden zu bewahren oder wiederherzustellen, und dem (lediglich mittelbar Frieden stiftenden) Interesse, Kapitalverbrechen zu bestrafen, ist schwierig aufzulösen.

Der im Statut vorgenommene Ausgleich besteht darin, dass der Sicherheitsrat unter Berufung auf Kapitel VII der UNO-Charta eine Resolution fassen kann, die den Gerichtshof anweist, bei den Ermittlungen und der Strafverfolgung ein Moratorium von zwölf Monaten einzuhalten. Dieser Aufschub kann durch weitere Resolutionen verlängert werden. Die Feinheit dieser Lösung besteht darin, dass auf Grund der internen Bestimmungen über die Beschlussfassung des Sicherheitsrates (Art. 27 Abs. 3 der UNO-Charta) das Veto eines einzigen ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats genügt, um eine solche Resolution zu Fall zu bringen. In diesem Zusammenhang 27

Pascal Arnold, Der UNO-Sicherheitsrat und die strafrechtliche Verfolgung von Individuen, Basel, Genf, München (Helbing & Lichtenhahn) 1999.

421

wurde von Seiten einiger Nichtregierungsorganisationen bereits von einem «konstruktiven Veto» gesprochen, nämlich einem Veto zu Gunsten der Fortsetzung des internationalen Gerichtsverfahrens. Insoweit mindestens neun Staaten des Sicherheitsrates einschliesslich aller fünf ständigen Mitgliedsstaaten mit einem Ersuchen um einen Aufschub einverstanden sein müssen, dürfte die Gefahr eines Missbrauchs des in Artikel 16 verankerten Interventionsrechts des Sicherheitsrats gebannt sein. Gleichzeitig wurde aber zu Recht anerkannt, dass tatsächlich Situationen auftreten können, in denen das Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung kurzfristig hinter das Interesse an der Eindämmung eines ausbrechenden oder bereits ausgebrochenen bewaffneten Konflikts treten kann.

2.5

Die Straftatbestände des Statuts (Art. 5­9)

Die Zuständigkeit des Gerichtshofes beschränkt sich gemäss Artikel 5 des Statuts nur auf die Beurteilung der schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Die Schwelle für die Einleitung eines Strafverfahrens vor dem Gerichtshof ist daher hoch angesetzt. Dadurch ist garantiert, dass sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht auf gewöhnliche Verbrechen erstreckt, für deren Beurteilung weiterhin ausschliesslich die nationalen Gerichte der Vertragsstaaten zuständig bleiben.

2.5.1

Völkermord (Art. 6)

Das Verbrechen des Völkermords gilt als das schwerste Verbrechen überhaupt. Es wird durch die spezifische Absicht des Täters charakterisiert, eine durch ihre Staatsangehörigkeit, Ethnie, Rasse oder Religion gekennzeichnete Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten. Dabei kann der Völkermord durch verschiedene Handlungsvarianten begangen werden: Tötung von Mitgliedern einer Gruppe, Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern einer Gruppe, Unterwerfung einer Gruppe unter Lebensbedingungen, die geeignet sind, die Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, Massnahmen zur Geburtenverhinderung in einer Gruppe sowie gewaltsame Überführung von Kindern einer Gruppe in eine andere Gruppe.

Dem Verbot des Völkermordes wird allgemein der Charakter von zwingendem Gewohnheitsrecht sowie die Wirkung erga omnes zuerkannt. Dessen Verletzung wird heute auf internationaler Ebene bereits durch die internationalen Straftribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda geahndet. Das Verbrechen des Völkermords wurde international erstmals im Jahre 1948 im Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords geächtet, welches bis heute von 132 Staaten ratifiziert worden ist. Die eidgenössischen Räte haben den Beitritt zu diesem Übereinkommen sowie die notwendigen Revisionen des schweizerischen Rechts im Frühjahr 2000 genehmigt28. Am 7. September dieses Jahres hat der Bundesrat den Beitritt zum 28

422

Vgl. zu den Einzelheiten des Übereinkommens und der Umsetzung ins schweizerische Recht die Botschaft vom 31. März 1999 betreffend das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision des Strafrechts, BBl 1999 5327 ff.

Übereinkommen erklärt. Der Tatbestand des Völkermords wird daher im Schweizerischen Strafgesetzbuch auf den 15. Dezember 2000 in Kraft gesetzt.

2.5.2

Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7)

Bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt es sich um schwerste Menschenrechtsverletzungen, welche in ausgedehnter oder systematischer Weise gegen Mitglieder der Zivilbevölkerung begangen werden, häufig durch den eigenen Heimatstaat. Wie der Völkermord können die Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch ausserhalb eines bewaffneten Konflikts in Friedenszeiten verübt werden. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bezeichnet folgende Handlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit: vorsätzliche Tötung, Ausrottung, Versklavung, Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung, Freiheitsentzug oder sonstige schwerwiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoss gegen die Grundregeln des Völkerrechts, Folter, Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere, Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft, Verschwindenlassen von Personen, das Verbrechen der Apartheid sowie andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich grosse Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg durch das internationale Militärtribunal von Nürnberg strafrechtlich sanktioniert. In den Neunzigerjahren wurden entsprechende Kompetenzen auch den internationalen Straftribunalen für Ex-Jugoslawien und Ruanda übertragen. Die Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt heute allgemein als durch das Völkergewohnheitsrecht verboten. Die schweizerische Rechtsordnung kennt zwar noch keinen Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch werden die einzelnen Verbrechen bereits heute in den meisten Fällen durch die Normen des Strafgesetzbuches erfasst. Um jedoch in jedem Fall eine lückenlose Verfolgung der schwersten Verbrechen gegen die Menschheit zu gewährleisten, sollen die entsprechenden Tatbestände möglichst bald in das schweizerische Recht aufgenommen werden.

2.5.3

Kriegsverbrechen (Art. 8)

2.5.3.1

Allgemeines

Artikel 8 des Statuts gibt dem Gerichtshof die Kompetenz, Kriegsverbrechen zu bestrafen. Unter Kriegsverbrechen versteht man im Sinne des Statuts eine Reihe von schweren Verletzungen des internationalen Rechts des bewaffneten Konflikts, die im Einzelnen in Artikel 8 Absatz 2 aufgelistet sind. Diese schweren Verletzungen können im Zusammenhang mit einem internationalen oder nicht internationalen bewaffneten Konflikt begangen werden.

Wie es der Titel von Artikel 8 bereits andeutet, ist das Statut weit davon entfernt, alle Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu bestrafen. Nur die schweren Verletzungen und noch genauer nur diejenigen Verbrechen, die im Statut genannt werden, unterliegen der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Dadurch ändert sich jedoch 423

nichts an den Pflichten der Staaten, wie sie namentlich in den vier Genfer Abkommen und ihren zwei Zusatzprotokollen statuiert werden, jede Verletzung des internationalen Rechts des bewaffneten Konflikts zu unterbinden und über ihre internen Rechtsordnungen eine angemessene Bestrafung für alle Kriegsverbrechen vorzusehen.

Die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs muss in erster Linie von den Staaten als eine eindringliche Aufforderung verstanden werden, die Pflicht zur Verbreitung des humanitären Völkerrechts, die sich aus den Genfer Abkommen und ihren Zusatzprotokollen ergibt, selbst zu respektieren, aber auch für deren Respektierung zu sorgen. Dies betrifft zunächst die Verbreitung des humanitären Völkerrechts im Rahmen der Streitkräfte, aber auch, soweit möglich, in der Zivilbevölkerung. Die Staaten müssen alle notwendigen Massnahmen ergreifen (Instruktion, Integration in den Kommandoprozess, Berücksichtigung bei jeder Entscheidung, auf jeder Hierarchiestufe, im Rahmen der Streitkräfte oder auf Regierungsebene), damit dieses Recht respektiert und seine Verletzungen bestraft werden29. Gemäss der im Statut angelegten Perspektive sollen Kriegsverbrechen verfolgt werden können, unabhängig davon, wo sie begangen wurden und wer der Täter war. Die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs hat daher primär eine präventive Wirkung: nur wenn jene Staaten, die ein Kriegsverbrechen hätten bestrafen sollen, ihren Pflichten nicht nachkommen, kann der Gerichtshof das Verfahren übernehmen (Grundsatz der Komplementarität).

Der Bundesrat erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Verbreitung des humanitären Völkerrechts Teil seiner ständigen Bemühungen ist. Seit vielen Jahren werden erhöhte Anstrengungen unternommen, in den Reihen der Armee das humanitäre Völkerrecht zu verbreiten und durchzusetzen. In Zukunft dürften diese Bemühungen noch verstärkt werden.

Was die Bestrafung von Kriegsverbrechen betrifft, so wurden diese erstmals auf internationaler Ebene nach dem Zweiten Weltkrieg durch die internationalen Militärtribunale von Nürnberg und Tokio strafrechtlich sanktioniert. In den Neunzigerjahren wurden entsprechende Kompetenzen auch den internationalen Straftribunalen für Ex-Jugoslawien und Ruanda übertragen. In der Schweiz wurden bereits im Jahre 1968 durch eine Revision des
Militärstrafgesetzes die Voraussetzungen geschaffen, dass alle Verletzungen des internationalen Rechts des bewaffneten Konflikts in der Schweiz verfolgt und bestraft werden können.

2.5.3.2

Verbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt

Artikel 8 Absatz 2 Buchstaben a und b behandelt die Verbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt. Die acht Verbrechen, welche in Buchstabe a aufgeführt sind, geben gänzlich und wörtlich die Kriegsverbrechen wieder, wie sie in den vier Genfer Abkommen von 194930 genannt werden. Buchstabe b erfasst die anderen schweren 26 Verletzungen des humanitären Völkerrechts, wie sie durch das Völkergewohnheitsrecht anerkannt werden. Die meisten dieser schweren Verletzungen sind gleich29

30

424

Vgl. auch Art. 83 und 87 des ersten Zusatzprotokolls von 1977 sowie die Präambel des Statuts: «daran erinnernd, dass es die Pflicht eines jeden Staates ist, seine Strafgerichtsbarkeit über die für internationale Verbrechen Verantwortlichen auszuüben».

Art. 50 GA I, SR 0.518.12; Art. 51 GA II, SR 0.518.23; Art. 130 GA III, SR 0.518.41; Art. 147 GA, SR 0.518.51

zeitig auch in völkerrechtlichen Verträgen verankert, so insbesondere im Reglement betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs von 190731, im Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 195432, im ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 197733 sowie im Chemiewaffenübereinkommen von 199334.

2.5.3.3

Verbrechen im nicht internationalen bewaffneten Konflikt

Der Begriff des nicht internationalen bewaffneten Konflikts wird in Artikel 8 Absatz 2 Buchstaben d und f behandelt. Nicht internationale bewaffnete Konflikte werden dort definiert als Konflikte, «die keinen internationalen Charakter haben»; Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten oder andere ähnliche Handlungen werden vom Begriff des nicht internationalen Konflikts ausdrücklich ausgenommen.

Die Verbrechen, für die der Gerichtshof Zuständigkeit besitzt, werden in Artikel 8 Absatz 2 Buchstaben c und e behandelt.

Buchstabe c kriminalisiert die schweren Verstösse gegen den gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen von 1949, welcher als einzige Bestimmung der Genfer Abkommen auch in internen bewaffneten Konflikten anwendbar ist. Bestraft werden folgende Verbrechen gegen Personen, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschliesslich der Angehörigen der Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die durch Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder eine andere Ursache ausser Gefecht sind: Angriffe auf Leib und Leben, insbesondere vorsätzliche Tötung jeder Art, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folter, Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung, Geiselnahme sowie Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordentlich bestellten Gerichts, das die allgemein als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet.

Buchstabe e behandelt die anderen Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, welche nicht durch den gemeinsamen Artikel 3 erfasst werden, aber gleichwohl den Charakter von Völkergewohnheitsrecht besitzen. Die Mehrzahl dieser Bestimmungen entsprechen den Verletzungen, welche bereits in Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b für den internationalen bewaffneten Konflikt enthalten sind. Buchstabe e übernimmt im Wesentlichen den Inhalt des zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen von 1977 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte35.

Ergänzt wird Buchstabe e im Bereich der Methoden der Kriegführung in nicht internationalen Konflikten durch eine Reihe von völkergewohnheitsrechtlichen Normen, welche bisher noch nicht Gegenstand völkerrechtlicher Abkommen waren.

Abschliessend ist auf Artikel 8 Absatz 3 hinzuweisen,
welcher wegen der Befürchtung einiger Staaten in das Statut eingefügt worden ist, dass sich der Gerichtshof in ihre inneren Angelegenheiten einmischen würde. Absatz 3 betont, dass die Kompe31 32 33 34 35

SR 0.515.112 SR 0.520.3 SR 0.518.521 SR 0.515.08 SR 0.518.522

425

tenz des Gerichtshofs in internen bewaffneten Konflikten «nicht die Verantwortung einer Regierung, die öffentliche Ordnung im Staat aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen oder die Einheit und territoriale Unversehrtheit des Staates mit allen rechtmässigen Mitteln zu verteidigen» berührt. Dies gilt aber nur unter der Voraussetzung, dass sich die Staaten legitimer Mittel bedienen, welche die Anforderungen des Völkerrechts, insbesondere den Schutz der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, respektieren.

2.5.4

Aggression (Art. 5 Abs. 2)

Beim Verbrechen der Aggression handelt es sich nicht um eine Neuerung des Statuts. Bereits die Satzung des internationalen Militärtribunals von Nürnberg enthielt einen Straftatbestand der Aggression. Doch kann der Gerichtshof seine Zuständigkeit in Bezug auf das Verbrechen der Aggression vorerst nicht ausüben, da sich die Staaten bei der Ausarbeitung des Statuts nicht auf eine Definition des Verbrechens der Aggression einigen konnten. Frühestens sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts kann an einer Überprüfungskonferenz über die Annahme eines ausformulierten Straftatbestandes der Aggression entschieden werden. Das entsprechende Verfahren richtet sich nach den Artikeln 121 und 123 des Statuts. Dies bedeutet unter anderem, dass sich ein Staat der Annahme widersetzen kann und so die Möglichkeit behält, die Aggression für seine Staatsangehörigen oder für sein Hoheitsgebiet auszuschliessen. Die Definition der Aggression muss mit den einschlägigen Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen vereinbar sein. Die Vorbereitungskommission des Strafgerichtshofs hat die Verhandlungen darüber aufgenommen.

2.6

Allgemeine Grundsätze des Strafrechts und Strafen

2.6.1

Allgemeine Grundsätze des Strafrechts (Teil 3: Art. 22­33)

Der Entwurf der Völkerrechtskommission für ein Statut eines Internationalen Strafgerichtshofs aus dem Jahr 1994 enthält keine allgemeinen Grundsätze des Strafrechts, sondern nur einen Verweis auf die anwendbaren Rechtsquellen: das Statut, anwendbare Verträge, Grundzüge des Völkerrechts und gegebenenfalls Regeln des nationalen Rechts.36 Dieser blosse Verweis wurde von vielen Staaten als mangelhaft empfunden. Ein ständiger Strafgerichtshof müsse, so wurde argumentiert, über allgemeine Grundsätze des Strafrechts verfügen, um der Anforderung des Legalitätsprinzips «nullum crimen sine lege» vollständig gerecht zu werden. Für einen Gerichtshof mit universellem Anspruch müsse zudem den verschiedenen Rechtstraditionen der Welt angemessen Rechnung getragen werden.

In der Sache ging es darum, einige der Fragen zu beantworten, die in nationalen Strafgesetzen in einem «allgemeinen Teil» beantwortet werden. Dazu gehört etwa die Verankerung des Legalitätsprinzips, die Umschreibung von Beteiligungsformen wie Anstiftung oder Gehilfenschaft, die Definition des Versuchs, des Irrtums oder die Aufzählung der Gründe, die im Einzelfall zu einem Ausschluss der Strafbarkeit führen können.

36

426

A.a.O., Art. 33 des Entwurfs.

Das Unterfangen, solche allgemeinen Grundsätze des Strafrechts auf internationaler Ebene zu formulieren, erwies sich als dornenreich. Früh einigte man sich auf die Arbeitsgrundlage, dass ein solches Unternehmen nur eine auf das Statut beschränkte Wirkung haben könne: Das Ergebnis der Verhandlungen über die «allgemeinen Grundsätze» sollte nur bezüglich der im Statut umschriebenen Verbrechen und im Hinblick auf das Verfahren vor dem Strafgerichtshof gelten. Man war mit anderen Worten nicht der Meinung, einen allgemeinen Teil des Völkerstrafrechts zu schaffen, der unmittelbar oder mittelbar von den Staaten zur Anwendung gebracht werden müsste. Konkret bedeutet dies unter anderem, dass sich aus den im Statut umschriebenen allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts grundsätzlich kein Umsetzungsbedarf in den Vertragsstaaten ergibt. Diese letzte Aussage ist immerhin so weit zu relativieren, als die gesamte Anwendung des Strafrechts unter dem Komplementaritätsvorbehalt von Artikel 17 steht. Das bedeutet, dass das nationale Recht keine Strafbarkeitslücken oder exorbitanten Strafausschlussgründe von einer Grössenordnung kennen darf, die den Gerichtshof in Anwendung von Artikel 17 zu der Überzeugung führen könnten, dass der betreffende Staat «nicht willens» oder «nicht fähig» ist, eine ernsthafte Strafverfolgung durchzuführen. Eine Analyse des schweizerischen Strafrechts ergibt, dass solche Lücken nicht bestehen und folglich zurzeit auch kein Umsetzungsbedarf in diesem Bereich besteht.

Im Statut verankert sind die allgemeinen Grundsätze «kein Verbrechen ohne gesetzliche Grundlage» (Art. 22), «keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 23), das Rückwirkungsverbot (Art. 24) und die Unverjährbarkeit (Art. 29). Geregelt werden ferner die Begehungs- und Teilnahmeformen (Art. 25), die Verantwortlichkeit von militärischen Befehlshabern und anderen Vorgesetzten (Art. 28), die subjektiven Tatbestandsmerkmale (Art. 30), die Strafausschlussgründe (Art. 31), die Irrtumstatbestände (Art. 32) und das Handeln auf Befehl oder nach Rechtsvorschrift (Art. 33). Artikel 26 schliesst die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Kindern unter 18 Jahren unter dem Statut aus. Von grundlegender Bedeutung ist Artikel 27, wonach Immunitäten oder besondere nationale oder internationale Verfahrensvorschriften, die mit der offiziellen Funktion einer Person verbunden sind, den Gerichtshof nicht an der Strafverfolgung hindern. Diese Grundsätze werden in Anhang 2 Ziffer 1 dieser Botschaft eingehender erläutert.

2.6.2

Strafen (Teil 7: Art. 77­80)

Als Ausfluss des in Artikel 23 verankerten Grundsatzes «keine Strafe ohne Gesetz» umschreibt das Statut in Teil 7 die Strafen, die der Gerichtshof verhängen kann.

Entgegen dem Entwurf der Völkerrechtskommission von 199437 konnte nicht einfach auf das Strafsystem einer nationalen Rechtsordnung verwiesen werden, zum Beispiel auf die Sanktionenordnung des Staates, auf dessen Territorium das fragliche Verbrechen begangen wurde. Nicht nur hätte die Zuordnung der Verbrechen nach Artikel 5 des Statuts zu den möglicherweise anders umschriebenen Verbrechenstatbeständen des nationalen Rechts und deren Straffolgen zu Schwierigkeiten führen können. Auch hätten die dort vorgesehenen Strafdrohungen völlig unangemessen sein oder Strafarten umfassen können, deren Verhängung einem Internationalen Strafgerichtshof nicht zusteht (Todes- oder Körperstrafen). Es führte deshalb

37

A.a.O., Art. 47 des Entwurfs.

427

kein Weg an den Schwierigkeiten vorbei, die vom Gerichtshof zu verhängenden Strafen im Statut selbst zu definieren.

Artikel 77 sieht als Hauptstrafe eine Freiheitsstrafe von bis zu 30 Jahren vor. Diese Höchststrafe kann ausnahmsweise überschritten und eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden, wenn es durch die aussergewöhnliche Schwere des Verbrechens und die persönlichen Verhältnisse des Verurteilten gerechtfertigt ist. Der Gerichtshof ist jedoch gehalten, das ursprünglich verhängte Strafmass nach Ablauf von zwei Dritteln der Strafe, bei lebenslangem Freiheitsentzug nach 25 Jahren und von diesem Zeitpunkt an in regelmässigen Abständen zu überprüfen (Art. 110). Als Zusatzstrafe kann eine Geldstrafe ausgesprochen und die Einziehung von Vermögenswerten angeordnet werden. Diese Mittel können auf Anordnung des Gerichtshofs in einen Treuhandfonds zu Gunsten der Opfer und deren Angehöriger fliessen. Der Fonds wird auf Beschluss der Versammlung der Vertragsstaaten eingerichtet und nach Kriterien verwaltet, die diese festlegt.

Der Gerichtshof setzt die Strafe nach den in Artikel 78 genannten Grundsätzen fest.

Artikel 80 stellt klar, dass Teil 7 des Statuts keinen Einfluss auf die Anwendung der nach dem nationalen Recht vorgesehenen Strafen und Strafarten hat. Es ergibt sich deshalb auch kein gesetzlicher Umsetzungsbedarf. Weitere Erläuterungen zu Teil 7 des Statuts finden sich in Anhang 2 Ziffer 2 dieser Botschaft.

2.7

Das Verfahren vor dem Gerichtshof (Teile 5, 6 und 8)

Anders als im Fall der beiden Ad-hoc-Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda, bei denen Aufbau und Entwicklung des Verfahrensrechts weitgehend den Richtern überlassen wurde, enthält das Römer Statut selbst verhältnismässig detaillierte Verfahrensbestimmungen. Eine grosse Anzahl von Staaten vertrat die Meinung, es sei Sache der Vertragsstaaten, das Verfahren vor einem ständigen Internationalen Strafgerichtshof in seinen Grundzügen festzulegen. So liege es in der primären Verantwortung der Vertragsstaaten, im Statut selbst sicherzustellen, dass die Grundrechte des Angeklagten vom Gerichtshof beachtet würden. Ferner sei es für die Vertragsstaaten unmittelbar wichtig, erkennen zu können, in welchem Umfang sie selbst in einem Verfahren beteiligt sein könnten. Schliesslich sei bei der Errichtung eines internationalen Organs mit universalem Anspruch sicherzustellen, dass die Ordnung des Verfahrens die Rechtsvorstellungen aller grossen Rechtstraditionen der Welt widerspiegle.

Neben den vorerwähnten Verfahrensbestimmungen in Teil 2 zur Einleitung von Ermittlungen (Ziff. 2.3.3) wird das Strafverfahren vor dem Gerichtshof hauptsächlich in den Teilen 5, 6 und 8 geregelt. Bei der Ausarbeitung dieser Verfahrensregeln standen sich unter anderem Staaten aus dem angelsächsischen «common law»-Raum und die von einer römisch-rechtlichen Tradition geprägten Staaten gegenüber. Im Verlauf der Verhandlungen zeigte sich jedoch bald, dass diese zwei grossen Rechtssysteme keine geschlossenen Blöcke bilden. Vielmehr herrschen auch innerhalb dieser Traditionen sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie ein Strafverfahren richtigerweise zu ordnen wäre. Wichtiger als die Erkenntnis dieser überraschenden Heterogenität war die zweite Erkenntnis, dass über alle Unterschiede hinweg jede Verfahrensordnung dasselbe Ziel verfolgt, nämlich ein Strafverfahren zur Verfügung zu stellen, das die Ermittlung der Wahrheit so gut wie möglich begünstigt ­ dies selbstverständlich unter Wahrung der Grundrechte des Angeklagten und der Anfor428

derungen an die verfahrensmässige Effizienz. Um diesem Ziel auch im Hinblick auf das Verfahren vor dem Gerichtshof nachleben zu können, mussten im Verlauf der langwierigen Verhandlungen von allen Seiten vorgefasste Urteile über Bord geworfen, den eigenen Rechtsvorstellungen mit Selbstkritik begegnet und sämtliche Vorschläge ­ ungeachtet ihrer Herkunft ­ vorurteilslos geprüft werden. Die Verfahrensregeln vor den beiden Ad-hoc-Tribunalen dienten bei diesem Prozess als Inspirationsquelle, konnten jedoch ­ nicht nur wegen der Vorbehalte der Staaten mit kontinentaler Rechtstradition ­ nicht einfach übernommen werden.

Das mit dem Römer Statut erzielte Ergebnis darf sich insgesamt sehen lassen. Die Regelung des Strafverfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof kann als Frucht des erfolgreichen Versuchs bezeichnet werden, das Beste aus den verschiedenen Rechtssystemen, insbesondere den Räumen des «common law» und des «civil law», miteinander zu einem funktionsfähigen Ganzen zu verschmelzen.

Teil 5 (Art. 53­61) des Statuts regelt das Vorverfahren. Für dessen Durchführung ist in erster Linie der Ankläger verantwortlich. Er untersteht jedoch einer rechtlichen Kontrolle durch die Vorverfahrenskammer. Die Grundrechte der Person, gegen die ermittelt wird, werden in Artikel 55 gewährleistet. Die Artikel 58 und 59 umschreiben die Haftgründe und das Verfahren bei der Festnahme. Das Vorverfahren wird durch die Bestätigung der Anklage vor der Vorverfahrenskammer abgeschlossen (Art. 61).

Teil 6 (Art. 62­76) betrifft das Hauptverfahren, das in die Hauptverhandlung mündet (Art. 63­65). Die Verfahrensrechte des Angeklagten werden in Artikel 67 verankert. Dazu kommt die Unschuldsvermutung in Artikel 66. Mit dem Schutz der Opfer und Zeugen und ihrer Teilnahme am Verfahren befasst sich Artikel 68. Neben der allgemeinen Vorschrift über Beweismittel (Art. 69) regeln die Artikel 72 und 73 Einzelheiten im Fall von sicherheitsrelevanten Informationen. Das Urteil kann im Schuld- und im Strafpunkt getrennt ergehen (Art. 74 und 76). Über die Frage der Wiedergutmachung für die Opfer kann eine gesonderte Verhandlung durchgeführt werden (Art. 75).

Für die innerstaatliche Umsetzung von Bedeutung ist Artikel 70, der die Widerhandlungen gegen die Rechtspflege des Gerichtshofs umschreibt. Um Herr über sein Verfahren zu bleiben,
muss der Gerichtshof in der Lage sein, Widerhandlungen gegen seine Rechtspflege (beispielsweise falsche Zeugenaussagen, Fälschung von Beweismitteln oder Bestechung von Bediensteten des Gerichtshofs) zu ahnden. Artikel 70 Absatz 4 sieht jedoch auch vor, dass der Gerichtshof die Verfolgung solcher Delikte an die Staaten abtreten kann. Aus diesem Grund hat jeder Vertragsstaat dafür zu sorgen, dass die in seinem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Rechtspflegedelikte in einer Weise ausgedehnt werden, dass auch Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof eingeschlossen sind ­ dies, sofern die betreffenden Vergehen auf dem Staatsgebiet oder von einem Staatsangehörigen dieses Staates begangen werden. Es ist also nicht erforderlich, dass das Landesrecht die gleichen Delikte kennt, wie sie in Artikel 70 Absatz 1 vorgesehen sind. Mit dem Bundesgesetz über die Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes kommt die Schweiz dieser Verpflichtung nach38.

Schliesslich sieht das Statut in Teil 8 (Art. 81­85) verhältnismässig grosszügige Möglichkeiten zur Berufung und Wiederaufnahme vor.

38

Zur Umsetzung der sich aus Abs. 4 ergebenden Verpflichtung in das Schweizer Recht siehe Ziff. 3.2.

429

Die einzelnen Bestimmungen zum Vor-, zum Haupt- und zum Berufungsverfahren werden in Anhang 3 dieser Botschaft eingehender erläutert.

2.8

Internationale Zusammenarbeit und Rechtshilfe (Teil 9: Art. 86­102)

2.8.1

Grundsätze

Allgemeines Um die in Teil 9 enthaltenen Bestimmungen zu würdigen, muss man sich vor Augen führen, dass der Gerichtshof selbst über keine polizeilichen Ermittlungsorgane verfügt und in der Regel39 Untersuchungshandlungen auf dem Gebiet der Vertragsstaaten nicht selbst durchführen kann. Er ist somit weitgehend auf die Mitarbeit der Vertragsstaaten angewiesen. Die in Teil 9 enthaltenen Bestimmungen über die Zusammenarbeit sind aus diesem Grund von zentraler Bedeutung für das Funktionieren des Gerichtshofs. Die entsprechenden Regeln sind deshalb detaillierter als in multilateralen Konventionen sonst üblich. Auch sind sie für die Vertragsstaaten nahezu uneingeschränkt verpflichtend (Art. 86). Damit die Effizienz der Ermittlungen erhöht werden kann, ist der Gerichtshof ausserdem befugt, auch mit Drittstaaten (Art. 87 Abs. 5 Bst. a) oder zwischenstaatlichen Organisationen (Art. 87 Abs. 6) Abkommen zur Zusammenarbeit abzuschliessen.

Die Zusammenarbeit betrifft vor allem das wichtige Stadium der Ermittlungen und der Strafverfolgung. Deshalb sind die Verpflichtungen von Teil 9 nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem ganzen Statut zu lesen, insbesondere im Zusammenhang mit den Bestimmungen von Teil 5. Die in Artikel 86 verankerte allgemeine Pflicht zur Zusammenarbeit bezieht sich denn auch auf das ganze Statut.

Obwohl die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof nicht als «klassische» zwischenstaatliche Rechtshilfe betrachtet werden kann, dienten die diesbezüglichen Regelungen der bestehenden völkerrechtlichen Instrumente doch weitgehend als Grundlage für die Erarbeitung von Teil 9. Auch bei diesen Arbeiten waren die Verhandlungen durch die unterschiedlichen Auffassungen der Staaten der Rechtstradition des «civil law» und des «common law» geprägt. Überlagert wurden diese Unterschiede jedoch dadurch, dass sich die Staaten der «Gruppe der Gleichgesinnten» ­ ungeachtet ihrer Rechtstradition ­ für möglichst einfache Lösungen einsetzten und sich damit in ihrem Ansatz eher dem kontinentaleuropäischen Recht anschlossen. Zwar mussten auch den übrigen Staaten gewisse Konzessionen gemacht werden. Gesamthaft entsprechen die vorgesehenen Modalitäten und Möglichkeiten aber weitgehend den für die Schweiz anwendbaren Instrumenten des Europarates40 sowie dem Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen
(IRSG)41. Nebst Detailbestimmungen, die davon abweichen, ist jedoch die fast unbeschränkte Pflicht zur Zusammenarbeit mit einem internationalen Organ für die Schweiz neuartig.

39 40

41

430

Zu den drei Ausnahmen vgl. nachfolgend Ziff. 2.8.3 ­ Ermittlungen des Anklägers.

Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.1), Europäisches Auslieferungsübereinkommen (SR 0.353.1) und Übereinkommen über Geldwäscherei sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Beträgen aus Straftaten (SR 0.311.53).

SR 351.1

Einschränkung der Möglichkeit, die Zusammenarbeit zu verweigern Entsprechend dem vorstehend erläuterten Sinn und Zweck der Zusammenarbeit sieht Artikel 86 vor, dass die Vertragsstaaten nach Massgabe des gesamten Statuts «uneingeschränkt» mit dem Gerichtshof zusammenarbeiten. «Uneingeschränkt» bedeutet insbesondere, dass das Statut für den ersuchten Vertragsstaat bei Überstellungen keine und bei den anderen Formen der Zusammenarbeit nur den Weigerungsgrund der nationalen Sicherheit anerkennt. Dies ist angesichts der beschränkten sachlichen Zuständigkeit des Gerichtshofs gerechtfertigt: Dieser ist nur für schwerste Verbrechen zuständig, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren (Art. 5 Abs. 1), was bereits die meisten42 Verweigerungsgründe ausschliesst. Die Übereinkommen des Europarates im Bereich der Rechtshilfe und Auslieferung43 zum Beispiel ermöglichen «klassischerweise» die Verweigerung der Zusammenarbeit für politische, militärische und fiskalische Handlungen. Die Einrede des fiskalischen Deliktes ist bei Verbrechen, die der Gerichtshof ahndet, schwer vorstellbar. Diejenige der militärischen Handlung würde die Verfolgung von Kriegsverbrechern weitgehend ausschliessen, und die Völkermordkonvention44 sieht vor, dass bei solchen Verbrechen die Einrede des politischen Deliktes nicht gilt. Der Gerichtshof ist zudem komplementär ausgestaltet: Er kann nur dann ­ subsidiär ­ tätig werden, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, eine bestimmte schwere Straftat ernsthaft zu verfolgen45. Somit steht es den Vertragsstaaten grundsätzlich frei, die Strafverfolgung selbst zu übernehmen; sie können, sofern sie diese Strafverfolgung durchzuführen gewillt und fähig sind, die Anwendbarkeit der Regeln von Teil 9 im konkreten Fall gewissermassen ausschliessen (vgl. Art. 95). Sodann bedeutet Komplementarität aber auch, dass der Gerichtshof, wenn er, um die Folge der Straflosigkeit zu verhindern, einmal tätig werden muss, nicht noch in die Schranken des herkömmlichen Rechtshilfe- und Auslieferungsrechts gewiesen wird, sondern in diesem Fall über verhältnismässig wirksame Mittel verfügen soll, um die Zusammenarbeit der Staaten auch tatsächlich und innert nützlicher Frist erlangen zu können.

Hinsichtlich Artikel 93 Absatz 1 Buchstabe l bedeutet uneingeschränkte Zusammenarbeit ausserdem,
dass sämtliche Rechtshilfeleistungen durchgeführt werden müssen, die nach dem Recht des ersuchten Staates nicht ausdrücklich verboten sind.

Diese auf den ersten Blick recht weit gehende Bestimmung ist im Zusammenhang mit dem ebenfalls in diesem Absatz enthaltenen Verweis auf das gesamte Statut zu lesen. Das gemäss Statut vorgesehene Strafverfahren vor dem Gerichtshof ist von hohen rechtsstaatlichen Prinzipien im materiellen Recht (Teile 2, 3 und 7) und im Verfahrensrecht (Teile 5, 6 und 8) geprägt. Die starke Einbindung der Vertragsstaaten verhindert, dass den im Statut vorgesehenen Garantien die Wirkung entzogen werden könnte, indem diese Garantien in den Staaten bei der Ausführung der Ersuchen des Gerichtshofs missachtet würden. Diese weit gehende Pflicht zur Zusammenarbeit wird einerseits dadurch ausgeglichen, dass eine gerichtliche Kontrolle 42

43

44 45

Zu weiteren unanwendbaren Verweigerungsgründen im Falle der Überstellung vgl. nachfolgend Ziff. 2.8.2 betreffend doppelte Strafbarkeit, Staatsangehörigkeit und «ne bis in idem».

Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.1), Europäisches Auslieferungsübereinkommen (SR 0.353.1) und Übereinkommen über Geldwäscherei sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Beträgen aus Straftaten (SR 0.311.53).

BBl 1999 5327 Vgl. Art. 17 und die diesbezüglichen Erläuterungen unter Ziff. 2.3.2.

431

der verlangten Zusammenarbeit durch die Vorverfahrenskammer erfolgt (Art. 57f.).

Andererseits besteht für den Angeschuldigten die Möglichkeit, spätestens bei der Anklagebestätigung seine Rechte geltend zu machen (Art. 61 Abs. 6).

Auch aus der Sicht der Vertragsstaaten kann die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof nicht als Rechtshilfe im herkömmlichen Sinn betrachtet werden. Dies wurde im Übrigen bereits im Zusammenhang mit dem Bundesbeschluss über die Zusammenarbeit mit den Internationalen Gerichten zur Verfolgung von schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts (Bundesbeschluss)46 anerkannt und entsprechend umgesetzt. Der Gerichtshof ist nämlich keine ausländische Behörde im eigentlichen Sinn. Die Rechtshilfe wird nicht einem anderen Staat gewährt, sondern einer internationalen Instanz, die auch von der Schweiz mitgetragen wird. Damit fällt einer der Gesichtspunkte des Souveränitätsdenkens, der in der Rechtshilfe gewöhnlich eine hemmende Rolle spielt, weg.

Die Berufung auf die Souveränität dient den Staaten im Rechtshilfeverkehr auch dazu, ihre Rechtsauffassung zu schützen, indem sie nur mit Staaten zusammenarbeiten, deren Strafrecht bestimmte Grundsätze erfüllt. Die Schweiz verlangt47 in diesem Sinn, dass das ausländische Strafverfahren den Grundsätzen genügt, die sich aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK)48 und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte49 ergeben. Wie bereits dargestellt wurde, entspricht das im Statut vorgesehene Verfahren diesen Anforderungen, sodass auch aus diesem Grund keine souveränitätsrechtlichen Bedenken aufkommen.

Die Pflicht zur Zusammenarbeit wird schliesslich dadurch relativiert, dass das Statut an mehreren Stellen die Möglichkeit von Konsultationen zwischen dem ersuchten Staat und dem Gerichtshof vorsieht, insbesondere in Artikel 97, aber auch in Artikel 91 Absatz 4, Artikel 93 Absatz 3, Artikel 94 Absatz 1 sowie in Artikel 98. Mit diesen Konsultationen sollen die Wirksamkeit der Zusammenarbeit erhöht und unnötige Konfrontationen zwischen dem ersuchten Staat und dem Gerichtshof vermieden werden.

Verfahren In Artikel 87 werden die allgemeinen Form- und Verfahrensfragen geregelt, die sich im Bereich der Zusammenarbeit ergeben. Als Übermittlungskanal sieht das Statut den diplomatischen Weg vor,
wobei die Übermittlung auch über Interpol erfolgen kann. In dringenden Fällen ist es möglich, dass Ersuchen über jedes Medium übermittelt werden können, das in der Lage ist, eine schriftliche Aufzeichnung zu hinterlassen (Art. 92 Abs. 2 und 96 Abs. 1). Diese neuartige und zukunftsorientierte Möglichkeit wird dazu beitragen, die Effizienz der Zusammenarbeit zu erhöhen, da der Zeitfaktor im Bereich der Zusammenarbeit bekanntlich von grosser Bedeutung sein kann. Die Vertragsstaaten können für die Zusammenarbeit einen anderen geeigneten Weg zur Entgegennahme der Ersuchen bestimmen. Es erscheint zweckmässig, anlässlich der Ratifikation die direkte Übermittlung der Ersuchen an das Bundesamt für Justiz als den von der Schweiz gewählten Weg anzugeben. Dies war 46

47 48 49

432

Botschaft des Bundesrates vom 18. Okt. 1995 betreffend den Bundesbeschluss über die Zusammenarbeit mit den Internationalen Gerichten zur Verfolgung schwerwiegender Verletzungen des humanitären Völkerrechts (BBl 1995 IV 1101).

Vgl. Art. 2 IRSG sowie BGE 123 II 511 und 124 II 132.

SR 0.101 SR 0.103.2

bereits bei der Zusammenarbeit mit den beiden Ad-hoc-Tribunalen der Fall50 und ermöglicht eine schnellere und damit wirksamere Zusammenarbeit.

Wählt ein Vertragsstaat keine Amtssprache, so können Ersuchen und ihre Unterlagen in einer der beiden Arbeitssprachen, das heisst auf Französisch oder Englisch (Art. 87 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 50 Abs. 2), erfolgen. Es erscheint auch diesbezüglich sinnvoll, eine Erklärung abzugeben, so dass Ersuchen und ihre Unterlagen in einer der drei Amtssprachen der Schweiz ­ Französisch, Deutsch und Italienisch ­ verfasst oder in eine dieser Sprachen übersetzt werden müssen51.

Von grundsätzlicher Natur ist schliesslich auch das Problem, dass ein Staat gleichzeitig mit Ersuchen um Rechtshilfemassnahmen des Gerichtshofs und eines anderen Staats konfrontiert sein kann. Die Verfahrensbestimmung über konkurrierende Ersuchen findet sich in Artikel 90. Diese in erster Linie für die Überstellung vorgesehene Bestimmung gilt auch für die übrigen Formen der Zusammenarbeit, sofern nicht beide Ersuchen erfüllt werden können (Art. 93 Abs. 9 Bst. a Ziff. ii). Diese Verfahrensregelung bringt den grundsätzlichen Vorrang der Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof vor der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zum Ausdruck. Das Statut differenziert zwischen einer Reihe von Fällen, die sich aus den folgenden Alternativen ergeben: ­

Das konkurrierende Ersuchen stammt von einem Vertragsstaat oder einer Nichtvertragspartei;

­

die Zulässigkeit des Verfahrens vor dem Gerichtshof ist bereits festgestellt oder noch nicht festgestellt;

­

das konkurrierende Ersuchen betrifft dieselbe oder eine andere Tat.

Grundsätzlich gilt, dass das Ersuchen des Gerichtshofs anderen Ersuchen vorgeht, sobald dieser gemäss Artikel 18 oder 19 entschieden hat, dass die Sache zulässig ist (Abs. 2 und 4). Stammt das konkurrierende Ersuchen von einem Nichtvertragsstaat und besteht diesem gegenüber eine völkerrechtliche Auslieferungsverpflichtung, so kann der Staat zwar nach eigenem Ermessen entscheiden, doch sieht das Statut selbst Kriterien vor, die beim Entscheid zu berücksichtigen sind (Abs. 6). Ähnliches gilt, wenn sich das konkurrierende Ersuchen zwar auf dieselbe Person, aber auf eine andere Straftat bezieht (Abs. 7). Hat der Gerichtshof als Folge des konkurrierenden Ersuchens seine eigene Zuständigkeit verneint (weil er der Ansicht war, der betreffende Drittstaat übernehme die Strafverfolgung) und lehnt der ersuchte Staat in der Folge das Ersuchen des Drittstaats ab, so muss er den Gerichtshof diesbezüglich informieren (Abs. 8). Damit wird es dem Ankläger ermöglicht, eine Neubeurteilung der Zulässigkeit der Sache zu verlangen (Art. 19 Abs. 10).

Immunität Im Bereich der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit können die Staatenimmunitäten oder die diplomatische Immunität einer Person Gründe darstellen, um die Zusammenarbeit zu verweigern oder einzuschränken. In jüngster Zeit, insbesondere im

50

51

Art. 4 des Bundesbeschlusses über die Zusammenarbeit mit den Internationalen Gerichten zur Verfolgung von schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts (SR 351.20).

Vgl. Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.1), Erklärung zu Art. 16 Abs. 2; Europäisches Auslieferungsübereinkommen (SR 0.353.1), Erklärung zu Art. 23.

433

Rahmen der Auslieferungsersuchen gegen Augusto Pinochet52, werden solche Immunitäten im Zusammenhang mit völkerrechtlichen Verbrechen immer mehr in Frage gestellt. Diese heikle Fragestellung wurde in Artikel 98 dahingehend gelöst, dass vom Gerichtshof verlangt wird, die Zustimmung des Drittstaats zu erlangen, wann immer der ersuchte Staat gegenüber diesem Drittstaat die völkerrechtliche Pflicht hat, Immunitäten zu achten.

Die offene Formulierung dieser Bestimmung und ihr Verhältnis zu Artikel 27, welcher die amtliche Eigenschaft für die Beurteilung der Strafbarkeit einer Person durch den Gerichtshof für unerheblich erklärt, haben zu Debatten über die genaue Bedeutung von Artikel 98 geführt. Im Rahmen der «Gruppe der Gleichgesinnten» besteht weit gehende Einigkeit darüber, dass dem in Artikel 98 angedeuteten Immunitätsvorbehalt mindestens im Verhältnis zwischen Vertragsstaaten des Statuts im Ergebnis keine praktische Bedeutung mehr zukommt.53 Im Rahmen der Vorbereitungskommission des Internationalen Strafgerichtshofs wurde eine Auslegungsregel in die Verfahrens- und Beweisordnung aufgenommen, die in diese Richtung geht, ohne die ins Rollen geratene Entwicklung des Rechts der Immunitäten im Kernbereich des Völkerstrafrechts vorzeitig auf einem bestimmten Stand zu fixieren54.

Sanktion bei ungerechtfertigter Weigerung Wenn der ersuchte Staat Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einem Ersuchen des Gerichtshofs feststellt, finden Konsultationen zwischen dem Staat und dem Gerichtshof statt (insbesondere Art. 97, aber auch Art. 89 Abs. 2 und 4, Art. 91 Abs. 4, Art. 93 Abs. 3, Art. 96 Abs. 3 und Art. 98). Durch diese Konsultationen sollen bestehende Hürden überwunden und eine möglichst weit gehende und wirksame Zusammenarbeit gewährleistet werden. Kann auf diesem Weg keine Lösung gefunden werden, so kann der Gerichtshof als letztes Mittel eine Feststellung treffen, dass der Vertragsstaat eine sich aus dem Statut ergebende Pflicht zur Zusammenarbeit verletzt. Die Angelegenheit wird damit an die Versammlung der Vertragsstaaten überwiesen, beziehungsweise an den Sicherheitsrat, falls dieser die Angelegenheit ursprünglich dem Gerichtshof unterbreitet hat (Art. 87 Abs. 7 i.V.m. Art. 112 Abs. 2 Bst. f). Dieses Verfahren muss jedoch als «ultima ratio» verstanden werden. Das Statut sieht signifikanterweise nicht
vor, welche Sanktionen gegen einen fehlbaren Staat allenfalls ergriffen werden könnten.

Kosten Die gewöhnlichen Kosten im Zusammenhang mit der Erledigung eines Ersuchens gehen zu Lasten des ersuchten Staates55. Aussergewöhnliche Kosten übernimmt der Gerichtshof. Als solche gelten insbesondere die Reisekosten für die Überstellung einer Person, die Übersetzungs-, Dolmetsch- und Transkriptionskosten sowie allfällige Reisekosten, Taggelder und ähnliches von Mitgliedern des Gerichtshofs (Art. 100).

52

53 54

55

434

Regina v. Bow Street Metropolitan Stipendiary, ex parte Pinochet Ugarte , [1998] 4 All ER, 897 ff. und Regina v. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate and others, ex parte Pinochet Ugarte (No. 2) , [1999] 1 All ER, 577ff.

Vgl. auch hinten Art. 6 des Entwurfs des Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof.

Texte final du projet de Règlement de procédure et de preuve, Rapport de la Commission préparatoire de la Cour pénale internationale du 30 juin 2000, Nations Unies, document PCNICC/2000/INF/3/Add. 1, Règle 195.

Vgl. Art. 31 IRSG; Art. 24 EUeA.

2.8.2

Überstellung

Definition und Abgrenzung Gemäss Artikel 102 bedeutet «Überstellung» die Verbringung einer Person an den Gerichtshof auf der Grundlage des Statuts. Damit unterscheidet sich die «Überstellung» bereits begrifflich klar von der «Auslieferung», welche die zwangsweise Verbringung einer Person in einen anderen Staat bezeichnet. Diese Abgrenzung ging vor allem auf eine Forderung der Staaten der «Gruppe der Gleichgesinnten» zurück. Der Begriff fand erst nach eingehenden Debatten an der Römer Konferenz Eingang ins Statut. Er soll den wesentlichen Unterschied hervorheben, der zwischen einer zwischenstaatlichen Auslieferung besteht, bei welcher der Gedanke einer Handlung zwischen zwei gleichberechtigten und souveränen Staaten im Vordergrund steht, und der Überstellung an den Gerichtshof, die der Zuführung einer Person an eine von den Vertragsstaaten eingesetzte internationale Instanz dient. Die Unterscheidung ist damit nicht einfach eine terminologische Spielerei, sondern weist auf ein dahinterstehendes unterschiedliches Konzept hin.

Das Statut legt das innerstaatliche Verfahren der Überstellung an den Gerichtshof weitgehend selbst fest (Art. 59). Für die Übergabe von Personen an einen anderen Staat gilt jedoch nach wie vor das Auslieferungsrecht und die darin enthaltenen Grenzen ­ selbst wenn sich der Täter ein Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs (Art. 6­8) hat zuschulden kommen lassen.

Überstellungsverfahren Die für das Überstellungsverfahren massgeblichen Bestimmungen finden sich nicht nur in Teil 9, sondern auch in Teil 5 des Statuts. Dieser Umstand rührt daher, dass die auf Ersuchen des Gerichtshofs festgenommene Person sich rechtlich (auch) in der Haft des Gerichtshofs befindet56. So können gewisse Rechte, wie zum Beispiel die Überprüfung des Haftbefehls, nur vor dem Gerichtshof geltend gemacht werden (vgl. dazu auch Ziff. 2.7 und Anhang 3 Ziff. 1 zu Art. 59 Abs. 2). Das Verfahren für die Überstellung einer bereits verurteilten Person entspricht weitgehend demjenigen für eine Person, die Gegenstand einer Strafuntersuchung ist, sodass hier nur das in der Praxis wichtigere letztere Verfahren dargestellt wird.

Auf Antrag des Anklägers erlässt die Vorverfahrenskammer einen Haftbefehl, welcher den Namen der Person und möglichst genaue und vollständige Angaben über die Person, gegen die sich
das Ersuchen richtet, die Bezugnahme auf die der Gerichtsbarkeit unterliegenden Verbrechen, derentwegen die Verhaftung verlangt wird, sowie eine kurze Darstellung des Sachverhalts enthält (Art. 58).

Gestützt auf den Haftbefehl kann der Gerichtshof von jedem Vertragsstaat die Festnahme der betroffenen Person verlangen (Art. 89 Abs. 1). Dem Ersuchen sind eine Beschreibung der gesuchten Person beizufügen, die ausreicht, um sie zu identifizieren, sowie, falls bekannt, Angaben über den Ort, an dem sie sich aufhält, eine Abschrift des Haftbefehls (bzw. bei einem Verfahren gegen eine rechtskräftig verurteilte Person eine Abschrift des Schuldspruchs und Strafspruchs) sowie Unterlagen, Erklärungen und Informationen, die erforderlich sind, um den Vorschriften im ersuchten Staat Genüge zu tun (Art. 91). Die zuletzt genannten Vorschriften dürfen 56

ICTR, Appeals Chamber, Jean-Bosco Baryagwiza v. The Prosecutor , ICTR-97-19, Urteil vom 3. Nov. 1999.

435

jedoch keine grössere Belastung darstellen als die für den Aus-lieferungsverkehr anwendbaren Vorschriften. Diese Bestimmung wurde für die «common-law»Staaten aufgenommen, welche damit weiterhin ihre beweislastigen Anforderungen stellen können. Mit Rücksicht auf die im Haftbefehl und in den Unterlagen enthaltenen Informationen, könnte die Schweiz bereits auf Grund der aktuellen Rechtslage57 einem Ersuchen gestützt auf die beiden ersten Punkte stattgeben.

In dringenden Fällen kann der Gerichtshof bis zur Vorlage des Überstellungsersuchens um die vorläufige Festnahme der gesuchten Person ersuchen (Art. 92).

Dieses Ersuchen kann über jedes Medium erfolgen, welches in der Lage ist, eine schriftliche Aufzeichnung zu hinterlassen. Es enthält nebst der Beschreibung der Person eine kurze Darstellung des Sachverhalts sowie eine Erklärung, dass ein Haftbefehl (gegebenenfalls ein Schuldspruch) vorliegt und dass dieser nachgereicht wird. Werden die Unterlagen nicht innerhalb von 60Tagen nach der Festnahme nachgereicht, so kann die Person aus der Haft entlassen werden, wobei eine spätere Festnahme und Überstellung dadurch nicht ausgeschlossen werden. Diese Frist war in Rom ein derart umstrittener Punkt, dass dort keine Einigung möglich war und die Frage in die Verfahrens- und Beweisordnung delegiert werden musste. Erst im Rahmen der Vorbereitungskommission einigte man sich auf die Frist von 60 Tagen58. Sie weicht von der im entsprechenden Übereinkommen des Europarates enthaltenen kürzeren Frist ab, welche im IRSG übernommen wurde59. Die Frist basiert auf dem Erfahrungswert, welcher im Rahmen der Überstellungen an eines der Adhoc-Tribunale festgestellt wurde. Wenn man das Verfahren zum Erlass eines Haftbefehls sowie die damit verbundenen Garantien bedenkt, erscheint die Dauer der Haft ohne formelles Ersuchen vertretbar.

Sobald ein Ersuchen dem Staat zugegangen ist, muss dieser Massnahmen ergreifen, um die Person festzunehmen (Art. 59 Abs. 1). Die festgenommene Person ist umgehend der zuständigen Justizbehörde im Gewahrsamsstaat vorzuführen, die feststellt, dass der Haftbefehl sich auf die festgenommene Person bezieht, ihre statutarischen und innerstaatlichen Rechte geachtet wurden und sie entsprechend einem ordnungsgemässen Verfahren festgenommen wurde (Abs. 2).

Das Verfahren kann verkürzt werden, wenn die
festgenommene Person während der vorläufigen Haft in eine vereinfachte Überstellung einwilligt. Als Folge davon wird die Zustellung des formellen Ersuchens gegenstandslos (Art. 92 Abs. 3). Der ersuchte Staat kann aber auch in dieser Situation auf dem formellen Ersuchen bestehen, was zum Beispiel der Fall sein könnte, wenn bezüglich der Zuständigkeit des Gerichtshofs noch nicht entschieden wurde.

Zuständigkeiten Der Vertragsstaat ist an den Haftbefehl des Gerichtshofs gebunden. Er kann diesen auch auf Antrag der verhafteten Person nicht überprüfen. Diese kann den Haftbefehl nur vor dem Gerichtshof überprüfen lassen, sobald sie dort erscheint (Art. 60 Abs. 2).

57 58

59

436

Art. 28 und 41 IRSG; vgl. unten Ziff. 3.3.4, Erläuterungen zu Art. 17 des Entwurfs eines Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof.

Texte final du projet de Règlement de procédure et de preuve, Rapport de la Commission préparatoire de la Cour pénale internationale du 30 juin 2000, Nations Unies, document PCNICC/2000/INF/3/Add. 1, Règle 188.

Art. 16 EUeA/Art. 50 IRSG: 18 Tage, welche maximal auf 40 Tage verlängert werden können.

Hingegen kann die Person im Haftstaat einen Antrag auf Haftentlassung stellen. Die Entscheidung fällt der ersuchte Staat, doch muss er die Vorverfahrenskammer zuvor über den Antrag in Kenntnis setzen. Die Vorverfahrenskammer erteilt der zuständigen Behörde des Vertragsstaates Empfehlungen (Art. 59 Abs. 5). Das Statut selber sieht vor, dass trotz der Schwere der angeblichen Verbrechen auf Grund dringender und aussergewöhnlicher Umstände eine vorläufige Haftentlassung gerechtfertigt erscheinen muss (Art. 59 Abs. 4), wobei der Staat in der Lage bleiben muss, seiner Pflicht zur Überstellung der Person nachzukommen. Die provisorische Haftentlassung wird somit die Ausnahme bleiben.

Doppelte Strafbarkeit, Staatsangehörigkeit, «ne bis in idem» Wie bereits dargestellt (Ziff. 2.8.1, Allgemeines), sind die allgemeinen Gründe, die normalerweise dazu berechtigen, ein Gesuch um Rechtshilfe oder Auslieferung abzulehnen, bei der Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof nicht anwendbar. Auch die spezifischen Gründe, die üblicherweise im Bereich der Auslieferung gelten, sind für die Überstellung einer Person an den Gerichtshof nicht oder jedenfalls nur bedingt anwendbar.

So ist beispielsweise verständlich, dass ein Staat eine Überstellung an den Gerichtshof nicht unter Berufung auf die fehlende doppelte Strafbarkeit ablehnen kann. Das Statut verlangt von den Vertragsstaaten nicht, dass sie die Straftatbestände des Statuts im innerstaatlichen Recht in der Art und Weise anerkennen, wie sie das Statut umschreibt. Unter dem Gesichtspunkt der komplementären Zuständigkeit des Gerichtshofs wäre es jedoch geradezu widersinnig, wenn sich gerade diejenigen Staaten von der Überstellungspflicht dispensieren könnten, welche nach ihrem innerstaatlichen Recht keine Strafverfolgung für diese Verbrechen durchführen können (vgl. Art. 17 Abs. 1 Bst. a). Mit der Ratifikation des Statuts verpflichten sich die Staaten deshalb zumindest, die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs für die Verbrechen nach den Artikeln 6­8 anzuerkennen. Für die Einrede der fehlenden doppelten Strafbarkeit im Bereich der Zusammenarbeit besteht damit kein Raum.

Aus ähnlichen Gründen ist auch die Einrede der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen: Sie würde Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe b zuwiderlaufen, wonach die Staatsbürgerschaft eines Vertragsstaates einer der
Anknüpfungspunkte für die Zuständigkeit des Gerichtshofs ist. Mit einer solchen Einrede würde eine tragende Säule der Zuständigkeit des Gerichtshofs untergraben. Wollte jeder Staat einen Internationalen Strafgerichtshof nur für die Bürger der anderen Staaten, nicht aber jeweils für seine eigenen anerkennen, so verbliebe einem solchen Gerichtshof fast keine Jurisdiktion.

Die Schweiz hat bereits im Rahmen des Bundesbeschlusses über die Zusammenarbeit mit den Sondergerichten für Ex-Jugoslawien und Ruanda60 entschieden, dass Schweizer Bürger an einen Internationalen Gerichtshof zur Ahndung der schwersten Verbrechen überstellt werden können. Die Überstellung wurde an die Verpflichtung der Ad-hoc-Tribunale gebunden, Schweizer Bürger nach Beendigung des Verfahrens zurückzuüberstellen61. Diese Pflicht des Gerichtshofs kann auf Grund der statutarischen Verpflichtungen nicht mehr gefordert werden, doch kann die Schweiz, indem sie sich zur Strafvollstreckung bereit erklärt, die Möglichkeit für eine Rücküberstellung schaffen. Angesichts der festgestellten Schwierigkeiten, einen Voll60 61

SR 351.20 Vgl. Art. 16 Abs. 3 des Entwurfs des Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof sowie die Erläuterungen dazu in Ziff. 3.3.4.1.

437

streckungsstaat zu finden, darf man davon ausgehen, dass die vom Gerichtshof verurteilten Schweizer Bürger zum Strafvollzug zurücküberstellt werden. In allererster Linie ist aber darauf hinzuweisen, dass die Überstellung eines Schweizers verhindert werden kann, indem die Schweiz ein Strafverfahren durchführt (was bei den beiden Ad-hoc-Tribunalen, die nicht auf dem Grundsatz der Komplementarität beruhen, nicht zutrifft).

Im Strafverfahren gilt der Grundsatz, dass ein Täter nicht zweimal für dieselbe Tat belangt werden kann62. Auf diesen auch in Artikel 20 des Statuts verankerten Grundsatz kann sich auch die in einem Auslieferungs-63 oder Überstellungsverfahren verhaftete Person berufen, doch kann sie im letzteren Fall diesen Einwand nur vor dem Gerichtshof geltend machen (Art. 89 Abs. 2). Diese ausschliessliche Zuständigkeit des Gerichtshofs ist notwendig, da ansonsten das gesamte Zuständigkeitsverfahren (Art. 17­19) in Frage gestellt würde. Ein Staat könnte die Wirkung einer diesbezüglichen Entscheidung des Gerichtshofs andernfalls zunichte machen, was besonders sinnwidrig wäre, wenn die Zuständigkeit des Gerichtshofs im «Unwillen» des Staates begründet ist, eine Person strafrechtlich zu verfolgen (Art. 17 Abs. 1 Bst. a und b, jeweils erste Variante). Die Interdependenz dieser Bestimmungen kommt auch in Artikel 19 Absatz 2 Buchstabe a zum Ausdruck, wonach die verfolgte Person das Recht hat, die Zuständigkeit des Gerichtshofs anzufechten.

Schliesslich führt auch der Umstand, dass gegen eine Person im ersuchten Staat wegen eines anderen Verbrechens als desjenigen, auf welches der Gerichtshof sein Überstellungsersuchen stützt, die Strafverfolgung eingeleitet wurde oder eine Strafe vollstreckt wird (Art. 89 Abs. 4), nicht dazu, dass die Überstellung an den Gerichtshof ausgeschlossen wäre. Das bedeutet aber nicht, dass der Gerichtshof sich über diesen Umstand einfach hinwegsetzen könnte. In einem solchen Fall sind Konsultationen zwischen dem Gerichtshof und dem ersuchten Staat vorgesehen, worin die Überstellungsmodalitäten festgelegt werden. In solchen Situationen ist insbesondere die vorübergehende Überstellung denkbar 64.

Transit In Artikel 89 Absatz 3 wurde die Durchbeförderung einer zu überstellenden Person ausführlich geregelt, womit die Gefährdung des Vollzugs der Überstellung minimiert wurde. Die
Person bleibt während der gesamten Durchbeförderung in Haft.

Dabei ist kein Ersuchen notwendig, wenn die Durchbeförderung auf dem Luftweg ohne Zwischenladung geschieht. In den übrigen Fällen muss der Gerichtshof ein Durchlieferungsersuchen stellen, welches eine Beschreibung der zu befördernden Person, den Sachverhalt, den Haftbefehl sowie das Überstellungsersuchen enthält.

Bei einer unvorhergesehenen Zwischenlandung bleibt die Person in Haft, wobei der Gerichtshof 96 Stunden Zeit hat, um das Ersuchen zu übermitteln. Trifft das Ersuchen innert dieser Frist nicht ein, so muss die Person freigelassen werden. Obwohl nicht ausdrücklich geregelt, schliesst die Freilassung selbstverständlich ein nachfolgendes Überstellungsersuchen analog Artikel 92 Absatz 4 nicht aus.

62 63 64

438

Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK (SR 0.101.07), Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II (SR 0.103.2).

Art. 9 Europäisches Auslieferungsübereinkommen (SR 0.353.1).

Vgl. Art. 58 IRSG, Art. 26 des Entwurfs eines Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof sowie die Erläuterungen in Ziff. 3.3.4.3.

Grundsatz der Spezialität Im Auslieferungsrecht ist der Grundsatz der Spezialität von grundlegender Bedeutung. Er garantiert dem ausliefernden Staat, aber auch der ausgelieferten Person, dass sie nur für die Taten belangt werden kann, für welche das Ersuchen bewilligt wurde65. Das Statut hat diesen Grundsatz übernommen (Art. 101) und mit der üblichen Regel66 verbunden, wonach der Staat, welcher eine Person überstellt hat, gestützt auf ein späteres Ersuchen des Gerichtshofs die Wirkung der Überstellung auf weitere Taten ausdehnen kann.

2.8.3

Andere Formen der Zusammenarbeit

Verfahren Die Ersuchen um Zusammenarbeit werden in der Praxis vorwiegend vom Ankläger ausgehen, dessen Aufgabe es ist, Beweismittel zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortung zu sammeln (Art. 54). Die Initiative kann aber auch von einer angeschuldigten Person ausgehen, die dem Gerichtshof einen Beweisantrag stellt67, um ihre Verteidigung vorzubereiten (Art. 57 Abs. 3 Bst. b). In beiden Fällen entscheidet die Vorverfahrenskammer über den Antrag. Sie ist formell das ersuchende Organ (Art. 57 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 54).

Ein Ersuchen enthält eine Darstellung des Zwecks des Ersuchens und die erbetenen Rechtshilfehandlungen, eine kurze Darstellung des Sachverhalts, die Gründe für einzuhaltende Verfahren sowie alle Informationen, die nach dem Recht des ersuchten Staates erforderlich sind, damit dem Ersuchen entsprochen werden kann (Art. 96 Abs. 2). Diese abschliessende Generalklausel ist wiederum eine Konzession zu Gunsten der Staaten des «common law», die damit an ihren formellen Erfordernissen auch im Verkehr mit dem Gerichtshof festhalten können. Es ist zu hoffen, dass dies die Verfahren nicht unnötig kompliziert.

Die Ersuchen sollten grundsätzlich in der vom Gerichtshof angegebenen Weise erledigt werden (Art. 99 Abs. 1). Damit kann erreicht werden, dass die Rechte sämtlicher am Verfahren Beteiligter beachtet und die Ergebnisse des Rechtshilfeverfahrens vollumfänglich vor dem Gerichtshof verwendet werden können. Den Vertragsstaaten steht es dagegen frei, die erhobenen Unterlagen und Beweise in der Originalsprache zu übermitteln (Abs. 3).

Mögliche Formen der Zusammenarbeit In Rom fand eine Grundsatzdiskussionen statt zwischen einer Gruppe von Staaten, die eine abschliessende Liste der möglichen Rechtshilfehandlungen, das heisst einheitliche Bestimmungen für alle Vertragsstaaten, befürworteten, und anderen Staaten, die eine Generalklausel mit Verweis auf das jeweilige Landesrecht verankert sehen wollten. Artikel 93 Absatz 1 sieht nun einen Kompromiss vor: Eine nicht abschliessende Liste der möglichen Formen der Zusammenarbeit enthält die üblichen Formen der Rechtshilfe68, wie zum Beispiel die Einvernahme des Beschuldigten, eines Zeugen oder eines Sachverständigen, die Zustellung von Schriftstücken des Ge65 66 67 68

BGE 123 IV 42, Erw. 3 m.w.H.

Vgl. Art. 14 Abs. 1 a EUeA.

Vgl. Art. 138 des Bundesgesetzes über die Strafrechtspflege (SR 312).

Vgl. Art. 63 IRSG.

439

richtshofs, das Beibringen von Unterlagen sowie die Identifizierung, Einfrierung und Beschlagnahme von Erlösen, Gegenständen oder anderen Vermögenswerten zum Zweck der späteren Einziehung (Bst. a­k). Die Liste wird mit einer Generalklausel (Bst. l) dahingehend ergänzt, dass weitere Rechtshilfehandlungen nur möglich sind, wenn dies nach dem innerstaatlichen Recht zulässig ist. Dies ermöglicht es den Staaten, gewisse für sie heikle Formen der Zusammenarbeit, z.B. Telefonkontrollen, auszuschliessen. Die Verwendung einer Generalklausel entspricht der ebenfalls offen formulierten Kompetenz der Vorverfahrenskammer bezüglich der Anordnung der für den Zweck der Ermittlung möglichen Anordnungen und Befehle (Art. 57 Abs. 3). Mit der offenen Formulierung kann verhindert werden, dass zukünftige Zusammenarbeitsinstrumente grundsätzlich ausgeschlossen sind. Unter die Generalklausel können bereits jetzt Videokonferenzen69 subsumiert werden, die in der Verfahrens- und Beweisordnung an mehreren Stellen erwähnt sind.

Einvernahme Wenn eine Person, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begangen hat, im ersuchten Staat einvernommen wird (Art. 93 Abs. 1 Bst. c), so muss sie auf ihre Rechte gemäss Artikel 55 hingewiesen werden. Die Pflicht, die Person vor ihrer Einvernahme über ihre Rechte aufzuklären, entspricht einem wichtigen Recht der Verteidigung70 und ist im Interesse der internationalen Strafjustiz weit auszulegen. In diesem Sinne sind Personen im Zweifelsfall grosszügig auf diese Bestimmung aufmerksam zu machen, auch wenn sich (noch) kein Tatverdacht gegen sie erhärtet hat.

Erscheinen einer Person vor dem Gerichtshof Das Statut unterscheidet zwischen zwei Alternativen, dem freiwilligen Erscheinen eines Zeugen oder Sachverständigen einerseits und der Zuführung einer inhaftierten Person zum Zwecke der Zeugenaussage oder Konfrontation andererseits. Erscheint eine Person freiwillig vor dem Gerichtshof, so kann ihr dieser freies Geleit zusichern (Art. 93 Abs. 2). Das freie Geleit gilt eigentlich als Selbstverständlichkeit in solchen Fällen71, doch wurde für die Bedürfnisse des Statuts bewusst davon abgewichen: Die «Kann»-Vorschrift soll vermeiden, dass Tätern eine Form der Immunität zugesichert wird, die für die internationale Justiz
als stossend empfunden werden könnte.

Gemäss der Verfahrens- und Beweisordnung wird dem Ankläger und den Opfern die Gelegenheit geboten, von der Vorverfahrenskammer diesbezüglich angehört zu werden72. Die im Statut statuierte Pflicht, wonach Staaten das freiwillige Erscheinen von Zeugen und Sachverständigen erleichtern sollen (Art. 93 Abs. 1 Bst. e), wird deshalb wohl vor allem darin bestehen, den Antrag auf freies Geleit einzureichen. In der zweiten Fallvariante, dem Erscheinen einer im Vertragsstaat inhaftierten Person, werden als Grundvoraussetzung die Einwilligung der betroffenen Person und des 69

70 71 72

440

Videokonferenzen wurden nur deshalb nicht ausdrücklich in die Liste aufgenommen, weil gewisse Staaten, die nicht über die zur Durchführung erforderlichen Mittel verfügen, dagegen waren.

Vgl. Art. 6 Abs. 3 EMRK; Art. 14 Ziff. 3 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte.

Vgl. Art. 12 EuR und Art. 73 IRSG.

Texte final du projet de Règlement de procédure et de preuve, Rapport de la Commission préparatoire de la Cour pénale internationale du 30 juin 2000, Nations Unies, document PCNICC/2000/INF/3/Add. 1, Règle 191.

Staates vorgesehen (Art. 93 Abs. 7). Die Person bleibt in Haft und wird sobald als möglich an den Staat zurückübergeben. Obwohl diese Anforderungen bereits dem üblichen Standard entsprechen73, kann der Staat an die Übergabe weitere Bedingungen knüpfen.

Beschlagnahme Die Beschlagnahme bezieht sich wie im IRSG74 einerseits auf Beweismittel und andererseits auf die Erlöse, Gegenstände und Vermögenswerte, die unmittelbar oder mittelbar aus dem Verbrechen stammen und deren Beschlagnahme der späteren Einziehung dient. Dabei kann die Beschlagnahme auch zu Gunsten der Opfer erfolgen (Art. 57 Abs. 3 Bst. e in Verbindung mit Art. 75 Abs. 2).

Die Vorverfahrenskammer kann eine Beschlagnahme jedoch nur anordnen, wenn ein Haftbefehl oder eine Vorladung ergangen ist (Art. 57 Abs. 3 Bst. e). Deshalb ist es wichtig, dass Staaten bereits vor diesem Zeitpunkt vorläufige Massnahmen zur Sicherung durchführen. Der Ankläger kann einen entsprechenden Antrag stellen (Art. 54 Abs. 1 Bst. b). Die Beschlagnahme hat keinen Einfluss auf die gutgläubig erworbenen Rechte einer unbeteiligten Person (Art. 93 Abs. 1 Bst. k in fine). Diese kann ihre Rechte im Vertragsstaat, aber auch vor dem Gerichtshof geltend machen (Art. 75 Abs. 3 und 77 Abs. 2 Bst. b).

Einschränkung der Zusammenarbeit Obwohl für die so genannte «andere Zusammenarbeit» formell Gründe für deren Verweigerung vorgesehen sind, handelt es sich bei näherer Betrachtung materiell vielmehr um Einschränkungen des Umfangs der Zusammenarbeit. Dies illustriert insbesondere Artikel 93 Absatz 3, der im Falle der Unmöglichkeit, einem Ersuchen Folge zu leisten, Konsultationen vorsieht, deren Ziel es ist, die Zusammenarbeit in einer anderen als der ursprünglich ersuchten Form oder an Bedingungen geknüpft zu ermöglichen.

Der ersuchte Staat muss dem Gerichtshof keine Unterlagen zur Verfügung stellen, welche er selber von einem Nichtvertragsstaat unter Geheimhaltungspflicht erhalten hat (Art. 73). Der ersuchte Staat muss jedoch versuchen, die Einwilligung des Drittstaates für die Herausgabe einzuholen. Wenn es sich beim Drittstaat ebenfalls um einen Vertragsstaat handelt, so ist dieser verpflichtet, sie zu erteilen oder ­ wenn es sich um Informationen betreffend die nationale Sicherheit dieses Drittstaates handelt ­ das Verfahren nach Artikel 72 zu durchlaufen.

Auf diesen Artikel
72 bezieht sich denn auch die in Artikel 93 Absatz 4 vorgesehene Ausnahme von der Pflicht zur Zusammenarbeit, in welchem der Schutz von Informationen betreffend die nationale Sicherheit im Vordergrund steht. Die Bestimmung ist von grosser Bedeutung75. Auf den Schutz von Informationen betreffend die nationale Sicherheit kann sich nicht nur der entsprechende Staat, sondern auch die einzuvernehmende Person berufen (Art. 99 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2).

Ein Staat kann gestützt darauf die Zusammenarbeit ganz oder teilweise ablehnen, wenn die Herausgabe von Unterlagen oder die Offenlegung von Beweisstücken die nationale Sicherheit betreffen würde (Art. 93 Abs. 4). Der Staat ist aber verpflichtet zu prüfen, ob er die Zusammenarbeit unter gewissen Bedingungen oder in anderer 73 74 75

Vgl. Art. 11 EuR und Art. 70 IRSG.

Art. 74 und 74a.

Vgl. Art. 1a IRSG; Art. 2 Bst. b EuR.

441

Form gewähren könnte. Eine denkbare Bedingung wäre die Zusage des Gerichtshofs, Unterlagen oder Informationen nur zum Zweck der Erlangung neuer Beweismittel einzusetzen (Art. 93 Abs. 8 Bst. b). Das Statut sieht weitere Lösungsmöglichkeiten aus der Sicht des Gerichtshofs vor (Art. 72 Abs. 7)76.

Würde die sofortige Erledigung des Ersuchens laufende Ermittlungen oder Strafverfolgungen im ersuchten Staat beeinträchtigen, so kann die Erledigung aufgeschoben werden (Art. 94). Dasselbe gilt, wenn der Gerichtshof eine Anfechtung der Zulässigkeit gemäss Artikel 18 oder 19 prüft (Art. 95). In beiden Fällen kann der Ankläger jedoch provisorische Massnahmen fordern, um die Beweise zu sichern, wobei er im Falle einer Zulässigkeitsprüfung von der Vorverfahrenskammer ausdrücklich dazu ermächtigt werden muss (Art. 18 Abs. 6 bzw. Art. 19 Abs. 8).

Lehnt ein Staat die Zusammenarbeit definitiv ab, so setzt er den Ankläger hiervon umgehend und unter Angabe der Gründe in Kenntnis (Art. 93 Abs. 6). Wie dargelegt wurde, sollte dies die Ausnahme bleiben: Es dürfte schwierig sein, Gründe für eine gänzliche Ablehnung der Zusammenarbeit zu finden.

Ermittlungen des Anklägers In drei Fällen kann der Ankläger selbstständig auf dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats ermitteln. Zunächst kann der Ankläger die Erledigung eines Ersuchens, für welches keine Zwangsmassnahmen notwendig sind, selber vornehmen, wenn es sich um den Staat handelt, auf dessen Hoheitsgebiet das Verbrechen stattgefunden hat (Art. 99 Abs. 4 Bst. a). Auch in diesem Fall konsultiert er jedoch soweit möglich den betroffenen Staat vorgängig. Der Ankläger kann sodann auch einen Vertragsstaat um eine entsprechende Bewilligung ersuchen. Der ersuchte Staat kann an die Bewilligung solcher Untersuchungshandlungen Bedingungen knüpfen (Art. 99 Abs. 4 Bst. b). Diese bereits im Bundesbeschluss77 vorgesehene Möglichkeit hat sich bewährt. Als dritte Möglichkeit kann schliesslich die Vorverfahrenskammer feststellen, dass ein Staat nicht mehr in der Lage ist, ein Rechtshilfeverfahren selbstständig durchzuführen, weil keine zuständige Behörde zur Verfügung steht, und den Ankläger zu Ermittlungshandlungen auf dem Territorium dieses Staates ermächtigen (Art. 57 Abs. 3 Bst. d)78.

Rechtshilfe durch den Gerichtshof In aller Regel ist der Gerichtshof Absender, der ersuchte Staat
Adressat eines Ersuchens um Zusammenarbeit. Es kann aber auch der Fall eintreten, dass ein Staat Informationen von Seiten des Gerichtshofs erhalten möchte. Wenn ein Vertragsstaat wegen eines Verhaltens, das einen Tatbestand gemäss den Artikeln 6­8 oder ein schweres Verbrechen nach innerstaatlichen Recht erfüllt, ein Strafverfahren durchführt, so kann ihm der Gerichtshof Rechtshilfe gewähren (Art. 93 Abs. 10). Das Ersuchen des Staates ist an den Kanzler zu richten und muss ­ mutatis mutandis ­ den Anforderungen von Artikel 96 entsprechen. Betrifft ein Ersuchen jedoch Dokumente, welche dem Gerichtshof von einem anderen Staat zugekommen waren, so ist die Zustimmung dieses Staates notwendig. Damit ist gewährleistet, dass jeder Staat Herr seiner Information bleibt.

76 77 78

442

Vgl. zum Ganzen Ziff. 2.7 und Anhang 3, Ziff. 2 zu Art. 72.

SR 351.20, Art. 22.

Vgl. dazu Ziff. 2.7 und Anhang 3, Ziff. 1 zu Art. 57.

2.9

Vollstreckung (Teil 10: Art. 103­111)

Allgemeines Der Gerichtshof selber verfügt über keine Möglichkeit, seine Entscheide zu vollstrecken. Er ist damit auf die Unterstützung der Vertragsstaaten und des Gaststaates, der Niederlande, angewiesen. Dabei muss als oberstes Gebot die Gleichbehandlung der Verurteilten gelten. Aus diesem Grund bleibt auch während des Strafvollzugs in einem Staat die formelle Zuständigkeit beim Gerichtshof. Die Bestimmungen in Teil 10 des Statuts sind von diesem Grundgedanken geprägt. Folglich sind die Strafe und die sonstigen Anordnungen des Gerichtshofs für den vollziehenden Staat bindend. Die Bestimmungen bezüglich der Vollstreckung von Freiheitsstrafen sind für die Vertragsstaaten jedoch optional, da sie nicht bereits auf Grund des Statuts verpflichtet sind, verurteilte Personen zur Vollstreckung zu übernehmen.

Verfahren Ein Staat muss zunächst eine Erklärung abgeben, wonach er grundsätzlich bereit ist, Strafgefangene des Gerichtshofs zum Strafvollzug zu übernehmen (Art. 103 Abs. 1 Bst. a). Dabei kann er an die Übernahme der Strafvollstreckung Bedingungen knüpfen (Bst. b). Es erscheint als notwendig, dass die Schweiz anlässlich der Ratifikation ihre Bereitschaft zur Übernahme von Verurteilten bekundet, damit ­ sollte dieser Fall eintreten ­ Schweizer Bürgern ermöglicht werden könnte, ihre Strafe im Heimatstaat zu verbüssen. Die Bereitschaft der Schweiz zur Übernahme wird allerdings dahingehend beschränkt werden, dass die Übernahme zur Vollstreckung nur erfolgt, wenn der Verurteilte in der Schweiz seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder Schweizer Bürger ist. Diese Bedingung entspricht dem Resozialisierungsgedanken, welcher hinter der Übernahme des Strafvollzuges im zwischenstaatlichen Bereich steht. Diese Erklärung stimmt mit der im Bundesbeschluss zur Zusammenarbeit mit den beiden Ad-hoc-Tribunalen79 getroffenen Lösung überein.

Auf Grund der aus den Erklärungen aller Vertragsstaaten resultierenden Liste und gestützt auf die in Artikel 103 Absatz 3 aufgeführten Kriterien bestimmt der Gerichtshof im konkreten Einzelfall einen Vollzugsstaat. Der vom Gerichtshof bezeichnete Staat muss daraufhin eine zweite, auf die Übernahme der konkreten Strafvollstreckung bezogene Einwilligung abgeben. Die Zusage wird verbunden mit der Angabe von eventuellen Umständen und Bedingungen, welche einen Einfluss auf den Strafvollzug
haben werden. Auf Grund des Grundsatzes des einheitlichen Strafvollzuges (Art. 105) und des Minimalstandards, der in Artikel 106 umschrieben ist, muss davon ausgegangen werden, dass für die Staaten diesbezüglich kein grosser Spielraum besteht. Dies umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass es dem Gerichtshof jederzeit frei steht, den Vollstreckungsstaat neu zu bestimmen (Art. 104).

Akzeptiert kein Vertragsstaat, die Haftstrafe zu vollstrecken, so wird die Strafe, auf Kosten des Gerichtshofs, im Gaststaat vollzogen (Art. 103 Abs. 4).

Herabsetzung der Strafe Als weitere Konsequenz der Gleichbehandlung der vom Gerichtshof verurteilten Personen ist es notwendig, dass dieser allein für die Herabsetzung der Strafdauer zuständig ist. Damit wird die Zuständigkeit der Staaten nicht nur für die im Artikel vorgesehene Herabsetzung des Strafmasses, sondern auch für die anderen Formen 79

SR 351.20, Art. 29 Abs. 1.

443

der Reduzierung der effektiven Haftdauer ausgeschlossen. Die erste Überprüfung durch den Gerichtshof findet nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe statt ­ bei lebenslanger Haft nach 25 Jahren (Art. 110 Abs. 3) ­, wobei die Kriterien im Statut und in der Verfahrens- und Beweisordnung80 festgelegt sind (Abs. 4). Die für diesen Entscheid notwendige Anhörung (Abs. 2) kann auch per Videokonferenz oder durch die Entsendung eines Richters in den Vollzugsstaat geschehen 81.

Aufsicht des Gerichtshofs Die Vollstreckung der Strafe unterliegt der Aufsicht des Gerichtshofs (Art. 106 Abs. 1).

Die eher rudimentäre Bestimmung wird in der Verfahrens- und Beweisordnung ergänzt: Der Gerichtshof kann vom Staat oder von dritter Seite Berichte anfordern oder die verurteilte Person unter bestimmten Voraussetzungen besuchen.82 Diese Aufsicht wird dadurch erleichtert, dass sich die verurteilte Person ungehindert und vertraulich mit dem Gerichtshof verständigen kann (Art. 106 Abs. 3).

Grundsatz der Spezialität Als weitere Folge davon, dass sich die verurteilte Person zwar zur Strafvollstreckung im Hoheitsgebiet des Staates befindet, jedoch rechtlich noch immer dem Gerichtshof unterstellt ist, kann der Vollzugsstaat den Verurteilten für eine Straftat, welche dieser vor dem Verbringen in den Vollstreckungsstaat begangen hat, nur strafrechtlich verfolgen, wenn der Gerichtshof einwilligt (Art. 108). Dieser entscheidet nach Anhörung des Verurteilten und gestützt auf ein Dossier, welches demjenigen eines Auslieferungsverfahrens entspricht. Eine solche Einwilligung ist nicht notwendig, wenn der Verurteilte freiwillig, nachdem er die gesamte vom Gerichtshof verhängte Strafe verbüsst hat, im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates bleibt oder dorthin zurückkehrt, nachdem er es verlassen hat, da er sich damit der Strafhoheit des Staates unterwirft. Dieselben Bestimmungen gelten sinngemäss auch bezüglich einer eventuellen Auslieferung an einen anderen Staat (Art. 107 Abs. 3).

Flucht Flieht eine verurteilte Person aus dem Vollstreckungsstaat, so muss dieser den Gerichtshof informieren. Nach Rücksprache mit dem Gerichtshof kann der Vollstreckungsstaat beim Fluchtstaat um Überstellung ersuchen, oder aber der Gerichtshof kann ein entsprechendes Ersuchen gestützt auf die Bestimmungen von Teil 9 stellen.

Diese Lösung optimiert
die Wahrscheinlichkeit, dass die flüchtige Person festgenommen werden kann (Art. 111).

Vollstreckung der Geldstrafen und Einziehungsanordnungen Im Gegensatz zur Vollstreckung der Freiheitsstrafen ist die Vollstreckung der Geldstrafen und der Einziehungsentscheide des Gerichtshofs bereits auf Grund der Ratifikation für die Vertragsstaaten Pflicht. Dabei vollstrecken die Staaten jedoch ausschliesslich nach ihrem innerstaatlichen Recht.

Vollstreckbar sind zunächst sämtliche gegen den Täter nach Artikel 77 angeordneten Geldstrafen und Einziehungsanordnungen. Zur Vollstreckung gelangen aber auch 80

81 82

444

Texte final du projet de Règlement de procédure et de preuve, Rapport de la Commission préparatoire de la Cour pénale internationale du 30 juin 2000, Nations Unies, document PCNICC/2000/INF/3/Add. 1, Règle 223.

A.a.O., Règle 224.

A.a.O., Règle 211.

die Rückerstattungs-, Entschädigungs- und Rehabilitierungsansprüche zu Gunsten der Opfer (Art. 75 Abs. 5). Kann ein Einziehungsentscheid des Gerichtshofs nicht vollzogen werden, so muss der Staat ­ soweit vorhanden ­ Ersatzwerte einziehen.

Der Gerichtshof kann anordnen, dass die eingezogenen Vermögenswerte an den in Artikel 79 umschriebenen Treuhandfonds überwiesen werden.

Bei der Vollstreckung müssen die allfälligen Rechte gutgläubiger Dritter beachtet werden (Art. 109 Abs. 1 und 2). Insofern ist die Teilnahme der Betroffenen am Verfahren vor dem Gerichtshof im Rahmen von Artikel 75 Absatz 3 zwar ein Indiz bei der Beurteilung, jedoch kein Ausschlussgrund für das Geltendmachen ihrer Rechte vor dem nationalen Richter.

2.10

Versammlung der Vertragsstaaten (Teil 11: Art. 112)

Der über Völkerrechtspersönlichkeit verfügende Internationale Strafgerichtshof (vgl.

Art. 4) wird institutionell durch die Versammlung der Vertragsstaaten begleitet, deren Errichtung, Aufgaben, Organisation und Willensbildung in Artikel 112 geregelt werden. Jeder Vertragsstaat hat eine Vertretung in der Versammlung. Andere Staaten können als Beobachter teilnehmen, sofern sie das Statut oder die Schlussakte unterzeichnet haben (Abs. 1).

Absatz 2 listet die Befugnisse der Versammlung auf: Die Staatenversammlung erörtert und verabschiedet die Empfehlungen der Vorbereitungskommission. Diese Bestimmung ist in Zusammenhang mit Resolution F der Schlussakte der Römer Konferenz zu lesen, welche eine Vorbereitungskommission einsetzt und mit der Erarbeitung verschiedener Entwürfe von Nebeninstrumenten betraut (vgl. vorn Ziff. 1.2: Vorbereitungskommission). Die in Absatz 2 angeführten Befugnisse dürften insbesondere bei der ersten Versammlung der Vertragsstaaten unmittelbar nach Inkrafttreten des Statuts massgeblich sein; ihr kommt denn auch besondere Bedeutung zu (Abs. 2 Bst. a).

Die Versammlung hat ferner die Aufsicht über das Präsidium, den Ankläger und den Kanzler hinsichtlich der Verwaltung des Gerichtshofs (Abs. 2 Bst. b). Sie erörtert und beschliesst den Haushalt des Gerichtshofs (Bst. d). Weiter erörtert sie die Berichte und Tätigkeiten des von ihr geschaffenen Büros und trifft die entsprechenden Massnahmen (Bst. c), beschliesst eine allfällige Änderung der Anzahl Richter gemäss Artikel 36 (Bst. e) und erörtert Fragen betreffend die fehlende Zusammenarbeit von Staaten mit dem Gerichtshof gemäss Artikel 87 Absätze 5 und 7 (Bst. f). Darüber hinaus nimmt die Versammlung alle anderen Aufgaben wahr, die mit dem Statut oder der Verfahrens- und Beweisordnung vereinbar sind (Bst. g). Zu erwähnen sind an dieser Stelle insbesondere die Aufgaben der Versammlung der Vertragsstaaten, die sich aus Teil 4 im Hinblick auf die Wahlen der Organe des Gerichtshofs ergeben.

Die Versammlung bestellt ein Büro mit einem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten und 18 von der Versammlung für eine dreijährige Amtszeit gewählten Mitgliedern (Art. 112 Abs. 3). Der Präsident des Gerichtshofs, der Ankläger und der Kanzler oder ihre Stellvertreter können nach Bedarf an den Sitzungen der Versammlung und des Büros teilnehmen (Abs. 5). Soweit dies erforderlich ist, kann die Versammlung Nebenorgane einsetzen, einschliesslich einer unabhängigen Aufsichtsinstanz (Abs. 4).

445

Die Versammlung tritt einmal im Jahr am Sitz des Gerichtshofs oder am Sitz der Vereinten Nationen zusammen; wenn die Umstände es erfordern, hält sie ausserordentliche Tagungen ab (Abs. 6). Es werden alle Anstrengungen unternommen, um Entscheidungen in der Versammlung und im Büro durch Konsens zu treffen. Wenn kein Konsens gefunden werden kann und im Statut nichts anderes vorgesehen ist, werden Beschlüsse über Sachfragen von der Zweidrittelmehrheit der Anwesenden und Abstimmenden angenommen; Quorum für die Beschlussfähigkeit der Versammlung ist die absolute Mehrheit der Vertragsstaaten. Für Beschlüsse über Verfahrensfragen genügt die einfache Mehrheit der Anwesenden und Abstimmenden.

Selbstverständlich hat jeder Vertragsstaat eine Stimme (Abs. 7).

Nach Absatz 8 hat allerdings ein Vertragsstaat, der mit der Zahlung seiner Beiträge zur Deckung der Kosten des Gerichtshofs im Rückstand ist, kein Stimmrecht in der Versammlung und im Büro, wenn die Höhe seiner Rückstände die Beiträge für die vorausgegangenen zwei Jahre erreicht oder übersteigt, wobei die Versammlung Ausnahmen gestatten kann. Die Versammlung gibt sich eine Geschäftsordnung (Abs. 9); ihre Amts- und Arbeitssprachen sind diejenigen der Vereinten Nationen (Abs. 10).

Wie bereits erwähnt, ist die erste Versammlung der Vertragsstaaten nach Inkrafttreten des Statuts von grosser Bedeutung, weil eine Vielzahl von Nebeninstrumenten des Statuts erörtert und angenommen werden, insbesondere die in Resolution F Ziffer 5 der Schlussakte der Römer Konferenz aufgeführte Verfahrens- und Beweisordnung, die «Verbrechenselemente», das Abkommen zum Verhältnis des Gerichtshofs zu den Vereinten Nationen (vgl. Art. 2 des Statuts), die Grundzüge des Sitzabkommens mit dem Gaststaat (vgl. Art. 3), die Finanzvorschriften und die Finanzordnung (Art. 113), ein Abkommen über Privilegien und Immunitäten des Gerichtshofs, das Budget des ersten Geschäftsjahrs und die Geschäftsordnung der Versammlung der Vertragsstaaten selBst. Neben all diesen Aufgaben stehen an der ersten Versammlung der Vertragsstaaten nach dem Inkrafttreten des Statuts auch sämtliche Wahlen an: Wahl der Richter und des Anklägers, Empfehlungen für die Wahl des Kanzlers und Wahlen in das Büro der Staatenversammlung.

Weitere wichtige Zäsuren dürften sich sodann an den Überprüfungskonferenzen des Statuts abzeichnen, deren erste sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts stattfindet (Art. 123).

2.11

Finanzierung des Gerichtshofs (Teil 12: Art. 113­118)

Alle finanziellen Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Gerichtshof werden durch das Statut sowie durch die von der Versammlung der Vertragsstaaten angenommenen Finanzvorschriften und die Finanzordnung geregelt (Art. 113). Folglich werden die Kosten des Gerichtshofs und der Versammlung der Vertragsstaaten einschliesslich ihres Büros und ihrer Nebenorgane allein aus den finanziellen Mitteln des Gerichtshofs bestritten (Art. 114).

Die finanziellen Mittel des Gerichtshofs fliessen gemäss den Artikeln 115 und 116 aus folgenden drei Quellen: Beiträge der Vertragsstaaten, finanzielle Mittel der Vereinten Nationen und freiwillige Beiträge.

Die Beiträge der Vertragsstaaten werden nach dem vereinbarten Beitragsschlüssel berechnet, dem der von den Vereinten Nationen für ihren ordentlichen Haushalt beschlossene Beitragsschlüssel und allfällige Änderungen zu Grunde liegen. Als Mass446

stab für den Beitrag eines Vertragsstaats wird dessen Zahlungsfähigkeit unter Zugrundelegung vor allem des Volkseinkommens ermittelt. Beim Beitritt eines neuen Vertragsstaats zum Statut wird der Schlüssel entsprechend angepasst (Art. 117).

Über die zweite Finanzquelle, die Beiträge der Vereinten Nationen, kann Artikel 115 keine verbindlichen Aussagen machen, weil in dieser Frage die Zustimmung der Vollversammlung der Vereinten Nationen erforderlich ist. Allerdings wird erwartet, dass die Vereinten Nationen insbesondere bereit sind, Kosten zu tragen, die infolge von Verfahren ausgelöst wurden, die darauf zurückgehen, dass der Sicherheitsrat dem Gerichtshof eine Situation auf der Grundlage von Artikel 13 Buchstabe b unterbreitet hat.

Über diese beiden Quellen hinaus kann der Gerichtshof von Regierungen, internationalen Organisationen, Einzelpersonen, Unternehmen und anderen Rechtsträgern zusätzliche finanzielle Mittel entgegennehmen und verwenden. Die diesbezüglichen Kriterien müssen allerdings noch von der Versammlung der Vertragsstaaten festgelegt werden (Art. 116). Die Vorbereitungskommission des Internationalen Strafgerichtshofs ist mit der Ausarbeitung des Entwurfs eines Finanzierungsreglements betraut.

Artikel 118 sieht eine alljährliche Prüfung der Unterlagen, Bücher und Konten des Gerichtshofs durch einen unabhängigen Rechnungsprüfer vor.

Mit einer auf einer Hauptsäule ­ den anteilsmässigen Beiträgen der Vertragsstaaten ­ und zwei Nebensäulen basierenden Finanzierung kann die wirtschaftliche Grundlage des Gerichtshofs gesichert und dessen Unabhängigkeit auch finanziell gewährleistet werden.

2.12

Schlussbestimmungen (Teil 13: Art. 119­128)

Das Römer Statut wurde in gleichermassen verbindlichen Versionen in allen sechs Sprachen der Vereinten Nationen beim UNO-Generalsekretär hinterlegt, der somit als Depositar fungiert (Art. 128). Für die Schweiz entspricht die französische Version demnach einem Originaltext. Die deutsche Übersetzung wurde anlässlich einer gemeinsamen Übersetzungskonferenz mit Deutschland und Österreich abgestimmt.

Das Statut tritt frühestens am 61. Tag nach Hinterlegung der 60. Ratifikationsurkunde auf Monatsbeginn in Kraft (Art. 126). Das Quorum von 60 Ratifikationen für das Inkrafttreten des Statuts stellt einen Kompromiss dar zwischen Vorschlägen, die von 30 bis 90 variierten.

Vorbehalte zum Statut sind grundsätzlich keine möglich (Art. 120); anlässlich der Ratifikation kann ein Staat allerdings erklären, dass er die Anwendbarkeit von Artikel 8 (Kriegsverbrechen) auf Strafhandlungen durch seine Staatsangehörigen oder auf seinem Hoheitsgebiet für sieben Jahre nicht anerkennt (Übergangsbestimmung von Art. 124); diese Bestimmung war der Preis, den die Römer Konferenz für die Zustimmung eines wichtigen Staates zum Statut bezahlen musste. Dieser transitorische Preis war umso mehr gerechtfertigt, als die Gruppe der Gleichgesinnten dadurch die Unterstützung für das grundsätzliche Verbot von Vorbehalten erlangte, welches einen der hart erkämpften, zentralen Gesichtspunkte des Statuts darstellt.

447

Eine Kündigung des Statuts ist möglich; die Frist beträgt ein Jahr (Art. 127 Abs. 1).

Die Kündigung entbindet allerdings nicht von Verpflichtungen, welche entstanden sind, als der fragliche Staat noch Vertragspartei war (Art. 127 Abs. 2).

Der Gerichtshof befindet selbst über Streitigkeiten betreffend seine richterlichen Aufgaben; andere Differenzen der Vertragsparteien über die Auslegung oder Anwendung des Statuts werden der Versammlung der Vertragsstaaten vorgelegt, welche sie selbst beilegen oder eine andere Art der Beilegung, einschliesslich einer Vorlage an den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Übereinstimmung mit dessen Statut, empfehlen kann (Art. 119). Für die Freunde der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit, darunter die Schweiz, ist diese vage Bestimmung wenig befriedigend. Bei der Aushandlung des Statuts zeigte sich, dass die Vorbehalte gegen eine solche Form der Streitbeilegung weit verbreitet sind. Selbst innerhalb der «Gruppe der Gleichgesinnten», die sich ansonsten auf manche fortschrittliche Positionen zu einigen vermochte, konnte in diesem Punkt keine Übereinstimmung erzielt werden.

Änderungen des Vertrages können grundsätzlich erst sieben Jahre nach dessen Inkrafttreten vorgeschlagen werden (Art. 121 Abs. 1); ausgenommen von dieser Einschränkung sind Änderungen rein institutionellen Charakters (Art. 122 Abs. 1, vgl.

unten). Mit dieser Einschränkung sollte verhindert werden, dass die ersten 60 Vertragsparteien den Vertrag gegen den Willen der andern an dessen Ausarbeitung beteiligten Staaten ändern, noch bevor letztere ratifiziert haben. Sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts muss der UNO-Generalsekretär eine Überprüfungskonferenz einberufen (Art. 123 Abs. 1); diese Bestimmung reflektiert ein Anliegen, das namentlich aus den Reihen der «Gruppe der Gleichgesinnten» verfochten wurde. Sie erhofften sich auf Grund dieser Bestimmung bessere Chancen, dass die dannzumaligen Vertragsparteien im Statut gewisse Schwachstellen korrigieren, welche auf die Haltung von Staaten zurückzuführen sind, die voraussichtlich das Statut ohnehin nicht ratifizieren werden.

Spätere Überprüfungskonferenzen werden einberufen, sofern die Versammlung der Vertragsstaaten dies mit einfacher Mehrheit beschliesst (Art. 123 Abs. 2); sie kann auch entscheiden, ihr vorliegende Änderungsanträge direkt zu
behandeln oder auf diese gar nicht einzutreten (Art. 121 Abs. 2). Zur Annahme von Vertragsänderungen ist mindestens eine Zweidrittelmehrheit erforderlich (Art. 121 Abs. 3).

Die Regeln für das Inkrafttreten von Vertragsänderungen sind von einer gewissen Komplexität. Mit der auf einen schweizerischen Vorschlag zurückgehenden Lösung wurde ein Kompromiss zwischen zwei legitimen, aber vermeintlich unvereinbaren Anliegen gefunden. Auf der einen Seite war das traditionelle völkerrechtliche Prinzip zu berücksichtigen, dass Vertragsänderungen nicht gegen den Willen von einzelnen Vertragsstaaten für diese in Kraft treten dürfen. Auf der andern Seite stand das ebenso legitime Bestreben, die Einheit des Statuts zu wahren. Falls Vertragsänderungen jeweils nur für die ratifizierenden Staaten in Kraft träten, würde dies alsbald zu schier unüberwindlichen Komplikationen bei der Handhabung des Statuts führen.

Die «Gruppe der Gleichgesinnten» engagierte sich daher stark für eine möglichst weit gehende Wahrung der Einheit des Statuts. Sie bezahlte dafür einen beträchtlichen Preis in Form der starken Erschwerung von Vertragsänderungen durch ein hohes Ratifikationsquorum.

Die Wahrung der Vertragseinheit bildet die Basis für Vertragsänderungen; diese treten grundsätzlich erga omnes in Kraft, wenn sie von 7/8 der Vertragsstaaten ratifiziert wurden (Art. 121 Abs. 4). Mit diesem ausserordentlich hohen Ratifikations-

448

quorum verlangt das Statut einen annähernden Konsens, verhindert aber gleichzeitig, dass einzelne Vertragsstaaten das Inkrafttreten von grossmehrheitlich gewünschten Vertragsänderungen verhindern können. Vertragsstaaten, welche einer Änderung nicht zustimmen können, erhalten zudem die Möglichkeit, mit sofortiger Wirkung den Vertrag zu kündigen (Art. 121 Abs. 6). Dadurch wird in letzter Konsequenz sichergestellt, dass Vertragsänderungen nicht gegen den Willen von Vertragsstaaten für diese in Kraft treten, wenn auch um den hohen Preis, dass dem betroffenen Staat im Extremfall nur der Rücktritt vom Statut bleibt. Mit dieser Regelung gelang es, die beiden scheinbar unversöhnlichen oben erwähnten Prinzipien (Einheit des Statuts und Souveränität der Vertragsparteien) miteinander zu versöhnen.

Die Grundregel für das Inkrafttreten von Vertragsänderungen kennt zwei Ausnahmen: Änderungen der Verbrechensliste (Art. 5­8) treten nur für die sie ratifizierenden Vertragsparteien in Kraft (Art. 121 Abs. 5). Im Rahmen der Schnürung des Schlusspakets wurde zudem noch die im Widerspruch zur allgemeinen Jurisdiktionsregelung stehende Bestimmung durchgesetzt, dass Bürger von Vertragsstaaten, welche eine Änderung nicht ratifiziert haben, für Verstösse dagegen auch dann nicht belangt werden können, wenn sie sie im Hoheitsgebiet eines Staates begangen haben, der diese Änderung ratifiziert hat (Art. 121 Abs. 5).

Die zweite Ausnahme von der Grundregel für das Inkrafttreten von Vertragsänderungen betrifft Bestimmungen ausschliesslich institutioneller Natur (Art. 122 und 36 Abs. 2). Änderungen der in Artikel 122 einzeln aufgeführten Artikel treten eo ipso (das heisst ohne Ratifikationserfordernis) sechs Monate nach Annahme durch mindestens zwei Drittel der Vertragsparteien in Kraft. Mit dieser Bestimmung soll es den Vertragsstaaten ermöglicht werden, rasch auf administrative Bedürfnisse des Gerichtshofs zu reagieren. Ursprünglich hatte das Statut lediglich für die Erhöhung der Zahl der Richter eine derartige erleichterte Vertragsänderung vorgesehen (Art. 36 Abs. 2). Es war namentlich die schweizerische Delegation, die ­ im Sinne eines notwendigen Korrelats zur hohen Hürde für die Änderung der übrigen Artikel des Statuts ­ auf eine Ausdehnung der erleichterten Vertragsänderung auf die nun in Artikel 122 erwähnten Bestimmungen
drängte. Obwohl die generelle Regelung von Artikel 122 in den Modalitäten mit der Sonderregelung von Artikel 36 Absatz 2 übereinstimmt, wurde aus verhandlungsgeschichtlichen Gründen Artikel 36 Absatz 2 beibehalten und nicht mit Artikel 122 verschmolzen.

3

Das Statut und die schweizerische Rechtsordnung

3.1

Allgemeines

Das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs erinnert in seiner Präambel (Abs. 6) an die Pflicht jedes Staates, seine Strafgerichtsbarkeit über die für internationale Verbrechen verantwortlichen Personen auszuüben. Das Statut ist deshalb so konzipiert, dass der Gerichtshof nur dann einschreiten kann, wenn die Staaten ­ willentlich oder aus Unvermögen ­ dieser Pflicht zur Verfolgung, Bestrafung oder Rechtshilfeleistung nicht nachkommen. Indem der Gerichtshof komplementär ausgestattet ist und den Einzelstaaten weiterhin die primäre Verantwortung bei der Verhinderung und der Repression dieser Verbrechen überlässt, werden die Staaten stärker als bisher in die Pflicht genommen. Die Staaten haben weiterhin ­ und zwar wo immer möglich wirksamer als bisher ­ dafür zu sorgen, dass solche Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, wenn schon nicht völ449

lig verhindert, so doch wenigstens nachträglich bestraft werden können. Es ist aus diesem Grund unerlässlich, dass die Staaten über wirksame Massnahmen verfügen, um die Strafverfolgung oder Rechtshilfeleistungen in derartigen Fällen tatsächlich möglich zu machen. Das Statut vertraut in diesem Sinne nicht nur auf die Tätigkeit des künftigen Internationalen Strafgerichtshofs. Ebenso wichtig ist der den Staaten gegebene Anstoss, sich noch stärker darum zu bemühen, die für völkerrechtliche Kernverbrechen verantwortlichen Personen zur Rechenschaft zu ziehen.

Das Statut selbst nähert sich der Problematik, welche Pflichten und Obliegenheiten den Staaten unter dem Statut zukommen, in unterschiedlicher Weise. Einfach verhält sich die Sache zunächst überall dort, wo das Statut den Staaten unmittelbare Rechtspflichten auferlegt. Dies betrifft insbesondere den Bereich der Zusammenarbeit der Staaten mit dem Gerichtshof (Teil 9) und in Fragen der Vollstreckung von Urteilen (Teil 10), wobei dort auch optionale Verpflichtungen bestehen, die nur gelten, soweit sich der betreffende Staat zuvor zu deren Übernahme bereit erklärt hat (dazu Ziff. 3.3 zum Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof). Ein weiterer Bereich, in dem die Staaten gegebenenfalls unmittelbar gehalten sind, Umsetzungsmassnahmen auf der innerstaatlichen Ebene vorzusehen, betrifft Artikel 70 Absatz 4 über die Straftaten gegen die Rechtspflege des Gerichtshofs: Dort sieht das Statut vor, dass jeder Vertragsstaat seine Strafbestimmungen, durch welche Straftaten gegen seine eigenen Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren unter Strafe gestellt werden, in einer Weise ausdehnt, dass die entsprechenden Straftaten auch für Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof unter Strafe gestellt werden (dazu sogleich Ziff. 3.2 zur Revision des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes).

Sehr viel komplexer stellt sich die Lage aber im Bereich des materiellen Strafrechts dar. Hierzu äussert sich das Statut selbst nicht unmittelbar, sondern nur indirekt über den Grundsatz der Komplementarität: Wenn das Statut bestimmte Verbrechen in einer bestimmten Weise definiert, auferlegt es den Staaten keine Rechtspflicht, in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die gleichen Verbrechen in gleicher Art und
Weise zu kriminalisieren. Allerdings ist an dieser Stelle zu präzisieren, dass sich solche Pflichten teilweise aus den hinter dem Statut stehenden Rechtsquellen ergeben können: Den Verbrechensdefinitionen des Statuts Pate gestanden ist zum Beispiel die Völkermordkonvention von 194883, welche den Staaten eine eigentliche Pflicht zur Bestrafung des Völkermordes auferlegt. Strafverfolgungspflichten enthalten auch die vier Genfer Konventionen von 1949 sowie die beiden Zusatzprotokolle aus dem Jahr 1977 ­ Rechtsquellen, welche die Definition der Kriegsverbrechen gemäss Artikel 8 des Statuts inspiriert haben. Dies ändert aber nichts an der Grundaussage, dass das Römer Statut selbst die Vertragsstaaten nicht dazu anhält, diese Taten in gleicher Weise in ihren innerstaatlichen Strafgesetzbüchern vorzusehen und unter Strafe zu stellen. Dass sich die Staaten darüber aber dennoch Gedanken machen müssen, rührt hauptsächlich von dem in Artikel 17 verankerten Grundsatz der Komplementarität her. Wenn die Staaten nicht Gefahr laufen wollen, ihre primäre Zuständigkeit in einem Einzelfall zu Gunsten des Internationalen Strafgerichtshofs zu verlieren, so müssen sie dafür sorgen, dass die Verbrechen, über die der Gerichtshof Gerichtsbarkeit hat, in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung in der einen oder anderen Weise unter Strafe gestellt werden.

83

450

Botschaft des Bundesrates vom 31. März 1999 betreffend das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision des Strafrechts, BBl 1999 5327.

Fühlt sich ein Staat in der Lage, Ermittlungen und eine Strafverfolgung in einer Art und Weise durchzuführen, die den Kriterien von Artikel 17 genügen, so drängen sich für ihn keine Umsetzungsarbeiten im Bereich des materiellen Strafrechts auf.

Kommt er hingegen auf Grund einer Prüfung der Straftatbestände des innerstaatlichen Rechts zur Ansicht, es bestünden eigentliche Strafbarkeitslücken, so sind diese zu füllen. Entscheidend bei dieser Beurteilung ist der Massstab: Die Komplementaritätsbestimmung von Artikel 17 ist ­ wie die Gesamtkonzeption des Römer Statuts ­ ergebnisorientiert. Das Ziel ist das Ende der Straflosigkeit. In diesem Licht spielt es für den Gerichtshof keine Rolle, unter welcher nationalen Strafbestimmung und mit welcher Strafdrohung gegen einen Täter vorgegangen wird, solange sich abzeichnet, dass der Staat die Person ernsthaft zur Rechenschaft ziehen will. Die strafrechtliche Qualifizierung einer Tat nach innerstaatlichem Recht ist unter der Komplementaritätsbestimmung deshalb so lange unerheblich, als sich daraus keine eigentlichen Strafbarkeitslücken ergeben beziehungsweise ein völkerrechtliches Kernverbrechen im innerstaatlichen Recht geradezu als Kavaliersdelikt behandelt wird.

Analoges gilt für die Strafdrohungen. Erst wenn ein krasses und unerklärliches Missverhältnis zwischen der Strafwürdigkeit eines Verbrechens nach dem Statut und der Behandlung dieses Sachverhalts im innerstaatlichen Recht besteht, könnte der Fall eintreten, dass der Gerichtshof die Zuständigkeit in einer Sache an sich zieht (etwa wenn sich ergibt, dass die staatlichen Strafverfolgungsorgane einen Scheinprozess inszeniert haben, um den Täter zu schonen).

Mit der Verankerung des Tatbestandes des Völkermords im Strafgesetzbuch und einer weit gefassten Umschreibung der Kriegsverbrechen im Militärstrafgesetzbuch ist die Schweiz für zwei der drei Verbrechenskategorien, für die der Gerichtshof sachlich zuständig ist, gut gerüstet. Problematischer erscheint das Fehlen des Tatbestandes der «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» im innerstaatlichen Recht. Eine Analyse des Schweizer Rechts ergibt, dass die in Artikel 7 des Statuts definierten Verbrechen im Allgemeinen auch im Schweizer Recht unter dem einen oder anderen Titel pönalisiert sind und mit Rücksicht auf allenfalls anwendbare Strafschärfungsgründe
in der Regel auch mit genügend hohen Strafdrohungen bewehrt sind, um den Kriterien von Artikel 17 des Statuts zu genügen. Damit ergibt sich für die Schweiz kein unmittelbarer Umsetzungsbedarf im Bereich des materiellen Strafrechts. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Aufnahme der Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in das schweizerische Strafrecht nicht wünschenswert, ja angesichts ihres völkergewohnheitsrechtlichen Charakters nicht sogar gefordert wäre (vgl. oben Ziff. 2.5). Der Bundesrat möchte diese Arbeiten so schnell wie möglich vorantreiben, die Ratifizierungsvorlage aber nicht damit belasten.

Für das Inkrafttreten des Statuts braucht es 60 Ratifikationen. Angesichts der humanitären Tradition der Schweiz, der Rolle unseres Landes als Depositarstaat der Genfer Konventionen und der nicht unmassgeblichen Rolle der Schweiz beim Zustandekommen dieses Statuts ist es nach Ansicht des Bundesrates unabdingbar, dass die Schweiz zu den 60 erstratifizierenden Staaten ­ den Gründerstaaten des Gerichtshofs ­ gehört. Hinzu kommt, dass kurz nach Inkrafttreten des Statuts eine Versammlung der Vertragsstaaten einberufen wird, an welcher wichtige Entscheide gefällt werden: Wahlen der Richter und des Anklägers, Festlegung des Finanzierungsmodus und des Budgets, Genehmigung der Verfahrens- und Beweisordnung des Gerichtshofs, Genehmigung der «Verbrechenselemente», Festlegung des Verhältnisses des Internationalen Strafgerichtshofs zu den Vereinten Nationen, um nur einige zu nennen. Bei all diesen zum Teil wegweisenden Entscheiden muss die Schweiz mitwirken können.

451

Der politische Druck zur Schaffung des Strafgerichtshofs ist weltweit gross. Viele Staaten innerhalb und ausserhalb Europas beeilen sich, das Römer Statut so bald als möglich zu ratifizieren. Einige Staaten, die bereits ratifiziert haben, haben dabei einen auch für sie unüblichen Weg gewählt, indem sie das Statut bereits ratifiziert haben, ohne die notwendigen Umsetzungsarbeiten auf der nationalen Ebene abgeschlossen zu haben. Zum Teil haben sie diese zum Zeitpunkt der Ratifizierung noch nicht einmal in Angriff genommen. Dies trifft etwa für Italien zu. Auch Frankreich hat das Statut vorerst ohne Umsetzungsgesetzgebung ratifiziert. Auch im Fall Deutschlands soll die Umsetzung insbesondere für den Bereich der Rechtshilfe in einem zweiten Schritt, nach der Ratifizierung, folgen, wobei darauf vertraut wird, dass dies noch vor dem Inkrafttreten das Statuts möglich ist. Gar auf einen dritten Schritt verschoben wurde in Deutschland die Schaffung eines eigentlichen Völkerstrafgesetzes, mit dem den durch das Römer Statut vorangetriebenen Entwicklungen des Völkerstrafrechts Rechnung getragen werden soll.

Nach Ansicht des Bundesrates empfiehlt sich ein solches Vorgehen für die Schweiz nicht. Selbst wenn die Ratifikation des Römer Statuts unter äusserem Zeitdruck steht, ist der Bundesrat der Ansicht, dass die Schweiz die sich aus diesem völkerrechtlichen Instrument direkt und zwingend ergebenden Verpflichtungen zum Zeitpunkt der Ratifikation erfüllen können muss. Auf der anderen Seite sollten die Umsetzungsarbeiten keine Verzögerungen bei der Ratifikation des Statuts verursachen, wo das Statut die Staaten nur mittelbar zu einem gewissen Verhalten einlädt oder wo es innerstaatlich um Optimierungsmassnahmen geht.

In einer ersten Etappe sollten deshalb nur die für die Ratifikation dringend geforderten Umsetzungsarbeiten erfolgen. Aus diesem Grund soll den eidgenössischen Räten mit der Ratifikationsvorlage gleichzeitig der Entwurf eines Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und ein Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (beschränkt auf die Frage der Rechtspflegedelikte) unterbreitet werden.

Alle weiteren, nicht absolut unerlässlichen Umsetzungsarbeiten sollen den eidgenössischen Räten in einem zweiten Paket
vorgelegt werden. Mit diesem Vorgehen kann das Risiko bedeutend verringert werden, dass das Römer Statut ohne die Schweiz in Kraft tritt und die Schweiz eine Chance für eine aktive Mitwirkung an wichtigen Weichenstellungen für die Zukunft des Gerichtshofs verpasst. Die Arbeiten im Rahmen der zweiten Etappe können sodann ohne äusseren Zeitdruck erfolgen. Dies erlaubt beispielsweise eine bessere Koordination mit anstehenden Fragen im Rahmen der Justizreform, etwa bezüglich der Schaffung eines Bundesstrafgerichts erster Instanz. Auch erlaubt die Zweiteilung der Umsetzungsarbeiten die Ausarbeitung von tragfähigen und zukunftsgerichteten Lösungen im Bereich des materiellen Strafrechts, deren eine beispielsweise in der Schaffung eines «Völkerstrafgesetzbuches» nach deutschem Vorbild bestehen könnte.

3.2

Revision des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes: Ausdehnung der Rechtspflegedelikte auf das Verfahren vor dem Gerichtshof

Gemäss Artikel 70 Absatz 4 des Statuts dehnen die Vertragsstaaten ihre Strafgesetze, durch die Taten gegen die Integrität ihrer eigenen Ermittlungs- oder Ge-

452

richtsverfahren erfasst werden, auf Rechtspflegedelikte auf Grund dieses Artikels aus, sofern diese Taten in ihrem Hoheitsgebiet oder durch einen ihrer Staatsangehörigen begangen werden.

Die Bestimmung ist interpretationsbedürftig, insbesondere ihr Bezug zu Absatz 1 von Artikel 70 des Statuts, welcher gegen den Gerichtshof gerichtete Rechtspflegedelikte im weiteren Sinn enthält, die der Gerichtshof eigenständig anwendet. Nach der Entstehungsgeschichte und dem Wortlaut von Absatz 4 kann jedoch ausgeschlossen werden, dass die Vertragsstaaten nach dem Willen der Statuts dazu verpflichtet werden sollen, die Tatbestände von Absatz 1 in ihr Landesrecht zu überführen. Vielmehr handelt es sich bei Absatz 4 um eine Assimilationsklausel: Bestehende Strafnormen, die den Gang der innerstaatlichen Strafjustiz schützen, sollen auch auf Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof anwendbar sein. Die Vertragsstaaten sind mit anderen Worten gehalten, die in Artikel 70 Absatz 1 umschriebenen Taten gegen die Rechtspflege des Gerichtshofs zu kriminalisieren, sofern und soweit diese Verhaltensweisen in ihrem innerstaatlichen Recht als Taten gegen die Integrität ihrer eigenen Justizverfahren strafrechtlich erfasst sind.

Zu prüfen ist deshalb, ob die in Artikel 70 Absatz 1 des Statuts umschriebenen Tatbestände, die zugleich auch Rechtspflegedelikte nach schweizerischem Strafrecht bilden, vom schweizerischen Recht auch dann erfasst werden, wenn sie nicht gegen die inländische Strafrechtspflege, sondern gegen die Rechtspflege des Gerichtshofs gerichtet sind. Es handelt sich dabei um die Tatbestände der falschen Anschuldigung, der Begünstigung sowie der falschen Zeugenaussage (Art. 303, 305 und 307 StGB sowie Art. 178, 176 und 179 des Militär strafgesetzes).

Gemäss der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts (BGE 89 IV 206) kann der Tatbestand der falschen Anschuldigung (Art. 303 StGB) auch bei Mitteilung an eine ausländische Behörde erfüllt sein; die Bestimmung schützt nicht bloss die Rechtspflege des Bundes und der Kantone.

Ferner schützt Artikel 305 StGB (Begünstigung) zwar grundsätzlich nur die schweizerische Strafrechtspflege (BGE 104 IV 238 ff.). Hingegen bestimmt Ziffer 1bis von Artikel 305 ausdrücklich, dass wegen Begünstigung ebenfalls bestraft wird, wer jemanden, der im Ausland wegen eines
Verbrechens nach Artikel 75bis verfolgt wird oder verurteilt wurde, der dortigen Strafverfolgung oder dem dortigen Vollzug einer Freiheitsstrafe oder sichernden Massnahme entzieht. Damit ist auch die ausreichende Anwendbarkeit der Begünstigung auf Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof gewährleistet.

Was schliesslich die falsche Zeugenaussage betrifft, so gibt es soweit ersichtlich keinen höchstrichterlichen Entscheid zur Frage, ob Artikel 307 StGB auch auf gerichtliche Verfahren des Auslandes beziehungsweise auf internationale Gerichtshöfe Anwendung finden kann. Nach Ansicht einer Literaturmeinung sind jedenfalls falsche Aussagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (und der ehemaligen Europäischen Kommission für Menschenrechte) nicht strafbar84.

Um die geforderte Anwendbarkeit von Artikel 307 StGB für falsche Zeugenaussagen vor dem Internationalen Strafgerichtshof ausreichend sicherzustellen, soll Artikel 309 («Verwaltungssachen») mit einem zweiten Satz ergänzt werden, der die Anwendbarkeit der Artikel 306­308 StGB (Falsche Beweisaussage einer Partei, Fal84

Stephan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch - Kurzkommentar , 2. Auflage 1997, Note 2 zu Art. 307.

453

sches Zeugnis und Strafmilderungen) auch für Verfahren vor internationalen Gerichtshöfen erklärt, deren Zuständigkeit die Schweiz anerkennt. Analog wird auch ins Militärstrafgesetz ein entsprechender Artikel 179b eingefügt. Damit wird eine Lösung gewählt, die nicht nur für den Internationalen Strafgerichtshof anwendbar ist, sondern auch auf andere internationale Gerichtshöfe, deren Zuständigkeit die Schweiz anerkennt.

Im Hinblick auf die aktive Bestechung von Bediensteten des Gerichtshofs genügt Artikel 322septies StGB den Anforderungen des Statuts hinlänglich, werden doch durch diese Strafnorm Mitglieder einer richterlichen oder anderen Behörde, Beamte, amtlich bestellte Sachverständige, Übersetzer oder Dolmetscher, Schiedsrichter oder Angehörige der Armee, die für einen fremden Staat oder eine internationale Organisation tätig sind, erfasst. In Bezug auf die Forderung oder Annahme einer Bestechung durch einen Bediensteten des Gerichtshofs im Zusammenhang mit seinen Dienstpflichten (sog. passive Bestechung) wird im Zusammenhang mit der geplanten Ratifikation der Strafrechtskonvention des Europarates gegen die Korruption ein entsprechender Tatbestand ins Schweizerische Strafgesetzbuch aufgenommen werden.

Die übrigen durch Artikel 70 Absatz 1 des Statuts erfassten Taten ­ im Wesentlichen Tatbestände gegen Leib und Leben, Vermögen, Freiheit sowie Urkundendelikte ­ schützen nicht nur inländische Rechtsgüter und sind daher grundsätzlich auch anwendbar, wenn sie zur Beeinflussung eines Verfahrens vor dem Gerichtshof begangen werden. Insoweit besteht denn auch kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

3.3

Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof

3.3.1

Einführung

Nach Artikel 88 des Statuts sind die Vertragsstaaten verpflichtet, gemäss innerstaatlichem Recht Verfahren für die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof zur Verfügung zu stellen. Bei der Ausgestaltung dieser Verfahren sind sie frei, doch hat Artikel 86 des Statuts, wonach jeder Staat mit dem Gerichtshof für Verbrechen, die seiner Gerichtsbarkeit unterliegen, nach Massgabe des Statuts uneingeschränkt zusammenarbeiten muss, als oberster Grundsatz bei der Umsetzung zu gelten. Das schweizerische Verfahren darf die Zusammenarbeit deshalb nicht ungebührlich behindern oder die Verwendung der Beweismittel im Verfahren vor dem Gerichtshof dadurch ausschliessen, dass Verfahrensgarantien des Gerichtshofs verletzt werden (Art. 69 des Statuts).

Für die Umsetzung in der Schweiz wurden drei Varianten in Betracht gezogen.

Denkbar waren zunächst zwei Lösungen, die sich auf das Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG)85 gestützt hätten. Die erste Variante hätte darin bestanden, in einem kurzen legislativen Text die Besonderheiten der Zusammenarbeit festzulegen und im Übrigen auf die Regeln des IRSG zu verweisen.

Diese Lösung wurde bei der Zusammenarbeit mit den beiden Ad-hoc-Tribunalen gewählt. Als zweite Variante wäre eine Teilrevision des IRSG in Frage gekommen.

85

454

SR 351.1

Beide Varianten wurden schliesslich verworfen, weil sich bei jeder künftigen Revision des IRSG zusätzliche Fragen hinsichtlich der Kompatibilität mit dem Statut ergeben hätten. Eine genauere Prüfung ergab zudem, dass die durch das Statut bedingten Abweichungen vom IRSG die gemeinsamen Punkte wenn nicht überwiegen, so doch zumindest aufwiegen: Die mit dem IRSG erzielten Synergien wären im Ergebnis geringfügig gewesen.

Die dritte Möglichkeit, die schliesslich gewählt wurde, besteht nun darin, ein ausführliches, selbstständiges Gesetz zu schaffen. Diese Lösung erscheint angezeigt, weil es sich bei der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof ­ wie bereits dargestellt wurde (Ziff. 2.8) ­ nicht um die zwischenstaatliche Zusammenarbeit im klassischen Sinne, sondern vielmehr um eine Zusammenarbeit sui generis handelt. Durch die Schaffung eines neuen Gesetzestextes können die Besonderheiten dieser Zusammenarbeit vollumfänglich berücksichtigt und die Verfahren entsprechend ausgestaltet werden.

Das Gesetz stützt sich auf die sich aus den Teilen 9 und 10 ergebenden Pflichten und auf die Verfahrensbestimmungen in den übrigen Teilen des Statuts, die auch für die Zusammenarbeit von Bedeutung sind (vgl. Art. 86 des Statuts sowie Ziff. 2.8.1).

Obwohl das Statut nach dessen Ratifikation durch die Schweiz in unserem Land anwendbar sein wird und gewisse Normen insbesondere in Teil 9 klar genug ausgestaltet sind, um allenfalls auch direkt angewendet zu werden, wurden im Interesse der Rechtssicherheit und der leichteren Lesbarkeit dennoch sämtliche Bestimmungen umgesetzt: Sämtliche Fragen der Zusammenarbeit der Schweiz mit dem Gerichtshof sind nun in einem einzigen Gesetz geregelt. Soweit möglich, das heisst soweit mit den Bestimmungen des Statuts vereinbar, wurden die Bestimmungen des IRSG und des Bundesbeschlusses über die Zusammenarbeit mit den Ad-hoc-Tribunalen («Bundesbeschluss»)86 sinngemäss übernommen.

Um eine optimale Zusammenarbeit zu gewährleisten, wird eine Zentralstelle vorgesehen, die dem Gerichtshof als Ansprechpartnerin zur Verfügung steht. Dieser Zentralstelle kommt im innerstaatlichen Verfahren die massgebende Rolle zu. Grundsätzlich erlässt nur die Zentralstelle die formellen Verfügungen, die von den von ihr eingesetzten Behörden anschliessend ausgeführt werden. Diese Zweiteilung
der Aufgaben, welche im Auslieferungsverkehr üblich ist, wurde für die Rechtshilfe dem Verfahren nach Artikel 79a IRSG sowie Artikel 19 Absatz 2 und Artikel 18 Absatz 2 des Bundesbeschlusses nachgebildet. Im Unterschied zum IRSG wird diese Ausnahmeregelung jedoch zum Regelfall für die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof, was angesichts der Komplexität und der Schwere der Fälle (vgl. Art. 79a Bst. c IRSG) als angebracht erscheint. Die Komplexität ergibt sich insbesondere dadurch, dass die Frage der Zuständigkeit des Gerichtshofs zum zentralen Kriterium der Zusammenarbeit wird, wobei diese Zuständigkeit nach dem Statut zu beurteilen ist. Die Einschränkung der Möglichkeiten für die Schweiz, die Zusammenarbeit abzulehnen (ausführlich dazu Ziff. 2.8.1), führt im innerstaatlichen Verfahren dazu, dass die den beteiligten Personen zustehenden Rekursmöglichkeiten auf ein entsprechendes Mass reduziert werden mussten. Damit wird vermieden, Beschwerderechte zu gewähren, die materiell aussichtslos sind. Der Verlust bestimmter Beschwerderechte im innerstaatlichen Verfahren wird jedoch durch Rechtsmittel vor dem Gerichtshof ausgeglichen. Da diese Kompensation nur möglich ist, wenn eine Person 86

Bundesbeschluss vom 21. Dez. 1995 über die Zusammenarbeit mit den Internationalen Gerichten zur Verfolgung von schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts (SR 351.20).

455

vor dem Gerichtshof Parteistellung geniesst wurden für die übrigen Personen die Beschwerdemöglichkeiten beibehalten.

Das neue Gesetz enthält zunächst einen allgemeinen Teil, welcher in zwei Kapiteln die für die Überstellung und für die anderen Formen der Zusammenarbeit gemeinsamen Bestimmungen enthält und die Zuständigkeiten regelt (Ziff. 3.3.2 und 3.3.3).

In drei besonderen Kapiteln werden sodann die Überstellung (Ziff. 3.3.4), die anderen Formen der Zusammenarbeit (Ziff. 3.3.5) sowie die Strafvollstreckung (Ziff. 3.3.6) geregelt.

3.3.2

Allgemeine Bestimmungen

Gegenstand (Art. 1) und anwendbares Recht (Art. 2) Aus Artikel 1 geht hervor, dass nur die Zusammenarbeit mit dem durch das Römer Statut geschaffenen ständigen Internationalen Strafgerichtshof geregelt wird. Die Anwendung dieses Gesetzes auf die beiden bestehenden Ad-hoc-Tribunale wird dadurch ausgeschlossen (vgl. dazu Art. 59). Artikel 2 hält sodann fest, dass für die Zusammenarbeit die Bestimmungen der übrigen schweizerischen Rechtshilfebestimmungen, insbesondere das IRSG oder der Bundesbeschluss, nicht anwendbar sind.

Damit wird jedoch keineswegs die Anwendung von Verfassungs- oder Völkerrecht ausgeschlossen. Gleichzeitig besagt Artikel 2, dass bei der Auslegung dieses Gesetzes das Statut, die Verfahrens- und Beweisordnung sowie die entsprechende Rechtsprechung des Gerichtshofs beizuziehen sind. Dies entspricht auch dem Ansatz, wonach die Staaten unter Umständen für den Gerichtshof Untersuchungshandlungen ausführen, welche entsprechend statutskonform sein müssen (vgl. Ziff. 2.8).

3.3.3

Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof

In einem ersten Abschnitt werden die innerstaatliche Zuständigkeit sowie die diesen Entscheiden zu Grunde gelegten Grundsätze dargestellt. Der zweite Abschnitt regelt die Frage der Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit der schweizerischen Behörden und des Gerichtshofs, wobei drei Fallvarianten unterschieden werden. Ein dritter Abschnitt regelt den Verkehr mit dem Gerichtshof. Im vierten Abschnitt schliesslich werden die Verfahrensbestimmungen aufgeführt, welche für sämtliche Formen der Zusammenarbeit gelten.

3.3.3.1

Grundsätze der Zusammenarbeit

Zentralstelle (Art. 3) Dieser Artikel enthält den Grundsatz, wonach in erster Linie die Zentralstelle für die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof zuständig ist. Angesichts der komplexen Materie und der Spezifizität der Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof rechtfertigt es sich, eine solche Zentralstelle zu schaffen. Nebst den ausdrücklich aufgeführten Aufgaben wird sie die Rechtsprechung des Gerichtshofs verfolgen müssen. Nur so kann gewährleistet werden, dass die erbrachte Zusammenarbeit der Rechtsvorstellung des Gerichtshofs entspricht. Im Bereich der Zuständigkeitsfragen (Art. 7) oder 456

der Immunitätsfragen (Art. 6) ist die Kenntnis der Rechtsprechung des Gerichtshofs sogar unabdingbar. Die Zentralstelle ist zunächst Anlaufstelle für den Gerichtshof, aber auch für die ausführenden Behörden. Dabei gewährleistet die Eingliederung der Zentralstelle im für Rechtshilfe und Auslieferung zuständigen Bundesamt für Justiz (Abs. 1) ihr den Zugriff auf die notwendige Infrastruktur. Die Kompetenzen dieser Zentralstelle sind umfassend (Abs. 2). Nebst Anlaufstelle (Bst. a) ist sie im Rahmen der Ersuchen um Überstellung und andere Formen der Zusammenarbeit auch Entscheidbehörde. Sie entscheidet über deren Zulässigkeit und über eine eventuelle Anfechtung der Zuständigkeit des Gerichtshofs (Bst. b), ordnet die notwendigen Massnahmen einschliesslich der amtlichen Verbeiständung an und bestimmt, welche eidgenössische Behörde oder welcher Kanton für den Vollzug zuständig ist (Bst. c und d). Im Bereich der Strafvollstreckung entscheidet sie über den Vollzug von Freiheitsstrafen und vollstreckt die Geldstrafen (Bst. g). Die Zuteilung der Aufgaben ist sinnvollerweise mit der entsprechenden Entscheidverantwortung verbunden. Aus diesem Grund erlässt einzig die Zentralstelle anfechtbare Verfügungen. Im Rahmen der Anfechtung solcher Verfügungen können jedoch auch die Vollzugshandlungen der ausführenden Behörden beurteilt werden. Um diese Verantwortung wahrnehmen zu können, muss die Zentralstelle eine Aufsichtsfunktion innehaben. Diese Aufsichtsfunktion hat sie jedoch nicht im Rahmen der Übernahme der Strafverfolgung bei Straftaten gegen die Rechtspflege des Gerichtshofs (Bst. f). In diesen Fällen leitet die Zentralstelle das Ersuchen lediglich weiter. Diese von der übrigen Zusammenarbeit grundsätzlich verschiedene Form rechtfertigt, dass hier der Entscheid nicht bei der Zentralstelle liegt, da diese keine Strafverfolgungskompetenzen besitzt (vgl. Ziff. 3.2 zur entsprechenden Revision des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes).

Konsultationen (Art. 4) Um der Klarheit willen wurde die Aufgabe der Zentralstelle, Konsultationen mit dem Gerichtshof durchzuführen, in einem eigenen Artikel geregelt. Das Statut misst diesem Institut eine grosse Bedeutung zu, so dass sich eine solche Hervorhebung auch sachlich rechtfertigt. Es wurde bereits dargelegt (Ziff. 2.8.1), dass die Konsultationen die Zusammenarbeit
verbessern und Konflikte zwischen dem Gerichtshof und den Vertragsstaaten verhüten sollen. Die besondere Bedeutung dieser Konsultationen kommt auch zum Ausdruck, wenn man sich die einzelnen Fälle vor Augen führt, die in der ­ allerdings nicht abschliessenden ­ Liste aufgeführt sind. Den Fragen der nationalen Sicherheit (Bst. b; vgl. Art. 44) sowie der Immunität (Bst. d; vgl.

Art. 6) kommt eine zentrale Bedeutung zu. Es sind zusammen mit dem in Buchstabe a geregelten Fall auch diejenigen Bereiche, in welchen die grösste Gefahr besteht, dass auf Grund verschiedener Auffassungen über die Pflicht des Vertragsstaates zur Zusammenarbeit im Ergebnis ein Strafverweis nach Artikel 87 Absatz 7 des Statuts erfolgt. Diese Konsultationen erfordern eine gründliche Kenntnis der betroffenen Interessen. Die Zentralstelle ist somit auch im Rahmen von Konsultationen die sachgerechte Ansprechpartnerin des Gerichtshofs.

Ausführende Behörden (Art. 5) Dieser Artikel ist im Zusammenhang mit Artikel 2 zu lesen, der die Kompetenzen der Zentralstelle regelt. Seine Ausgestaltung ist Folge der klaren Aufgabenverteilung zwischen der entscheidbefugten Zentralstelle und der für die Ausführung zuständigen Behörden. Die Regelung findet sich ansatzweise bereits in Artikel 19 Absatz 2 des Bundesbeschlusses, der dieselbe Zweiteilung bei besonders komplexen Fällen 457

vorsah. Die ausführende Behörde muss von jedem begründeten, anfechtbaren Entscheid absehen, der das Rechtshilfeverfahren betrifft (Abs. 1). Dies bedeutet jedoch nicht, dass Zwangsmassnahmen, welche die ausführenden Behörden im Rahmen des Vollzugs gestützt auf ihre eigenen Strafprozessregeln erlassen (Zeugeneinvernahme, Kontensperre usw.), ausgeschlossen sind. Es hat aber zur Folge, dass das eigentliche Zusammenarbeitsverfahren und damit auch die diesbezügliche Verantwortung in den Händen der Zentralstelle liegen. Entsprechend sind auch keine Rechtsmittel gegen die Vollzugshandlungen der ausführenden Behörden möglich (Abs. 2). Die mit der Ausführung betraute Behörde erledigt das Ersuchen beförderlich.

Immunitätsfragen (Art. 6) Die Staatenpraxis, die Rechtsprechung und die Lehre zur Frage, inwieweit Immunitäten im Bereich völkerrechtlicher Kernverbrechen ­ und damit im Bereich der Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs ­ noch Geltung besitzen, befinden sich im Wandel. Neben dem bereits angeführten Auslieferungsverfahren gegen den chilenischen Ex-Präsidenten Augusto Pinochet im Vereinigten Königreich wurde in der Schweiz insbesondere im Zusammenhang mit dem Haftbefehl und der damit verbundenen Beschlagnahmeverfügung in Sachen Milosevic87 die Immunität von Staatsoberhäuptern problematisiert. Die Frage der Bedeutung von Immunitäten wird auch im Statut gestellt: Artikel 98 des Statuts sieht vor, dass der Gerichtshof keine Ersuchen stellen kann, welche vom ersuchten Staat verlangen würden, «in Bezug auf die Staatenimmunität oder die diplomatische Immunität einer Person oder des Eigentums eines Drittstaats entgegen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen» zu handeln. Gleichzeitig erklärt Artikel 27 Immunitäten für den Gerichtshof rundweg für unmassgeblich. Dieser scheinbare Widerspruch kann zwar aufgelöst werden (siehe Ziff. 2.8.1), dennoch dürfte die praktische Handhabung dieser Bestimmungen Schwierigkeiten bereiten und möglicherweise selbst Entwicklungen unterworfen sein. Entspricht die Rechtsauffassung des Gerichtshofs in einem konkreten Fall nicht derjenigen der Schweizer Strafverfolgungsbehörden und haben die diesbezüglichen Konsultationen nicht zu einer Einigung geführt, indem der Gerichtshof sein Ersuchen ändert oder durch die Einwilligung des betroffenen Staats ergänzt, so handelt es
sich beim innerstaatlichen Entscheid darüber, ob die Immunität aufgehoben werden soll, um eine politische Frage, wie sie sich zum Beispiel auch in Artikel 1a IRSG stellt. Die Zentralstelle ist für einen solchen Entscheid sinnvollerweise nicht mehr zuständig. Sie leitet nach Scheitern der Konsultationen (Art. 44 Abs. 1 analog) das Ersuchen des Gerichtshofs an das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement weiter. Dieses kann den Bundesrat ersuchen, die Immunität aufzuheben (Abs. 1). Damit die durch dieses Verfahren bedingte Verzögerung die Erledigung des Ersuchens nicht gefährdet, kann das Departement auch vorsorgliche Massnahmen anordnen (Abs. 2). Diese werden bei einem Negativentscheid des Bundesrats aufgehoben.

87

458

BBl 1999 5196 (Verfügung des Bundesamtes für Polizeiwesen vom 23. Juni 1999).

3.3.3.2

Zuständigkeit des Gerichtshofs

Zuständigkeitsabgrenzung (Art. 7) Der Umstand, dass die Schweiz entweder bereits beim Erlass von vorläufigen Entscheiden über die Zulässigkeit gemäss Artikel 18 des Statuts oder im anschliessenden Zulässigkeitsverfahren nach Artikel 19 Absatz 2 Buchstabe b des Statuts den Vorrang des staatlichen Verfahrens beanspruchen kann, relativiert in gewisser Weise den Grundsatz, wonach die Zusammenarbeit nicht verweigert werden kann. Der vorliegende Artikel ist somit eine der zentralen Bestimmungen des Gesetzes. Er wird es insbesondere ermöglichen, in Verfahren gegen Schweizer Bürgerinnen und Bürger die Gerichtsbarkeit zu beanspruchen, damit diese in der Schweiz verfolgt werden können. Der Entscheid der Anfechtung hat vor allem Auswirkungen für die im schweizerischen Verfahren zuständige Behörde, so dass die Zentralstelle den Entscheid im Einvernehmen mit dieser fällen muss (Abs. 1). Dadurch wird idealerweise auch der Wissensstand der ermittelnden Behörde mit demjenigen der Zentralstelle bezüglich der Praxis des Gerichtshofs verbunden, um den sachgerechten Entscheid zu gewährleisten. Der Entscheid, die Zuständigkeit des Gerichtshofs in einem konkreten Fall nicht anzufechten, bedeutet die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs und wird deshalb einem entsprechenden Entscheid des Gerichtshofs gleichgestellt. Entsprechend sieht Absatz 2 vor, dass auch in einem solchen Fall sämtliche Unterlagen, welche im innerstaatlichen Verfahren gesammelt wurden, dem Gerichtshof übermittelt werden. Dieses Vorgehen hat sich beispielsweise im Fall Musema, der an das Ad-hoc-Tribunal für Ruanda abgetreten wurde, bewährt, wurden doch die im schweizerischen Verfahren erhobenen Beweismaterialien vollumfänglich dem Urteil des Tribunals zu Grunde gelegt88. Als weitere Folge der Abtretung wird das Verfahren in der Schweiz sistiert, weil sonst der Grundsatz «ne bis in idem», das Verbot der doppelten Strafverfolgung, verletzt werden könnte. Im Entscheid der Schweiz bezüglich einer Anfechtung der Zuständigkeit des Gerichtshofs werden die Interessen einer Strafverfolgung in der Schweiz gegenüber denjenigen eines Verfahrens vor dem Gerichtshof abgewogen. In dieser Interessenabwägung werden keine Individualinteressen berücksichtigt, sodass der betroffenen Person auch keine Rechtsmittel gegen diesen Entscheid zustehen. Die Person kann
die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Artikel 19 Absatz 2 Buchstabe a des Statuts anfechten. Dazu äussern sich ausschliesslich die Artikel 24 und 26 des Gesetzes, nicht aber Artikel 7.

Anzeige und spontane Übermittlung von Beweismitteln und Informationen (Art. 8) Da der Gerichtshof bei seinen Ermittlungen und insbesondere bei der Beweiserhebung auf die Zusammenarbeit mit den Staaten angewiesen ist, besteht die Gefahr, dass er von gewissen Beweismaterialien keine Kenntnis hat. Aus diesem Grund erscheint es angebracht, die Regel der spontanen Übermittlung von Artikel 67a IRSG und Artikel 8 Bundesbeschluss zu übernehmen, die zwar im Statut fehlt, jedoch sinnvolle zusätzliche Möglichkeiten eröffnet. Die Aufnahme dieser Bestimmung in das Kapitel der Zuständigkeiten verfolgt aber gleichzeitig einen anderen Zweck. Das Statut sieht keine Möglichkeit der Verweisung eines konkreten Einzelfalls durch einen Staat an den Gerichtshof vor. Dieser Lücke liegt ein bewusster Entscheid zu Grunde, den Gerichtshof nicht zu überlasten oder der Gefahr des politi88

ICTR, Trial Chamber 1, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000.

459

schen Missbrauchs auszusetzen. Gelangt eine schweizerische Behörde im Rahmen einer Ermittlung jedoch zum Schluss, dass es im Interesse der internationalen Justiz liegen könnte, ein Verfahren vor dem Gerichtshof durchzuführen, so kann sie durch die spontane Übermittlung von Auskünften und Beweismitteln den Ankläger in die Lage versetzen, nach Artikel 15 Absatz 1 des Statuts Ermittlungen einzuleiten. Aus der Übermittlung entsteht für den Gerichtshof keine Pflicht zur Strafverfolgung, so dass das Statut durch den vorliegenden Artikel nicht verletzt wird. Die Rechtsprechung hat die spontane Übermittlung einzig in Fällen der Umgehung der Rechtshilfe untersagt89. Im vorliegenden Kontext ist dies jedoch belanglos, da Rechtshilfe geleistet wird, wenn die Zuständigkeit des Gerichtshofs vorliegt. Diese ist jedoch entweder gegeben oder wird von den Schweizer Behörden angestrebt.

Unterbreitung einer Situation (Art. 9) Die Verweisung einer Situation an den Gerichtshof durch einen Vertragsstaat ist das Pendant zur Verweisung durch den Sicherheitsrat90. Es handelt sich dabei um einen politischen Entscheid, welcher deshalb in die Zuständigkeit des Bundesrates fällt.

Obwohl es sich um ein reines Verweisungsverfahren handelt und somit von einer geringen Darlegungslast auszugehen ist, erscheint es sinnvoll, diese Verweisung über die Zentralstelle vorzunehmen, die das Ersuchen gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit anderen betroffenen Behörden optimieren kann. Daraus folgt auch, dass die Weiterbehandlung der Verweisung (vgl. Art. 53 Abs. 3 Bst. a des Statuts) im Zuständigkeitsbereich der Zentralstelle liegt.

3.3.3.3

Verkehr mit dem Gerichtshof

Form und Übermittlung von Ersuchen des Gerichtshofs (Art. 10) Die Grundregel von Artikel 87 Absätze 1 und 2 des Statuts wird durch die schweizerischen Besonderheiten ergänzt bezüglich der Sprachen, in welchen das Ersuchen verfasst oder in welche es übersetzt werden muss (Abs. 2), und der Befugnis des Gerichtshofs, die Ersuchen direkt der Zentralstelle zu übermitteln (Abs. 1). In Fällen vorsorglicher Massnahmen ist die Übermittlung der Ersuchen wie bisher über Interpol möglich; neu in diesem Zusammenhang ist jedoch die Übermittlung über ein Medium, welches in der Lage ist, eine schriftliche Aufzeichnung zu hinterlassen (Abs. 3). Auf Grund dieser Definition ist zum Beispiel die Übermittlung eines Ersuchens via E-Mail möglich. Die notwendige Sicherheit wird dadurch gewährleistet, dass das Ersuchen auf dem ordentlichen Weg bestätigt werden muss. Diese Innovation wird es ermöglichen, in dringenden Fällen die notwendigen Informationen formlos und schnell zu übermitteln. Absatz 4 schliesslich verpflichtet die Zentralstelle, dem Gerichtshof die Unzulässigkeit des Ersuchens, insbesondere der anbegehrten Formen der Zusammenarbeit (Art. 30) mitzuteilen (vgl. Art. 93 Abs. 5 des Statuts).

Schweizerische Ersuchen (Art. 11) Grundsätzlich steht es den schweizerischen Behörden frei, Ersuchen um Rechtshilfe an den Gerichtshof zu stellen. Diesen Ersuchen entspricht der Gerichtshof jedoch 89 90

460

BGE 125 II 356, insbesondere Erwägung 12c.

Vgl. Ziff. 2.3.3 zur Auslösung der Verfahren.

nur, wenn es sich um schwere Verbrechen im Sinne von Artikel 93 Absatz 10 Buchstabe a des Statuts handelt. Entsprechend wurde diese Voraussetzung ins Gesetz aufgenommen (Abs. 1). Bedeutung kommt dieser Möglichkeit insbesondere im Anschluss an einen Zuständigkeitsentscheid zu Gunsten der Schweiz zu, weil damit sämtliche vom Gerichtshof gesammelten Unterlagen auch im Schweizer Verfahren zur Verfügung stehen. Die Ersuchen müssen denselben Anforderungen entsprechen, wie dies bei Ersuchen des Gerichtshofs der Fall ist, wobei sie in einer der Amtssprachen des Gerichtshofs verfasst oder in eine dieser Sprachen übersetzt werden müssen (Abs. 2). Damit Zeitverluste vermieden werden können, sendet die Zentralstelle Ersuchen den Behörden soweit notwendig zur Verbesserung zurück, bevor sie diese an den Gerichtshof weiterleitet. Dem Gerichtshof steht es frei, die Ausführung der Ersuchen an Bedingungen zu knüpfen, welche für die Schweizer Behörden gemäss Absatz 3 bindend sind. Zu denken ist in diesem Zusammenhang in erster Linie an das Anbringen eines Spezialitätsvorbehaltes, wonach die Unterlagen nur im Rahmen des Strafverfahrens wegen schwerer Verbrechen verwendet werden können.

Kosten (Art. 12) Für die Kostenverteilung wird im Verhältnis zum Gerichtshof Artikel 100 des Statuts übernommen (Abs. 1). Die detaillierte Vorschrift entspricht sinngemäss der Regelung im IRSG, die zwischen ordentlichen und ausserordentlichen Kosten unterscheidet, wobei nur Letztere zu Lasten des Gerichtshofs gehen. Die Generalklausel in Buchstabe f wird es erlauben, die zum Teil kostspieligen Untersuchungshandlungen (Telefonkontrollen/Videokonferenzen) dem Gerichtshof in Rechnung zu stellen.

Im Verhältnis zwischen den Kantonen und dem Bund gilt die übliche Regelung, wonach grundsätzlich keine Kosten verrechnet werden (Abs. 2), dies mit Ausnahme der Haftkosten und der Kosten eines amtlichen Rechtsbeistands. Als Novum sieht die Regelung vor, dass dabei die Ansätze, die der Gerichtshof mit dem Gaststaat vereinbart hat, für die Haftentschädigung als Bemessungsgrundlage gelten (Abs. 3).

3.3.3.4

Weitere Bestimmungen

Durchbeförderung (Art. 13) Die in Artikel 89 Absatz 3 des Statuts aufgeführten Bedingungen, welche in diesem Artikel übernommen werden, entsprechen sinngemäss der Regelung in Artikel 20a IRSG. Auf Grund des diesem Gesetz zu Grunde gelegten Vertrauensverhältnisses zum Gerichtshof wird jedoch selbst im Falle eines verspäteten Ersuchens nicht ein Überstellungsersuchen gefordert, sondern die Durchbeförderung bewilligt. Im Falle der unvorhergesehenen Zwischenlandung kann jede Polizei- oder Strafverfolgungsbehörde die zu überstellende Person festnehmen (Abs. 3).

Konkurrierende Ersuchen (Art. 14) Auf Grund der detaillierten und klaren Regelung im Statut und des Umstands, dass dieser Entscheid für die Betroffenen von untergeordneter Bedeutung ist, wird auf eine ausführliche Regelung verzichtet und direkt auf das Statut verwiesen. Hat die Schweiz in einem solchen Fall entschieden, dem staatlichen Ersuchen stattzugeben, wird dieses Ersuchen jedoch in der Folge abgelehnt, so statuiert Absatz 2 die Pflicht zur Mitteilung an den Gerichtshof. Diese Informationspflicht ist deshalb von Be-

461

deutung, weil sie den Ankläger in die Lage versetzt, im Sinne von Artikel 19 Absatz 10 des Statuts eine Neubeurteilung der Zuständigkeit zu beantragen.

Entschädigung (Art. 15) Sinngemäss wurde Artikel 15 IRSG übernommen. Auf Grund von Artikel 85 des Statuts ist jedoch eine Präzisierung notwendig, da es nicht Sinn der innerstaatlichen Entschädigung sein kann, die entsprechende Rechtsprechung des Gerichtshofs zu korrigieren. Hat der Gerichtshof bereits über eine Entschädigung entschieden, so ist dieser Entscheid für Schweizer Gerichte bindend.

3.3.4

Überstellung der vom Gerichtshof verfolgten oder verurteilten Personen

Das Überstellungsverfahren ist einerseits schnell und einfach ausgestaltet und erfüllt andererseits die Anforderungen des Statuts, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Das dreistufige Verfahren besteht aus der Ausschreibung zur Verhaftung der zu überstellenden Person (Art. 18), deren Festnahme und Haft (Art. 19­21) und schliesslich deren Überstellung (3. Abschnitt). Im Vergleich zu der Auslieferung im zwischenstaatlichen Bereich wird die Beschwerdemöglichkeit auf die Anfechtung der Haft beschränkt. Dieser Entscheid drängt sich auf Grund des Statuts auf, da die Überstellung nicht verweigert werden kann, wenn der Gerichtshof entschieden hat, dass er zuständig ist. Diese Einschränkung der Beschwerdemöglichkeit wird dadurch ausgeglichen, dass die zu überstellende Person die Zuständigkeit des Gerichtshofs anfechten kann und dass dies grundsätzlich zum Aufschub der Überstellung führt.

3.3.4.1

Voraussetzungen

Grundsatz (Art. 16) In Absatz 1 wird der aus dem Statut fliessende Grundsatz festgehalten, dass auf Ersuchen des Gerichtshofs jede Person zu überstellen ist, die für ein Verbrechen verfolgt wird, das in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt. Nicht massgeblich ist die üblicherweise geforderte doppelte Strafbarkeit, handelt es sich doch um besonders schwere Verbrechen, die allgemein als solche anerkannt sind. Es wäre (trotz der fehlenden statutarischen Umsetzungspflicht) sinnwidrig, könnte sich ein Staat darauf berufen, solche Verbrechen im innerstaatlichen Recht nicht zu kennen91. Der Grundsatz wird in Absatz 2 dahingehend präzisiert, dass die Erledigung des Ersuchens aufgeschoben werden kann, wenn die Zuständigkeit vom Gerichtshof noch abgeklärt wird oder werden muss. In einem solchen Fall kann der Ankläger jedoch nach Artikel 19 Absatz 8 Buchstabe c des Statuts ermächtigt werden, sämtliche Massnahmen zur Verhinderung einer Flucht der verfolgten Person zu beantragen.

Die Anfechtung der Zuständigkeit setzt im Regelfall eine konkurrierende Zuständigkeit voraus, so dass sich die zu überstellende Person bereits auf Grund des innerstaatlichen Verfahrens in Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Vollstreckungshaft

91

462

Vgl. oben Ziff. 2.8.2.

befindet. Als Regel gilt somit, dass die zu überstellende Person auch während des Aufschubs des Überstellungsersuchens inhaftiert bleibt.

Absatz 3 befasst sich mit der Überstellung von Schweizer Bürgern, die mutmasslich Völkermord, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ein Kriegsverbrechen begangen haben oder daran beteiligt waren. Da die Schweiz Strafverfahren gegen Schweizer Bürgerinnen und Bürger selbst durchführt und, sollte der Gerichtshof gegen einen Schweizer ermitteln wollen, die Zuständigkeit des Gerichtshofs anfechten würde (vgl. Art. 7), behandelt dieser Absatz eine eher theoretische Ausnahme. Die Regelung baut auf der im Bundesbeschluss gewählten Lösung auf, wonach Schweizer Bürger einem Ad-hoc-Tribunal nur dann überstellt werden, wenn dieses zusichert, sie nach Abschluss des Verfahrens der Schweiz zurückzuüberstellen. Diese Regel musste jedoch leicht modifiziert werden, weil die Überstellung an den Internationalen Strafgerichtshof vorbehaltlos zu erfolgen hat (Art. 89 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 120 des Statuts). Die Zentralstelle wird jedoch verpflichtet, gestützt auf Artikel 53 Absatz 1 um die Strafvollstreckung in der Schweiz zu ersuchen. Die bisherigen Schwierigkeiten der Ad-hoc-Tribunale, einen Vollstreckungsstaat zu finden, lassen den Schluss zu, dass einem solchen Ersuchen entsprochen wird, sodass im Ergebnis die Lösung derjenigen des Bundesbeschlusses entspricht (zu den verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten vgl. Ziff. 7). Im Falle eines Freispruchs ist ein Ersuchen um freies Geleit zurück in die Schweiz im Sinne von Artikel 37 Absatz 2 analog zu stellen, sodass vermieden werden kann, dass der Schweizer Bürger im Gaststaat wegen gemeinrechtlicher Straftaten in Haft genommen, verfolgt oder ausgeliefert werden kann.

Inhalt und Unterlagen des Ersuchens (Art. 17) Artikel 91 des Statuts legt fest, welchen minimalen Anforderungen ein Überstellungsersuchen genügen muss. Weiter gehende Anforderungen sind nur zulässig, soweit diese auch bei zwischenstaatlichen Auslieferungsersuchen gestellt werden. Entsprechend wird im Gesetz die Liste des Statuts (Abs. 1 und 2) dahingehend ergänzt, dass aus dem Ersuchen der wesentliche Sachverhalt sowie die anwendbaren Bestimmungen des Statuts hervorgehen müssen (Abs. 3). Diese aus Artikel 28 IRSG übernommenen Anforderungen, welche es
ermöglichen, die Zuständigkeit des Gerichtshofs zu beurteilen, sind jedoch gering, wenn man in Betracht zieht, dass sie gemäss Statut bereits im Haftbefehl figurieren müssen (Art. 58 Abs. 3 Bst. b und c des Statuts). Im Falle der Überstellung einer verfolgten Person wird zusätzlich die Angabe des Haftgrundes gefordert (Art. 58 Abs. 1 Bst. b des Statuts: Verdunkelungs-, Wiederholungs- oder Fluchtgefahr). Auch dieses Zusatzerfordernis stellt den Gerichtshof vor keine grösseren Schwierigkeiten, da dies bereits aus dem Antrag des Anklägers an die Vorverfahrenskammer hervorgehen muss (Art. 58 Abs. 1 und 2 Bst. e des Statuts). Gesamthaft entsprechen somit die vom Gerichtshof geforderten Angaben den im Schweizer Verfahren üblichen Unterlagen (Art. 41 IRSG in Verbindung mit Art. 28 IRSG). Diese Angaben versetzen die Zentralstelle in die Lage, die beiden im Überstellungsverfahren zentralen Fragen beantworten zu können ­ handelt es sich um die richtige Person und kann oder muss die Zuständigkeit des Gerichtshofs angefochten werden? ­, ohne dass für den Gerichtshof daraus unüberwindbare Hürden entstehen.

463

3.3.4.2

Überstellungshaft und Sicherstellung

Fahndung, Festnahme und Sicherstellung (Art. 18) Im Sinne einer vorsorglichen Massnahme im Hinblick auf die Überstellung kann der Gerichtshof um die Festnahme einer Person ersuchen. Dieses Ersuchen kann über Interpol oder ganz allgemein über jedes Medium erfolgen, welches in der Lage ist, eine schriftliche Aufzeichnung zu hinterlassen (Art. 10 Abs. 3). Die Anforderungen, welche an ein solches Ersuchen gestellt werden, sind im Statut geregelt und werden entsprechend übernommen. Die erforderlichen Angaben ­ Personendaten (soweit möglich Name, Geburtsdatum und Aufenthaltsort), Sachverhaltsdarstellung, Erklärung über das Vorliegen eines gültigen Haftbefehls sowie die Zusicherung eines Überstellungsersuchens ­ erlauben es der Zentralstelle abzuklären, ob die Voraussetzungen für eine Überstellung gegeben sind, und gegebenenfalls die Person zur Verhaftung auszuschreiben (Abs. 2). Bei der Festnahme werden Gegenstände und Vermögenswerte, die als Beweismittel oder für die spätere Einziehung dienen können, sichergestellt, ohne dass dazu eine besondere Verfügung notwendig wäre (Abs. 3). Die durch die Ausschreibung begründete und durch jede Strafverfolgungsoder Polizeibehörde der Schweiz zu vollziehende Festnahme wird der Zentralstelle mitgeteilt. Diese leitet die Mitteilung unmittelbar an den Gerichtshof weiter und fordert ihn auf, ein Überstellungsersuchen innerhalb der in Artikel 21 Absatz 1 festgelegten Frist zu stellen (Abs. 4).

Überstellungshaftbefehl (Art. 19) Dieser Artikel regelt den Erlass, den Inhalt und die Eröffnung des Haftbefehls sowie das Rechtsmittel, das der inhaftierten Person gegen den Haftbefehl zusteht. Es wird der Zentralstelle freigestellt, bereits vor der Festnahme einen Haftbefehl auszustellen, sie muss diesen jedoch nach erfolgter Festnahme baldmöglichst erlassen (Abs. 1). Dieser für die Überstellungshaft unerlässliche Titel muss nebst den Angaben über die Person auch die Rechte der verhafteten Person enthalten, das heisst die Mitteilung, dass die Überstellung vom Gerichtshof verlangt wird, den Hinweis auf die Möglichkeit zum Beizug eines Rechtsbeistands und das der inhaftierten Person zustehende Rechtsmittel (Abs. 1 Bst. a­c). Der Überstellungshaftbefehl wird der festgenommenen Person durch die ausführende Behörde eröffnet. Diese stellt fest, ob die festgenommene Person mit der im
Haftbefehl genannten identisch ist, erklärt ihr das Verfahren und führt eine kurze Befragung zu den persönlichen Verhältnissen und der Haltung dieser Person gegenüber dem Haftbefehl und der Überstellung durch (Abs. 3). Die Gewährung des rechtlichen Gehörs im Zeitpunkt der Hafteröffnung entspricht der aktuellen Praxis, gewährleistet aber auch, dass die Rechte des Angeschuldigten gemäss Artikel 59 Absatz 2 und Artikel 67 des Statuts sinngemäss gewahrt werden. Erwägt die Zentralstelle, eine andere Massnahme als Haft anzordnen, lädt sie den Gerichtshof analog zu Artikel 59 Absatz des Statuts zur Abgabe einer diezbezüglichen Empfehlung ein, die sie bei ihrem Entscheid vollumfänglich berücksichtigt (Abs. 2, vgl. auch Art. 20 Abs. 2). Gegen den Überstellungshaftbefehl und damit gegen die Inhaftierung kann die festgenommene Person beim Bundesgericht Beschwerde führen (Abs. 4). Der Verweis auf die Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege, welcher sich auch in Artikel 48 IRSG findet, regelt den Verfahrensablauf der Beschwerde gegen eine Haft.

464

Überstellungshaft (Art. 20) Der Verbleib einer zu überstellenden Person in Haft ist die Regel (Abs. 1). Der klare Wortlaut entspricht Artikel 59 des Statuts, welcher eine Freilassung im Gewahrsamsstaat nur vorsieht, wenn dringende und aussergewöhnliche Umstände vorliegen.

Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist gerade bei so schwerwiegenden Verbrechen wie jenen, welche der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegen, kaum auszuschliessen. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass eine zu überstellende Person die Überstellung kaum abwenden kann.

Dennoch kann in Ausnahmefällen die Haft aufgehoben werden. Zu denken ist zum Beispiel an die bereits in Artikel 19 Absatz 2 genannte Unfähigkeit der Hafterstehung. Die inhaftierte Person kann einen entsprechenden Antrag stellen. Dieser wird umgehend dem Gerichtshof mitgeteilt, verbunden mit einer kurzen Frist zur Abgabe der in Artikel 59 Absatz 5 des Statuts vorgesehenen Empfehlungen, damit das Recht der inhaftierten Person auf ein zügiges Verfahren gewährleistet werden kann.

Absatz 3 regelt die rechtliche Situation, wenn sich eine Person bereits auf Grund eines anderen Verfahrens in Haft befindet. In diesem Fall stellt sich die Frage der Wirkung des neuen Hafttitels im Verhältnis zum bestehenden. Als Grundregel gilt, dass der Überstellungshaftbefehl vorgeht. Die konkreten Auswirkungen werden im Artikel festgehalten. Grundsätzlich dürfen die im Rahmen des ersten Hafttitels zuständigen Behörden Entscheide, die einen Einfluss auf das Überstellungsverfahren haben könnten, aber auch die Briefzensur (inklusive E-Mail und Telefon), nur noch mit Einwilligung der Zentralstelle fällen. Das Gesetz schliesst selbstverständlich eine weitergehende Wirkung des Überstellungshaftbefehls nicht aus, wenn dies dem Ersuchen des Gerichtshofs entspricht. Im Licht der Praxis der Ad-hoc-Tribunale92 kann der Gerichtshof durchaus ein Interesse daran haben, dass die Haft vollumfänglich seinem Verfahren zugerechnet wird.

Aufhebung der Überstellungshaft (Art. 21) Trifft das Überstellungsersuchen nicht spätestens 60 Tage nach der Festnahme oder der Versetzung in die Überstellungshaft (Abs. 2) im Sinne von Artikel 20 Absatz 3 ein, so muss die Person sofort und bedingungslos aus der Überstellungshaft freigelassen werden (Abs. 1). Diese Frist wird aus der für den Gerichtshof
massgebenden Verfahrens- und Beweisordnung übernommen. Sie entspricht zudem beispielsweise derjenigen im Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten von Amerika93. Da die Schweiz ein einfaches Verfahren vorsieht, kann man davon ausgehen, dass der Gerichtshof die Frist von 60 Tagen in der Regel nicht ausschöpfen wird. Verletzt der Gerichtshof dennoch die gesetzte Frist und muss die inhaftierte Person aus der Überstellungshaft freigelassen werden, so schliesst dies nicht aus, dass die Person für ein anderes Verfahren weiterhin in Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Strafvollstreckungshaft verbleibt oder auf Grund eines späteren Ersuchens des Gerichtshofs festgenommen und überstellt wird (Abs. 3).

Der Verweis in Absatz 4 ermöglicht es in den Fällen einer Haftentlassung gemäss Artikel 18 Absatz 2 beziehungsweise Artikel 19 Absatz 2, andere Sicherungsmassnahmen anzuordnen, welche gewährleisten sollen, dass die Person nicht flieht und damit für das Überstellungsverfahren zur Verfügung steht.

92 93

ICTR, Appeal Chamber, Jean-Bosco Barayagwiza v. The Prosecutor , ICTR-97-19, Urteil vom 3. Nov. 1999.

SR 0.353.933.6, Art. 13 Abs. 4.

465

3.3.4.3

Überstellungsentscheid

Rechtliches Gehör (Art. 22) Die zu überstellende Person hat ein Anrecht darauf, dass ihr und gegebenenfalls ihrem Rechtsbeistand das Ersuchen des Gerichtshofs sowie die dazugehörigen Unterlagen vorgelegt werden (Abs. 1). Die ausführende Behörde muss sie zudem auf ihre Rechte hinweisen, die Zuständigkeit des Gerichtshofs anzufechten, einen Rechtsbeistand beizuziehen oder bestellen zu lassen sowie in eine vereinfachte Überstellung einzuwilligen (Abs. 2). Für die Bewilligung des amtlichen Rechtsbeistands ist die Zentralstelle zuständig (Art. 3 Abs. 2 Bst. d). Diese wird in der Regel einen positiven Entscheid fällen, wenn die zu überstellende Person die Haft oder die Zuständigkeit des Gerichtshofs anficht. Die Person wird, gegebenenfalls in Anwesenheit ihres Rechtsbeistands, anschliessend über ihre persönlichen Verhältnisse einvernommen (Abs. 3). Diese werden zusammen mit ihren Einwänden gegen die Überstellung protokolliert. Die ausführende Behörde übermittelt das Protokoll der Zentralstelle im Hinblick auf den Entscheid gemäss Artikel 24. Damit wird die Zentralstelle in die Lage versetzt, den Überstellungsentscheid zu fällen. Liegt das Überstellungsersuchen bereits im Zeitpunkt der Festnahme vor, so kann die Zentralstelle anordnen, dass die zu überstellende Person bereits im Zeitpunkt der Festnahme zum Überstellungsersuchen angehört wird. Zweck dieser Vorgehensweise ist es, die Gewährung des rechtlichen Gehörs nach Artikel 19 Absatz 3 und 22 verfahrensökonomisch zusammenzulegen (vgl. Art. 14 Bundesbeschluss).

Vereinfachte Überstellung (Art. 23) Die festgenommene Person kann auf die Durchführung des ordentlichen Verfahrens verzichten, indem sie in ihre Überstellung einwilligt (Abs. 1; vgl. Art. 92 Abs. 3 des Statuts). Sie kann diese Verzichtserklärung zurückziehen, solange die Zentralstelle die Übergabe nicht bewilligt hat (Abs. 3). Diese beiden Gesichtspunkte wurden dem Artikel 54 IRSG entnommen, der sich in der Praxis bewährt hat. Dabei willigt eine Person erfahrungsgemäss ein, wenn sie zur Einsicht gelangt, dass eine Auslieferung unvermeidbar ist. Gestützt auf diese Erfahrung erscheint gerade im Überstellungsverkehr eine solche Bestimmung als sinnvoll, da die Überstellung bis auf wenige Ausnahmefälle die Regel sein wird.

Durch den Verzicht auf ein ordentliches Verfahren entfällt im Regelfall auch
die Notwendigkeit für das Überstellungsersuchen des Gerichtshofs, da die Zentralstelle nicht mehr entscheiden muss. Sie kann jedoch auch im Falle einer vereinfachten Überstellung ein solches anfordern. Dieser Ausnahmefall wird wohl insbesondere dann zur Anwendung gelangen, wenn die Zentralstelle erwägt, die Zuständigkeit des Gerichtshofs anzufechten, weil sich beispielsweise Opfer in der Schweiz aufhalten, sodass ihre Interessen besser gewahrt werden können, wenn das Verfahren in der Schweiz durchgeführt wird.

Bewilligung der Überstellung (Art. 24) Liegen die auf Grund von Artikel 17 erforderlichen Unterlagen vor und wurde der zu überstellenden Person das rechtliche Gehör gewährt, so bewilligt die Zentralstelle die Überstellung (Abs. 1). Dieser Entscheid muss aufgeschoben werden, wenn die

466

Zuständigkeit des Gerichtshofs angefochten wird (Abs. 2)94. Die Zentralstelle kann in einem solchen Fall die zu überstellende Person auf die Möglichkeit einer provisorischen Zuführung gemäss Artikel 26 hinweisen, um ihr zu ermöglichen, ihre Rechte selber beim Gerichtshof geltend zu machen. Die vorliegende Bestimmung regelt einzig die Anfechtung durch die Zentralstelle selbst oder durch die zu überstellende Person. Ficht dagegen ein Drittstaat die Zuständigkeit des Gerichtshofs an, so findet sich die Lösung in Artikel 14 zu den konkurrierenden Ersuchen. Es ist nämlich nicht denkbar, dass der Drittstaat seine Gerichtsbarkeit gegenüber dem Gerichtshof beansprucht, ohne gleichzeitig die Auslieferung der betroffenen Person zu verlangen.

Gleichzeitig mit der Überstellung entscheidet die Zentralstelle auch über die Aushändigung der bei der zu überstellenden Person im Rahmen von Artikel 18 Absatz 3 sichergestellten Gegenstände und Vermögenswerte. Die Rechte allfälliger gutgläubiger Dritter werden dadurch geschützt, dass die Aushändigung diesfalls nur erfolgen kann, wenn der Gerichtshof zusichert, diese nach Abschluss des Verfahrens zurückzugeben (Abs. 3). Dem Gerichtshof bleibt es freigestellt, in einem solchen Fall ein Ersuchen auf Herausgabe der sichergestellten Gegenstände und Vermögenswerte zu stellen. Ein solches wird dann jedoch gemäss Artikel 40 beurteilt.

Vollzug (Art. 25) Der zu überstellenden Person stehen gegen den Überstellungsentscheid selbst keine Rechtsmittel zur Verfügung, was angesichts der statutarischen Rahmenbedingungen gerechtfertigt ist. Die zu überstellende Person kann in diesem Stadium des Verfahrens nämlich keinen Grund geltend machen, welcher die Überstellung aufschieben oder verhindern könnte, sodass ein Rechtsmittel für sämtliche Beteiligten zu einem unnötigen Zeitverlust führen würde. Daraus folgt, dass der Entscheid der Zentralstelle unmittelbar vollzogen werden kann, was auch Artikel 59 Absatz 7 des Statuts entspricht (Abs. 1). Der Vollzug kann im Einvernehmen mit dem Gerichtshof aufgeschoben werden, wenn in der Schweiz gegen die zu überstellende Person ein Strafverfahren durchgeführt wird oder sie noch eine Haftstrafe verbüssen muss (Abs. 2).

Diese dem Statut entnommene Bestimmung gewährleistet, dass auch die Interessen der schweizerischen Strafverfolgungsbehörden
berücksichtigt werden. Verfahren, die kurz vor dem Abschluss stehen, können damit vor der Überstellung zu Ende geführt werden. Im Falle einer längeren Haftstrafe ist die Lösung im Bereich von Artikel 26, das heisst einer vorübergehenden Zuführung, zu suchen. Als Selbstverständlichkeit muss gelten, dass die Überstellungshaft aufgehoben wird, sobald die Überstellung abgelehnt wird, da der Haftgrund wegfällt (Abs. 3). Da dies jedoch insbesondere im Falle einer Nichtzuständigkeitserklärung des Gerichtshofs sein wird, was im Regelfall gleichzeitig eine staatliche Zuständigkeit voraussetzt, bleibt die damit verbundene Untersuchungs-, Strafvollstreckungs- oder Auslieferungshaft davon unberührt.

Vorübergehende Zuführung (Art. 26) Dieser Artikel übernimmt eine im IRSG erprobte Regel und löst damit gleichzeitig einen Spezialfall im Verhältnis zum Gerichtshof. Die provisorische Zuführung findet sich in Artikel 58 IRSG, betrifft jedoch nur eine Person, welche in der Schweiz strafrechtlich verfolgt wird oder eine Strafe verbüsst. Dieser Aspekt wurde im Verhältnis zum Gerichtshof jedoch dahingehend ergänzt, dass auch eine Person vorübergehend zugeführt werden kann, deren Überstellung aufgeschoben wurde, weil 94

Vgl. diesbezüglich auch Art. 89 Abs. 2 und 19 Abs. 7 des Statuts.

467

die Zuständigkeit des Gerichtshofs angefochten wird. In einem solchen Fall ist jedoch die Zustimmung der betroffenen Person notwendig, da in diesem Zeitpunkt ihre Überstellung noch nicht bewilligt wurde (Abs. 2). Stellt die Person selber den Antrag auf vorübergehende Zuführung, um beispielsweise ihre Rechte bei der Anfechtungsklage besser wahren zu können, so impliziert dies ihre Zustimmung. Die mit dem Gerichtshof vor einer provisorischen Zuführung auszuhandelnden Punkte (Abs. 1: Dauer des Aufenthaltes vor dem Gerichtshof, Anrechnung dieser Zeit, Rücküberführung) entsprechen den Bedürfnissen der Praxis. Wird die Zuständigkeit des Gerichtshofs bejaht, so kann die Zentralstelle den Überstellungsentscheid fällen und auf die Rücküberführung verzichten.

Grundsatz der Spezialität (Art. 27) Es handelt sich um einen der wichtigen Grundsätze der zwischenstaatlichen Auslieferung, dessen Zweck es ist, eine Verurteilung für Delikte zu verhindern, für welche die Auslieferung nicht zulässig gewesen wäre. Bei der Ausarbeitung des Statuts wurde eine Regel vorgesehen, die es dem Gerichtshof verbietet, eine Strafverfolgung für andere Sachverhalte durchzuführen als für jene, für die die Überstellung erwirkt wurde (Art. 101 des Statuts). Will der Gerichtshof gegen die Person wegen einer anderen Verhaltensweise vorgehen, so muss er die Staaten darum ersuchen. Im Verhältnis zum Gerichtshof erübrigen sich für die Schweiz besondere, aus dem Grundsatz der Spezialität fliessende Anforderungen: Für die Schweiz ergibt sich eine Überstellungspflicht, wenn der Gerichtshof für einen Sachverhalt zuständig ist, was nach dem Statut nur für völkerrechtliche Kernverbrechen möglich ist. Dadurch, dass die Schweiz einem Überstellungsersuchen des Gerichtshofs entsprochen hat, erachtet sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs als gegeben. Auf ein besonderes Zusatzersuchen des Gerichtshofs kann deshalb verzichtet werden. Ein solches würde sich als unnötige Formalität erweisen. In diesem Sinne gilt das Spezialitätsprinzip im Überstellungsverfahren nicht. Dieser Entscheid unterstreicht auch das in den Gerichtshof gesetzte Vertrauen, welches im Übrigen bereits den beiden Ad-hoc-Tribunalen entgegengebracht wurde (Ziff. 221.1 der Botschaft zum Bundesbeschluss).

Kosten (Art. 28) Diese Bestimmung entspricht Artikel 62 Absatz 2 IRSG und gibt der
Zentralstelle die Möglichkeit, das Eigentum der überstellten Person zur Deckung der Kosten zu verwenden. Eine solche Verwendung ist natürlich nur möglich, wenn die Verwendung dieser Vermögenswerte nicht vom Gerichtshof geregelt wird.

3.3.5

Andere Formen der Zusammenarbeit

Bei den anderen Formen der Zusammenarbeit ist das Verfahren durch eine starke Zentralisierung charakterisiert. Aus dem ersten Abschnitt, welcher die zur Gewährung der Zusammenarbeit notwendigen Voraussetzungen regelt, geht hervor, dass dem Gerichtshof grundsätzlich uneingeschränkt Rechtshilfe geleistet wird, wenn er zuständig ist. In einem zweiten Abschnitt finden sich einzelne Formen der Zusammenarbeit, bei denen ein Regelungsbedarf besteht. Dabei wurde bewusst auf die Regelung neuer Institute (z.B. Videokonferenzen) verzichtet, um Inkompatibilitäten mit zukünftigen Regelungen des Gerichtshofs zu vermeiden. Die Abschnitte 3 und 4 regeln das Verfahren und die Rechtsmittel. Wie bei der Überstellung wurden auch im Bereich der anderen Formen der Zusammenarbeit die Rechtsmittel eingeschränkt.

468

Dabei wird grundsätzlich zwischen den am Verfahren des Gerichtshofs beteiligten Personen, denen kein Rechtsmittel zusteht, und den übrigen Personen unterschieden: Die letzteren haben eine Beschwerdemöglichkeit gegen die Schlussverfügung.

3.3.5.1

Voraussetzungen

Grundsatz (Art. 29) Wie bereits für den Bereich der Überstellung gilt grundsätzlich, dass Ersuchen des Gerichtshofs ausgeführt werden, wenn die Tat in dessen Zuständigkeitsbereich fällt (Abs. 1). Ebenso gilt, dass bei einer Anfechtung der Zuständigkeit die Erledigung des Ersuchens aufgeschoben werden kann, wovon jedoch vorsorgliche Massnahmen nicht betroffen sind (Abs. 2). Dies entspricht den Bestimmungen des Statuts, welche vorsehen, dass der Ankläger in solchen Fällen konservatorische Massnahmen zur Beweissicherung beantragen kann (Art. 18 Abs. 6 sowie Art. 19 Abs. 8 des Statuts).

Solche vorsorglichen Massnahmen sind auch deshalb angebracht, weil die Anfechtung der Zuständigkeit des Gerichtshofs im Regelfall bedeutet, dass gleichzeitig ein Staat die Zuständigkeit für das Verfahren beansprucht. Beim Wegfall der Zuständigkeit des Gerichtshofs werden die Beweise deshalb für ein anderes Verfahren benötigt werden.

Formen der Zusammenarbeit (Art. 30) Die möglichen Massnahmen werden in einer Generalklausel umschrieben, die derjenigen von Artikel 93 Absatz 1 Buchstabe l des Statuts nachgebildet ist. Somit ist im Zusammenarbeitsverfahren jede nach schweizerischem Recht zulässige Prozesshandlung möglich. Zunächst muss dabei betont werden, dass der Ausdruck Prozesshandlung dem Statut entnommen wurde, sodass bei der rechtlichen Qualifikation einer Handlung die Rechtsauffassung des Gerichtshofs entscheidend ist. Bei der Auslegung der Generalklausel muss sodann Artikel 93 Absatz 3 des Statuts berücksichtigt werden, was bedeutet, dass nur Zusammenarbeitshandlungen abgelehnt werden können, deren Durchführung einen bestehenden allgemein gültigen Rechtsgrundsatz verletzen würde. Bestehen diesbezüglich Bedenken, so müssen gemäss Artikel 4 Buchstabe a Konsultationen mit dem Gerichtshof durchgeführt werden.

Die anschliessende Liste enthält die in der zwischenstaatlichen Rechtshilfepraxis wichtigsten Handlungen wie zum Beispiel die Einvernahme (Art. 34 und 35), die Beschlagnahme (Art. 40 und 41) oder auch die Untersuchung von Tatorten. In dieser Liste ist aber auch der Zeugen- und Opferschutz aufgeführt, ein Anliegen des Gerichtshofs, dem gerade bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine grosse Bedeutung zukommt. Diese Liste ist nicht abschliessend, was auf Grund der zukünftigen Mittel der Zusammenarbeit auch
nicht möglich ist. In der Praxis spielen bereits jetzt Telefonkontrollen oder Videokonferenzen eine immer grössere Rolle.

Vorsorgliche Massnahmen (Art. 31) Die hohen Garantien, die das Verfahren vor dem Gerichtshof prägen, sind mit dem Risiko verbunden, dass die Ermittlungskompetenz des Anklägers zeitweise eingeschränkt oder zurückgestellt wird. Um zu verhindern, dass dadurch Beweismittel und damit das gesamte Verfahren gefährdet werden, kann der Ankläger vorsorgliche Massnahmen zur Sicherung des Ist-Zustandes beantragen (Art. 18 Abs. 6 und Art. 19 Abs. 8 des Statuts). In diesem Sinne kommt den vorsorglichen Massnahmen 469

eine grosse Bedeutung zu, da damit verhindert werden kann, dass Beweismittel verloren gehen oder bewusst vernichtet werden. Aus diesem Grund erhält die Zentralstelle die Kompetenz, vor Eingang des Ersuchens selbstständig provisorische Massnahmen anzuordnen (Abs. 2). In einem solchen Fall setzt die Zentralstelle dem Gerichtshof jedoch eine Frist an, innert welcher er ein Ersuchen einreichen muss. Gegen eine vorsorgliche Massnahme steht kein Rechtsmittel zur Verfügung. Sie kann jedoch im Rahmen der Beschwerde gegen die Schlussverfügung vom Bundesgericht beurteilt werden.

Anwendung der Verfahrensformen des Gerichtshofs (Art. 32) Die einleitende Generalklausel übernimmt die Bestimmung von Artikel 99 Absatz 1 des Statuts, sodass auf Ersuchen des Gerichtshofs bei der Ausführung dessen Verfahrensformen angewendet werden. Nicht übernommen wurde der ausdrückliche Ausschluss von den gemäss Schweizer Recht verbotenen Verfahrensformen, da dieser durch Artikel 30 gewährleistet ist. Die in den Buchstaben a, b und d umschriebenen Verfahrensformen dienen dazu, eine möglichst grosse Statutskonformität der Beweismittel zu erreichen. Die Bekräftigung von Zeugenaussagen ist ein Kompromiss zwischen den strengen Formerfordernissen des angelsächsischen Rechts und dem weit gehenden Verzicht auf solche in unserem Rechtskreis. Dieser Kompromiss ermöglicht es der Zentralstelle, die notwendige Beglaubigung selber vorzunehmen, sodass durch dieses Formerfordernis das Verfahren nicht verlängert wird. Der in Buchstabe c vorgesehene Schutz der Opfer entspricht einer zentralen Aufgabe des Gerichtshofs (Art. 68 des Statuts): Es darf nicht geschehen, dass ein Verbrecher bestraft, aber mit dem dazu notwendigen Verfahren das Wohl der Opfer gefährdet wird. Der vom Gerichtshof gewährte Schutz muss aber auch in den Staaten gewährleistet werden, da dem Schutz der Opfer oder Zeugen ansonsten die Wirkung entzogen wird. Die Schutzmassnahmen des Gerichtshofs können in der Schweiz direkt angewendet werden. Diese Kosten werden gemäss Artikel 100 Absatz 1 Buchstabe a des Statuts (umgesetzt in Art. 12 Abs. 1 Bst. a) vom Gerichtshof getragen.

Weiterleitung von Beweismitteln an einen anderen Staat (Art. 33) Dieser Artikel regelt einen Teilaspekt der Spezialität und zwar die Frage, inwiefern die auf Grund der Ersuchen zugestellten Beweismittel vom
Gerichtshof weiterverwendet werden können. Die Weiterleitung der Ergebnisse durch den Gerichtshof an einen anderen Staat, wie sie Artikel 93 Absatz 10 des Statuts vorsieht, ist nämlich ein Spezialfall der Weiterverwendung. Zulässig ist eine Weiterleitung von Vollzugsergebnissen nur, wenn der ersuchende Drittstaat Ermittlungen oder ein Verfahren durchführt wegen eines Verhaltens, das den Tatbestand eines der in den Artikeln 5­8 des Statuts umschriebenen Verbrechen oder eines schweren Verbrechens nach innerstaatlichem Recht des ersuchenden Staates erfüllt. Der vorliegende Artikel unterscheidet auch zwischen diesen beiden Fallvarianten. In Fällen, in welchen die Ermittlungen oder Verfahren ein statutarisches Verbrechen betreffen, ist ein solches Ersuchen insbesondere denkbar, wenn ein Staat die Zuständigkeit des Gerichtshofs erfolgreich anficht und nun die Beweismittel des Gerichtshofs in seinem Verfahren verwenden will. Ein solches Ersuchen wird nach den Bestimmungen dieses Gesetzes erledigt (Bst. a), wäre es doch sinnwidrig, wenn in der Schweiz ein Rechtshilfeverfahren nach den restriktiveren Bestimmungen des IRSG durchgeführt werden müsste, da dies im Falle der Nichtgewährung der Rechtshilfe den Entscheid des Gerichtshofs, die staatliche Zuständigkeit anzuerkennen, in Frage stellen würde. Ein Verfahren nach IRSG ist jedoch angebracht, wenn die Unterlagen für ein Strafverfahren 470

wegen eines schweren Verbrechens nach innerstaatlichem Recht herausgegeben werden sollen (Bst. b). Hier rechtfertigt sich die günstige Ausnahmeregelung nicht, sodass auf das übliche Verfahren im IRSG zurückgegriffen werden muss. Die Schweiz kann dem Gerichtshof die Weiterleitung der Ergebnisse untersagen, wenn bei einem entsprechenden Ersuchen des Staates an die Schweiz eine der Bedingungen des IRSG nicht erfüllt wäre. Damit wird vermieden, dass über den Gerichtshof Rechtshilfeleistungen erbracht werden, welche nach schweizerischem Rechtshilferecht nicht möglich sind.

3.3.5.2

Einzelne Formen der Zusammenarbeit

Grundsätze für die Einvernahme (Art. 34)/Einvernahme einer verdächtigen Person (Art. 35) Der Einvernahme kommt im Beweiserhebungsverfahren eine grundlegende Bedeutung zu. Sie ist in Artikel 55 des Statuts ausführlich geregelt. Dabei wird zwischen der Einvernahme einer verdächtigen Person und den übrigen Einvernahmen unterschieden, da nur im ersten Fall gewisse Verteidigungsrechte der einzuvernehmenden Person berücksichtigt werden müssen. Diese Unterscheidung wird im vorliegenden Gesetz hervorgehoben, indem ein Artikel die Grundregeln der Einvernahme und ein weiterer ergänzende Regeln für die Einvernahme einer verdächtigen Person enthält.

Zunächst wird die im Statut enthaltene Anforderung übernommen, wonach Personen in einer ihr verständlichen Sprache einvernommen werden sollen (Abs. 1). Das Kriterium der Verständlichkeit ist jedoch auslegungsbedürftig. Im Statut wird einzig das Gebot der Fairness als Ansatzpunkt genannt, was dazu führt, dass unklar ist, welche Anforderungen diesbezüglich an eine Einvernahme gestellt werden. Nur die zukünftige Rechtsprechung des Gerichtshofs wird weisen, welche Anforderungen konkret gestellt werden. Aus diesem Grund wird im vorliegenden Gesetz das statutarische Kriterium übernommen, sodass die künftige diesbezügliche Rechtsprechung des Gerichtshofs berücksichtigt werden kann. Es wird die Aufgabe der Zentralstelle sein, diese Rechtsprechung zu verfolgen und gestützt darauf zu entscheiden, wann ein solcher Übersetzungsdienst notwendig ist.

In Absatz 2 werden die Gründe aufgeführt, welche eine einzuvernehmende Person geltend machen kann, um die Aussage zu verweigern. Die einvernommene Person kann sich jederzeit weigern, weiter auszusagen, wenn sie sich damit belasten würde.

Während dies einer Selbstverständlichkeit entspricht, war es auf Grund der verschiedenen Rechtsauffassungen nicht möglich, im Statut die Personen zu definieren, welche die einvernommene Person auf Grund ihrer verwandtschaftlichen oder ähnlichen Beziehung durch ihre Aussage ebenfalls nicht belasten muss. Diese Frage wird jedoch in der Verfahrens- und Beweisordnung geregelt95, auf welche das Gesetz verweist. Der zweite Verweigerungsgrund ist derjenige der nationalen Sicherheit, welcher auf Grund von Artikel 72 Absatz 2 des Statuts auch von einer einzuvernehmenden Person geltend gemacht werden
kann. Diese Bestimmung des Statuts hält aber gleichzeitig fest, dass der Einwand der betroffenen Person vom Staat bestätigt werden muss. Da der Einwand der nationalen Sicherheit im Ergebnis somit 95

Texte final du projet de Règlement de procédure et de preuve, Rapport de la Commission préparatoire de la Cour pénale internationale du 30 juin 2000, Nations Unies, document PCNICC/2000/INF/3/Add. 1, Règle 75.

471

dem Staat, nicht jedoch dem Individuum zusteht, kann die Zentralstelle im Zeitpunkt der Einvernahme die Fortsetzung der Einvernahme gestatten. Dem Bundesrat steht es nämlich in der Folge frei, gestützt auf Artikel 44 die Zusammenarbeit zu verweigern.

Eine verdächtige Person muss vor der Einvernahme informiert werden, dass Verdachtsgründe gegen sie bestehen, und über ihre Rechte belehrt werden (Art. 35).

Beantragt die einzuvernehmende Person eine amtliche Verbeiständung, so ersucht die ausführende Behörde die Zentralstelle im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe d um einen diesbezüglichen Entscheid. Die Zentralstelle konsultiert im Zweifelsfall den Gerichtshof, weil die amtliche Verbeiständung auch Auswirkungen auf dessen Verfahren hat.

Zustellung von Prozessakten (Art. 36) und Vorladung (37) Wie bereits in Artikel 23 des Bundesbeschlusses wird der Gerichtshof in die Lage versetzt, seine Prozessakten direkt per Post den Empfängern in der Schweiz zuzustellen.

Damit wird die Zustellung beschleunigt, und der Gerichtshof hat eine Kontrolle bezüglich der Einhaltung seiner Fristen. Es handelt sich um ein Recht des Gerichtshofs. Diesem steht es frei, seine Akten über die Zentralstelle zustellen zu lassen.

Spezifisch geregelt ist die Vorladung eines Zeugen oder Sachverständigen, da diese gewissen Anforderungen genügen muss. Sie ist in einer der betroffenen Person verständlichen Sprache zu verfassen, und es muss eine Abschrift der Verfahrensregel des Gerichtshofs bezüglich Selbstinkriminierung beigelegt werden (Art. 37 Abs. 1)96.

Bei der Regel der Selbstinkriminierung handelt es sich um eine Regel, welche es dem Gerichtshof ermöglicht, eine Person zur Aussage anzuhalten, auch wenn sie sich damit strafrechtlich belasten könnte, da ihr im Gegenzug zugesichert wird, dass sie für diese Aussagen vor dem Gerichtshof nicht strafrechtlich verfolgt wird. Gerade in der Schweiz, welche solche Regeln nicht kennt, ist es von Bedeutung, vorgeladene Personen auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen.

Eine vorgeladene Person kann nicht gezwungen werden, vor dem Gerichtshof zu erscheinen. Sie kann die Zentralstelle auffordern, den Gerichtshof zu ersuchen, ihr freies Geleit zuzusichern (Art. 37 Abs. 2).

Untersuchungshandlungen auf schweizerischem Hoheitsgebiet (Art. 38) Diese Möglichkeit der Zusammenarbeit, welche
bereits eingehend dargestellt wurde (Ziff. 2.8.3), ist auf den ersten Blick im Statut enger formuliert, als dies in Artikel 22 des Bundesbeschlusses der Fall war. Gemäss Statut (Art. 99 Abs. 4) ist es nämlich nur möglich, Untersuchungshandlungen durchzuführen, welche keine Zwangsmassnahmen erfordern. Da jedoch Unterschiede bezüglich der Definition von Zwangsmassnahmen bestehen, kann durch den Verweis auf das Statut erreicht werden, dass nur Untersuchungshandlungen ausgeschlossen werden, welche nach der Rechtsauffassung des Gerichtshofs als Zwangsmassnahmen zu qualifizieren sind. Somit ist denkbar, dass der Ankläger wie bisher auch Untersuchungshandlungen durchführt, welche nach schweizerischem Rechtsverständnis als Zwangsmassnahmen gelten (Zeugeneinvernahme).

Die notwendige Bewilligung kann die Zentralstelle neu selber erteilen. Dieser Entscheid hat sich aufgedrängt, da die Erfahrung mit den beiden Ad-hoc-Tribunalen ge96

472

A.a.O, Règle 190 i.V.m. 74

zeigt hat, dass die Bewilligung des Antrages des Bundesamtes auf Grund der betroffenen Interessen eine reine Formalität war. Dies wird im Rahmen des Statuts noch ausgeprägter der Fall sein, da die Schweiz durch die Ratifikation des Statuts zu dieser Form der Zusammenarbeit verpflichtet ist.

Zeitweilige Übergabe inhaftierter Personen (Art. 39) Im Gegensatz zu Artikel 26 geht es hier um die Zuführung von Personen, welche nicht vor dem Gerichtshof angeschuldigt sind. Die in Artikel 93 Absatz 7 des Statuts vorgesehenen und in diesem Gesetz übernommenen Voraussetzungen für eine solche Zuführung entsprechen denjenigen in Artikel 70 IRSG. Der Gerichtshof muss freies Geleit, die Aufrechterhaltung der Haft sowie die Rücküberführung nach Wegfall des Zwecks der Zuführung zusichern (Abs. 2). Da die ebenfalls notwendige Zustimmung der zuzuführenden Person die Kenntnis sämtlicher Umstände voraussetzt (Abs. 1), müssen der inhaftierten Person dieselben Unterlagen vorliegen, die den gemäss Artikel 37 ordentlich vorgeladenen Personen zugestellt werden.

Herausgabe von Beweismitteln (Art. 40) Dieser Artikel entspricht der aktuellen Rechtshilfepraxis (vgl. Art. 74 IRSG). Dies bedeutet, dass dem Gerichtshof grundsätzlich sämtliche beschlagnahmten Gegenstände, Schriftstücke und Vermögenswerte zu Beweiszwecken herausgegeben werden können (Abs. 1). Macht jedoch eine nichtangeschuldigte Person geltend, sie habe an Beweisstücken gutgläubig Rechte erworben, so werden diese Rechte vorläufig geschützt. Die Herausgabe erfolgt in diesem Fall nur dann, wenn der Gerichtshof die kostenlose Rückgabe zusichert (Abs. 2). Schliesslich kann die Herausgabe aufgeschoben werden, wenn dieselben Beweisstücke in einem schweizerischen Verfahren verwendet werden (Abs. 3). In diesem Fall muss die Zentralstelle mit dem Gerichtshof eine Frist aushandeln.

Herausgabe zur Einziehung, zur Zuweisung an den Treuhandfonds oder zur Rückerstattung (Art. 41) Auch dieser Artikel entspricht der aktuellen Rechtshilfepraxis (vgl. Art. 74a IRSG).

Somit können dem Gerichtshof sämtliche Gegenstände und Vermögenswerte zur Einziehung oder Rückerstattung herausgegeben werden, welche mit einem in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallenden Verbrechen im Zusammenhang stehen, wobei auch Ersatzwerte herausgegeben werden müssen (Abs. 2). Eine kleine Besonderheit
besteht darin, dass die Einziehung auch zu Gunsten des Treuhandfonds erfolgen kann (Abs. 1). Die Herausgabe kann jederzeit erfolgen. Dabei muss betont werden, dass Gegenstände und Vermögenswerte in der Schweiz bleiben, wenn ein Geschädigter, eine Behörde oder ein gutgläubiger Dritter Rechte daran geltend macht (Abs. 4). Die Gegenstände bleiben grundsätzlich beschlagnahmt, bis die Herausgabe erfolgt, der Gerichtshof der Zentralstelle mitteilt, dass er auf eine solche verzichtet (Abs. 3), oder die Ansprüche eines gemäss Absatz 4 Berechtigten anerkannt werden (Abs. 5).

473

3.3.5.3

Verfahren

Inhalt des Ersuchens (Art. 42) Artikel 96 Absatz 2 des Statuts enthält eine Liste der notwendigen Angaben, verbunden mit der Möglichkeit für den ersuchten Staat, weiter gehende Informationen anzufordern. Da es jedoch bereits die im Statut vorgesehenen Angaben der Zentralstelle erlauben, die Rechtslage abzuklären, kann auf weiter gehende Anforderungen verzichtet werden (Abs. 1). Erforderlich sind somit zunächst eine Darstellung des Sachverhalts sowie möglichst genaue und vollständige Angaben über die Person, gegen die sich das Verfahren richtet. Diese Angaben versetzen die Zentralstelle in die Lage, die grundsätzliche Zuständigkeit des Gerichtshofs abzuklären. Ein Ersuchen muss sodann jeweils eine kurze Darstellung seines Zwecks enthalten, die ersuchte Massnahme umschreiben und gegebenenfalls möglichst genaue Angaben über den Aufenthaltsort und die einzuhaltenden Verfahren enthalten. Damit wird die konkrete Ausführung der Zusammenarbeit ermöglicht. Wie im Rechtshilfeverkehr üblich, kann von der ersuchenden Partei die Ergänzung ihres Ersuchens verlangt werden, was aber die Anordnung vorsorglicher Massnahmen nicht tangiert (Abs. 2).

Eintretensverfügung und Vollzug (Art. 43) Gemäss der eingangs erwähnten (Art. 3 und 5), dem Verfahren nach Artikel 79a IRSG nachgebildeten Zweiteilung zwischen der Zentralstelle und den ausführenden Behörden entscheidet die Zentralstelle vollumfänglich über die Gewährung der Zusammenarbeit und ordnet die notwendigen Vollzugshandlungen an (Abs. 1). Sie kann dabei auf laufende Ermittlungen oder Strafverfolgungen von Schweizer Behörden Rücksicht nehmen und den Vollzug entsprechend aufschieben (Abs. 2). Ein solcher Aufschub kann nur nach Rücksprache mit dem Gerichtshof erfolgen, welcher soweit notwendig die Anordnung vorsorglicher Massnahmen verlangen kann (Art. 94 des Statuts). Gegen die Eintretensverfügung der Zentralstelle ist keine Beschwerde möglich, doch können die darin getroffenen Anordnungen im Rahmen der Beschwerde gegen die entsprechende Schlussverfügung beurteilt werden.

Nationale Sicherheit (Art. 44) Die Gefährdung der nationalen Sicherheit ist der einzige im Statut vorgesehene Verweigerungsgrund (vgl. Ziff. 2.8.3). Stellt die Zentralstelle bei der Erledigung des Ersuchens fest, dass ernsthafte Gründe für eine solche Gefährdung bestehen, so muss sie vorerst mit
dem Gerichtshof Konsultationen durchführen (Art. 4 Bst. b), um einen Weg zu finden, die Zusammenarbeit zu leisten, ohne die nationale Sicherheit zu gefährden. Scheitern diese Versuche und hält der Gerichtshof an seinem Ersuchen fest, so informiert die Zentralstelle das Departement (Abs. 1). Dieses stellt einen Antrag an den Bundesrat, wenn es zum Schluss gelangt, dass die Ausführung des Ersuchens tatsächlich die nationale Sicherheit gefährden würde. Gleichzeitig kann es die Vollzugshandlungen sistieren, um das Risiko einzuschränken, das bereits bei der Erhebung der Unterlagen besteht (Abs. 2). Nicht nur auf Grund der involvierten Staatsinteressen, sondern auch aus der Perspektive des Statuts kommt nur der Bundesrat als Entscheidinstanz in Frage (Abs. 3), da die divergierende Ansicht des Gerichtshofs mit der Gefahr einer Strafverweisung nach Artikel 87 Absatz 7 des Statuts verbunden ist.

474

Zustellung von Verfügungen (Art. 45) Damit die Personen, denen im schweizerischen Verfahren Rechte zustehen, diese wahren können, müssen ihnen sämtliche Entscheide und Verfügungen des Zusammenarbeitsverfahrens zugestellt werden (Abs. 1). Absatz 2 ist im Grunde genommen eine Konkretisierung der dargelegten Grundregel, da es wenig Sinn macht, eine Verfügung zuzustellen in einem Verfahren, in welchem keine Beschwerdemöglichkeit mehr besteht. Die Pflicht der Zustellung wird insofern weiter eingeschränkt, als diese nur gegenüber Berechtigten mit einem Schweizer Wohnsitz oder einem Zustellungsdomizil in der Schweiz besteht.

Teilnahme am Verfahren und Akteneinsicht (Art. 46) Als teilnahmeberechtigt gelten gemäss Absatz 1 sämtliche Personen, deren Anwesenheit für die Interessenwahrung notwendig ist. Damit kommen in erster Linie jene Personen in Frage, welche in der Schweiz von einer Massnahme direkt und persönlich betroffen sind (vgl. Art. 50), sodann auch jene, welche im Verfahren vor dem Gerichtshof Parteistellung geniessen. Die Teilnahme kann jedoch eingeschränkt werden, wenn sie gewisse höher zu wertende Interessen gefährden würde (Abs. 2).

Den beiden ersten Ausschlussgründen (Bst. a und b) liegen die Verfahrensinteressen des Gerichtshofs zu Grunde. Entsprechend wird der Gerichtshof diese in seinen Ersuchen geltend machen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang insbesondere an den Opferschutz. Ferner kann die Dringlichkeit einer Massnahme bewirken, dass die Teilnahme der Berechtigen am Verfahren nicht gewährleistet werden kann. In einem solchen Fall geht das Interesse der Zusammenarbeit vor (Bst. c). Auch die Interessen eines Schweizer Verfahrens (Bst. e) und wesentliche private Interessen (Bst. d) können den Ausschluss der Teilnahme der am Verfahren Beteiligten oder der Akteneinsicht begründen. Der letzte Absatz des Artikels schliesslich berechtigt den Inhaber von Schriftstücken, seinen Mandanten über das Ersuchen zu informieren. Dieses Recht kann jedoch von der Zentralstelle eingeschränkt werden, wobei insbesondere die in Absatz 2 angeführten Interessen einen solchen Entschluss begründen können.

Den Entscheid über die Teilnahme am Verfahren und die Akteneinsicht wird die Zentralstelle fällen.

Vereinfachtes Verfahren (Art. 47) Wie beim Überstellungsverfahren können die Berechtigten auch im Rahmen
der Zusammenarbeit auf die ordentliche Durchführung des Verfahrens verzichten und damit gleichzeitig in den Vollzug einwilligen. Diese im Statut nicht vorgesehene Möglichkeit hat sich in der Rechtspraxis als vereinfachendes Instrument bewährt.

«Berechtigte» im Sinne dieser Bestimmung sind all jene, die in einem ordentlichen Verfahren im Sinne von Artikel 50 zur Beschwerde legitimiert sind. Deren Zustimmung wird in der Regel in einem Protokoll festgehalten, welches der Zentralstelle zugestellt wird (Abs. 2). Im Gegensatz zu Artikel 23 muss eine solche Einwilligung nicht vor einer Justizbehörde erfolgen und ist unwiderruflich (Abs. 1). Damit wird verhindert, dass das Verfahren durch Widerruf der Einwilligung verzögert wird, was das Institut in Frage stellen würde. Schliesslich eröffnet Absatz 3 die Möglichkeit, das Verfahren aufzuteilen, wenn die Zustimmung nicht sämtliche Schriftstücke, Auskünfte oder Vermögenswerte umfasst, sodass zumindest diese dem Gerichtshof sofort übergeben werden können.

475

Schlussverfügung (Art. 48) Die ausführenden Behörden stellen nach Vollzug der gemäss Artikel 43 angeordneten Massnahmen die Ergebnisse der Zentralstelle zu. Diese beurteilt, ob damit das Rechtshilfeersuchen erledigt ist, und ordnet soweit notwendig weitere Massnahmen an. Gelangt sie zum Schluss, dass das Ersuchen vollumfänglich erledigt ist, so erlässt sie eine Schlussverfügung. Diese Verfügung ist die einzig anfechtbare Verfügung des gesamten innerstaatlichen Verfahrens. Sie ist zu begründen und muss das zur Verfügung stehende Rechtsmittel nennen.

3.3.5.4

Rechtsmittel

Verwaltungsgerichtsbeschwerde (Art. 49) Anfechtbar ist einzig die Schlussverfügung. Erste und einzige Beschwerdeinstanz ist das Bundesgericht. Das Verfahren der Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof ist dadurch charakterisiert, dass die Zeitspanne zwischen der Eintretensverfügung und der Schlussverfügung auf ein Minimum reduziert wird. Damit ist es aber auch möglich, den Verlust der Beschwerdemöglichkeiten gegen die übrigen Verfahrensschritte im Rahmen der Anfechtung der Schlussverfügung zu berücksichtigen. In diesem Sinne kann das Bundesgericht alle der Schlussverfügung vorangegangenen Entscheide und Massnahmen mitbeurteilen, welche im Verfahren nach IRSG ein unabhängiges Beschwerderecht begründen würden.

Beschwerdelegitimation (Art. 50) Beschwerdeberechtigt ist nur, wer sämtliche Anforderungen der Buchstaben a­d kumulativ erfüllt. Von der Beschwerde ist somit zunächst die angeschuldigte Person ausgeschlossen (Bst. a). Diese Abweichung von der geltenden Praxis rechtfertigt sich, weil die angeschuldigte Person im Verfahren vor dem Gerichtshof über die entsprechenden Rechtsmittel verfügt. In der Folge sind von der Beschwerde auch so genannte Strohfirmen auszuschliessen, hinter welchen die angeschuldigte Person als die wirtschaftlich berechtigte steht. Damit wird verhindert, dass eine nicht beschwerdeberechtigte Person über fiktive juristische «Drittpersonen» eine Beschwerdemöglichkeit erhält. Diese Konstruktion entspricht im Übrigen auch der Ratio des neuen Geldwäschereigesetzes97, welches in Artikel 4 bestimmt, dass eine Bank den wirtschaftlich Berechtigten kennen muss. Die Überlegung, wonach die Rechtsmittel vor dem Gerichtshof diejenigen im innerstaatlichen Verfahren ersetzen können, findet sich ausdrücklich in Buchstabe d, sodass all jene von der Beschwerde ausgeschlossen werden, welche vor dem Gerichtshof ihre Rechte geltend machen können. Zu denken ist an die Opfer, die im Verfahren vor dem Gerichtshof Parteistellung geniessen und damit ihre Entschädigungsrechte dort geltend machen können. Das Kriterium der Beschwerdeberechtigung vor dem Gerichtshof wurde jedoch dahingehend relativiert, dass in Härtefällen ­ das heisst, wenn es der betroffenen Person nicht zumutbar ist, ihre Rechte vor dem Gerichtshof geltend zu machen ­ die Beschwerde zulässig ist. Die beiden übrigen Kriterien (Bst. b und c),
wonach es notwendig ist, dass eine Person persönlich und direkt von einer Massnahme betroffen ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat, stam-

97

476

SR 955.0

men aus Artikel 80h IRSG. Das Bundesgericht hat dazu eine ausführliche Praxis entwickelt, welche auch im Rahmen dieses Gesetzes zur Anwendung gelangen kann.

Beschwerdegründe und -frist (Art. 51) Als Beschwerdegründe kommen die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens, durch die Schweizer Behörden in Betracht (Abs. 1). Das Bundesgericht prüft mit freier Kognition, wobei von dieser Überprüfung die Entscheide des Gerichtshofs ausgenommen sind. Entsprechende Anträge der Beschwerdeführer werden jedoch über die Zentralstelle dem Gerichtshof zugestellt, damit dieser soweit notwendig entscheiden kann (Abs. 2). Die Reduktion der Frist von 30 auf 10 Tage ist ein weiteres Mittel, um das Verfahren abzukürzen (Abs. 3). Der letzte Absatz dient der Verfahrensbeschleunigung. Die Verfahren sollen nicht endlos in die Länge gezogen werden können.

Aufschiebende Wirkung (Art. 52) Wie dies im Rechtshilfeverfahren die Regel ist, kommt der Beschwerde gegen eine Schlussverfügung bezüglich Übermittlung von erhobenen Akten aufschiebende Wirkung zu. Dies ist begründet, weil sonst bei einer Gutheissung der Beschwerde der durch die Herausgabe entstandene Nachteil nicht mehr korrigiert werden könnte.

Hier muss das Interesse des Gerichtshofs demjenigen des Beschwerdeführers weichen (Abs. 1). Die Interessenabwägung kann jedoch zu Gunsten des Gerichtshofs ausfallen, wenn dieser einen dringenden Bedarf nach Artikel 99 Absatz 2 des Statuts geltend macht. Denkbar ist in diesem Zusammenhang, dass die Unterlagen für ein Überstellungsersuchen benötigt werden, sodass die Frist der 60 Tage gewahrt werden kann. Denkbar ist auch, dass eine einmalige Gelegenheit zu Ermittlungsmassnahmen im Sinne von Artikel 56 des Statuts vorliegt, indem ein Zeuge mit gewissen Unterlagen konfrontiert werden soll, bevor er womöglich nicht mehr aussagen kann.

In einem solchen Fall kann die Zentralstelle die Aufhebung der aufschiebenden Wirkung beantragen (Abs. 2). Der Entscheid darüber kommt dem Bundesgericht zu.

Damit wird gewährleistet, dass dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör gewährt wird. Folgt das Bundesgericht dem Antrag der Zentralstelle, so kann es, um die Interessen des Beschwerdeführers zu wahren, die Bedingung an die Übermittlung knüpfen, dass die übermittelten Ergebnisse nur für die Erlangung neuer Beweise verwendet werden können (Abs. 3 i.V.m. Art. 93 Abs. 8 Bst. b des Statuts). Dies entspricht einem provisorischen Verwertungsverbot.

3.3.6

Vollstreckung der Sanktionen des Gerichtshofs

Auf Grund der besonderen Stellung des Gerichtshofs sowie des Umstands, dass dessen Entscheide für die Vertragsstaaten bindend sind, wird auf ein Exequaturverfahren verzichtet. Auch im Bereich der Strafvollstreckung ist die Zentralstelle entscheidungsbefugt. Sie muss jedoch bei ihren Entscheiden bezüglich Vollzug von Freiheitsstrafen die Interessen der Kantone berücksichtigen.

477

3.3.6.1

Strafentscheide

Voraussetzungen (Art. 53) Genauso wie im Bundesbeschluss (Art. 29 Abs. 1) setzt die Übernahme der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe voraus, dass die verurteilte Person Schweizer Bürgerin ist oder in der Schweiz ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Es wurde bereits dargelegt (Ziff. 2.9), dass die Schweiz anlässlich der Ratifikation des Statuts eine entsprechende Erklärung abgeben wird. Da Bussenentscheide des Gerichtshofs für die Vertragsstaaten bereits auf Grund des Statuts vollstreckt werden müssen, hält Absatz 2 fest, dass solche vollstreckt werden, wenn die verurteilte Person in der Schweiz über Vermögenswerte verfügt. Solche Geldstrafen werden von der Zentralstelle vollstreckt (Art. 3 Abs. 2 Bst. g). Die Definition der Verfügungsmacht ist entsprechend der Zielsetzung der Wiedergutmachung weit auszulegen. Es gilt zu verhindern, dass Verbrecher durch Schaffung juristischer Personen in einem Nichtvertragsstaat ihre Vermögenswerte der Strafvollstreckung entziehen können.

Entscheid über das Ersuchen des Gerichtshofs um Übernahme der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe (Art. 54) Liegt das Ersuchen des Gerichtshofs vor und sind die Voraussetzungen nach Artikel 53 Absatz 1 gegeben, so wählt die Zentralstelle eine für den Vollzug geeignete Strafvollzugsanstalt. Sie achtet bei der Auswahl darauf, dass die Anstalt die Anforderungen von Artikel 106 Absatz 2 des Statuts erfüllt. Sobald sie die Zusage der gewählten Anstalt hat, entscheidet die Zentralstelle über die Übernahme der Strafvollstreckung (Abs. 1) und teilt ihren Entscheid dem Gerichtshof mit. Dem Gerichtshof werden, soweit erforderlich, Unterlagen und Informationen übermittelt (Sicherheitsvorkehrungen/Haftbedingungen), die er zu seiner Entscheidungsfindung benötigt (Abs. 2).

Vollzug der Freiheitsstrafe (Art. 55) Der Entscheid der Zentralstelle, die Strafe zu vollstrecken, führt ohne weitere Verfahrensschritte dazu, dass der Strafentscheid in der Schweiz vollstreckbar ist (Abs. 1). Auf Grund der klaren Bestimmungen des Statuts (Art. 105 und 109) ist die verhängte Strafe, das heisst Strafmass und Art der Strafe, für die Schweizer Behörden bindend. Dies schliesst auch eine bedingte Entlassung nach Artikel 38 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs98 aus. Ansonsten wird die Strafe nach schweizerischem Recht vollzogen (Abs. 2), was bedeutet, dass die
verurteilte Person denselben Haftbedingungen unterworfen wird wie Täter, welche für ähnliche Verbrechen nach schweizerischem Recht verurteilt wurden (Art. 106 Abs. 2 des Statuts). Die Absätze 3 und 4 regeln das Verhältnis zum Gerichtshof während des Vollzugs. Zunächst wird der vertrauliche Verkehr zwischen der verurteilten Person und dem Gerichtshof gewährleistet, was notwendig ist, damit die Person ihre Rechte wahren kann. Sodann wird der Gerichtshof ermächtigt, die Haftbedingungen zu überprüfen, entweder durch Übermittlung von Unterlagen oder indem er selbst vor Ort überprüft. Die beiden angeführten Beispiele werden in der Verfahrens- und Beweisordnung durch weitere ergänzt, sodass diese Aufzählung nicht abschliessend ist99.

98 99

478

SR 311.0 Texte final du projet de Règlement de procédure et de preuve, Rapport de la Commission préparatoire de la Cour pénale internationale du 30 juin 2000, Nations Unies, document PCNICC/2000/INF/3/Add. 1, Règles 211 und 212.

Gesuche der verurteilten Person (Art. 56) Dieser Artikel regelt den Fall, in dem die verurteilte Person ein Gesuch um Reduzierung der Haftdauer nicht beim Gerichtshof selbst (vgl. Art. 55 Abs. 4), sondern bei einer innerstaatlichen Behörde, z.B. einem Schweizer Richter, einreicht. Diese Behörde muss ein solches Gesuch der Zentralstelle zustellen, die es an den Gerichtshof weiterleitet. Die Zentralstelle kann das Gesuch der verurteilten Person ergänzen, indem sie dem Gerichtshof Unterlagen über den Strafvollzug zukommen lässt, welche ihn in die Lage versetzen, über das Gesuch zu entscheiden.

Kosten (Art. 57) In Absatz 1 wird die Kostenverteilung zwischen der Schweiz und dem Gerichtshof geregelt, wobei dies, wie in der Verfahrens- und Beweisordnung100, durch einen einfachen Verweis auf das Statut geschieht. Die Aufteilung zwischen dem Bund und den Kantonen ist insofern klar geregelt, als der Bund sämtliche nicht vom Gerichtshof übernommenen Kosten trägt. Da in der Schweiz keine einheitlichen Tarife bezüglich der Haftkosten bestehen, ist es notwendig, im Gesetz eine entsprechende Regel vorzusehen. Damit soll vermieden werden, dass der Entscheid der Zentralstelle bei der Zuweisung der verurteilten Person von finanziellen Überlegungen beeinflusst wird. Die Regel ist das Ergebnis eines Analogieschlusses, welcher sich auf einen im Statut vorgesehenen Spezialfall stützt. Im Statut ist vorgesehen, dass der Gaststaat die Strafvollstreckung übernehmen muss, wenn kein Staat willens ist, dies zu tun (Art. 103 Abs. 4 des Statuts). Die damit verbundenen Kosten gehen jedoch zu Lasten des Gerichtshofs. Die im dafür erforderlichen Abkommen festgelegten Ansätze gelten auf Grund von Absatz 2 auch für die Berechnung der Haftkosten, wenn der Vollzug in der Schweiz stattfindet.

3.3.6.2

Einziehungsanordnungen

Im Regelfall verlangt der Gerichtshof die Herausgabe der Gegenstände und Vermögenswerte, um sie anschliessend einzuziehen. In diesem Verfahren sind die Rechte gutgläubiger Dritter nach Artikel 41 im Zeitpunkt des Ersuchens um Herausgabe ausdrücklich vorbehalten. Damit für die in der Schweiz Berechtigten kein Nachteil entsteht, wenn der Gerichtshof ausnahmsweise statt um die Herausgabe direkt um die Vollstreckung ersucht, wird dieselbe Bestimmung sinngemäss angewendet (Art. 58). Diese Überlegung führte bereits im Rahmen des Bundesbeschlusses zur gleichen Lösung, welche aber nur in der Botschaft des Bundesrates festgehalten wurde (Ziff. 231.5 der Botschaft zum Bundesbeschluss). Diese Regelung der Vollstreckung der Einziehungsanordnung entspricht auch dem Statut, welches in den Artikeln 109 und 77 Absatz 2 Buchstabe b die gutgläubigen Rechte ausdrücklich vorbehält.

100

A.a.O., Règle 208 (2).

479

3.3.7

Schlussbestimmungen

Änderung bisherigen Rechts (Art. 59) Zunächst bedingt die in Artikel 2 vorgesehene Abgrenzung zum IRSG eine redaktionelle Ergänzung von dessen Artikel 1, damit dieses nicht zur Anwendung gelangt (vgl. Ziff. 3.3.2). Die Beifügung von «andere Gesetze», welche die Anwendung des IRSG ausschliessen, ermöglicht es, insbesondere im französischen und italienischen Text Missverständnisse zu vermeiden.

Wie bereits zu Artikel 1 ausgeführt wurde, ist es auf Grund der zum Teil gewichtigen Unterschiede zwischen dem Gerichtshof und den beiden Ad-hoc-Tribunalen nicht möglich, die Zusammenarbeit mit den letzteren unter dieses Gesetz zu subsumieren. Die Zusammenarbeit mit den beiden Ad-hoc-Tribunalen wird somit weiterhin nach den Bestimmungen des Bundesbeschlusses erfolgen. Da dessen Geltungsdauer am 31. Dezember 2003 abläuft und davon auszugehen ist, dass die beiden Tribunale auch nach diesem Datum Ersuchen um Zusammenarbeit stellen werden, wird die Geltungsdauer um fünf Jahre verlängert.

Referendum und Inkrafttreten (Art. 60) Als Bundesgesetz ist der vorliegende Gesetzesentwurf dem Referendum nach Artikel 89 Absatz 2 der Bundesverfassung unterstellt (Abs. 1). Der Bundesrat wird ermächtigt, das Inkrafttreten des Gesetzes zu bestimmen (Abs. 2). Sinnvollerweise wird das Gesetz zusammen mit dem Inkrafttreten des Statuts für die Schweiz in Kraft gesetzt.

3.4

Zum Bundesbeschluss betreffend die Genehmigung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs

Das Statut sieht vor, dass ein Vertragsstaat anlässlich der Ratifizierung verschiedene Erklärungen abgeben kann. Dabei geht es darum, einige Modalitäten bei der Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof und bei der Vollstreckung seiner Urteile festzulegen. Der Bundesrat beabsichtigt, vier Erklärungen abzugeben.

Zunächst soll der Gerichtshof ermächtigt werden, mit der Zentralstelle im Bundesamt für Justiz in direkten Verkehr zu treten (vgl. hierzu die Ausführungen in Ziff. 2.8.1 zum Verfahren der internationalen Zusammenarbeit und Rechtshilfe).

Sodann gilt es, die Amtssprachen festzulegen: Es sind dies die deutsche, die französische und die italienische Sprache (vgl. hierzu ebenfalls die Ausführungen in Ziff. 2.8.1 zum Verfahren). Weiter soll die direkte Zustellung von Entscheiden, Prozessakten oder Schriftstücken durch den Gerichtshof an eine Empfängerin oder einen Empfänger in der Schweiz ermöglicht werden (vgl. dazu die Ausführungen in Ziff. 3.3.5.2 zu Art. 36 des Entwurfs des Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof). Schliesslich erscheint es sinnvoll, dass die Schweiz ihre Bereitschaft erklärt, Personen, die vom Gerichtshof zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, zum Vollzug der Strafe zu übernehmen, sofern diese Personen Schweizer Bürgerinnen oder Bürger sind oder in der Schweiz ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben (vgl. dazu die Ausführungen in Ziff. 2.9 [Verfahren] sowie in Ziff. 7).

480

4

Auswirkungen

4.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Der Beitritt zum Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs hat für den Bund finanzielle Auswirkungen, deren Umfang jedoch nur schwer abzuschätzen ist.

Sie dürften im Lauf der Zeit erheblichen Schwankungen unterworfen sein. Dies hat mehrere Gründe.

Durch die komplementäre Konzeption des Gerichtshofs sind der Umfang seiner Tätigkeiten und der damit verbundene finanzielle Aufwand sehr schwer vorauszusagen. Es ist an sich denkbar ­ und wäre unter jedem Gesichtswinkel wünschbar ­, dass der Gerichtshof während Jahren nur mit einem Minimalbestand von Personen operiert. Artikel 35 des Statuts sieht denn auch vor, dass nur die Richter, die das Präsidium bilden, ihr Amt hauptamtlich ausüben, während alle anderen Richter zwar gewählt und vom Beginn ihrer Amtszeit an zur Ausübung ihres Amtes «zur Verfügung stehen» müssen, aber ihr Amt nur auf Anordnung des Präsidiums auf der Grundlage des Arbeitsanfalls des Gerichtshofs hauptamtlich auszuüben haben. Auch die Anklagebehörde und die Kanzlei können in ruhigen Phasen mit einem Minimalbestand von Mitarbeitern bestehen. Sobald jedoch Krisensituationen auftreten, welche die an sich zuständigen nationalen Behörden nicht mehr bewältigen können oder wollen (Art. 17), wird hingegen der Gerichtshof in die Lücke springen müssen. Dies geht mit einer raschen Ausdehnung des personellen und finanziellen Aufwands einher. Ist diese Situation überwunden, so kann der Gerichtshof wieder schrumpfen.

Die zweite Quelle der Unsicherheit ist die genaue Zusammensetzung der Finanzierungsquellen. Der Gerichtshof wird wohl in erster Linie durch Beiträge der Vertragsstaaten finanziert. Hinzu kommen aber auch Beiträge der Vereinten Nationen, insbesondere für Aufwendungen im Zusammenhang mit einer Situation, die der Sicherheitsrat dem Gerichtshof nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen unterbreitet hat (Art. 13 Bst. b des Statuts), sowie freiwillige Beiträge (Art. 115 und 116 des Statuts). Zurzeit ist nicht genau abzusehen, in welchem Grössenverhältnis die drei Finanzierungsquellen zueinander stehen. Was die Beiträge der Vertragsstaaten betrifft, so ist der Beitrag eines jeden Mitgliedstaats naturgemäss davon abhängig, wie viele und welche anderen Staaten zu einem gegebenen Zeitpunkt Vertragsstaaten des Statuts sind. Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass das Statut erst
in Kraft tritt, wenn 60 Ratifikationen vorliegen. Schon heute kann gesagt werden, dass dazu auch eine grosse Zahl finanzstarker Staaten gehören werden.

Die Unsicherheit über mögliche Kostenfolgen kann auch durch einen Vergleich mit den Ad-hoc-Tribunalen nicht wesentlich verringert werden. Einerseits sind diese ja nicht nur komplementär zuständig, sondern müssen sich grundsätzlich mit allen Angelegenheiten auseinander setzen, die in ihre durch die entsprechenden Resolutionen des Sicherheitsrats umschriebene örtliche und zeitliche Zuständigkeit fallen. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass beide Tribunale von Grund auf aufgebaut werden mussten, was zu überproportionalen Kosten führt. Ein Blick auf die beiden Ad-hocTribunale vermag jedoch aufzuzeigen, dass der Aufwand in Spitzenzeiten nicht unerheblich ist. Das internationale Tribunal für Ex-Jugoslawien zählte 1999 gegen 800 Mitarbeiter (die Mehrzahl davon lokale Mitarbeiter) und verfügte über ein Jahres-

481

budget von 94 Millionen US-Dollar101; das internationale Tribunal für Ruanda verfügte im gleichen Zeitraum über einen fast gleich grossen Mitarbeiterbestand und ein Budget von 69 Millionen US-Dollar 102.

Bei der Beurteilung der finanziellen Konsequenzen muss allerdings auch der im weiteren Sinn friedensfördernde Zweck des Internationalen Strafgerichtshofs berücksichtigt werden. Hält man sich vor Augen, welche enormen Kostenfolgen in den Bereichen Militär, Flüchtlingswesen, humanitäre Hilfe und anderen mehr einige der Konflikte der letzten Jahre für die Staatengemeinschaft, einschliesslich der Schweiz, ausgelöst haben, so wird sich die Investition in einen Internationalen Strafgerichtshof schon unter rein finanziellen Gesichtspunkten lohnen, wenn es damit in Zukunft gelingen sollte, auch nur einen einzigen Konflikt zu verhindern oder in seinen Auswirkungen einzudämmen.

Was die personellen Auswirkungen für die Schweiz betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass sich ein gewisser personeller Mehraufwand durch die erforderliche Zusammenarbeit der schweizerischen Behörden, insbesondere der Zentralstelle im Bundesamt für Justiz, mit dem Internationalen Strafgerichtshof ergibt. Wie bereits dargelegt (Ziff. 3.3.1), setzt die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof voraus, dass die Zentralstelle über ein spezifisches Fachwissen verfügt, welches nicht demjenigen der zwischenstaatlichen Rechtshilfe entspricht. Dabei ergeben sich auch zwischen der Überstellung und den anderen Formen der Zusammenarbeit gemäss Statut und nach dem Umsetzungsgesetz Unterschiede. Der Mehraufwand wird auf ein bis zwei Stellen geschätzt.

Eine zurzeit kaum quantifizierbare Mehrbelastung ist sodann für die Strafjustiz zu erwarten, sobald das schweizerische Strafrecht an den sich aus dem Statut ergebenden Bedarf der Erfassung weiterer Straftaten angepasst sein wird. Zu denken ist vor allem an zusätzliche Belastungen der Bundesanwaltschaft, des Eidgenössischen Untersuchungsrichteramts und der militärischen Untersuchungsorgane. Die konkreten finanziellen und personellen Konsequenzen werden im Zusammenhang mit den entsprechenden Gesetzesvorlagen zu berechnen sein.

4.2

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

Der Beitritt der Schweiz zum Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs lässt keine volkswirtschaftlichen Auswirkungen erwarten.

4.3

Auswirkungen auf die Informatik

Der Beitritt der Schweiz zum Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs lässt keine Auswirkungen auf die Informatik erwarten.

101

Rapport annuel du Tribunal international chargé de poursuivre les personnes présumées responsables de violations graves du droit international humanitaire commises sur le territoire de l'ex-Yougoslavie depuis 1991 (1999), Nations Unies, Document A/54/187; S/1999/846, Ziff. 74 und 175 des Berichts; Resolution 53/212 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Febr. 1999, Nations Unies, Document A/RES/53/212.

102 Resolution 53/213 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Febr. 1999, Nations Unies, Document A/RES/53/213.

482

5

Legislaturplanung

Der Beitritt zum Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist im Bericht über die Legislaturplanung 1999­2003 vorgesehen.103 Die Vorlage entspricht ferner zwei aussenpolitischen Zielen, die im Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den Neunzigerjahren104 bezeichnet wurden: die Wahrung und Förderung von Sicherheit und Frieden sowie die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat. In diesem Sinne wird der Schweizer Beitrag zur Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs auch im Bericht über die Menschenrechtspolitik der Schweiz vom 16. Februar 2000 (Antwort auf das Postulat Bäumlin vom 17. Dez.

1997) erwähnt105.

6

Verhältnis zum europäischen Recht

Die Genehmigung des Römer Statuts hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Vereinbarkeit des Schweizer Rechts mit dem Europarecht.

Erwähnt werden kann der Umstand, dass sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union entweder entschlossen sind, das Römer Statut zu ratifizieren, oder dieses Vorhaben bereits verwirklicht haben. Das Europäische Parlament hat in zwei Entschliessungen vom 6. Mai 1999 und vom 16. Dezember 1999 die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgerufen, das Statut zu ratifizieren106. Unter anderem fordert das Parlament Kommission und Rat auf, «die Unterzeichnung und Ratifizierung der Satzung des Internationalen Strafgerichtshofs zu einem wichtigen Punkt in den Verhandlungen über künftige Abkommen mit Drittstaaten zu erklären und alles zu tun, damit die Drittländer, die durch Assoziations- oder Kooperationsabkommen mit der Union verbunden sind, die Satzung unterzeichnen und/oder ratifizieren».

Der Europäische Rat hat in einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage die Entschlossenheit aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgedrückt, dafür zu sorgen, dass der Internationale Strafgerichtshof so bald wie möglich seine Arbeit aufnehmen kann. Der Rat antwortet ferner, dass nach vorläufiger Einschätzung die meisten Mitgliedstaaten davon ausgehen, das Römer Statut «bis Ende nächsten Jahres», also bis zum Ende des Jahres 2000, ratifiziert zu haben107.

Das Römer Statut fügt sich zudem in die Werttriade des Europarates ein, der sich die Förderung und Bewahrung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte zum Ziel setzt. In diesem Zusammenhang sei der Verzicht auf die Todesstrafe im Römer Statut ebenso erwähnt wie die gut ausgebauten Verfahrensgarantien, die dem Angeschuldigten im Verfahren vor dem Gerichtshof zukommen. Diese Garanti103 104 105

BBl 2000 2276 ff., S. 2284 und 2328.

BBl 1994 I 153 Bericht über die Menschenrechtspolitik der Schweiz, BBl 2000 2586 ff., S. 2594 (Fn. 7) und 2606.

106 Entschliessung des Europäischen Parlaments zur Ratifizierung der Satzung des Internationalen Strafgerichtshofs vom 6. Mai, Bulletin EU 5-1999, Menschenrechte (8/8), 1.1.8; Entschliessung des Europäischen Parlaments zu der Ratifzierung des Vertrags von Rom zur Einsetzung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs vom 16. Dez. 1999, Bulletin EU 12-1999; Menschenrechte (11/13), 1.1.11.

107 Antwort des Europäischen Rates vom 8. Nov. 1999 auf eine schriftliche Anfrage Marco Pannella (P-1597/99) vom 8. Sept. 1999, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 27 E vom 29.1.2000, S. 141.

483

en orientieren sich am Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und entsprechen dem Schutzniveau der Europäischen Menschenrechtskonvention.

In einer Empfehlung vom 26. Mai 1999 empfiehlt die Parlamentarische Versammlung des Europarates dem Ministerkomitee, alle Mitgliedstaaten und die Staaten mit Beobachterstatus einzuladen, das Römer Statut so schnell wie möglich zu ratifizieren und die innerstaatliche Gesetzgebung zu erlassen, um mit dem Gerichtshof zusammenzuarbeiten108.

7

Verfassungsmässigkeit

Laut Artikel 54 der Bundesverfassung (BV) sind die auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes. Die Zuständigkeit der Bundesversammlung zur Genehmigung von völkerrechtlichen Verträgen ergibt sich aus Artikel 166 Absatz 2 BV.

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV werden völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum unterstellt, wenn sie unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen. Das vorliegende Abkommen ist kündbar (Art. 127 des Statuts), sieht jedoch den Beitritt zu einer internationalen Organisation vor (Art. 4 Abs. 1 des Statuts). Das Römer Statut untersteht damit dem fakultativen Staatsvertragsreferendum, ohne dass die weitere Frage geprüft werden müsste, ob auch eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeigeführt wird.

Man könnte sich die Frage stellen, ob das Statut nicht sogar dem obligatorischen Referendum gemäss Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV unterstellt werden müsste. Diese Bestimmung sieht ein obligatorisches Referendum im Fall eines Beitritts zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften vor. Das Römer Statut stellt keine Organisation für kollektive Sicherheit dar. Zu prüfen bleibt deshalb, ob das Statut nicht unter den Begriff der supranationalen Gemeinschaft im Sinne dieser Bestimmung fallen könnte. Dazu müsste es kumulativ die folgenden vier Voraussetzungen erfüllen: Es müsste Organe aus unabhängigen Personen besitzen, die nicht an Instruktionen der Regierung ihres Heimatstaates gebunden sind (erste Voraussetzung), die ihre Befugnisse durch Mehrheitsbeschluss und nicht nach dem Einstimmigkeitsprinzip ausüben (zweite Voraussetzung), deren Entscheide direkt in Kraft treten und für Einzelpersonen unmittelbar verbindlich sind (dritte Voraussetzung) und deren materielle Befugnisse relativ umfassend sind (vierte Voraussetzung)109. Im Fall des Internationalen Strafgerichtshofs ist die vierte Voraussetzung nicht erfüllt. Auch wenn das Römer Statut die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für eine Mehrzahl von Verbrechen vorsieht (Art. 5­ 8), handelt es sich dabei doch um einen Zuständigkeitsbereich, der in mehrfacher Weise beschränkt ist: zunächst auf die Anwendung von Strafrecht, sodann auf eine klar umgrenzte
Kategorie von Verbrechen und schliesslich auf die Hypothese, dass die Vertragsstaaten nicht selbst ein Strafverfahren wegen der unter Strafe gestellten Sachverhalte durchführen (Komplementaritätsprinzip). Zu bemerken ist, dass der Bundesrat auch im Fall des EFTA-Gerichtshofs, dessen Zuständigkeit sich auf die Anwendung von Wettbewerbsrecht beschränkte, zur Auffassung gelangt ist, dass die

108 109

484

Recommandation 1408 (1999) de l'Assemblée parlementaire vom 26. Mai 1999.

Botschaft über die Neuordnung des Staatsvertragsreferendums vom 23. Okt. 1974, BBl 1974 II 1156 ff.

supranationalen Elemente nicht ausreichen, um eine Anwendung des obligatorischen Staatsvertragsreferendums zu rechtfertigen110.

Schliesslich könnte man sich die Frage stellen, ob das Statut nicht allenfalls eine Verfassungsänderung erforderlich macht. Gemäss Artikel 89 des Römer Statuts muss ein Vertragsstaat auf Verlangen des Strafgerichtshofs jede auf seinem Staatsgebiet befindliche Person dem Gerichtshof überstellen. Diese Bestimmung kann sich auch auf Staatsangehörige des betroffenen Vertragsstaates beziehen. Es stellt sich somit die Frage, ob diese Pflicht im Fall der Schweiz im Einklang mit Artikel 25 Absatz 1 BV steht, wonach Schweizerinnen und Schweizer nicht aus der Schweiz ausgewiesen werden und nur mit ihrem Einverständnis an eine ausländische Behörde ausgeliefert werden dürfen. Ein Vorbehalt zum Statut ist nicht möglich (Art. 120 des Statuts); auch ist es ­ anders als im Fall der Zusammenarbeit mit den beiden Adhoc-Tribunalen ­ nicht möglich, die Überstellung einer Schweizerin oder eines Schweizers an den Gerichtshof zwingend an die Bedingung zu knüpfen, dass die Person für den eventuellen Strafvollzug wieder in die Schweiz zurücküberführt werden müsste.

Allerdings erscheint fraglich, ob Artikel 25 BV überhaupt auf den Fall einer Überstellung an einen internationalen Gerichtshof anwendbar ist. Die Unterscheidung zwischen der «Auslieferung» einer Person an eine ausländische einzelstaatliche Behörde und der «Überstellung» einer Person an eine internationale Instanz ist nicht nur eine terminologische Differenz, sondern beruht auch auf einem konzeptuellen Unterschied, der im Statut angelegt ist. Artikel 102 des Statuts unterscheidet klar zwischen der «Überstellung», mit der die Verbringung einer Person durch einen Staat an den Internationalen Strafgerichtshof bezeichnet wird, und der «Auslieferung», welche die Verbringung einer Person durch einen Staat an einen anderen Staat meint. Es kann deshalb argumentiert werden, die Überstellung an den Internationalen Strafgerichtshof falle nicht unter den Anwendungsbereich von Artikel 25 Absatz 1 BV, weil diese Bestimmung ­ jedenfalls in ihrer deutschen («dürfen ausgeliefert werden») und italienischen Fassung («possono essere estradate») ­ nur von Auslieferung spricht. Während im Fall der Auslieferung ein Staatsbürger eines souveränen Staates der
Strafgewalt eines anderen souveränen Staates ausgeliefert wird, auf dessen Verfahren er keinerlei Einfluss hat, geht es im Fall der Überstellung darum, einen Staatsbürger einem unabhängigen und unparteiischen internationalen Organ anzuvertrauen, das auch vom entsprechenden Vertragsstaat mitbegründet, mitgestaltet und mitverantwortet wird. So bleibt ein Vertragsstaat mitverantwortlich dafür, dass der Internationale Strafgerichtshof jederzeit den grundrechtlichen Ansprüchen genügt, die im Statut angelegt sind ­ eine Verantwortung, die der Staat beispielsweise im Rahmen seiner Mitwirkung in der Versammlung der Vertragsstaaten wahrnehmen muss. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unterscheidet begrifflich zwischen der Auslieferung an einen anderen Staat und der Überstellung an ein internationales Gericht 111.

Selbst wenn man letztlich der Meinung ist, Artikel 25 Absatz 1 BV sei anwendbar, lässt sich die Ansicht vertreten, eine solche Überstellung stelle eine zulässige Ein110

Vgl. Botschaft zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 18. Mai 1992, BBl 1992 IV 1, S. 539f.

111 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 11. Mai 2000, Mladen Naletiliæ gegen Kroatien, Beschwerde Nr. 51891/99, Erwägung 1 b. In diesem Fall ging es um die Überstellung des Beschwerdeführers an das Internationale Straftribunal für ExJugoslawien.

485

schränkung des Grundrechts jeder Schweizerin und jedes Schweizers dar, nicht an eine ausländische Behörde ausgeliefert zu werden; dies unter den Voraussetzungen von Artikel 36 BV, wonach eine Einschränkung auf einer gesetzlichen Grundlage beruht (Abs. 1), durch ein öffentliches Interesse oder den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt (Abs. 2) und verhältnismässig sein muss (Abs. 3), wobei der Kerngehalt unantastbar ist (Abs. 4). Im vorliegenden Fall wird die gesetzliche Grundlage durch Artikel 16 des Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof geschaffen. Das öffentliche Interesse besteht darin, dass die im Statut verankerten Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden. Die Verhältnismässigkeit und der Schutz des Kerngehalts werden weiter dadurch gewahrt, dass eine Schweizerin oder ein Schweizer nur unter der Voraussetzung an den Strafgerichtshof überstellt wird, dass die Schweiz darauf verzichten wollte, eine Strafverfolgung einzuleiten, eine Hypothese, die schwer vorstellbar ist ­ und wäre es auch nur schon wegen der Schädigung des Ansehens, die eine solche Untätigkeit in den Augen der internationalen Gemeinschaft hätte.

Zudem ist auf Artikel 103 Absatz 3 des Statuts hinzuweisen, wonach der Gerichtshof die Staatsangehörigkeit des Verurteilten bei der Bestimmung des Vollstreckungsstaats zu berücksichtigen hat. Mit einer entsprechenden Erklärung der Schweiz nach Artikel 103 Absatz 1, wonach sie bereit ist, eigene Staatsbürger zum Vollzug der Strafe zu übernehmen, schafft unser Land die Grundlage dafür, dass eine Rückübernahme eines Schweizers zum Vollzug einer Strafe auch tatsächlich erfolgen könnte, sollte ein solcher Fall wider Erwarten auftreten.

Den hier angestellten Überlegungen dürfte im Übrigen in der Praxis ohnehin eine reichlich theoretische Bedeutung zukommen: Es darf zu Recht erwartet werden, dass die schweizerischen Strafverfolgungsbehörden heute und in Zukunft in der Lage und willens sind, Schweizer Bürger, die sich Verbrechen von der Art der im Statut genannten Delikte zuschulden kommen lassen, strafrechtlich zu verfolgen und abzuurteilen.

Zusammenfassend rechtfertigt es sich nicht, die Genehmigung des Römer Statuts dem obligatorischen Referendum gemäss Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV zu unterstellen. Auch kann man auf eine Änderung von Artikel 25 Absatz 1 BV verzichten. Hingegen untersteht die Vorlage dem fakultativen Referendum gemäss Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 2 BV.

486

Abkürzungsverzeichnis a.a.O.

AB N AB S AJIL AS BBl BGE EMRK EUeA EuR GA HRLJ ICJ ICTR ICTY IGH IKPO Interpol IKRK ILC ILR IMT IRSG IStGH i.V.m.

MStG m.w.H.

RdC RGDIP SR StGB SZIER U.N.T.S.

Vol.

v.

YB ZP ZStR

am angeführten Ort Amtliches Bulletin des Nationalrates Amtliches Bulletin des Ständerates American Journal of International Law Amtliche Sammlung Bundesblatt Bundesgerichtsentscheid Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. Nov. 1950 (SR 0.101) Europäisches Auslieferungs-Übereinkommen (SR 0.353.1) Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.1) Genfer Abkommen vom 12. Aug 1949 Human Rights Law Journal International Court of Justice (Internationaler Gerichtshof) International Criminal Tribunal for Rwanda (Internationales Straftribunal für Ruanda) International Criminal Tribunal for the Former Yugoslawia (Internationales Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien) Internationaler Gerichtshof Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation Internationales Komitee vom Roten Kreuz International Law Commission International Law Reports International Military Tribunal Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (SR 351.1) Internationaler Strafgerichtshof in Verbindung mit Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (SR 321.0) mit weiteren Hinweisen Recueil des cours de l'Académie de droit international Revue Générale de Droit International Public Systematische Rechtssammlung des Bundesrechts der Schweiz (inkl. Staatsvertragsrecht) Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dez. 1937 (SR 311.0) Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht United Nations Treaty Series Volume (Band) versus (gegen) Yearbook Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht

487

Anhänge Anhang 1

Die Straftatbestände des Statuts (Erläuterungen zu den Artikeln 5­9 des Statuts)

Anhang 2

Die allgemeinen Grundsätze des Strafrechts und Strafen (Erläuterungen zu den Teilen 3 und 7 des Statuts)

Anhang 3

Das Verfahren vor dem Gerichtshof (Erläuterungen zu den Teilen 5, 6 und 8 des Statuts)

488

Anhang 1

Die Straftatbestände des Statuts (Erläuterungen zu den Artikeln 5­9 des Statuts) 1

Qualifikation und Kategorien der Straftatbestände des Statuts (Art. 5)

Die Zuständigkeit des Gerichtshofes beschränkt sich gemäss Artikel 5 des Statuts auf die Beurteilung der schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren. Daraus ergibt sich eine Schwelle beim Entscheid über die Einleitung einer Strafverfolgung vor dem Gerichtshof, die unabhängig von der Schwere der einzelnen Verbrechen zu überwinden ist. Diese Schwelle stellt zugleich eine Garantie dar, dass sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes nicht auf die gewöhnlichen Verbrechen erstreckt, zu deren Beurteilung weiterhin ausschliesslich die nationalen Gerichte der Vertragsstaaten zuständig bleiben.

Eine völkerstrafrechtliche Dimension erhalten Verbrechen erst, wenn sie sich in einem grösseren Zusammenhang befinden, der Auswirkungen auf die gesamte Staatengemeinschaft hat. Zur Kategorie der Verbrechen, welche einen solchen Kontext darstellen, gehören nach Artikel 5 Absatz 1 des Statuts das Verbrechen des Völkermords, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Kriegsverbrechen sowie das Verbrechen der Aggression. Damit beschränkt das Statut die sachliche Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die so genannten «Kernverbrechen» («core crimes»). Das Verbot, diese Verbrechen zu begehen, stellt in den allermeisten Fällen bereits eine Regel des Völkergewohnheitsrechts dar.

Der dem Statut zu Grunde liegende Entwurf der Völkerrechtskommission von 1994112 hatte darüber hinaus eine Anzahl von Verbrechen aufgeführt, die durch völkerrechtliche Verträge und Konventionen verboten werden, aber nicht den Status von Völkergewohnheitsrecht besitzen. Um die Forderung der «Gruppe der Gleichgesinnten» nach der automatischen Gerichtsbarkeit ohne besondere Anerkennungserklärung (vorn Ziff. 2.3.1) durchsetzen zu können, musste darauf verzichtet werden, diese Verbrechen in das Statut aufzunehmen, da angesichts der Schwierigkeiten einer allgemein gültigen Definition andernfalls eine Blockierung oder sogar ein Scheitern des Prozesses hätte befürchtet werden müssen.113 Dies bedeutet nicht, dass man sich im Rahmen der Definition der Verbrechen in den vier Kernkategorien nicht gleichwohl auf solche Konventionen abgestützt hätte: so namentlich beim Verbot der Apartheid, der Folter, der Geiselnahme und von Angriffen gegen das Personal der Vereinten Nationen.

Keine Aufnahme fanden auch terroristische Handlungen, da noch keine allgemein anerkannte Definition eines Verbrechens des Terrorismus besteht. Ebenso wenig

112

Rapport de la Commission du droit international sur les travaux de sa 46 ème session, Nations Unies, Assemblée générale, document officiel, 49ème Session, 1994, A/49/10, Art. 20 des Entwurfs des Statuts in Verbindung mit dem Anhang.

113 Ein Teil der Debatte lässt sich im Bericht des Vorbereitungskomitees zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs nachlesen: Rapport du Comité préparatoire pour la création d'une cour criminelle internationale, Nations Unies, Assemblée générale, document officiel, Supp. No. 22, A/51/22, Vol. I, §§ 103 ff.

489

wurden Verbrechen im Zusammenhang mit dem Drogenhandel in der Liste der Verbrechen berücksichtigt, für welche der Gerichtshof sachlich zuständig ist.114

2

Allgemeine Merkmale der Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs115

Aus Artikel 30 des Statuts geht hervor, dass der Gerichtshof nur dann für die strafrechtliche Beurteilung einer Handlung zuständig ist, wenn diese vorsätzlich begangen worden ist. Vorsatz im Sinne des Statuts bedeutet, dass der Täter in Bezug auf sein Verhalten und in Bezug auf die Konsequenzen seines Verhaltens willentlich handelt, obwohl er weiss, dass ein Umstand vorliegt oder dass im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse eine Folge eintreten wird, die strafrechtlich verpönt ist. Dadurch wird ­ wie im schweizerischen Strafrecht ­ der Eventualvorsatz (dolus eventualis) miteinbezogen, bei welchem der Täter den Eintritt des strafrechtlich missbilligten Erfolges für möglich hält, diesen strafrechtlichen Erfolg für den Fall seines Eintritts aber in Kauf nimmt. Hingegen ist die Bestrafung für fahrlässige Handlungen im Statut nicht vorgesehen.

Im Weiteren macht sich eine Person eines Verbrechens in der Zuständigkeit des Gerichtshofs nur schuldig, wenn ihre Handlung völkerrechtswidrig ist. Im Einzelfall ist jeweils abzuklären, ob eine Handlung, die den Tatbestand eines Verbrechens erfüllt, nicht durch das Vorliegen besonderer Umstände gerechtfertigt ist. Die Selbstverständlichkeit dieser Aussage machte es bei der Ausarbeitung des Statuts überflüssig, in den einzelnen Tatbeständen ausdrücklich darauf hinzuweisen.

3 3.1

Die «Verbrechenselemente» (Art. 9) Entstehungsgeschichte

Die Verbrechen, welche der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterstehen, sind im Statut zum Teil ausführlich formuliert, zum Teil mehr nur im Sinne einer Rubrik aufgeführt. Während der Ausarbeitung des Statuts wiesen insbesondere Vertreter des angelsächsischen Rechtskreises darauf hin, dass auf Grund ihres Verständnisses des strafrechtlichen Legalitätsprinzips (nullum crimen sine lege) eine Nennung aller wesentlichen Elemente der einzelnen Verbrechen unerlässlich sei, damit ihre Gerichte und der Strafgerichtshof eine Person verurteilen könnten. Die Staaten des kontinentaleuropäischen Rechtskreises, darunter auch die Schweiz, vertraten hingegen die Auffassung, dass die Verbrechen im Statut hinreichend definiert seien und dass es Aufgabe des künftigen Gerichtshofs sein werde, im Einzelfall durch Auslegung das geltende Recht zu ermitteln. Als Kompromisslösung zwischen diesen beiden gegenläufigen Konzeptionen wurde vereinbart, die sog. «Verbrechenselemente» nicht im Statut selbst zu regeln, sondern in einem späteren Zeitpunkt von den Mitgliedern der Versammlung der Vertragsstaaten mit Zweidrittelmehrheit annehmen zu lassen 114

In der Schlussakte der Römer Konferenz wurde jedoch festgehalten, die Zuständigkeit des Gerichtshofs auch für Terrorakte und Verbrechen im Zusammenhang mit dem Drogenhandel spätestens sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts durch eine Überprüfungskonferenz erneut zu diskutieren; vgl. Resolution E, U.N. Doc.

A/CONF.183/10.

115 Zu diesen und weiteren allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts vgl. Ziff. 2.6.1 der Botschaft und Anhang 2.

490

(Art. 9 Abs. 1 zweiter Satz). Seit dem Winter 1999 hat sich nun auf der Grundlage einer Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen116 und auf der Schlussakte der Römer Konferenz117 eine Vorbereitungskommission mit der Ausarbeitung der «Verbrechenselemente» befasst. Deren Arbeiten wurden im Sommer 2000 abgeschlossen.118 Die «Verbrechenselemente» werden alsdann bei der ersten Versammlung der Vertragsstaaten nach Inkrafttreten des Statuts verabschiedet.

3.2

Rechtsnatur der «Verbrechenselemente»

Die «Verbrechenselemente» sind nicht identisch mit Tatbestandselementen, wie sie das schweizerische Strafrecht kennt. Sie enthalten zwar verschiedene Präzisierungen des objektiven und des subjektiven Tatbestandes, regeln in Einzelfällen jedoch auch Fragen der Rechtfertigung der an sich strafbaren Handlung sowie vereinzelt auch Aspekte des Verfahrens. Es handelt sich daher bei den «Verbrechenselementen» eher um eine Art Gebrauchsanweisung für den Gerichtshof. Eine rechtsverbindliche Wirkung kommt den «Verbrechenselementen» nicht zu. Artikel 21 Absatz 1 Buchstabe a sieht zwar vor, dass der Gerichtshof an erster Stelle das Statut, die «Verbrechenselemente» sowie seine Verfahrens- und Beweisregeln anwendet, was den Anschein der Gleichrangigkeit der «Verbrechenselemente» mit dem Statut erwecken könnte. Doch geht aus Artikel 9 Absatz 1 klar hervor, dass die «Verbrechenselemente» dem Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung der Artikel 6, 7 und 8 lediglich «helfen» sollen. Der normative Wert der «Verbrechenselemente» beschränkt sich darauf, dem Gerichtshof als Inspirations- und Erkenntnisquelle bei der Auslegung und Anwendung des Statuts zu dienen. Der subsidiäre Charakter der «Verbrechenselemente» wird auch daraus ersichtlich, dass sie nach Artikel 9 Absatz 3 mit dem Statut vereinbar sein müssen. Für die nationalen Gerichte dürften die «Verbrechenselemente» zwar ebenfalls eine Unterstützung bei der Ermittlung des Rechts darstellen, doch haben diese in keiner Weise eine verbindliche Wirkung für deren Rechtsfindung. Die «Verbrechenselemente» sind einzig für die Auslegung und die Anwendung des Statuts durch den Gerichtshof konzipiert worden.

In der Praxis der Gerichte dürften die «Verbrechenselemente» dann Bedeutung erlangen, wenn sie von den Vertragsstaaten allgemein akzeptiert werden und das geltende Völkerrecht reflektieren. Trotz der untergeordneten Bedeutung der «Verbrechenselemente» ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass mit einer unsorgfältigen Umschreibung die im Statut formulierten Tatbestände im Ergebnis ausgehöhlt werden könnten. Aus diesem Grund hat sich die Schweiz entschlossen, im Rahmen der Vorbereitungskommission darauf hinzuwirken, dass der im Statut und in der Rechtsprechung erreichte Standard des humanitären Völkerrechts nicht durch nachgeordnete «Verbrechenselemente»
untergraben wird. Auf der Grundlage von Vorarbeiten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes hat sie Textentwürfe für «Verbrechenselemente» eingebracht, die von einer grossen Mehrheit der

116

Resolution der UNO-Generalversammlung 53/105 vom 8. Dez. 1998, erneuert durch Resolution 54/105 vom 9. Dez. 1999.

117 U.N. Doc A/CONF.183/10.

118 Vgl. zum endgültigen Entwurf der «Verbrechenselemente» U.N. Doc.

PCNICC/2000/INF/3/Add.2 (Stand 6. Juli 2000).

491

anderen Delegationen unterstützt wurden und das ausgehandelte Verhandlungsergebnis ganz wesentlich prägen119.

4 4.1

Völkermord (Art. 6) Rechtsquellen und historische Entwicklung des Völkermordverbots

In der Geschichte der Menschheit ist Völkermord ein altes Phänomen. Doch hat er ­ gerade auch wegen neuer Entwicklungen der Kriegstechnologie ­ das 20. Jahrhundert besonders geprägt.120 Erwähnt seien die Gräueltaten an den Armeniern im Jahre 1915 (mit 600 000 bis 1,5 Millionen Toten)121, die im Zweiten Weltkrieg an der jüdischen Bevölkerung Europas (mit bis zu sechs Millionen Toten) und an den Sinti und Roma (mit weit über 100 000 Getöteten)122 begangenen Völkermorde123, die Morde an zwei bis drei Millionen Menschen in Kambodscha zwischen 1975 und 1979124, die Geschehnisse in Guatemala zwischen 1962 und 1996 (mit bis zu 200 000 Toten)125, der Völkermord im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens in den Jahren 1991 bis 1995 (mit über 200 000 Toten und ungefähr zwei Millionen Vertriebenen)126 sowie derjenige im Jahr 1994 in Ruanda (mit über 800 000 getöteten und 2,5 Millionen vertriebenen Tutsis und regimekritischen Hutus)127. Im Jahre 1999 waren in Serbien 1,5 Millionen Kosovo-Albaner im oder aus dem Kosovo vertrieben und unzählige getötet worden128. Im gleichen Jahr kam es zur Vertreibung von über

119

120 121

122 123

124

125 126

127

128

492

Vgl. U.N. Doc. PCNICC/1999/DP.5; U.N. Doc. PCNICC/1999/WGEC/DP.8; U.N. Doc.

PCNICC/1999/WGEC/DP.10; U.N. Doc. PCNICC/1999/WGEC/DP.11; U.N. Doc.

PCNICC/1999/WGEC/DP.20; U.N. Doc. PCNICC/1999/WGEC/DP.22.

Vgl. zu Genoziden der Antike Yves Ternon, Der verbrecherische Staat, Hamburger Edition 1996, S. 222 ff.

Die Verbrechen an den Armeniern wurden im Bericht vom 2. Aug. 1985 der UNOSubkommission zur Verhütung von Diskriminierung und für den Schutz von Minderheiten (Whitaker-Bericht) als Völkermord anerkannt (U.N. Doc.

E/CN.4/Sub.2/1985). Am 18. Juni 1987 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, in der Völkermord an den Armeniern als Tatsache bestätigt wurde; vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 190 vom 20. Juli 1987, S. 119 ff.

Vgl. den Bericht der unabhängigen Expertenkommission Schweiz ­ Zweiter Weltkrieg, Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus , Bern 1999, S. 13.

Nicht zu vergessen sind die in grossem Umfang begangenen Verbrechen auch an anderen Gruppen (z.B. Slawen, Kommunisten, Homosexuelle, Priester, Behinderte u.a.), die jedoch unter Umständen nicht unter den klassischen Begriff der geschützen Gruppe beim Tatbestand des Völkermordes fallen.

Vgl. Steven R. Ratner/Jason S. Abrams, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law, Part III: A Case Study: the Atrocities of the Khmer Rouge , Oxford 1997, S. 227 ff.

Guatemala ­ Memory of Silence , Report of the Commission for Historical Clarification vom 25. Febr. 1999.

Situation der Menschenrechte im Gebiet des Ehemaligen Jugoslawiens , Fünfter Periodischer Bericht des Spezialberichterstatters der UNOMenschenrechtskommission, U.N. Doc. E/CN.4/1994/47, § 13.

Vgl. Report of the Independent Inquiry into the Actions of the United Nations During the 1994 Genocide in Rwanda vom 15. Dez. 1999; Report on the situation of human rights in Rwanda submitted by the Special Rapporteur vom 17. Jan. 1995, U.N. Doc.

E/CN.4/1995/71.

Vgl. Report of the High Commissioner for Human Rights on the situation of human rights in Kosovo, Federal Republic of Yugoslavia vom 31. Mai 1999, U.N. Doc., E/CN.4/2000/7 und vom 27. Sept. 1999, U.N. Doc. E/CN.4/2000/10.

200 000 Menschen und zu zahlreichen Toten in Osttimor129. Diese Zahlen widerspiegeln für sich allein weder die Gräuel der Ereignisse noch das Leiden der Opfer.

Sie sind aber ein Beleg für die ungeheuren Dimensionen einiger der vom Menschen verursachten Katastrophen in der jüngeren Geschichte, und sie zeigen, wie bedeutend die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes ist, um einen Beitrag zur Verhinderung ähnlicher Katastrophen in Zukunft zu leisten.

Die Dringlichkeit einer internationalen Ächtung des Völkermords war bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von den Vereinten Nationen erkannt worden. Am 9. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, welches am 12. Januar 1951 in Kraft getreten ist130. Bis heute131 haben 132 Staaten das Übereinkommen ratifiziert oder sind ihm beigetreten. Die Bedeutung des Völkermordtatbestands in der gerichtlichen Praxis war bis zu Beginn der Neunzigerjahre allerdings bescheiden. So kannte die Satzung des internationalen Militärtribunals von Nürnberg noch keinen gleichlautenden Tatbestand, und auch der nur für Staaten zuständige Internationale Gerichtshof (IGH) sprach sich mehr zum universellen Charakter des Völkermordverbots denn zum Inhalt der einzelnen strafbaren Handlungen aus132. Auch nationale Gerichte befassten sich lange Zeit kaum mit diesem Verbrechen133 134. Konkretisiert wurde der Tatbestand des Völkermordes erst in jüngster Zeit durch Urteile der internationalen Strafgerichte für Ruanda und Ex-Jugoslawien sowie unter anderem durch verschiedene in Deutschland ergangene Entscheide im Nachgang zu den kriegerischen Ereignissen im ehemaligen Jugoslawien in den Jahren 1991 bis 1995 135.

129 130 131 132

133

134

135

Vgl. Report of the High Commissioner for Human Rights on the human rights situation in East Timor vom 17. Sept. 1999, U.N. Doc. E/CN.4/S-4/CRP.1.

Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Völkermord-Übereinkommens Pieter N. Drost, The Crime of State ­ Genocide , Vol. II, Leyden 1959.

Stand am 7. September 2000.

IGH, Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Gutachten vom 28. Mai 1951, ICJ Reports 1951; IGH, Case concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Urteil vom 11. Juli 1996, ICJ Reports 1996.

Vgl. aber den Prozess gegen Adolf Eichmann, der wegen «Verbrechen gegen das jüdische Volk» ­ ein entsprechend dem Tatbestand des Völkermord formuliertes Delikt ­ verurteilt worden ist; vgl. District Court of Jerusalem, Criminal Case 40/61, Attorney General of the Government of Israel v. Adolf Eichmann , Urteil vom 12. Dez. 1961, abgedruckt in ILR 36 (1968) 5; Urteil bestätigt durch den israelischen Supreme Court, Criminal Appeal No. 336/61, Urteil vom 29. Mai 1962, abgedruckt in ILR 36 (1968) 277.

In einem Entscheid aus dem Jahre 1999 befasste sich der Federal Court of Australia mit der Frage, ob die Behandlung der australischen Ureinwohner einen Völkermord darstellte. Das Gericht verneinte dies mit der formalen Feststellung, dass Australien die Völkermordkonvention noch nicht im nationalen Strafrecht umgesetzt hatte: Federal Court of Australia, Nulyarimma and Others v. Thompson , FCA 1192, Urteil vom 1. Sept. 1999.

Bundesgerichtshof, 1 StR 100/94, Tadic, Urteil vom 13. Febr. 1994; Bayerisches Oberstes Landesgericht, 3 St 20/96, Strafsache Novislav Djajic , Urteil vom 23. Mai 1997; Oberlandesgericht Düsseldorf, IV - 26/96, Strafsache Nikola Jorgic, Urteil vom 26. Sept. 1997; Bundesgerichtshof, 3 StR 215/98, Strafsenat Düsseldorf, Urteil vom 29. Nov. 1999; Bayerisches Oberstes Landesgericht, 6 St 1/99, Strafsache Djuradj Kusljic , Urteil vom 15. Dez. 1999.

493

4.2

Rechtsnatur des Völkermordverbots

Es ist allgemein anerkannt, dass dem Verbot des Völkermordes der Charakter von zwingendem Recht, Gewohnheitsrecht sowie die Wirkung erga omnes zukommt136.

Gewohnheitsrechtliche Geltung bedeutet, dass es sich bei den materiellen Vorschriften der Völkermordkonvention um Regeln handelt, die von der Staatengemeinschaft ohne weiteres als rechtsverbindlich anerkannt und angewandt werden. Sie gelten unabhängig von vertraglichen Bindungen, das heisst auch gegenüber denjenigen Staaten, die dem Übereinkommen nicht beigetreten sind137. Aus der Anerkennung des Völkermordverbots als Teil des zwingenden Völkerrechts (ius cogens) folgt unter anderem, dass die Staaten keine davon abweichenden Bestimmungen vereinbaren dürfen138. Der erga-omnes-Charakter bedeutet, dass eine Verletzung dieses Verbots als eine gegenüber der Staatengemeinschaft als Ganzes begangene Verletzung gilt und dass jeder Staat gegen den Verletzer Sanktionen ergreifen darf.

Im Zusammenhang mit dem Völkermordverbot folgt daraus insbesondere, dass jeder Staat Völkermord bestrafen darf, wo immer dieser begangen worden ist139.

4.3

Der Tatbestand des Völkermordes nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs

Artikel 6 des Statuts des Gerichtshofs definiert den Tatbestand des Völkermordes in Anlehnung an Artikel II der Völkermordkonvention. Im Weiteren entspricht Artikel 6 auch der Definition des Tatbestands des Völkermordes, wie er in den Statuten der internationalen Strafgerichte für Ex-Jugoslawien140 und Ruanda141 wiedergegeben ist. Allerdings ist die Bezeichnung der einzelnen strafbaren Handlungen von Artikel 6 des Statuts als Völkermord nicht ganz präzis. Weder ist das Angriffsobjekt in jedem Fall ein Volk, noch bedarf es zur Verwirklichung des Tatbestandes einer Tötungshandlung. Charakterisierendes Merkmal ist vielmehr die Absicht des Täters, durch bestimmte Handlungen eine geschützte Gruppe als solche zu vernichten.

136

137

138 139

140 141

494

Antonio Cassese, La communauté internationale et le génocide , in: Le droit international au service de la paix, de la justice et du développement, Mélanges Michel Virally, Paris 1991, S. 186. Vgl. auch IGH, Barcelona Traction case (Belgium v. Spain) , ICJ Reports 1970, § 34; IGH, Case concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide , ICJ Reports 1996, § 31.

IGH, Gutachten vom 28. Mai 1951, ICJ Reports 1951; vgl. auch IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons , Gutachten vom 8. Juli 1996, §§, 79 ff.; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 151. Vgl. auch den Bericht des UNO-Generalsekretärs vom 3. Mai 1993 über die Schaffung des Strafgerichtshofes für Ex-Jugoslawien (UNO-Dokument S/25704, § 45).

Vgl. ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 88.

Vgl. hierzu ausführlich die Botschaft vom 31. März 1999 betreffend das Übereinkommen über die Verhütung und die Bestrafung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision des Strafrechts, BBl 1999 5332.

Resolution 827 des UNO-Sicherheitsrates vom 25. Mai 1993.

Resolution 955 des UNO-Sicherheitsrates vom 8. Nov. 1994.

4.3.1

Anwendungsbereich

Völkermord kann sowohl in Friedenszeiten als auch im Kontext eines bewaffneten internationalen oder nicht internationalen Konflikts stattfinden. Das Delikt kann von jedermann, das heisst von zivilen staatlichen Repräsentanten, von Militärpersonen oder von Personen ohne Bezug zur Staatsgewalt, begangen werden.

4.3.2

Abgrenzung zu andern Verbrechenstatbeständen des Statuts

Vom Typus her gilt das Verbrechen des Völkermordes als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Allerdings unterscheidet sich Völkermord von anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dadurch, dass er die Absicht des Täters voraussetzt, eine durch ihre Staatsangehörigkeit, Ethnie, Rasse oder Religion gekennzeichnete Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten, während die Gemeinsamkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit darin besteht, dass sie im Kontext eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen Mitglieder der Zivilbevölkerung erfolgen (vgl. hierzu unten). Überlappungen dieser zwei Kategorien sind im Einzelfall zwar möglich, und Völkermord kann z.B. den Tatbestand der vorsätzlichen Tötung, der Ausrottung und der Verfolgung (alles Verbrechen gegen die Menschlichkeit) konsumieren, wenn sie gegen Mitglieder einer geschützten Gruppe gerichtet sind.

Kann dem Täter die spezifische Absicht, eine geschützte Gruppe zu vernichten, nicht nachgewiesen werden, so schliesst dies jedoch die Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit nicht aus.

4.3.3

Die geschützten Gruppen

Geschütztes Rechtsgut des Völkermordverbots ist nicht das einzelne Individuum, sondern die Existenz einer Gruppe als solche. Entsprechend ist dem Völkermord eigen, dass der Täter das einzelne Opfer nicht auf Grund seiner individuellen Identität auswählt, sondern auf Grund von dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.

Dabei ist der Begriff der «Gruppe» in einem weiten Sinn zu verstehen. Er umfasst die Gesamtheit der Personen, die jene besonderen Qualitäten aufweisen, die sie als Kollektiv von einem anderen unterscheiden142. Die Gruppe muss weder geografisch vereint sein noch die Mehrheit innerhalb eines Gebietes darstellen. Allerdings schützt Artikel 6 nur Gruppen, die sich durch ihren nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Charakter von anderen Gruppen unterscheiden143. Als einer nationalen Gruppe zugehörend hat das Ad-hoc-Tribunal für Ruanda alle Personen bezeichnet, welche auf Grund ihrer rechtlichen Verbundenheit durch eine gemeinsame Staatsbürgerschaft als solche wahrgenommen werden. Eine ethnische Gruppe wird allgemein als Gruppe verstanden, deren Mitglieder eine gemeinsame Sprache oder Kultur besitzen. Rassische Gruppen erhalten ihre Charakterisierung in der Regel auf Grund ihrer vererbten biologischen oder scheinbar biologischen Merkmale.

142 143

Antonio Planzer, Le crime de génocide, Diss., Fribourg, 1956, S. 96.

Im Gegensatz hierzu erfüllen auch politische, kulturelle, geschlechterspezifische oder jedwelche andere Diskriminierungen das Delikt der Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sofern sie aus nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannten Gründen erfolgen (vgl. unten Ziff. 5.3.2.8).

495

Religiöse Gruppen kennzeichnen sich durch ihr gemeinsames Glaubensbekenntnis oder die Art und Weise des Vollzugs ihrer religiösen Riten 144.

Die Begrenzung der Art der geschützten Gruppen findet sich bereits in der Völkermordkonvention selbst, welche in erster Linie stabile und permanente Gruppen schützen wollte, in die man hineingeboren wird und denen man nicht freiwillig beitreten kann. Während der Vorbereitungsarbeiten zum Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und an der Römer Konferenz wurde zwar darüber diskutiert, ob neben den genannten Gruppen auch politische, soziale, kulturelle oder geschlechterspezifische Gruppen berücksichtigt werden sollten. Doch kam man letztlich überein, vom Wortlaut der Völkermordkonvention nicht abzuweichen und den Anwendungsbereich von Artikel 6 nicht auszudehnen. Diese Haltung hat auch der Bundesrat in der Botschaft über den Beitritt der Schweiz zur Völkermordkonvention vertreten145.

In der Literatur146 und explizit in den jüngsten Urteilen der Straftribunale für ExJugoslawien und Ruanda147 ist nun jedoch ein Trend zu erkennen, der dieses an scheinbar objektive Kriterien anknüpfende Konzept in Frage stellt. Es wird geltend gemacht, dass es sich bei der Mitgliedschaft in einer bestimmten Gruppe in vielen Fällen eher um ein subjektives denn ein objektives Konzept handelt. Gruppen könnten sich entweder selbst als solche definieren, oder sie würden von Aussenstehenden, insbesondere von den Tätern, als solche bezeichnet. Häufig würden bestimmte Personen zu Opfern eines Völkermordes, weil sie von den Tätern als zu einer bestimmten Gruppe gehörend wahrgenommen werden, auch wenn sie diese Eigenschaften in Tat und Wahrheit nicht besitzen. Angesichts dieses unpräzisen Konzepts der nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppen könne die Mitgliedschaft in solchen Gruppen nur im jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Kontext ermittelt werden. Diese Entwicklung vermag zwar den aktuellen Text des Statuts nicht zu ändern. Der Bundesrat ist jedoch der Auffassung, dass sie bei der Auslegung des geltenden Rechts berücksichtigt werden sollte.

4.3.4

Die strafbaren Handlungen

Betrachtet man die in Artikel 6 umschriebenen Handlungsvarianten, so lässt sich feststellen, dass zwar die meisten, jedoch nicht notwendigerweise alle Tathandlungen mit einem Angriff auf die physische oder psychische Integrität der einzelnen Gruppenmitglieder verbunden sind. Unter den Genozid durch Tötung von Mitgliedern der Gruppe (Bst. a) werden regelmässig direkte vorsätzliche Tötungshandlungen subsumiert. Beim Völkermord durch Verursachung von schwerem körperlichem 144

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 502; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, §§ 512 ff; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana , ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 98.

145 Botschaft über den Beitritt der Schweiz zur Völkermordkonvention, BBl 1999 5347.

146 Vgl. Rafaëlle Maison, Le crime de génocide dans les premiers jugements du Tribunal pénal international pour le Rwanda , RGDIP (1999) 129, S. 137; Hans Vest, Die bundesrätliche Botschaft zum Beitritt der Schweiz zur Völkermord-Konvention ­ kritische Überlegungen zum Entwurf eines Tatbestandes über Völkermord , ZStR 117 (1999) S. 351, 357.

147 Vgl. ICTY, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Goran Jelisic , IT-95-10, Urteil vom 14. Dez. 1999, § 70; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 98; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 161.

496

oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe (Bst. b) ist hervorzuheben, dass der Schaden nicht dauerhaft und unheilbar sein muss148. Diese Tatbestandsvariante kann durch körperliche oder seelische Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Vergewaltigung oder andere Formen sexueller Gewalt erfüllt werden149.

Der Tatbestand der vorsätzlichen Unterwerfung einer Gruppe unter Lebensbedingungen, die geeignet sind, ihre körperliche Vernichtung ganz oder teilweise herbeizuführen (Bst. c), erfasst Fälle, in denen der Täter die Mitglieder der Gruppe nicht unmittelbar tötet, jedoch letztlich deren physische Vernichtung beabsichtigt. Dadurch können bereits gewisse Gefährdungshandlungen als vollendeter Völkermord qualifiziert werden, ohne dass die beabsichtigte Wirkung der Vernichtung der Gruppe eingetreten ist. Zu denken ist etwa an Deportationen oder die Einweisung in Konzentrationslager. Das Ruanda-Tribunal hat als Beispiele unter anderem die systematische Vertreibung aus Häusern, Vergewaltigungen, die Herabsetzung lebenswichtiger medizinischer Dienstleistungen unter das notwendige Minimum oder andere körperliche Strapazen genannt, wenn sie zu einem langsamen Tod führen und dies vom Täter beabsichtigt worden war150. Bei den letzten beiden Varianten des Völkermordtatbestands steht der Entzug der unverzichtbaren Grundlagen für die Weiterexistenz der Gruppe im Vordergrund, ohne dass damit zwangsläufig Leib, Leben oder Gesundheit der einzelnen Gruppenmitglieder betroffen sein müssen. So kann ein Völkermord durch Geburtenverhinderung (Bst. d) nicht nur dann vorliegen, wenn die Mitglieder einer Gruppe sexuell verstümmelt oder sterilisiert werden.

Vielmehr können insbesondere die seelischen und traumatischen Folgen einer Vergewaltigung dazu führen, dass die betroffenen Frauen sich in Zukunft nicht mehr fortpflanzen können151. Der Tatbestand der Kinderverschleppung (Bst. e) kann nicht nur durch die gewaltsame physische Überführung erfüllt werden, sondern auch durch Drohungen erwirkt werden152. Dabei gelten als Kinder alle Personen unter 18 Jahren153. Es ist jedoch nochmals zu betonen, dass all diese Tathandlungen nur dann als Völkermord qualifiziert werden, wenn sie ­ wie unten im Einzelnen zu erläutern ist ­ vorsätzlich und vor allem in der Absicht begangen werden, eine bestimmte Gruppe zu vernichten.
Auf das Anfügen weiterer Tatbestandsvarianten wurde bei der Ausarbeitung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs verzichtet, obwohl insbesondere auf 148

149

150

151

152 153

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 502; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 156.

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Georges A.N. Rutaganda , ICTR-96-3-T, Urteil vom 6. Dez. 1999, § 51; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema, ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 156.

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 506; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana , ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, §§ 115 f.; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 157.

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 508; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 158.

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 159.

Vgl. Ziff. 5 der «Verbrechenselemente» zu Art. 6 Bst. e, U.N. Doc.

PCNICC/2000/INF/3/Add.2 (Stand 6. Juli 2000); diese Altersgrenze entspricht auch Art. 1 des Übereinkommens vom 20. Nov. 1989 über die Rechte des Kindes («UNO-Kinderrechtskonvention»), SR 0.107, für die Schweiz in Kraft getreten am 26. März 1997.

497

den völkermörderischen Charakter so genannter «ethnischer Säuberungen» hingewiesen worden war. Diese können jedoch bereits durch bestehende Tatbestandsvarianten des Genozids erfasst werden oder fallen sonst zweifellos in die Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

4.3.5

Der subjektive Tatbestand

Nach Artikel 30 des Statuts können die Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs nur vorsätzlich begangen werden. Eine fahrlässige Tatbegehung scheidet beim Völkermord aber auch schon deshalb aus, weil der Völkermord als besonderes Merkmal die Absicht des Täters (dolus specialis) voraussetzt, eine durch ihre Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder ethnische Zugehörigkeit gekennzeichnete Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Diese Absicht qualifiziert den Völkermord als schwerwiegendstes Verbrechen überhaupt. Es ist für die Vollendung der Straftat nicht vorausgesetzt, dass sich diese Absicht verwirklicht. Entgegen einer landläufigen Meinung muss das Verbrechen des Völkermordes die tatsächliche Auslöschung einer Gruppe in ihrer Gesamtheit nicht zur Folge haben154; die Zahl der unmittelbaren Opfer ist sekundär. Der Täter macht sich vielmehr bereits dann strafbar, wenn er vorsätzlich eine der in den Buchstaben a ­ e von Artikel 6 genannten Tatvarianten verwirklicht und dabei mit der erwähnten Absicht handelt155. So genügt es beispielsweise, dass der Täter selbst nur eine Person tötet156, wenn ihm die Absicht nachgewiesen werden kann, dass er in der Absicht handelte, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten. Weil die Absicht unter Umständen viel weiter reicht als der eingetretene Erfolg, spricht man von einem Delikt mit «überschiessender Innentendenz». Die Vernichtungsabsicht des Täters muss sich auf einen substanziellen Teil der Gruppe beziehen, sei es auf eine grössere Anzahl von Mitgliedern der Gruppe, sei es auf eine kleinere, aber für den Weiterbestand der Gruppe lebenswichtige Zahl, (z.B. politische, religiöse, intellektuelle, wirtschaftliche oder andere Repräsentanten157). Dabei musste der Wille des Täters darauf gerichtet sein, die Gruppe «als solche» zu vernichten, das heisst als gesonderte, von andern Gruppen unterschiedliche Einheit. Es genügt nicht, nur einige Personen aus Gründen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe vernichten zu wollen. Hatte der Täter nur die Absicht, eine bestimmte Person wegen ihrer individuellen Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu töten, so begeht er keinen Völkermord. Dies schliesst aber eine Verurteilung aus anderen Gründen nicht aus (Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ­ wenn auch nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof
­ gewöhnlicher Mord).

In der Praxis stellt der Nachweis dieser besonderen Absicht eine äusserst schwierige Aufgabe dar. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn nur eine geringe Zahl von

154

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 497.

155 Vgl. hierzu die Botschaft über den Beitritt der Schweiz zur Völkermordkonvention, BBl 1999 5339.

156 Vgl. die «Verbrechenselemente» zu Art. 6 des Statuts, U.N. Doc.

PCNICC/2000/INF/3/Add.2 (Stand 6. Juli 2000).

157 Vgl. ICTY, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Goran Jelisic , IT-95-10, Urteil vom 14. Dez. 1999, § 82.

498

Personen wegen Völkermordes verurteilt werden158. Nach Auffassung der Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda lässt sich diese Absicht anhand verschiedener Tatsachen, Umstände oder Verhaltensweisen des Täters nachweisen. In Frage kommen die massive und/oder systematische Natur oder Grausamkeit der Angriffe gegenüber einer bestimmten Gruppe159, die körperlichen Angriffe auf die Gruppenmitglieder oder deren Eigentum, die sprachliche Herabwürdigung von Mitgliedern der Gruppe, die Art der verwendeten Waffen und das Ausmass der Körperverletzungen160 und anderes mehr. Vom Fall abgesehen, dass der Täter seine Absicht selbst nach aussen bekannt gibt, dürfte der Nachweis einer solchen Absicht faktisch nur zu erbringen sein, wenn sich die Handlungen des Täters in einen grösseren Kontext eingliedern.

Eine Person allein ist in der Regel nicht in der Lage, einen Völkermord durchzuführen. Zwar verlangt weder das Statut noch die Völkermordkonvention das Vorhandenseins eines Plans zur Durchführung eines Völkermordes. Ein planmässiges Element entspricht jedoch nicht nur der tatsächlichen Logik, sondern auch der Systematik der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als dessen besondere Ausprägung der Völkermord erscheint161.

4.4

Strafbarkeit des Völkermords im geltenden schweizerischen Recht

Am 31. März 1999 hat der Bundesrat der Bundesversammlung die Botschaft betreffend das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision des Strafrechts unterbreitet162. National- und Ständerat haben den Beitritt zum Völkermordübereinkommen genehmigt163 und am 24. März 2000 auch die Umsetzungsgesetzgebung gutgeheissen164. Am 7. September dieses Jahres hat der Bundesrat den Beitritt zum Übereinkommen erklärt. Neu wird in diesem Zusammenhang auf den 15. Dezember 2000 im Titel 12bis des Strafgesetzbuches (StGB)165 ein Artikel 264 eingefügt werden, dessen Wortlaut weitgehend auf Artikel II der Völkermordkonvention fusst. Durch die Aufnahme dieses Tatbestands wird sichergestellt, dass auch in der Schweiz eine Person wegen Völkermordes verfolgt und verurteilt werden kann. Dies gilt auch für Vorbereitungshandlungen, welche vor der Schwelle des Versuchs liegen (Art. 260bis StGB), sowie 158

159

160

161

162 163 164 165

So hat erst kürzlich die erste Instanz des UNO-Straftribunals für Ex-Jugoslawien einen Angeklagten aus diesem Grund von der Anklage des Völkermordes freigesprochen; vgl.

ICTY, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Goran Jelisic , IT-95-10, Urteil vom 14. Dez. 1999.

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 478; ICTY, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Goran Jelisic, IT-95-10, Urteil vom 14. Dez. 1999, § 73.

Vgl. ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 93; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 166.

Vgl. ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, §§ 93 f.; ICTY, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Goran Jelisic , IT-95-10, Urteil vom 14. Dez. 1999, § 87 und § 98; vgl. William A. Schabas, Follow up to Rome: Preparing for Entry Into Force of the International Criminal Court Statute , HRLJ 20 (1999), 164, Hans Vest, a.a.O., S 362.

BBl 1999 5327 ff.

AB 1999 N 2420; AB 2000 S 63.

AB 2000 N 459; AB 2000 S 226.

SR 311.0

499

für die Aufreizung zum Völkermord (Art. 259 StGB: öffentliche Aufforderung zu Verbrechen). Absatz 2 von Artikel 264 führt im Weiteren für die Strafbarkeit des Völkermordes in der Schweiz das Universalitätsprinzip ein. Dadurch können auch Auslandtaten von Nichtschweizern gegen Nichtschweizer erfasst werden, sofern sich der Täter in der Schweiz aufhält und nicht ausgeliefert werden kann. Gemäss Artikel 75bis Absatz 1 Ziffer 1 StGB unterliegt der Völkermord auch nicht der Verjährung. Dadurch wird sichergestellt, dass die Schweiz Verfahren wegen des Vorwurfs des Völkermordes selbst durchführen kann166. Im Weiteren wird bereits nach Artikel 261bis StGB auch die Leugnung, gröbliche Verharmlosung oder Rechtfertigung des Völkermords unter Strafe gestellt.

5 5.1

Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7) Rechtsquellen und historische Entwicklung des Verbots der Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Schon vor fünfzig Jahren hielt der Schweizer Jurist JEAN GRAVEN fest, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit so alt wie die Menschheit selbst seien167. Das Verbot des Handelns gegen die Menschlichkeit in Kombination mit individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit wurde erstmals allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Artikel 6 Buchstabe c der Satzung des internationalen Militärtribunals von Nürnberg168 verankert. Dahinter stand die Idee, nicht nur jene Personen zu verfolgen, welche sich Kriegsverbrechen im herkömmlichen Sinn gegen Zivilisten und Kriegführende der Gegenpartei schuldig gemacht hatten169. Vielmehr sollten auch Verbrechen vor Ausbruch des Krieges erfasst werden sowie Angriffe gegen Personen, die staatenlos waren, dieselbe Nationalität wie die Täter besassen oder einem Staat angehörten, welcher mit dem Heimatstaat der Täter alliiert war, und daher nicht als Angehörige der Gegenpartei galten, auf welche sich der Schutz des traditionellen Kriegsvölkerrechts bezog170. Auf der Grundlage der Nürnberger Prinzipien wurde die individuelle Strafbarkeit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Artikel 2 Ziffer 1 Buchstabe c des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 («Control Council Law No. 10»)171 übernommen, auf dessen Grundlage die vier Besatzungsmächte weitere Verbrechen von Soldaten und Amtsträger des nationalsozialistischen Regimes ver166

167 168

169 170 171

500

Vgl. zur Unverjährbarkeit, zur Strafbarkeit der Leugnung sowie zum Ausschluss der Einrede des politischen Charakters des Völkermorddelikts im Rahmen der Rechtshilfe die Ausführungen der Botschaft über den Beitritt der Schweiz zur Völkermordkonvention, BBl 1999 5244 f.

Jean Graven, Les Crimes contre l'Humanité, RdC 76 (1950-I), 427-605 (433).

Rechtsgrundlagen für den Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg: Statut in der Anlage zum Londoner Viermächteabkommen vom 8. Aug. 1945 (82 U.N.T.S. 279, 59 Stat. 1544. E.A.S. Nr. 472), abgedruckt u.a. in: Charles I. Bevans (Hrsg.), Treaties and other International Agreements of the United States of America , Band 3, 1970, S. 1238.

Deutsche Übersetzung in: Gerd Hankel/Gerhard Stuby (Hg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburger Edition, 1995, S. 516 ff.

Vgl. Roger Clark, Crimes against Humanity at Nuremberg , in: The Nuremberg Trial and International Law, Ginsburgs and Kudriavtsev (Hrsg.), (1990) 177.

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 619.

Law No. 10 of 20 December 1945 of the Control Council for Germany («Control Council Law No. 10»): Punishment of Persons Guilty of War Crimes, Crimes Against Peace and Against Humanity, Official Gazette of the Control Council for Germany, No. 3, p. 22, zitiert bei Ratner/Abrams, a.a.O., S. 308 f.

folgten. Gleichzeitig wurde in Tokio das internationale Militärtribunal für den Fernen Osten errichtet, dessen Satzung in Artikel 5 Buchstabe c ebenfalls eine Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorsah172. Allerdings wurde keiner der 25 japanischen Angeklagten deswegen verurteilt, sondern nur wegen Kriegsverbrechen173.

Das Verbot der Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde in der Folge von der Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigt174. 1947 erteilte die Generalversammlung der Vereinten Nationen der Völkerrechtskommission den Auftrag, die völkerrechtlichen Grundsätze, die im Statut und in den Urteilen des Nürnberger Militärtribunals anerkannt wurden, zu kodifizieren und einen Katalog der Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Sicherheit der Menschheit auszuarbeiten175. Im Jahre 1950 unterbreitete die Völkerrechtskommission der Generalversammlung der Vereinten Nationen einen Text über die «sieben Nürnberger Prinzipien», wonach Verbrechen gegen die Menschlichkeit als völkerrechtliche Verbrechen strafbar sein sollen176. Im Jahre 1954 wurden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im «Vertragsentwurf über Verstösse gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit» als so genannte «unmenschliche Handlungen» aufgenommen177. 1993 und 1994 wurden in den Statuten der internationalen Straftribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda die Verbrechen gegen die Menschlichkeit als eigene Kategorie aufgeführt.

1996 legte die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen den Entwurf von 1954 in überarbeiteter Fassung als «Entwurf eines Strafgesetzbuches der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit» erneut der Generalversammlung vor178. Dieser Entwurf wurde zwar nicht in eine internationale Konvention umgesetzt, doch dienten die Vorarbeiten der Völkerrechtskommission auch als Grundlage für die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs. Bei den Vorbereitungsarbeiten zum Statut waren sich die Staaten einig, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit in das Statut aufgenommen werden sollten. Die Definition der einzelnen Verbrechen stellte sich jedoch als äusserst schwierig heraus, musste doch aus den genannten Quellen und Präjudizien das massgebliche Völkergewohnheitsrecht herausdestilliert werden.

Zur Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben
nicht zuletzt auch Entscheide internationaler und nationaler Gerichte beigetragen. So hatte als erste gerichtliche Instanz das internationale Militärtribunal von Nürnberg sowohl zum Anwendungsbereich als auch zu den einzelnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Stellung genommen. Im Jahre 1961 wurde Adolf Eichmann in Israel für seine Rolle bei der so genannten Endlösung unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt179. In den Achtziger- und Neunzigerjahren kam es in 172

173 174 175 176 177 178 179

Das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg wurde für Tokio übernommen durch Sonderproklamation des Oberbefehlshabers der Alliierten in Japan, 19. Jan. 1946 (T.I.A.S. 1589), abgedruckt in Bevans, a.a.O., Band 4, 1970, S. 20.

Vgl. Ratner/Abrams, a.a.O., S. 46 f.

Resolution 95 (I) vom 11. Dez. 1946.

Resolution 177 (II) vom 21. Nov. 1947.

Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nürnberg Tribunal and in the Judgment of the Tribunal, YB I.L.C., 1950, Vol. II, 374.

ILC Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind, YB ILC, 1954, vol. II.

Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, Official Records of the General Assembly, 51st Session, Supplement No. 10 (A/51/10).

Vgl. Attorney General of the Government of Israel v. Adolf Eichmann , Urteil vom 12. Dez. 1961.

501

Frankreich zu Verurteilungen einiger Protagonisten des Vichy-Regimes, namentlich von Klaus Barbie180, Paul Touvier181 und Maurice Papon182. Auch in Kanada183 und in anderen Staaten wurden in den letzten Jahren Verfahren durchgeführt. Die grösste Bedeutung in der jüngsten Rechtsprechung zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommt jedoch den Ad-hoc-Tribunalen für Ex-Jugoslawien und Ruanda zu184.

Zu erwähnen ist abschliessend, dass verschiedene Staaten vor allem in den letzten Jahren die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in ihre nationalen Strafgesetzbücher oder spezielle Erlasse aufgenommen haben, darunter Belgien185, Kanada186, Estland187, Finnland188, Frankreich189, Kongo190, Peru191, Polen192, Ruanda193, Slowenien194 und das Vereinigte Königreich 195.

180

181 182 183 184

185 186

187 188 189

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192 193

194

195

502

Cour d'Appel de Lyon, Urteil vom 8. Juli 1983, J.D.I. 1983, S. 791 ff.; Chambre Criminelle de la Cour de Cassation, Urteil vom 6. Okt. 1983, Bull. S. 610 ff.; Cour de Cassation, Fédération Nationale des Déportés et Internés Résistants et Patriotes c. Klaus Barbie, Urteil vom 20. Dez. 1985, Bulletin des arrêts de la Cour de Cassation, 1985, S. 1038.

Cour de Cassation, Touvier, Urteil vom 27. Nov. 1992, 1992 Bull. Crim., Nr. 394, 1085.

Cour d'Assises de la Gironde (Bordeaux), Papon, Urteil vom 2. April 1998; bestätigt durch den Cour de Cassation am 21. Okt. 1999.

Vgl. Supreme Court of Canada, Regina v. Finta, [1994] 1 S.C.R. 701.

Vgl. die Zusammenfassung der Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale in dem von der Schweiz an der Vorbereitungskommission für den Internationalen Strafgerichtshof eingereichten Kommentar zu Art. 7 des Statuts vom 24. Nov. 1999, U.N. Doc.

PCNICC/1999/WGEC/DP.35.

Loi relative à la répression des violations graves de droit international humanitaire vom 10. Febr. 1999, Moniteur Belge vom 23. März 1999, S. 9286.

Kanadisches Strafgesetzbuch, S. 7 (3.76); vgl. auch den Entwurf vom Dez. 1999 zu einem Act respecting genocide, crimes against humanity and war crimes and to implement the Rome Statute of the International Criminal Court, and to make consequential amendments to other Acts: the Crimes Against Humanity Act, Bill C-19.

Estnisches Strafgesetzbuch, Kapitel I, Art. 61 § 1, angenommen am 9. Nov. 1994, Riigi Teataja (Nationales Gesetzesblatt) I 1994, 83, 1447, 439.

Finnisches Strafgesetzbuch, Kapitel 11, angenommen am 21. April 1995, Suomen säädöskokoelman sopimussarja (Finnisches Gesetzesblatt) 1995/587.

Französisches Strafgesetzbuch, Art. 212-1, Abs. 1, verabschiedet durch Gesetz Nr. 92-1336 vom 16. Dez. 1992, geändert durch das Gesetz Nr. 93-913 vom 19. Juli 1993, in Kraft seit 1. März 1994.

Gesetz Nr. 8 - 98 vom 31. Okt. 1998 über die Definition und die Bestrafung des Völkermordes, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Gesetz Nr. 29626 über die Änderung einiger Bestimmungen des Peruanischen Strafgesetzbuches und Eingliederung der Sektion XIV-A betreffend Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 30. Jan. 1991.

Polnisches Strafgesetzbuch, Gesetz vom 6. Juni 1997, Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej (Gesetzesjournal der Republik Polen),
Nr. 88 vom 2. Aug. 1997, Stück Nr. 553.

Gesetz 8/96 vom 30. Aug. 1996 über die Organisation der Verfolgung für Straftaten, welche seit dem 1. Okt. 1990 das Verbrechen des Völkermordes oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, in Kraft seit dem 1. Sept. 1996.

Slowenisches Strafgesetzbuch, Kapitel 35, Straftaten gegen die Menschlichkeit und das Völkerrecht, veröffentlicht im Staatsblatt der Republik Slowenien Nr. 63 vom 13. Okt. 1994, in Kraft seit dem 1. Jan. 1995.

Vgl. den Entwurf zu einer «Crimes Against Humanity and War Crimes Bill», welcher am 24. Juli 2000 dem britischen Parlament vorgelegt worden ist.

5.2

Rechtsnatur der Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Es wird allgemein anerkannt, dass dem Verbot der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit völkergewohnheitsrechtlicher Charakter zukommt196. So gingen etwa auch das Vorbereitungskomitee zur Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs und die Römer Konferenz davon aus, dass die im Statut aufgenommenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit grundsätzlich auf Grund des Völkergewohnheitsrechts verboten waren, auch wenn deren Konturen im Einzelnen zuweilen noch festgelegt werden mussten197. Die Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit steht gleichzeitig auch im Widerspruch zu zwingendem Völkerrecht (ius cogens)198: Ein Staat, der eine Politik betreibt, die auf die Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerichtet ist, wird völkerrechtlich wegen der Verletzung von ius cogens verantwortlich. In einem wegweisenden Urteil hatte das Militärtribunal von Nürnberg bereits vor 50 Jahren festgehalten, dass Verbrechen in Wirklichkeit jedoch nicht von Staaten, sondern von Individuen begangen werden und sich diese nicht auf ihre Immunität berufen und hinter ihrer staatlichen Funktion verbergen können199. Im Weiteren wirken die Verpflichtungen aus dem Verbot der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erga omnes. Dies bedeutet, dass sie nicht gegenseitig voneinander abhängige (synallagmatische) Verpflichtungen begründen, sondern Pflichten, welche fundamentale Werte der Menschheit schützen und daher unabhängig vom Verhalten anderer erfüllt werden müssen200.

Durch die Aufnahme im Statut hat das Verbot der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nun auf völkerrechtlicher Ebene erstmals eine breit abgestützte vertragliche Grundlage erhalten.

5.3 5.3.1

Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs Anwendungsbereich

Wie das Verbrechen des Völkermordes können auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowohl in Friedenszeiten als auch im bewaffneten internationalen oder nicht-internationalen Konflikt stattfinden. Das Delikt kann von jedermann begangen werden, von zivilen staatlichen Vertretern ebenso wie von Militärpersonen oder von Personen ohne Bezug zur Staatsgewalt.

196

197 198

199 200

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 622; ICTY, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Goran Jelisic , IT-95-10, Urteil vom 14. Dez. 1999, § 53; ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al., IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, §§ 545 ff.

Vgl. Herman von Hebel/Darryl Robinson, Crimes within the Jurisdiction of the Court , in: Roy S. Lee (Hrsg.), The Making of the Rome Statute, The Hague et. al. 1999, S. 90 f.

ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, § 520; vgl. Bassiouni, Crimes Against Humanity in International Criminal Law, 2. Auflage 1999, S. 210 ff.

Internationales Militärtribunal von Nürnberg, Urteil vom 30. Sept. ­1. Okt. 1946 gegen die grössten Kriegsverbrecher, Vol. I, S. 235.

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al., Decision On Defence Motion to Summon Witness , Entscheidung vom 3. Febr. 1999; bestätigt in ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, § 23.

503

5.3.1.1

Ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung

Einzelne Verbrechen wie Tötung, Ausrottung oder Versklavung werden gemäss Artikel 7 Absatz 1 nur dann zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn sie «im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen» werden. Artikel 7 Absatz 2 definiert den Begriff des «Angriffs» als «eine Verhaltensweise, die mit der mehrfachen Begehung der in Absatz 1 genannten Handlungen gegen eine Zivilbevölkerung verbunden ist, in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat». Entscheidend für das Vorliegen eines Kontexts, welches ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründet und damit die Zuständigkeit des Gerichtshofs auszulösen vermag, ist somit, dass die einzelnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Teil eines entweder durch seinen Umfang oder durch seinen Organisationsgrad gekennzeichneten Vorgehens gegen Mitglieder der Zivilbevölkerung begangen werden. Dass es sich hierbei um eine Alternative handelt, geht aus der Entstehungsgeschichte der Verbrechen gegen die Menschlichkeit hervor. Der völkergewohnheitsrechtliche Charakter dieses Alternativerfordernisses wurde denn auch in der Rechtsprechung des Nürnberger Tribunals und der Ad-hoc-Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda bestätigt201. Auch im Vorbereitungskomitee zur Schaffung des Strafgerichtshofs wehrte sich die Mehrheit der Staaten gegen eine kumulative Formulierung der kontextuellen Tatbestandsvoraussetzungen dieser Verbrechen.

Es gilt aber zu beachten, dass gemäss der Definition des Angriffs nach Artikel 7 Absatz 2 ein einzelnes Verbrechen gegen die Menschlichkeit von weiteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit begleitet sein muss und dass diese Verbrechen als Unterstützung der Politik eines Staates oder irgendeiner (auch nichtstaatlichen202) Organisation erscheinen müssen. Die entsprechende Politik braucht zwar nicht förmlich als die eines Staates oder explizit in Erscheinung zu treten203; ein grösserer Einsatz öffentlicher oder privater Kräfte ist aber vorausgesetzt204.

Zusammengefasst: Um die Schwelle eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu erreichen, muss eine Tat entweder «ausgedehnt» oder «systematisch» begangen werden, in jedem Fall aber mindestens «mehrfach» und im Rahmen einer «Politik».
Durch diese Erfordernisse soll ausgeschlossen werden, dass einzelne, isolierte Akte ohne Bezug zu einem Angriff gegen die Zivilbevölkerung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden205.

201

202

203 204 205

504

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 579; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Georges A.N.

Rutaganda, ICTR-96-3-T, Urteil vom 6. Dez. 1999, § 68.

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 655; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, §§ 125 f.

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, § 551.

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 580.

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997 § 648; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 123.

5.3.1.2

Charakterisierung des Angriffs und Zusammenhang zwischen der einzelnen Tat und dem Angriff

Ein Angriff auf eine Zivilbevölkerung im Kontext der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist nicht an einen bewaffneten Konflikt geknüpft206. Es muss sich dabei nicht einmal in jedem Fall um ein gewaltsames Vorgehen handeln207. Der Angriff ist vielmehr die Umschreibung für das Ereignis, in welchem die einzelnen strafbaren Handlungen erfolgen208. Vorausgesetzt ist aber, dass die einzelnen Handlungen in jedem Fall einen inhaltlichen Bezug zu einem ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung haben. Fehlt ein solcher Zusammenhang, das heisst, dass sich ein Verbrechen nicht in die gegen einen Teil der Zivilbevölkerung gerichtete Politik integrieren lässt, sondern nur aus anderen Motiven erfolgt (z.B. eine vorsätzliche Tötung aus purer Eifersucht), so liegt kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor209. Liegt ein solcher Zusammenhang zwischen der Handlung des Täters und einer systematischen Politik hingegen vor, das heisst, stellt sich das Verhalten des Täters als das Produkt eines politischen Systems basierend auf Terror oder Missachtung der Menschenrechte dar, so kann auch ein einzelner Akt eines Täters ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründen210.

5.3.1.3

Umschreibung der Opferqualifikation

Die Opfer dieses Angriffs werden im Statut als Mitglieder der «Zivilbevölkerung» umschrieben. In der Rechtsprechung wird der Begriff der «Zivilbevölkerung» weit verstanden. Keine Rolle spielt vorerst die Nationalität des Opfers: Dieses kann dieselbe oder eine andere Nationalität als der Täter besitzen oder staatenlos sein211.

Ferner sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur dann strafbar, wenn sie gegen Zivilisten ohne Uniform und ohne Bezug zur Staatsgewalt begangen werden, sondern auch gegen alle anderen Personen, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen. Geschützt sind somit auch Angehörige der Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, sowie alle andern Personen, die sich durch Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder eine andere Ursache ausser Gefecht befinden212. In der 206

207 208 209 210 211 212

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, § 545; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 127; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 565; ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic , IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 623; ICTY, Appeals Chamber, Prosecutor v.

Tadic, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-AR72, Entscheidung vom 2. Okt. 1995, § 141. Auch das Völkergewohnheitsrecht verlangt einen solchen Zusammenhang nicht.

Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 581.

Vgl. ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 122.

Vgl. ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-A, Urteil vom 15. Juli 1999, § 271.

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 649.

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 635.

ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, § 582; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, §§ 127 f.

505

Rechtsprechung wurden überdies Personen, die nicht als typische «Nicht-Kombattanten» qualifiziert werden konnten, als Zivilisten bezeichnet (z.B. Mitglieder der französischen Résistance, die aktiv an Auseinandersetzungen beteiligt waren)213.

5.3.1.4

Fragen des subjektiven Tatbestandes im Zusammenhang mit dem Angriff gegen die Zivilbevölkerung

Es ist umstritten, inwieweit eine Person, die ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, wissen musste, dass ihre Handlung im Rahmen eines Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erfolgte. Diese Frage ist zumindest vordergründig für den Gerichtshof auf der Grundlage von Artikel 7 Absatz 1 in dem Sinne positiv zu beantworten, dass der Täter «in Kenntnis des Angriffs» gehandelt haben muss. Die Rechtsprechung verlangt vom Täter nicht, dass er alle Details des Angriffs kannte, sondern nur, dass er sich des grösseren Zusammenhangs seines Handelns bewusst war, wobei dieses Wissen aus den Umständen der Tat abgeleitet werden kann214. In Bezug auf die Frage, ob ein Handeln aus andern, rein persönlichen Motiven den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht erfüllt, hat die neueste Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale (mit Bezug auf frühere Entscheide) entschieden, dass dem Vorliegen persönlicher Motive keine besondere Bedeutung zukommt, solange sich der Täter bewusst war, dass sein Handeln auch als Teil der grösseren Dimension eines Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erscheint215. Nicht erforderlich ist im Rahmen von Artikel 7 des Statuts, dass der Täter die strafbaren Handlungen in jedem Fall in diskriminierender Absicht begangen hat; dies ist nur für das Verbrechen der Verfolgung vorausgesetzt. Nach Auffassung des Straftribunals für ExJugoslawien wird eine solche Absicht auch vom Völkergewohnheitsrecht nicht verlangt216. Dass das Statut für das Straftribunal für Ruanda in jedem Fall ein diskriminierendes Vorgehen gegen bestimmte Teile der Zivilbevölkerung verlangt, ist aus dem spezifischen Kontext des ruandischen Bürgerkrieges zwischen Hutus und Tutsis zu erklären.

213

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 639 mit Verweis auf die Rechtsprechung im Fall Barbie.

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, §§ 556 f. ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-A, Urteil vom 15. Juli 1999, § 271; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v.

Clément Kayishema and Obed Ruzindana , ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 134; ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, §§ 656 ff. mit Verweisen auf die nationale Rechtsprechung, insbesondere aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

215 Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, § 558; ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-A, Urteil vom 15. Juli 1999, §§ 238 ff., 270 ff.

216 Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, § 558; ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-A, Urteil vom 15. Juli 1999, §§ 291 f.

214

506

5.3.2

Die strafbaren Handlungen (Art. 7 Abs. 1)

Die Erfüllung eines nachfolgenden objektiven Verbrechenstatbestands stellt nur dann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, wenn es im oben geschilderten Kontext eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erfolgt.

5.3.2.1

Vorsätzliche Tötung (Art. 7 Abs. 1 Bst. a)

Das Verbrechen der vorsätzlichen Tötung gehört zu jenen Delikten, welche seit jeher in allen Instrumenten zur Bekämpfung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthalten sind und auch von allen nationalen Rechtsordnungen bestraft werden. Die vorsätzliche Tötung, welche in der französischen Version des Statuts als «meurtre» und in der englischen Version als «murder» bezeichnet wird, erfasst jene Situationen, in denen der Täter durch sein Verhalten den Tod einer Person verursacht und dabei in Bezug auf sein Verhalten und den eingetretenen Erfolg vorsätzlich handelt.

Ein zusätzliches, besonderes verwerfliches Motiv, wie es z.B. Artikel 112 StGB für Mord vorschreibt, ist nicht vorausgesetzt.

5.3.2.2

Ausrottung (Art. 7 Abs. 1 Bst. b)

Das Verbrechen der Ausrottung gehört zu den typischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Neben unmittelbaren Massentötungen umfasst es nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe b auch «die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen» ­ unter anderem das Vorenthalten des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Medikamenten ­, «die geeignet sind, die Vernichtung eines Teiles der Bevölkerung herbeizuführen»217. Im Unterschied zum Verbrechen der vorsätzlichen Tötung richtet sich das Verbrechen der Ausrottung per definitionem gegen mehrere Personen218. Dabei kommt es dem Täter weniger auf die Individualität des Opfer an. Das Typische dieses Verbrechens liegt vielmehr in der Massenviktimisierung ohne besonderen Bezug des Täters zu seinen Opfern219. Dieses Element der Massentötung schliesst jedoch nicht aus, dass im Einzelfall ein Täter wegen Ausrottung verurteilt werden kann, auch wenn er nur den Tod einer Person verursacht hat. Subjektiv ist in einem solchen Fall erforderlich, dass sich der Täter bewusst war, dass seine Handlung Teil einer Massentötung war, also mit dieser zeitlich und räumlich eng verbunden war220.

Im Unterschied zum Völkermord müssen die Opfer nicht einer bestimmten Gruppe angehören. Entscheidend ist eine Opfermehrheit, die vom Täter auch ohne Bezug zu ihrer Gruppenzugehörigkeit ausgesucht werden konnte. Liegt der Ausrottung zu217

Vgl. auch ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Georges A.N. Rutaganda , ICTR-96-3-T, Urteil vom 6. Dez. 1999, § 84; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v.

Alfred Musema, ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, § 219.

218 Vgl. ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, 591; Trial Chamber I, The Prosecutor v. Georges A.N.

Rutaganda, ICTR-96-3-T, Urteil vom 6. Dez. 1999, § 82.

219 Vgl. ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 142; Cherif Bassiouni, a.a.O., S. 302.

220 ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana , ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, § 147.

507

sätzlich ein diskriminierendes Motiv zugrunde, wodurch auch das Verbrechen der Verfolgung erfüllt wäre, so kann es zu Überschneidungen mit dem Verbrechen des Völkermordes kommen. Dabei ist im Einzelfall abzuklären, ob es sich um echte Konkurrenzen handelt und der Täter für beide Deliktskategorien bestraft werden kann221.

5.3.2.3

Versklavung (Art. 7 Abs. 1 Bst. c)

Die individuelle Strafbarkeit für das Verbrechen der Versklavung erscheint seit dem Zweiten Weltkrieg in allen wichtigen Satzungen zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bereits das im Jahr 1926 verabschiedete Abkommen gegen die Sklaverei enthielt eine Definition der Sklaverei und auferlegte den Vertragsstaaten die Pflicht, die Sklaverei strafrechtlich zu verfolgen222. Als besondere Ausprägung der Sklaverei erscheint in diesem Kontext die Zwangsarbeit, die nicht durch besondere Umstände gerechtfertigt ist. Erstmals wurden die Staaten im Jahr 1930 in der Konvention gegen Zwangsarbeit verpflichtet, dieses Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen223. In der Rechtsprechung des Nürnberger Tribunals erscheint die Zwangsarbeit als einer der Kerninhalte der Sklaverei224. Im Jahr 1999 schliesslich wurde im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation ein Abkommen über die schlimmsten Formen der Kinderarbeit verabschiedet, in welchem die Zwangsarbeit als sklavereiähnliche Praktik bezeichnet wird225. Auch verschiedene menschenrechtliche Verträge ächten die Sklaverei und die Zwangsarbeit, ohne sie jedoch zu pönalisieren226.

Das Statut definiert das Verbrechen der Versklavung in Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe c als «die Ausübung aller oder einzelner mit einem Eigentumsrecht an einer Person verbundenen Befugnisse und umfasst die Ausübung dieser Befugnisse im Rahmen des Handels mit Menschen, insbesondere mit Frauen und Kindern». Diese Definition lehnt sich an das Sklavereiabkommen von 1926 an. Zusätzlich stigmatisiert sie beispielhaft den Menschenhandel, vor allem mit Frauen und Kindern, zu dessen Bestrafung sich die Staaten bereits im Jahre 1921 in einem internationalen Abkommen verpflichtet haben227.

221 222

223

224 225 226

227

508

Vgl. hierzu ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, §§ 625 ff.

Sklavereiabkommen vom 25. Sept. 1926, SR 0.311.37, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. Nov. 1930; Zusatzübereinkommen vom 7. Sept. 1956 über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken, SR 0.311.371, in Kraft getreten für die Schweiz am 28. Juli 1964.

Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit vom 28. Juni 1930, SR 0.822.713.9, in Kraft getreten für die Schweiz am 23. Mai 1941; Internationales Übereinkommen Nr. 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit vom 25. Juni 1957, SR 0.822.720.5, in Kraft getreten für die Schweiz am 18. Juli 1959.

Verfahren gegen von Schirach und Sauckel , 22 IMT Trials, S. 565­568.

Übereinkommen 182 über das Verbot und unverzügliche Massnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit vom 17. Juni 1999, BBl 2000 415 ff.

Vgl. Art. 4 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. Nov. 1950, SR 0.101, in Kraft getreten für die Schweiz am 28. Nov. 1974; Art. 8 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dez. 1966, SR 0.103.2, in Kraft getreten für die Schweiz am 18. Sept. 1992.

Internationales Übereinkommen zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels vom 30. Sept. 1921, SR 0.311.33, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. Febr. 1926.

5.3.2.4

Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung (Art. 7 Abs. 1 Bst. d)

Das Verbrechen der Vertreibung der Bevölkerung war eines der Kernverbrechen, über die das Nürnberger Militärtribunal zu befinden hatte. Es erscheint seither in allen wesentlichen Katalogen zur Ächtung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Verbrechen der zwangsweisen Überführung der Bevölkerung erscheint als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstmals im Entwurf der Völkerrechtskommission zu einem internationalen Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1996, ist allerdings bereits im IV. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten enthalten und wurde in den Zusatzprotokollen von 1977 weiter präzisiert228. Im bisherigen historischen Kontext wurden unter die Begriffe «Vertreibung» (französisch «déportation»; englisch «deportation») und «zwangsweise Überführung» nicht immer dieselben Sachverhalte subsumiert. Das Statut selbst definiert das Verbrechen der Vertreibung oder zwangsweisen Überführung der Bevölkerung in Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe d als «die erzwungene, völkerrechtlich unzulässige Verbringung der betroffenen Personen durch Ausweisung oder andere Zwangsmassnahmen aus dem Gebiet, in dem sie sich rechtmässig aufhalten».

Nach verbreiteter Auffassung229 begeht das Verbrechen der «Vertreibung», wer die Zivilbevölkerung eines Staates oder eines besetzten Gebiets ganz oder teilweise in einen anderen Staat vertreibt, wobei die Vertreibung sowohl die reine Ausweisung wie auch die Verbringung an einen bestimmten Ort im Ausland (z.B. in ein Konzentrationslager) umfasst. Des Verbrechens der «zwangsweisen Überführung» macht sich strafbar, wer die Zivilbevölkerung eines Staates ganz oder teilweise innerhalb desselben Staates vertreibt oder zwangsweise an einen anderen Ort ebenfalls innerhalb desselben Staates umsiedelt oder verbringt. Dabei spielt es für den Anwendungsbereich dieses Verbrechens keine Rolle, ob die Opfer dieselbe Nationalität wie der Täter besitzen. Gerade in innerstaatlichen Konflikten der letzten Jahre hat sich gezeigt, dass so genannte «ethnische Säuberungen» unter Angehörigen der gleichen Nationalität erfolgt sind.

Das Statut schränkt den Anwendungsbereich dieses Verbrechens auf Personen ein, die sich rechtmässig in einem Gebiet aufhalten. Während die Ausweisung eigener Staatsangehöriger grundsätzlich verboten ist, können ausländische
Staatsangehörige in bestimmten Fällen in zulässiger Weise ausser Landes gebracht werden, oder es kann ihnen innerhalb eines Landes ein bestimmter Aufenthaltsort zugewiesen werden. Massstab der Zulässigkeit ist in all diesen Fällen nach dem Statut allein das Völkerrecht. Andernfalls würde die Gefahr bestehen, dass eine Regierung die Deportation mit Berufung auf nationales Recht rechtfertigen könnte, welches im Widerspruch zum internationalen Recht steht. Zulässige Gründe sind unter anderem der Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder der Rechte und Freiheiten anderer.

228 229

Art. 147 GA IV; Art. 85 Ziff. 4 Bst. a ZP I; Art. 17 ZP II.

Vgl. ILC Report 1996, § 13 zu Art. 18; Bassiouni, a.a.O., S. 308; Christopher K. Hall, Crimes Against Humanity, in: Otto Trifterer, Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court , 1999, S. 136; Ratner/Abrams, a.a.O., S. 69 f.

509

5.3.2.5

Freiheitsentzug oder sonstige schwerwiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoss gegen die Grundregeln des Völkerrechts (Art. 7 Abs. 1 Bst. e)

Das Verbrechen des Freiheitsentzugs erscheint erstmals im Kontrollratsgesetz Nr. 10 aus dem Jahre 1945 und wurde in der Folge in die Statute der Straftribunale für ExJugoslawien und Ruanda aufgenommen. Unter dem Begriff des «Freiheitsentzuges» werden unter Heranziehung der authentischen Texte des Statuts (französisch «emprisonnement»; englisch «imprisonment») Fälle erfasst, in denen eine Person auf engem Raum gefangengehalten wird. Es handelt sich hierbei um eine Art Einkerkerung oder Einsperrung. Hingegen werden durch die zweite Tatvariante der «sonstigen schwerwiegenden Freiheitsberaubung» all jene Situationen erfasst, in denen eine Person zwar ihrer physischen Bewegungsfreiheit beraubt wird, sich jedoch weiterhin in einem bestimmten Gebiet bewegen kann. Dies kann zum Beispiel die Einweisung in Lager oder Ghettos betreffen. Ein Freiheitsentzug erhält seine besondere Verwerflichkeit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erst dann, wenn er in schwerwiegender Weise gegen Grundregeln des Völkerrechts verstösst. Somit ist nicht nur sichergestellt, dass die legale Inhaftierung von Menschen kein Verbrechen darstellt. Auch ein Freiheitsentzug, der unter menschenrechtlichen Aspekten vielleicht unzulässig ist (z.B. zu lange Haftdauer, ungenügendes rechtliches Gehör), wird allein deswegen noch nicht zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Erfasst werden im Rahmen von Artikel 7 vielmehr nur Fälle, in denen Personen unter Verstoss gegen die grundlegendsten Gebote der Fairness auf willkürliche Weise eingesperrt werden.

5.3.2.6

Folter (Art. 7 Abs. 1 Bst. f)

Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird die Folter erstmals im Jahre 1945 von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs im Kontrollratsgesetz Nr. 10 unter Strafe gestellt. In der Folge verbieten verschiedene Menschenrechtskonventionen die Folter, so insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948230. Diese umfassende internationale Ächtung ermöglicht im Jahre 1949, in den Genfer Abkommen ein absolutes Verbot der Folter in internationalen, aber auch in internen bewaffneten Konflikten zu statuieren. Im Jahre 1984 wird die Folter in einem internationalen Übereinkommen stigmatisiert und die Vertragsstaaten werden verpflichtet, die Folter unter Strafe zu stellen231. Im Rahmen des Europarates wacht auf der Basis des Europäischen Folter-Übereinkommens232 seit 1987 der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe darüber, dass die Staaten alles unternehmen, um die Folterung von Gefangenen unter ihrer Hoheitsgewalt zu verhindern.

230

Vgl. später auch Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, SR 0.101, und Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966, SR 0.103.2.

231 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dez. 1984, SR 0.105, für die Schweiz in Kraft getreten am 26. Juni 1987.

232 Europäisches Übereinkommen vom 26. Nov. 1987 zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, SR 0.106, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. Febr. 1989.

510

Heute besitzen das Verbot und die Strafbarkeit der Folter den Status von Völkergewohnheitsrecht und sind Teil des zwingenden Völkerrechts (ius cogens)233. Die Statuten der Ad-hoc-Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda verbieten die Folter, ohne sie zu definieren. Hingegen enthält das Statut des Strafgerichtshofs eine Legaldefinition. Nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe e bedeutet Folter, dass einer im Gewahrsam oder unter der Kontrolle des Beschuldigten befindlichen Person vorsätzlich grosse körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden.

Im Unterschied zur Folterkonvention setzt der Begriff der Folter im Rahmen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Statut nicht voraus, dass die Folter einem bestimmten Zweck gedient hat. Auf ein solches Element war bei der Ausarbeitung des Statuts bewusst verzichtet worden. Die Folterkonvention war in dieser Hinsicht nicht verbindlich, da sie gemäss Artikel 1 Absätze 1 und 2 den Begriff der Folter nur für ihren eigenen Anwendungsbereich definiert und weitergehende Verbotsbestimmungen in internationalen Übereinkünften und im nationalen Recht unberührt lässt. Auch ist nach dem Statut nicht erforderlich, dass der Täter in offizieller Funktion gehandelt hat. Ausgenommen werden vom Folterbegriff nach dem Statut «Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind». Da jedoch unter dem Statut der Massstab der Zulässigkeit einer Handlung in erster Linie das Völkerrecht ist, können nach nationalem Recht zulässige Praktiken gleichwohl die Strafbarkeit im Rahmen von Artikel 7 des Statuts begründen.

5.3.2.7

Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere (Art. 7 Abs. 1 Bst. g)

Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe g umfasst in einem Paragraphen verschiedene Sexualdelikte: neben Vergewaltigung auch sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation sowie jede andere Form der sexuellen Gewalt von vergleichbarer Schwere. Von diesen Verbrechen ist einzig die Vergewaltigung in den bisherigen Instrumenten zur Bestrafung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthalten (erstmals im Kontrollratsgesetz Nr. 10), allerdings ohne Definition. Weil diese Delikte im Völkerrecht bisher nicht umschrieben waren, erwiesen sich die Verhandlungen zu diesen Verbrechen bei der Ausarbeitung des Statuts als besonders langwierig und schwierig. Dies nicht nur, weil Sexualdelikte eine Anzahl kontroverser Fragen weltanschaulicher Natur aufwerfen, sondern auch, weil neuere Konflikte (vor allem der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien) gezeigt haben, dass solche Deliktsformen zunehmend als Mittel der (ethnischen) Kriegführung eingesetzt werden. Dadurch erhalten die Sexualverbrechen (wie auch die Folter) eine internationale Dimension, namentlich wenn sie als staatlich sanktionierte Gewaltanwendung erscheinen.

In den meisten nationalen Rechtsordnungen wird Vergewaltigung als unfreiwilliger Geschlechtsverkehr umschrieben (so grundsätzlich auch im schweizerischen Recht).

233

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Zejnil Delalic, Zdravko Mucic, Hazim Delic and Esad Landzo, IT-96-21-T, Urteil vom 16. Nov. 1998, § 454; Bassiouni, a.a.O, S. 337; Ratner/Abrams, a.a.O, S. 111.

511

Auch wenn der Tatbestand der Vergewaltigung (Art. 7 Abs. 1 Bst. g-1) im internationalen Recht vor dem Römer Statut keine Definition kannte, so besteht immerhin eine jüngere Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale. Konstituierendes Merkmal dieses Verbrechens stellt demnach die Penetration gegen den Willen des Opfers dar.

Dieser Vorgang wird geschlechtsneutral als «physisches Eindringen in den Körper mit sexuellem Charakter» umschrieben. Als Vergewaltigung gilt nicht nur der erzwungene Geschlechtsverkehr, sondern auch das Eindringen in einen Körperteil des Opfers mit einem Sexualorgan des Täters (insbesondere orale Penetration) oder das Eindringen in die anale oder genitale Öffnung des Opfers mit einem Körperteil des Täters oder mit einem Gegenstand. Bei seinem Vorgehen muss der Täter Gewalt ausüben oder androhen, selbst Zwang ausüben oder von Umständen profitieren, die auf das Opfer Zwang ausüben234. Diesen Nötigungsmitteln setzen die «Verbrechenselemente» den Fall gleich, in dem der Täter mittels oben genannter Penetrationsformen eine Person missbraucht, welche auf Grund ihrer natürlichen, zugefügten oder altersbezogenen Urteils- oder Widerstandsunfähigkeit nicht in der Lage ist, ihre freie Zustimmung zu diesem Vorgehen zu geben.

Da zu den übrigen Sexualdelikten noch keine Rechtsprechung vorliegt, wird sich der Gerichtshof unter anderem an den «Verbrechenselementen» orientieren können, welche von der Vorbereitungskommission des Internationalen Strafgerichtshofes ausgearbeitet wurden235. Beim Verbrechen der sexuellen Sklaverei (Art. 7 Abs. 1 Bst. g-2) werden vor allem jene Elemente zu berücksichtigen sein, die bereits beim Delikt der Versklavung (vgl. oben) Anwendung finden, verbunden mit Handlungen sexueller Art, zu denen das Opfer gezwungen worden ist. So sind unter anderem im Zweiten Weltkrieg koreanische Frauen als so genannte «comfort women» für die sexuelle Befriedigung japanischer Soldaten ausgebeutet worden, oder im Jugoslawienkonflikt wurden Frauen in so genannten «Vergewaltigungslagern» gefangen gehalten236. Die Nötigung zur Prostitution (Art. 7 Abs. 1 Bst. g-3) wird in den «Verbrechenselementen» dadurch umschrieben, dass der Täter durch sein Handeln das Opfer zur Vornahme von Handlungen sexueller Natur gezwungen hat und dadurch einen Vorteil erreichte oder zu erreichen suchte. Bei der
Definition des Verbrechens der erzwungenen Schwangerschaft (Art. 7 Abs. 1 Bst. g-4), das im Jugoslawienkonflikt vor allem an muslimischen Frauen aus Bosnien-Herzegowina begangen worden ist, kann der Gerichtshof direkt auf das Statut Rückgriff nehmen. Das Statut umschreibt dieses Delikt in Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe f als «die rechtswidrige Gefangenhaltung einer zwangsweise geschwängerten Frau in der Absicht, die ethnische Zusammensetzung einer Bevölkerung zu beeinflussen oder andere schwere Verstösse gegen das Völkerrecht zu begehen». Als Konzession an die Gesetzgebung einzelner Staaten, welche die Abtreibung nicht zulassen, wird diese Definition im Statut durch den Satz ergänzt, dass diese Begriffsbestimmung nicht so auszulegen sei, als dass sie «innerstaatliche Gesetze in Bezug auf Schwangerschaft berühre».

Das Verbrechen der Zwangssterilisation (Art. 7 Abs. 1 Bst. g-5) erfasst jene Hand234

ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, §§ 596 ff.; ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Anto Furundzija , IT-95-17/1-T, Urteil vom 10. Dez. 1998, §§ 175 ff., § 185; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Alfred Musema , ICTR-96-13-T, Urteil vom 27. Jan. 2000, §§ 220 ff.; vgl. auch die «Verbrechenselemente» zu Art. 7 Bst. g des Statuts, U.N. Doc.

PCNICC/2000/INF/3/Add.2 (Stand 6. Juli 2000).

235 Vgl. U.N. Doc. PCNICC/2000/INF/3/Add.2 (Stand 6. Juli 2000).

236 Vgl. Abschlussbericht der UNO-Expertenkommission, Annex 8 und 9, New York 1994, U.N. Doc. S/1994/674/Add.2 (Vol. IV und V).

512

lungen, durch welche eine Person unter der Anwendung von Zwang ihrer biologischen Fortpflanzungsfähigkeit beraubt worden ist. Zu denken ist hier an im Dritten Reich praktizierte Massnahmen der so genannten «Rassenhygiene» an «unwertem Leben» («Euthanasie-Programm»)237 und an die Experimente an Kriegsgefangenen und Zivilisten238. Nicht darunter fallen Sterilisationen, die auf Grund medizinischer Indikationen gerechtfertigt sind und zu denen eine Person ihr Einverständnis gegeben hat. Als letztes Verbrechen der Kategorie der Sexualdelikte bestraft das Statut andere Formen sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere (Art. 7 Abs. 1 Bst. g6). Nach diesem Auffangtatbestand begeht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wer durch die Anwendung oder Androhung von Gewalt oder durch Zwang oder durch die Ausnutzung von Umständen, die das Opfer in eine Zwangssituation versetzen, einen anderen als die in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe g-1 bis Buchstabe g-5 genannten sexuellen Akte verübt oder durch diesen Zwang eine Person zur Vornahme von Handlungen sexueller Natur veranlasst. Dieser Akt muss aber von vergleichbarer Schwere sein. Darunter fallen gemäss der Rechtsprechung der internationalen Straftribunale auch Angriffe auf die sexuelle Integrität einer Person, die nicht notwendigerweise eine Penetration oder einen physischen Kontakt zum Opfer beinhalten239.

5.3.2.8

Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus diskriminierenden Gründen (Art. 7 Abs. 1 Bst. h)

Das Verbrechen der Verfolgung von Mitgliedern einer bestimmten Personengruppe aus diskriminierenden Gründen stellt so etwas wie den Grundtypus der Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, sind letztere doch in erster Linie wegen der Verletzung fundamentaler Menschenrechte durch systematische Angriffe eines Regimes gegen die Zivilbevölkerung unter Strafe gestellt worden. Das Verbrechen der Verfolgung ist sowohl in der Satzung des internationalen Militärtribunals von Nürnberg als auch in allen späteren Instrumenten zur Bekämpfung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthalten, jedoch ohne spezifische Definition. Viel beigetragen zur Definition dieses Verbrechens haben daher die Urteile der verschiedenen Militärgerichte nach dem Zweiten Weltkrieg, nationale Urteile sowie die jüngste Rechtsprechung des Ad-hoc-Tribunals für Ex-Jugoslawien. Das Statut selbst ist bei der Definition dieses Verbrechens jedoch genau. Der Begriff der Verfolgung wird nicht in einem wörtlichen, sondern in einem konzeptuellen Sinne verstanden: Erfasst werden alle Handlungen, durch welche der Täter eine Person in völkerrechtswidriger und schwerwiegender Weise ihrer Grundrechte beraubt, und zwar wegen der Identität der Gruppe oder Gemeinschaft, der diese Person angehört (vgl. die Legaldefinition in Art. 7 Abs. 2 Bst. g des Statuts). Dabei muss es sich nicht um physische Attacken auf die Opfer handeln. In Frage kommen unter anderem auch Verletzungen politischer Rechte (z.B. Entzug des Wahlrechts), ökonomischer Rechte (entschädigungslose Enteignungen) oder rechtsstaatlicher Ansprüche (z.B. die systematische 237 238

Gesetz vom 14. Juli 1933 zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.

Vgl. United States v. Karl Brandt et al. (The «medical case»/«Doctors Trial») , Trials of War Criminals before Nuremberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Vol. 1 und 2, case no. 1.

239 ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Anto Furundzija , IT-95-17/1-T, Urteil vom 10. Dez. 1998, § 186.

513

Verweigerung fairer Gerichtsverfahren)240. Im Unterschied zum Völkermord ist jegliche Art von diskriminierenden Gründen tatbestandsmässig, sofern sie nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannt sind. Das Statut listet exemplarisch folgende Gründe als völkerrechtlich unzulässig auf: politische, rassische, nationale, ethnische, kulturelle, religiöse oder geschlechtsspezifische Gründe. Bei den hier massgeblichen diskriminierenden Grundrechtsverletzungen handelt es sich jedoch nicht um einfache Ungleichbehandlungen, die allenfalls unter verfassungsrechtlichen Aspekten unzulässig sind. Vielmehr sind jene Situationen gemeint, in denen im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen einzelne Gruppen der Zivilbevölkerung schwerwiegendste und eklatante Grundrechtsverletzungen begangen werden. Letztere richten sich häufig gegen die eigene Zivilbevölkerung eines Landes, wie beispielsweise die als Konsequenz der Nürnberger Rassengesetze vom 15. September 1935 begangenen Verbrechen, welche im so genannten «Blutschutzgesetz» Eheschliessungen zwischen Juden und Deutschen verboten und daraus den Tatbestand der «Rassenschande» ableiteten, und im so genannten «Reichsbürgergesetz» die staatsbürgerlichen Rechte nur noch Angehörigen «deutschen oder artverwandten Bluts» zuerkannten. Juden und anderen Minderheiten wurden so die bürgerlichen Rechte entzogen.

Im Unterschied zu anderen Statuten internationaler Gerichte stellt gemäss dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs der oben beschriebene massive Entzug von Grundrechten allein noch kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Vielmehr verlangt es zusätzlich, dass der Grundrechtsentzug mit einem anderen Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs in Verbindung steht. Auch wenn dieses zusätzliche Delikt nicht vom gleichen Täter begangen werden muss wie jenes der Verfolgung, wird durch dieses Erfordernis der Anwendungsbereich des Verbrechens der Verfolgung im Vergleich zum bisherigen Völkergewohnheitsrecht eigentlich eingeengt. Darauf ist bereits vom internationalen Straftribunal für Ex-Jugoslawien hingewiesen worden241. Dies mag bedauert werden. Immerhin weist Artikel 10 des Statuts aber ausdrücklich darauf hin, dass das Statut bestehende oder sich entwickelnde Regeln des Völkerrechts nicht beschränkt oder berührt.

5.3.2.9

Zwangsweises Verschwindenlassen von Personen (Art. 7 Abs. 1 Bst. i)

Das Verbrechen des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen erschien noch nicht in der Satzung der in der Folge des Zweiten Weltkriegs errichteten Gerichte, wurde aber schon damals in den Urteilen angeprangert. Im Jahre 1992 verabschiedete die UNO-Generalversammlung die Deklaration über den Schutz aller Personen vor zwangsweisem Verschwindenlassen242. 1996 führte die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen dieses Verbrechen explizit in ihrem Entwurf zu einem internationalen Strafgesetzbuch auf. Gemäss Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe i 240

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 710; ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, §§ 596 ff. m.w.H. auf die Rechtsprechung der Nachkriegszeit.

241 Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al. , IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, §§ 578 ff.

242 General Assembly Declaration 47/133 vom 18. Dez. 1992, Protection of all Persons from Enforced Disappearances.

514

des Statuts «bedeutet die Festnahme, den Entzug der Freiheit oder die Entführung von Personen durch einen Staat oder eine politische Organisation oder mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates oder der Organisation, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib dieser Personen zu erteilen, in der Absicht, sie für längere Zeit dem Schutz des Gesetzes zu entziehen».

5.3.2.10

Das Verbrechen der Apartheid (Art. 7 Abs. 1 Bst. j)

Das Verbrechen der Apartheid erlangte erst spät eine internationale Ächtung, obwohl es schon während langer Zeit von Kolonialstaaten gegenüber ihren Ureinwohnern oder allgemein von der machthabenden Bevölkerung eines Staates gegenüber ihren rassischen Minderheiten praktiziert wurde. 1971 erklärte der IGH in einem Gutachten das von Südafrika in Namibia errichtete Apartheidregime als völkerrechtswidrig243. Die Apartheid wurde im Jahre 1973 in der Konvention zur Unterdrückung des Verbrechens der Apartheid erstmals in einem internationalen Abkommen geächtet244. Während diese Konvention in erster Linie vor dem Hintergrund der Situation in Südafrika zu verstehen war, versuchte die Völkerrechtskommission, dieses Verbrechen noch abstrakter zu formulieren245. Das Statut des Strafgerichtshofs hat eine ähnliche Definition übernommen. Nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe h «bedeutet unmenschliche Handlungen ähnlicher Art wie die in Absatz 1 genannten, die von einer rassischen Gruppe im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung einer oder mehrerer anderer rassischer Gruppen in der Absicht begangen werden, dieses Regime aufrechtzuerhalten». Durch die Beschränkung des Anwendungsbereichs des Statuts auf Handlungen, die in Artikel 7 Absatz 1 verboten oder von ähnlicher Art sind, wird im Statut unter dem Titel der Apartheid letztlich primär der qualifizierende Umstand bestraft, dass die Handlungen des Täters im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung einer oder mehrerer rassischer Gruppen durch eine andere rassische Gruppe stattfanden und dass der Täter die Absicht hatte, dieses Regime aufrechtzuerhalten.

5.3.2.11

Andere unmenschliche Handlungen (Art. 7 Abs. 1 Bst. k)

Es ist ­ wie die Geschichte gezeigt hat ­ unmöglich, alle Grausamkeiten, zu denen die Menschen fähig sind, in einer abschliessenden Liste von Verbrechen gegen die Menschlichkeit festzuhalten. Beim letzten Verbrechen in der Gruppe der Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt es sich um einen subsidiären Auffangtatbestand, mit dem andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art strafrechtlich er243

IGH, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970) , Gutachten vom 21. Juni 1971, ICJ Reports 1971, S. 56.

244 International Convention on the Suppression and Punishment of the Crime of Apartheid vom 30. Nov. 1973.

245 Vgl. den Kommentar der Völkerrechtskommission zu Art. 18 Bst. f des Entwurfs zu einem internationalen Strafgesetzbuch (1996).

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fasst werden sollen, sofern der Täter dadurch vorsätzlich grosse Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht. Durch diese Eingrenzung der unmenschlichen Handlungen enthält das Statut eine rigorosere Regelung als die bisherigen Instrumente zur Verfolgung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Einengung und Spezifizierung des Tatbestandes dient aber auch dem Legalitätsprinzip und verhindert, dass irgendwelche Handlungen und nicht Verbrechen von vergleichbarer Schwere der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterstellt werden. Das schweizerische Strafgesetzbuch kennt bei der schweren Körperverletzung eine ähnliche Formulierung (vgl. Art. 122). Die internationalen Straftribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda haben unter anderem schwere Schläge oder Verstümmelungen in diesem Sinne als tatbestandsmässig bezeichnet246.

5.4

Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im geltenden schweizerischen Recht

Die schweizerische Rechtsordnung kennt keinen Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In den Expertenberichten und in der Vernehmlassung zur Botschaft über den Beitritt der Schweiz zur Völkermordkonvention war bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, einen solchen Tatbestand möglichst schnell einzuführen. Der Bundesrat teilte diese Meinung und kündigte eine diesbezügliche Gesetzgebung im Zusammenhang mit dem Beitritt der Schweiz zum Statut des Gerichtshofs an247. Die Umsetzung der materiellen Strafbestimmungen des Statuts ins schweizerische Recht erfolgt jedoch aus den am Anfang dieser Botschaft erwähnten Gründen erst in einer zweiten Phase.

Es kann jedoch bereits heute im Grundsatz festgehalten werden, dass das schweizerische Strafrecht den Anforderungen des Statuts bezüglich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu weiten Teilen entspricht. Es sind nicht eigentliche Strafbarkeitslücken vorhanden, die zu einer Übernahme des Verfahrens durch den Gerichtshof führen würden. So sind die meisten durch Artikel 7 des Statuts verpönten Verhaltensweisen auch im schweizerischen Recht unter dem einen oder anderen Titel strafbar. Allerdings fehlt bei den massgeblichen Bestimmungen des StGB durchgehend das die Verbrechen gegen die Menschlichkeit kennzeichnende und qualifizierende Element des ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung im Rahmen einer entsprechenden Politik eines Staates oder einer Organisation. Die einzelnen Tatbestände des StGB erfassen zudem nicht in jedem Fall den typischen Unrechtsgehalt der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Schliesslich entspricht der in den Bestimmungen des StGB vorgesehene Strafrahmen den Vorstellungen des Statuts nur bedingt. Aus diesen Gründen sollen die Arbeiten an einer Umsetzung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ins schweizerische Recht nach der Ratifikation des Statuts umgehend in Angriff genommen werden.

246

Vgl. Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, §§ 728 ff.; ICTR, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, ICTR-95-1-T, Urteil vom 21. Mai 1999, 149 ff.

247 BBl 1999 5335 f.

516

6 6.1

Kriegsverbrechen (Art. 8) Rechtsquellen und historische Entwicklung

Bereits der Briand-Kellogg-Pakt aus dem Jahre 1929 verbot den Staaten, zur Regelung von zwischenstaatlichen Streitigkeiten zum Mittel des Krieges zu greifen. Spätestens seit im Jahre 1945 aber die UNO-Charta ein zwischenstaatliches Gewaltverbot statuierte (vgl. Art. 2 Abs. 4), ist es den Staaten absolut untersagt, gegen andere Staaten nach freiem Gutdünken und in legaler Weise Krieg zu führen (ius ad bellum). Verschiedene Urteile des Nürnberger Tribunals bestätigten ebenfalls den völkergewohnheitsrechtlichen Charakter des Gewaltverbots, dessen Verletzung ein Verstoss gegen zwingendes Völkerrecht darstellt (ius cogens).

Nur im Fall der Selbstverteidigung sieht die UNO-Charta selbst die Möglichkeit legitimer Gewaltanwendung vor. Dabei handelt es sich nicht um eigentliche Ausnahmen vom Gewaltverbot, da das Recht, sich gegen eine Aggression zur Wehr zu setzen, in allen Rechtsordnungen anerkannt ist248. Zudem sind die Voraussetzungen der legitimen Selbstverteidigung eng umrissen: derjenige Staat, der sich auf das Selbstverteidigungsrecht beruft, muss erstens entweder selbst Opfer einer bewaffneten Aggression sein oder im Rahmen einer kollektiven Selbstverteidigung dem angegriffenen Staat zu Hilfe eilen. Zweitens darf die Selbstverteidigung nicht unverhältnismässig sein, und drittens sind in jedem Fall allen Anordnungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Folge zu leisten, welche dieser zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit trifft (vgl. Art. 51 der UNO-Charta).

Trifft der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Massnahmen (auch militärischer Art) nach Kapitel VII der UNO-Charta, um bei einer Bedrohung oder einem Bruch des Friedens oder bei einer Angriffshandlung den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen, wird dadurch nicht wieder ein ius ad bellum eingeführt. Vielmehr handelt es sich um ein System der kollektiven Sicherheit im Rahmen der UNO, ein ius contra bellum, welches nicht in der freien Disposition der einzelnen Staaten steht, sondern allein in der Zuständigkeit des UNOSicherheitsrates.

Völkerrechtlich ist der Krieg zwar nicht mehr als zulässiges Mittel zur Regelung von Streitigkeiten anerkannt, er ist damit aber keineswegs verschwunden. Um jene Personen, die entweder aktiv an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt
sind oder als so genannte «Nicht-Kombattante» in anderer Weise darin involviert sind, zu schützen, setzt das humanitäre Völkerrecht daher minimale Standards zur Verhinderung bestimmter Verletzungen der persönlichen Integrität (ius in bello). Die Verletzungen dieser Standards werden, wenn sie eine gewisse Schwere aufweisen, als Kriegsverbrechen bezeichnet. Das humanitäre Völkerrecht unterscheidet dabei nicht zwischen Angreifer und Opfer des Angriffs; seine Anwendung folgt allein aus der Tatsache, dass ein bewaffneter Konflikt besteht. Bereits im Jahre 1762 schrieb JEANJACQUES ROUSSEAU: «Der Krieg ist (...) kein Verhältnis eines Menschen zum andern, sondern das Verhältnis eines Staates zu andern, bei dem die Einzelnen nur zufällig Feinde sind, und zwar nicht als Menschen, (...) sondern als Soldaten (...). Da der Zweck des Krieges die Vernichtung des feindlichen Staates ist, so hat man das Recht, die Verteidiger desselben zu töten, solange sie die Waffen in der Hand ha248

Vgl. z.B. die Regelung der Notwehr und der Notwehrhilfe im schweizerischen Strafrecht, Art. 33­34 StGB und Art. 25­26 MStG.

517

ben; sobald sie sie jedoch niederlegen und sich ergeben, so werden sie, weil sie aufhören Feinde oder Werkzeuge des Feindes zu sein, wieder nur Menschen, und man hat kein Recht auf ihr Leben.»249 Seine historischen Wurzeln findet das Völkerstrafrecht im Kriegsrecht, das schon im Mittelalter Regeln für das Verhalten der Streitkräfte gegenüber den Kombattanten und der Zivilbevölkerung des Feindes aufstellte. Solche Kriegsordnungen sahen beispielsweise die Schonung der Klöster und Kirchen sowie der Frauen und Kinder vor und bestimmten, dass Zuwiderhandlungen von Kriegsgerichten zu bestrafen seien.

Im Gegensatz zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind die Gesetze und Gebräuche des Krieges und das Verbot ihrer Verletzungen bereits seit dem 19. Jahrhundert in mehreren internationalen Abkommen enthalten. Hervorzuheben ist hier die Konvention betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen250. Sie wurde an einer Konferenz in Genf am 22. August 1864 beschlossen, zu welcher der Bundesrat eingeladen hatte. Die Konvention findet ihren Ursprung in den Vorschlägen des Schweizers HENRY DUNANT in seinem im Jahre 1862 erschienenen Buch «Eine Erinnerung an Solferino», wo er das Leiden der 40 000 französischen und österreichischen Soldaten beschreibt, die am 20. Juni 1859 in der Schlacht von Solferino getötet und verletzt worden waren. In die gleiche Zeit fiel auch die Grundsteinlegung für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)251. Im Jahre 1863 organisierte Dunant zusammen mit vier weiteren Personen, darunter der ehemalige eidgenössische Oberbefehlshaber im Sonderbundskrieg (1847) General GUILLAUME-HENRI DUFOUR, eine Konferenz zur Unterstützung der Kriegsversehrten. In den Folgejahren wurden verschiedene nationale Hilfsgesellschaften gegründet, deren Ziel es war, die Heeressanitätsdienste in Kriegszeiten zu unterstützen. Im Jahre 1868 bekannten sich verschiedene Staaten in der Erklärung von St. Petersburg erstmals in einem internationalen Dokument zu grundlegenden Prinzipien der Kriegführung252. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis der vertragliche Schutz auf die Kranken, Verwundeten und Schiffbrüchigen zur See ausgedehnt wurde253. Gleichzeitig wurden auch in den Jahren 1899 und 1907 in den so genannten «Haager Abkommen und Erklärungen» der Schutz der Beteiligten am Landkrieg weiter ausgebaut und das Verbot des Einsatzes bestimmter Waffen bestä-

249

Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts (1762), Stuttgart 1958, I. Buch, 4. Kapitel.

Von der Schweiz am 1. Okt. 1864 ratifiziert.

Vgl. zur Geschichte und Struktur des IKRK ausführlich Hans Haug (u.a.), Menschlichkeit für alle: die Weltbewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds , 2. Auflage, Bern 1993.

252 Erklärung betreffend Nichtanwendung der Sprenggeschosse im Kriege vom 29. Nov./ 11. Dez. 1868, SR 0.515.101, vom Bundesrat genehmigt am 29. Dez. 1868. Danach sollte der einzige rechtmässige Zweck, den die Staaten während des Krieges verfolgen dürfen, die Schwächung der Militärkräfte des Feindes sein; dass es zu diesem Zweck genügt, möglichst viele Mannschaft kampfunfähig zu machen; dass dieser Zweck durch den Gebrauch von Waffen überschritten würde, welche unnötigerweise die Leiden der ausser Kampf Gesetzten erhöhen oder ihren Tod unvermeidlich machen würden.

253 Vgl. Konvention betreffend die Ausdehnung der Genfer Konvention vom 22. Aug. 1864 auf den Seekrieg vom 29. Juli 1899, BS 11 516, von der Schweiz am 29. Dez. 1900 ratifiziert; X. Haager Abkommen betreffend die Anwendung der Grundsätze des Genfer Abkommens auf den Seekrieg vom 18. Okt. 1907, BS 11 522, von der Schweiz am 12. Mai 1910 ratifiziert.

250 251

518

tigt254. Im Jahre 1925 wurde das Genfer Gas-Protokoll unterzeichnet255, und am 27. Juli 1929 wurden die Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Heere im Felde sowie über die Behandlung der Kriegsgefangenen beschlossen256.

Die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gebildeten internationalen Militärtribunale hatten unter anderem die von den Achsenmächten begangenen Kriegsverbrechen zu beurteilen. Ein weiterer Höhepunkt bei der internationalen Anerkennung humanitärer Mindeststandards wurde am 12. August 1949 mit dem Abschluss der vier Genfer Abkommen erreicht257. Diese Abkommen konsolidieren zum einen den bisherigen Stand des humanitären Völkerrechts, zum anderen verbessern sie auf Grund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs den Schutz der kranken und verwundeten Militärangehörigen zu Land und zur See sowie der Kriegsgefangenen und dehnen insbesondere den Schutz des humanitären Rechts auf die Zivilbevölkerung aus. Die vier Genfer Abkommen sind heute von nahezu allen Staaten der Welt ratifiziert258 und verkörpern den unabdingbaren Mindeststandard für einen menschenwürdigen Umgang in Zeiten bewaffneter Konflikte. Einen weiteren entscheidenden Schritt bei der Verwirklichung des humanitären Gedankens in bewaffneten Konflikten stellen die zwei Zusatzprotokolle vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 dar. Das 1. Zusatzprotokoll259 baut den Schutz der Beteiligten und der Opfer von internationalen Konflikten weiter aus und spezifiziert die zulässigen Methoden der Kriegführung. Das 2. Zusatzprotokoll260 dehnt den Schutz auch auf interne Konflikte und Bürgerkriege aus, die einen gewissen Grad an Intensität erlangen. Dieser Schritt war deshalb so bedeutsam, weil bis anhin lediglich der gemeinsame Artikel 3 der vier Genfer Abkommen von 1949 auch in innerstaatlichen Konflikten einen gewissen minimalen Schutz gewährte. Auch die beiden Zusatzprotokolle haben verbreitete Anerkennung gefunden und sind von einer grossen Zahl von Staaten ratifiziert worden261.

254

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256 257

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261

Vgl. insbesondere das Reglement im Anhang der Internationalen Übereinkunft betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 29. Juli 1899, SR 0.515.111, in Kraft getreten für die Schweiz am 28. Juni 1907; Erklärung betreffend den Gebrauch von Kugeln, die sich leicht im menschlichen Körper ausbreiten oder ausdehnen oder abplatten, SR 0.515.103, ratifiziert am 29. Dez. 1900; Abkommen und Reglement betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Okt. 1907, SR 0.515.112, in Kraft getreten für die Schweiz am 11. Juli 1910.

Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege vom 17. Juni 1925, SR 0.515.105, in Kraft getreten für die Schweiz am 12. Juli 1932.

SR 0.518.11 und SR 0.518.41, in Kraft getreten für die Schweiz am 19. Juni 1931.

Genfer Abkommen (I) zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, SR 0.518.12; Genfer Abkommen (II) zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, SR 0.518.23; Genfer Abkommen (III) über die Behandlung der Kriegsgefangenen, SR 0.518.42; Genfer Abkommen (IV) über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, SR 0.818.51. Alle Abkommen wurden am 12. Aug. 1949 verabschiedet und sind für die Schweiz am 21. Okt. 1950 in Kraft getreten.

Am 7. September 2000 hatten 189 Staaten die vier Genfer Abkommen ratifiziert.

Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. Aug. 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, SR 0.518.521, in Kraft getreten für die Schweiz am 17. Aug. 1982.

Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. Aug. 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte, SR 0.518.522, in Kraft getreten für die Schweiz am 17. Aug. 1982.

Am 7. September 2000 hatten 157 Staaten das ZP I ratifiziert, 150 Staaten das ZP II.

519

Auch in anderen Bereichen wurde das Recht weiter ausgebaut. So wurde am 14. Mai 1954 das Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten verabschiedet262. Dieses wurde im Jahre 1999 durch ein 2. Protokoll ergänzt, mit dem der bisherige Schutz des Kulturgutes verstärkt und ein umfassender Mechanismus individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Rechtsprechungskompetenz geschaffen wird263. Im Bereich des Einsatzes unzulässiger Waffen wurden unter anderem folgende Konventionen geschaffen: 1972 die Konvention über das Verbot von biologischen und giftigen Waffen264, 1980 das Abkommen zum Verbot bestimmter konventioneller Waffen265, 1993 das Chemiewaffenübereinkommen266 und 1997 die Konvention über das Verbot von Anti-Personenminen267.

Diese Abkommen wurden von der Schweiz alle ratifiziert. Die Verletzung dieser Abkommen begründet in der Schweiz bereits heute durch Verweis in den Artikeln 108 und 109 MStG die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Täter (dazu hinten Ziff. 6.4).

Schliesslich umfasst die Zuständigkeit der Ad-hoc-Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda ebenfalls schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts, die als Völkergewohnheitsrecht erachtet werden268.

Bei der Ausarbeitung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs stellte sich daher die Frage, welche Normen der oben genannten Abkommen, Protokolle, Satzungen und Statute genügend anerkannt waren, um in die Liste der Kriegsverbrechen aufgenommen zu werden. Dabei kamen nur Tatbestände in Frage, die eine ge262

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267

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520

SR 0.520.3, in Kraft getreten für die Schweiz am 15. Aug. 1962; vgl. ergänzend die Ausführungsbestimmungen und das Protokoll vom 14. Mai 1954 zum Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten, SR 0.520.31 und SR 0.520.32, sowie das Bundesgesetz vom 6. Okt. 1966 über den Schutz der Kulturgüter bei bewaffneten Konflikten, SR 520.3, und die Verordnung vom 17. Okt. 1984 über den Schutz der Kulturgüter bei bewaffneten Konflikten, SR 520.31.

Zweites Protokoll zum Haager Übereinkommen von 1954 für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten vom 26. März 1999, von der Schweiz unterzeichnet am 17. Mai 1999.

Übereinkommen vom 10. April 1972 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen, SR 0.515.07, in Kraft getreten für die Schweiz am 5. Mai 1976.

Übereinkommen vom 10. Okt. 1980 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermässige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können, inkl. Protokoll I über nichtentdeckbare Splitter, Protokoll II über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes von Minen, Sprengfallen und anderen Vorrichtungen und Protokoll III über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes von Brandwaffen, SR 0.515.091, in Kraft getreten für die Schweiz am 2. Dez. 1983. Am 13. Okt. 1995 wurde das Protokoll IV über Blendlaserwaffen angenommen und am 3. Mai 1996 das Protokoll II revidiert (vgl. BBl 1997 IV 1). Diese Neuerungen sind für die Schweiz am 24. Sept. 1998 bzw. 3. Dez. 1998 in Kraft getreten.

Übereinkommen vom 13. Jan. 1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen, SR 0.515.08, in Kraft getreten für die Schweiz am 29. April 1997; vgl. auch den Bundesbeschluss vom 7. Okt. 1994 betreffend den Vollzug des Chemiewaffenübereinkommens, SR 515.08.

Übereinkommen vom 18. Sept. 1997 über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Anti-Personenminen und über deren Vernichtung, BBl 1998 679, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. März 1999.

Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 18. Okt. 1995 betreffend den Bundesbeschluss über die Zusammenarbeit mit den Internationalen
Gerichten zur Verfolgung von schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts (BBl 1995 IV 1101); vgl. auch Boschaft über den Beitritt der Schweiz zur Völkermordkonvention (BBl 1999 5331).

wisse Schwere aufweisen und geeignet sind, die individuelle Strafbarkeit einer Person zu begründen. Bei der Nennung der individuellen Verbrechenstatbestände im Statut wurde häufig auf eine Definition verzichtet, da auch die bisherigen Instrumente zur Bekämpfung der Kriegsverbrechen, namentlich die Satzung des internationalen Militärtribunals, das Kontrollratsgesetz Nr. 10, die Statute der Ad-hocTribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda sowie der Entwurf der Völkerrechtskommission keine Definitionen enthalten. Vielmehr haben diese Abkommen den Wortlaut der einschlägigen Haager und Genfer Abkommen übernommen. Auch das Statut des Gerichtshofs enthält ­ im Gegensatz zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit ­ keinen eigenen Absatz mit Definitionen. Auskunft über den Inhalt dieser Verbrechen können daher die «Verbrechenselemente» geben269 sowie zahlreiche Urteile der verschiedenen internationalen und nationalen Gerichte270. Im Weiteren haben verschiedene Staaten entsprechend ihren völkerrechtlichen Pflichten die Bestimmungen der Genfer Abkommen in nationales Recht umgesetzt. Im Hinblick auf den Beitritt zum Statut des Gerichtshofs werden diese verschiedentlich einem Revisionsprozess unterzogen271.

6.2

Rechtsnatur der Kriegsverbrechen

Wie der Völkermord und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehört auch die Kategorie der Kriegsverbrechen zu den gewohnheitsrechtlich anerkannten völkerstrafrechtlichen Tatbeständen. Dabei ist auch die grosse Mehrheit der völkervertraglich verbotenen Handlungen in bewaffneten Konflikten Teil des Corpus des Völkergewohnheitsrechts. Dies gilt nicht nur für das völkerrechtliche Verbot dieser Delikte, sondern auch für die Auslösung der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Die Genfer Konventionen von 1949 zum Schutz der Kriegsopfer und das erste Zusatzprotokoll von 1977 zum Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte bestimmen ausdrücklich, dass gewisse besonders «schwere» Verletzungen von Vorschriften des humanitären Völkerrechts strafrechtlich zu ahnden sind. Das bedeutet, dass für diese Akte eine obligatorische Pflicht der Staaten zur Anwendung des Universalitätsprinzips besteht. Im Weiteren besteht für die Staaten auch die Pflicht, alle anderen Verletzungen der Genfer Abkommen und des Zusatzprotokolls von 1977 zu unterbinden.

In Bezug auf Verbrechen in internen Konflikten haben ursprünglich vertragliche Regelungen heute ebenfalls den Status von Völkergewohnheitsrecht. Dies gilt primär für den in allen vier Genfer Abkommen identischen Artikel 3, wonach auf dem Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten ein Minimalstandard an menschenwürdiger Behandlung für diejenigen Personen garantiert sein muss, die an den Feindseligkeiten nicht teilnehmen. Der völkergewohnheitsrechtliche Charakter dieser elementaren Bestimmung ist sowohl durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) wie auch durch 269

Vgl. die Formulierung der «Verbrechenselemente» in U.N. Doc.

PCNICC/2000/INF/3/Add.2 (Stand 6. Juli 2000).

270 So beispielsweise jüngst in der Schweiz das Divisionsgericht 2, Rechtssache Fulgence Niyonteze, Urteil vom 30. April 1999 (noch nicht publiziert), insoweit bestätigt durch Urteil des Militärappellationsgerichts 1 vom 26. Mai 2000 (noch nicht rechtskräftig).

271 So ist z.B. in Deutschland nach dem Beitritt die Schaffung eines Völkerstrafgesetzbuches geplant; vgl. Denkschrift der Bundesregierung vom 27. Dez. 1999 über das Gesetz zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (IStGH-Statutgesetz).

521

die internationalen Straftribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda bestätigt worden272. Ihre Verletzung stellt gemäss einer Note der Direktion für Völkerrecht vom 23. März 1998 einen Verstoss gegen zwingendes Völkerrecht (ius cogens) dar273.

Den Status von Völkergewohnheitsrecht besitzen im Weiteren die Bestimmungen der Haager Kulturschutz-Konvention von 1954, welche die Respektierung von Kulturgut betreffen, sowie die Kernbestimmungen des Zusatzprotokolls II (ZP II) zu den Genfer Abkommen.

6.3 6.3.1

Der Tatbestand der Kriegsverbrechen nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs Anwendungsbereich

Der Titel von Artikel 8 des Statuts («Kriegsverbrechen») ist in zweifacher Hinsicht ungenau. Erstens geht aus dem Statut selbst hervor, dass auch Verbrechen ausserhalb eigentlicher (erklärter) Kriegssituationen erfasst werden. Massstab ist vielmehr der bewaffnete Konflikt mit internationalem oder internem Charakter (vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b, c und e). Zweitens erstreckt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs in Bezug auf die schweren Verletzungen der vier Genfer Abkommen (Art. 8 Abs. 2 Bst. a) auch auf Situationen vollständig oder teilweise besetzter Gebiete, selbst wenn diese Besetzung auf keinen (bewaffneten) Widerstand stösst274. Ab welchem Zeitpunkt Feindseligkeiten als bewaffneter Konflikt qualifiziert werden können und so die Zuständigkeit des Gerichtshofs begründen, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab.

Nach Auffassung des internationalen Straftribunals für Ex-Jugoslawien liegt ein bewaffneter Konflikt prinzipiell dann vor, wenn sich Staaten untereinander bewaffneter Gewalt bedienen oder wenn fortgesetzte bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Regierungseinheiten und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen innerhalb eines Staates entstehen. Wird das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts festgestellt, so ist ­ anders als bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit ­ keine spezielle besondere Intensität der Deliktsbegehung notwendig. Gemäss Artikel 8 Absatz 1 hat der Gerichtshof «Gerichtsbarkeit in Bezug auf Kriegsverbrechen, insbesondere wenn diese als Teil eines Planes oder einer Politik oder als Teil der Begehung solcher Verbrechen in grossem Umfang verübt werden». Doch wurde im Gegensatz zum Entwurf der Völkerrechtskommission von 1996 im Statut des Gerichtshofs darauf verzichtet, einen Plan, eine Politik oder einen grossen Umfang der Verbrechen als obligatorische Schwelle vorauszusetzen. Dieser Hinweis besitzt daher primär demonstrativen Charakter, d.h.

dass der Gerichtshof grundsätzlich auch dann Zuständigkeit besitzt, wenn nur ein einzelnes Kriegsverbrechen begangen worden ist. Es ist bei einem isolierten Vorkommen eines Kriegsverbrechens aber eher unwahrscheinlich, dass der Gerichtshof das Verfahren übernimmt. Es ist davon auszugehen, dass in einem solchen Fall der zuständige Staat das Verfahren gegen den Täter in gehöriger Weise durchführen 272

Vgl. IGH, Nicaragua Case (Military and Paramilitary Activities) , Urteil vom 27. Juni 1986 (merits), ICJ Reports 1986, § 218; ICTY, Appeals Chamber, Prosecutor v. Tadic, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-AR72, Entscheidung vom 2. Okt. 1995, §§ 117 ff.; ICTR, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu , ICTR-96-4-T, Urteil vom 2. Sept. 1998, §§ 606 ff.

273 Abgedruckt in SZIER 1999, S. 708 ff.

274 Vgl. den allen vier Genfer Abkommen gemeinsamen Art. 2.

522

kann oder der in Artikel 17 Absatz 1 Buchstabe d aufgeführte Unzulässigkeitsgrund greift, dass die Sache nicht schwerwiegend genug ist, um weitere Massnahmen des Gerichtshofs zu rechtfertigen.

6.3.2

Abgrenzung zu andern Verbrechenstatbeständen des Statuts

Das Verhältnis der Kriegsverbrechen zu den Tatbeständen des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist im Einzelfall abzuklären. Werden ein Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im bewaffneten Konflikt an einer von den Genfer Abkommen geschützten Personengruppe begangen, so stellen diese Handlungen auch Kriegsverbrechen im Sinne dieser Abkommen dar (z.B.

Massaker an der Zivilbevölkerung oder an Kriegsgefangenen). Der Anwendungsbereich des Völkermordes und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht jedoch über die Genfer Abkommen hinaus, deren Anwendbarkeit sich im Wesentlichen auf bewaffnete Konflikte beschränkt. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind auch strafbar, wenn sie in Friedenszeiten begangen werden.

Hingegen können Kriegsverbrechen wie auch Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von allen Personen, das heisst nicht nur von Militärangehörigen, sondern auch von zivilen staatlichen Repräsentanten oder von Personen ohne Bezug zur Staatsgewalt begangen werden. Schon aus den Gerichtsverfahren nach dem Zweiten Weltkrieg geht hervor, dass auch Regierungsmitglieder, Verwaltungsbeamte, Fabrikbesitzer und Geschäftsleute, Richter und Staatsanwälte, Ärzte und Krankenschwestern u.a. für Kriegsverbrechen verantwortlich werden können.

Massgebend ist in all diesen Fällen, dass zwischen dem eingeklagten Delikt und dem bewaffneten Konflikt ein offensichtlicher Zusammenhang («Nexus») besteht, das heisst, dass die Handlungen des Täters im Kontext und in Verbindung mit einem bewaffneten Konflikt gestanden haben275. Dabei wird jedoch nicht vorausgesetzt, dass zeitgleich Kampfhandlungen in der näheren Umgebung des Täters stattgefunden haben; vielmehr genügt es, dass die vorgeworfenen Handlungen in Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt standen276.

6.3.3

Verbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt

Ein internationaler bewaffneter Konflikt liegt immer dann vor, wenn zwei oder mehrere Staaten daran beteiligt sind. Hat ein Konflikt zuerst einen internen Charakter, so kann er später zu einem internationalen Konflikt werden, wenn ein anderer Staat mit seinen Truppen interveniert oder aber eine der Bürgerkriegsparteien faktisch als Vertreter eines andern Staates angesehen werden muss. So hat z.B. die Appellationsinstanz des UNO-Kriegsverbrechertribunals im Fall Tadic entschieden, dass die Truppenverbände der bosnischen Serben in einem Mass durch die Bundesrepublik Jugoslawien kontrolliert worden waren, dass die von ihren Mitgliedern begangenen

275

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-T, Urteil vom 7. Mai 1997, § 572.

276 Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Zejnil Delalic, Zdravko Mucic, Hazim Delic and Esad Landzo, IT-96-21-T, Urteil vom 16. Nov. 1998, §§ 193 f.

523

Kriegsverbrechen der Bundesrepublik Jugoslawien zuzurechnen waren277. Dasselbe gilt gemäss dem Urteil Blaskic auch für die Zurechnung der Handlungen der Truppen der bosnischen Kroaten an Kroatien 278.

Für den Gerichtshof hat die Frage des Vorliegens eines internationalen oder nationalen bewaffneten Konflikts auf den ersten Blick weniger einschneidende Konsequenzen als für das UNO-Kriegsverbrechertribunal. Seine Zuständigkeit ist bereits auf Grund des Statuts für eine grössere Anzahl von Verbrechen gegeben, die in einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt begangen werden. Da jedoch das Statut eine beträchtliche Anzahl von Verbrechen, die im internationalen Konflikt verboten sind, in internen Konflikten nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs legt, ist diese Abgrenzung auch für den Gerichtshof von Bedeutung. Dies gilt insbesondere für gewisse Methoden verbotener Kriegführung (z.B. Aushungern der eigenen Zivilbevölkerung) oder den Einsatz von verbotenen Waffen (z.B. Giftgasattakken wie 1988 gegen kurdische Minderheiten im Irak279).

6.3.3.1 6.3.3.1.1

Schwere Verletzungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949 (Art. 8 Abs. 2 Bst. a) Anwendungsbereich

Wie bereits oben erwähnt, kann der Gerichtshof schwere Verletzungen der vier Genfer Abkommen nur im internationalen bewaffneten Konflikt oder in besetzten Gebieten beurteilen (gemeinsamer Art. 2 der vier Genfer Abkommen). Im Weiteren setzen die Genfer Abkommen voraus, dass die Opfer den Status von «geschützten Personen» besitzen. Der Kreis der geschützten Personen ist je nach Abkommen unterschiedlich. So werden nach dem I. Genfer Abkommen in erster Linie verwundete und kranke Militärangehörige sowie das Sanitäts- und Seelsorgepersonal geschützt, das II. Genfer Abkommen ergänzt diese Kategorien um schiffbrüchige Mitglieder der Streitkräfte, das III. Genfer Abkommen schützt Kriegsgefangene und diesen gleichgestellte Personen und das IV. Genfer Abkommen schützt Zivilpersonen in der Gewalt der Gegenpartei, deren Nationalität sie nicht besitzen, sowie staatenlose Personen. Allerdings ist gerade der Schutz von Zivilisten durch die Rechtsprechung ausgedehnt worden. So hat das UNO-Straftribunal für Ex-Jugoslawien entschieden, dass Verbrechen an Zivilisten auch dann als schwere Verletzungen des IV. Genfer Abkommens strafbar sind, wenn sie von Personen gleicher Nationalität begangen werden. Dies gelte insbesondere für Flüchtlinge in besetzten Gebieten, da diesen den Schutz ihres Heimatstaates nicht mehr zuteil wird. Massgebend seien weniger die formalrechtlichen Beziehungen einer Person zu einem Staat als vielmehr die Tatsache des fehlenden Schutzes durch diesen. Gerade in modernen inter-ethnischen Konflikten würden während eines Krieges neue Staaten gegründet und die Loyalität gründe weniger auf Nationalität denn auf Ethnizität. Das Kriterium des Schutzes einer Zivilperson auf Grund ihrer (von jener des Täters verschiedenen) Staatsangehörigkeit sei daher nicht mehr angemessen und entspreche auch nicht dem Sinn und Zweck der IV. Genfer Konvention. Entscheidend sei vielmehr, dass eine Zivilperson 277

ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-A, Urteil vom 15. Juli 1999, §§ 68-171.

278 ICTY, Trial Chamber I, The Prosecutor v. Tihomir Blaskic , IT-95-14-T, Urteil vom 3. März 2000, §§ 95 ff.

279 Vgl. Resolution 688 des UNO-Sicherheitsrates vom 5. April 1991.

524

den Schutz der IV. Genfer Konvention immer dann geniessen soll, wenn sie sich in den Händen einer Konfliktpartei besitzt, durch die sie keinen Schutz erhalte 280.

6.3.3.1.2

Die strafbaren Handlungen

Die einzelnen Genfer Abkommen enthalten in den Bestimmungen über die so genannten «schweren Verletzungen» keine einheitlichen Listen der verbotenen Handlungen. Massgebend für die Strafbarkeit und die entsprechende Zuständigkeit des Gerichtshofs sind daher jeweils nur die in den einschlägigen Bestimmungen281 aufgeführten schweren Verletzungen gegen die jeweils geschützten Personenkategorien282.

Als schwere Verletzung ist nach allen vier Genfer Abkommen die vorsätzliche Tötung (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. i) strafbar. Dies gilt auch für die Folter oder unmenschliche Behandlung einschliesslich biologischer Versuche (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. ii). Unter unmenschlicher Behandlung wird grundsätzlich die Verursachung grosser Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit verstanden. Das Kriegsverbrechen der Folter setzt analog der Folterkonvention von 1984 voraus, dass dem Opfer grosse körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden mit einem bestimmten Zweck zugefügt worden sind.

Das Kriegsverbrechen der unmenschlichen Behandlung ist bezüglich der Tathandlung mit der Folter identisch, setzt jedoch keinen bestimmten Zweck der Begehung voraus. Biologische Versuche sind nicht per se strafbar, sondern nur, wenn sie nicht therapeutischer Art sind und weder medizinisch gerechtfertigt sind noch im Interesse des Betroffenen liegen. Zu denken ist hier an die unzähligen pseudowissenschaftlichen Experimente der Nationalsozialisten an Lagerinsassen. Das Kriegsverbrechen der Verursachung grosser Leiden oder schwerer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. iii), welches ebenfalls nach allen vier Genfer Abkommen strafbar ist, stimmt im Rahmen der ersten Tatvariante mit dem Verbrechen der unmenschlichen Behandlung weitgehend überein, erklärt jedoch im Rahmen der zweiten Tatvariante auch die schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit für tatbestandsmässig.

Die Zerstörung und Aneignung von Gut sind als Kriegsverbrechen im Rahmen der Genfer Abkommen I, II und IV dann strafbar, wenn ihr Ausmass durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigt ist und sie rechtswidrig und willkürlich vorgenommen werden (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. iv). Es ist jedoch zu beachten, dass militärische
Erfordernisse keine Handlungen umfassen können, die gegen das Recht des bewaffneten Konflikts verstossen. So sind beispielsweise medizinische Einrichtungen, Sanitätstransporte, Eigentum von Hilfsgesellschaften u.a. in jedem Fall vor Angriffen geschützt.

Die Nötigung einer geschützten Person zur Dienstleistung in den Streitkräften einer feindlichen Macht (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. v) umfasst insbesondere die Nötigung von Kriegsgefangenen zur Teilnahme an militärischen Handlungen gegen ihren 280

ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic, IT-94-1-A, Urteil vom 15. Juli 1999, §§ 164 ff.; bestätigt in ICTY, Trial Chamber I, The Prosecutor v.

Tihomir Blaskic, IT-95-14-T, Urteil vom 3. März 2000, §§ 125 ff.

281 Art. 50 GA I; Art. 51 GA II; Art. 130 GA III; Art. 147 GA IV.

282 Art. 13 und 24-27 GA I; Art. 12-13 und 36-37 GA II; Art. 4 und 33 GA III, Art. 4 und 13 GA IV.

525

Heimatstaat, aber auch andere Handlungen, sofern sie dem Kommando der Streitkräfte unterstellt sind oder den Streitkräften zugute kommen (z.B. die Verpflichtung der ausländischen Zivilbevölkerung zur Zwangsarbeit in den gegnerischen Streitkräften oder zur Zwangsarbeit für militärische Zwecke des Gegners)283. Allerdings ist die Anhaltung zu gewissen Arbeitsleistungen erlaubt, wenn diese aus den in den Genfer Abkommen genannten Gründen erfolgen284. Der vorsätzliche Entzug des Rechts einer geschützten Person auf ein unparteiisches und ordentliches Gerichtsverfahren (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. vi), so wie es hauptsächlich in den Genfer Abkommen III und IV vorgesehen ist, ist dann strafbar, wenn der Täter mit Wissen und Willen dem Betroffenen dessen Rechte entziehen will, obwohl er weiss, dass sie diesem zustehen. Dadurch wird ausgeschlossen, dass gewöhnliche Rechtsfehler, wie sie in jedem Verfahren vorkommen können, den Tatbestand eines Kriegsverbrechens erfüllen. Die in den Genfer Abkommen III und IV statuierten Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Vertreibung, Überführung oder Gefangenhaltung (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. vii) entsprechen weitgehend den Tatbeständen im Rahmen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 Abs. 1 Bst. d und e). Allerdings können diese Handlungen hier in grösserem Umfang durch die Notwendigkeiten des bewaffneten Konflikts gerechtfertigt sein285. Die Geiselnahme (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. viii), welche nur im IV. Genfer Abkommen ausdrücklich verboten wird, kann in Anlehnung an das Internationale Übereinkommen vom 17. Dezember 1979 gegen Geiselnahme286 definiert werden. Strafbar macht sich, wer eine geschützte Person in seine Gewalt bringt oder in seiner Gewalt hält und mit dem Tod, mit Körperverletzung oder mit der Fortdauer der Freiheitsentziehung für diese Person droht, um einen Staat, eine internationale zwischenstaatliche Organisation, eine natürliche oder juristische Person oder eine Gruppe von Personen zu einem Tun oder Unterlassen als ausdrückliche oder stillschweigende Voraussetzung für die Sicherheit oder die Freigabe der Geisel zu nötigen.

6.3.3.2

6.3.3.2.1

Andere schwere Verstösse gegen die völkerrechtlich anerkannten Gesetze und Gebräuche im internationalen bewaffneten Konflikt (Art. 8 Abs. 2 Bst. b) Anwendungsbereich

Die in diesem Absatz genannten Verbrechen gegen die Gesetze und Gebräuche des bewaffneten Konflikts sind wie die schweren Verletzungen der Genfer Abkommen bereits im Rahmen des geltenden Völkergewohnheits- und des Völkervertragsrechts verboten. Dazu gehören insbesondere die Verletzungen der diversen Haager Ab283

Vgl. Dieter Fleck (Hrsg.), Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, München 1994, S. 427.

Vgl. für Kriegsgefangene Art. 49­57 GA III, für Zivilisten Art. 40 und Art. 51­52 GA IV.

Gemäss Art. 21 ff. GA III dürfen Soldaten ausdrücklich interniert werden. Gemäss Art. 41 ff. GA IV gehören Zwangsaufenthalte und Internierungen von Zivilisten zu den strengsten Kontrollmassnahmen, die ein Staat anwenden darf, und sind nur zulässig, wenn es die Sicherheit des betreffenden Staates unbedingt erfordert; vgl. auch Art. 78 GA IV sowie zu den Bedingungen der Internierungen Art. 79­104 GA IV. Gemäss Art. 45 GA IV sind Repatriierungen von Zivilisten unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, und nach Art. 49 GA IV sind auch zwangsweise Verlegungen der Zivilbevölkerung aus Gründen ihrer Sicherheit oder zwingenden militärischen Gründen gestattet.

286 SR 0.351.4, für die Schweiz in Kraft getreten am 4. April 1985.

284 285

526

kommen sowie die schweren Verletzungen des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen, aber auch neuere Konventionen im Bereich der Methoden der Kriegführung und des Einsatzes unzulässiger Waffen287. Diese Abkommen wurden von der Schweiz alle ratifiziert. Berücksichtigt wurden im Statut jedoch nur die schweren Verstösse gegen diese Abkommen, da sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die Beurteilung der schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, beschränkt (vgl. Art. 5 des Statuts).

Im Unterschied zu den Genfer Abkommen können die in Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b genannten Kriegsverbrechen nicht nur an Zivilisten und Personen begangen werden, die nicht mehr an den Feindseligkeiten teilnehmen. Vielmehr schützen sie auch Kombattante, sofern die einzelnen Delikte nicht ausdrücklich auf andere Personengruppen beschränkt sind.

6.3.3.2.2

Die strafbaren Handlungen

Die Verbrechen, die in Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b genannt werden, können thematisch in vier Kategorien aufgeteilt werden:

6.3.3.2.2.1

Verstösse gegen humanitäres Recht mit besonderer menschenrechtlicher Ausrichtung

In der Kategorie der Verstösse gegen humanitäres Recht werden die in Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffern viii, x, xiii, xvi, xxi, xxii und xxvi umschriebenen Tatbestände behandelt.

Der Tatbestand der verbotenen Bevölkerungsüberführung und -deportation (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. viii) umfasst mehrere Varianten, die sich weitgehend an Artikel 85 Ziffer 4 Buchstabe a ZP I orientieren: zum einen das Kriegsverbrechen der Überführung eines Teils der eigenen Bevölkerung der Besatzungsmacht in ein von ihr besetztes Gebiet, zum andern das Kriegsverbrechen der Vertreibung oder Überführung (Deportation) der Gesamtheit oder eines Teils der Bevölkerung des besetzten Gebiets innerhalb desselben oder aus diesem Gebiet. Zudem können beide Tatvarianten nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar begangen werden288. Die mittelbare Tatbegehung zielt primär darauf ab, dass das Verbrechen auch begangen werden kann, wenn die Besatzungsmacht indirekt für den Transfer verantwortlich ist, ohne ihn selbst durchzuführen (z.B. durch Veranlassung oder Erleichterung der Einwanderung der eigenen Bevölkerung in das besetzte Gebiet)289.

Das Kriegsverbrechen der Verstümmelung oder der medizinischen oder wissenschaftlichen Versuche (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. x) basiert weitgehend auf Artikel 11 ZP I. Strafbar macht sich, wer eine Person, die sich in der Gewalt einer gegnerischen Partei befindet, körperlich verstümmelt, indem er beispielsweise ihr Aussehen dauerhaft entstellt oder ein Organ oder Glied dauerhaft unbrauchbar macht oder entfernt. Ebenfalls strafbar sind Versuche medizinischer oder wissenschaftlicher Art an 287 288

Vgl. oben Ziff. 6.1.

Nach dem Verständnis der an der Ausarbeitung des Statuts beteiligten Staaten handelt es sich um eine authentische Interpretation des geltenden Völkergewohnheitsrechts und nicht um eine Erweiterung.

289 Vgl. IKRK-Kommentar zu Art. 85 Ziff. 4 Bst. a ZP I.

527

einer Person, die weder medizinischen Standards entsprechen noch in deren Interesse durchgeführt werden und die zum Tod dieser Person führen oder deren Gesundheit oder körperliche Integrität ernsthaft gefährden. So ist beispielsweise auch strafbar, wer eine unnötige Operation durchführt, die das Opfer dauerhaft entstellt, jedoch dessen Gesundheit nicht beschlägt.

Mit Bezug auf das Kriegsverbrechen der Zerstörung oder Beschlagnahme feindlichen Guts (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xiii) enthält das humanitäre Völkerrecht differenzierte Regeln, welche Arten von feindlichem Gut unter welchen Umständen zerstört oder beschlagnahmt werden dürfen. Dieses Verbot geht ursprünglich auf Artikel 23 Buchstabe g des Reglements des Haager Abkommens betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs von 1907 zurück; die in dieser Bestimmung genannten Handlungen sind aber unter anderem auch nach den Genfer Abkommen von 1949 sowie Artikel 54 des ZP I verboten. Nach dem Wortlaut des Statuts ist die Zerstörung oder Beschlagnahme feindlichen Guts grundsätzlich dann völkerrechtswidrig, wenn sie nicht einer militärischen Notwendigkeit entspricht. Es ist jedoch zu beachten, dass die militärische Notwendigkeit keine Handlungen umfassen kann, die gegen das Recht des bewaffneten Konflikts verstösst. So ist es beispielsweise in jedem Fall verboten, Kulturgut zu zerstören oder zu beschlagnahmen.

Das Kriegsverbrechen der Plünderung (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xvi), geht auf Artikel 28 des Reglements des Haager Abkommens IV von 1907 zurück. Auch die Genfer Abkommen schützen in verschiedenen Bestimmungen privates oder öffentliches Eigentum. Strafbar sind nicht nur individuelle Plünderungsaktionen einzelner Soldaten, sondern auch die Beschlagnahme von Eigentum im Rahmen einer systematischen ökonomischen Ausbeutung besetzten Gebietes290.

Das Verbrechen des Verstosses gegen die Menschenwürde, insbesondere eine entwürdigende oder erniedrigende Behandlung (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxi), entspricht dem Wortlaut des gemeinsamen Artikels 3 der vier Genfer Abkommen und Artikel 75 Ziffer 2 Buchstabe b ZP I. Bei der Beurteilung, ob eine Verletzung vorliegt, ist ein objektiv-personalisierter Massstab anzuwenden. Das Opfer muss sich zwar seiner entwürdigenden oder erniedrigenden Behandlung nicht bewusst gewesen sein, jedoch kann auf der
anderen Seite auch nicht jede kleinste Empfindlichkeit einer Person berücksichtigt werden291. Unter anderem ist dabei auch der kulturelle Hintergrund des Opfers zu berücksichtigen. Die Grenze der Strafbarkeit kann letztlich nicht abschliessend definiert werden292. Auf jeden Fall ist die Menschenwürde dann verletzt, wenn einer Person ihre Qualität als Mensch schlechthin abgesprochen wird293.

Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer xxii umfasst verschiedene Sexualdelikte: neben der Vergewaltigung die sexuelle Sklaverei, die Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaften, Zwangssterilisationen sowie jede andere Form der 290

Vgl. ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Zejnil Delalic, Zdravko Mucic, Hazim Delic and Esad Landzo, IT-96-21-T, Urteil vom 16. Nov. 1998, §§ 587 ff.

Der Begriff der Menschenwürde ist im Weiteren auch im Licht von Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention auszulegen.

292 Vgl. Günther Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht ­ Besonderer Teil II , 4. Auflage, Bern 1995, S. 171.

293 Botschaft vom 2. März 1992 über den Beitritt der Schweiz zum Internationalen Übereinkommen von 1965 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und über die entsprechende Strafrechtsrevision, BBl 1992 III 314.

291

528

sexuellen Gewalt. Auf Grund der weit gehenden Identität dieser Tatbestände mit jenen im Rahmen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann auf die dort gemachten Ausführungen verwiesen werden294. Einzig der letzte Tatbestand der Ziffer xxii, jener der sexuellen Gewalt, weicht vom Auffangtatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit insofern ab, als er als Massstab der vergleichbaren Schwere nicht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern eine schwere Verletzung der Genfer Abkommen angibt. Diese Bestimmung ist so zu interpretieren, dass sexueller Gewalt die Bedeutung eines schweren Kriegsverbrechens zukommt. Das heisst, dass andere Formen der sexuellen Gewalt nicht gleichzeitig auch eine schwere Verletzung der Genfer Abkommen voraussetzen.

Schliesslich macht sich eines Kriegsverbrechens strafbar, wer Kinder unter 15 Jahren für die nationalen Streitkräfte zwangsverpflichtet oder in diese eingliedert oder zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten verwendet (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxvi). Dieses Kriegsverbrechen hat seine Grundlage in Artikel 77 Ziffer 2 ZP I295. Der Täter ist auch strafbar, wenn ihm das Alter des Kindes gleichgültig war, wenn er also in Kauf nahm, dass die rekrutierten Kinder noch nicht 15 Jahre alt waren.

6.3.3.2.2.2

Verstösse gegen einzelne Bestimmungen des Haager Landkriegabkommens von 1907

In der Kategorie der Verstösse gegen einzelne Bestimmungen des Reglements des Haager Abkommens IV von 1907296 werden die in Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffern vi, vii, xi, xii, xiv und xv umschriebenen Tatbestände behandelt.

Das Statut stützt sich bei der Formulierung des Kriegsverbrechens der Tötung oder Verwundung eines die Waffen streckenden oder wehrlosen Kombattanten, der sich auf Gnade oder Ungnade ergeben hat (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. vi), auf Artikel 23 Buchstabe c des Reglements des Haager Abkommens IV. In Anlehnung an Artikel 41 ZP I ist zu präzisieren, dass alle Personen geschützt werden, die sich ausser Gefecht («hors de combat») befinden, somit auch Kriegsgefangene oder Kombattante, die sich ergeben haben. In diesen Fällen ist die ansonsten im bewaffneten Konflikt zulässige Tötung oder Verwundung des Gegners nicht mehr gerechtfertigt, da das Opfer entweder unfähig oder unwillens ist, an den Feindseligkeiten weiterhin teilzunehmen. Gemäss Artikel 85 Ziffer 3 Buchstabe e ZP I handelt es sich bei diesem Verbrechen um eine schwere Verletzung dieses Protokolls.

Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer vii erfasst in einer Bestimmung vier verschiedene Sachverhalte: den Missbrauch der Parlamentärflagge (1)297, den Missbrauch der Flagge, der militärischen Abzeichen oder der Uniform des Feindes (2) oder der Vereinten Nationen (3) sowie der Missbrauch der Schutzzeichen der Genfer Abkommen (4). In all diesen Fällen ist die Absicht des Täters dieselbe, nämlich das Vertrauen des Feindes zu missbrauchen. Der Gebrauch ist dann rechtswidrig, wenn er den Regeln widerspricht, welche den Gebrauch dieser Schutzzeichen, Flaggen 294 295 296

Vgl. oben Ziff. 5.3.2.7.

Vgl. auch Art. 38 Abs. 2 und 3 der UNO-Kinderrechtskonvention, SR. 0.107.

Abkommen und Reglement betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Okt. 1907, SR 0.515.112, in Kraft getreten für die Schweiz am 11. Juli 1910.

297 Der Gebrauch der weissen Flagge zeigt den Willen an, entweder zu verhandeln oder sich zu ergeben.

529

und Uniformen bestimmen. Zusätzlich statuiert das Statut ein Erfolgserfordernis: der Missbrauch muss zum Tod oder zu einer schweren Körperverletzung geführt haben.

Dessen ungeachtet ist jedoch zu betonen, dass jede rechtswidrige Verwendung dieser Schutzzeichen, Flaggen und Uniformen an sich ­ unabhängig von den Folgen ­ bereits eine Verletzung des humanitären Völkerrechts darstellt. Das Kriegsverbrechen der meuchlerischen Tötung oder Verwundung (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xi) stammt aus Artikel 23 Buchstabe b des Reglements des Haager Abkommens IV und ist in seiner Formulierung veraltet. Vielmehr ist der Begriff «meuchlerisch» in diesem Zusammenhang als Synonym des moderneren Begriffs der «Heimtücke» (auch «Perfidie») zu verstehen, wie er in Artikel 37 ZP I umschrieben wird. Danach gelten als Heimtücke Handlungen, durch die ein Gegner in der Absicht, sein Vertrauen zu missbrauchen, verleitet wird, darauf zu vertrauen, dass er nach den Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Völkerrechts Anspruch auf Schutz hat oder verpflichtet ist, Schutz zu gewähren298. Dadurch nicht verboten werden so genannte «Kriegslisten», die einen Gegner irreführen oder ihn zu unvorsichtigem Handeln veranlassen sollen, die aber keine Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Völkerrechts verletzen und nicht heimtückisch sind, weil sie den Gegner nicht verleiten sollen, auf den sich aus diesem Recht ergebenden Schutz zu vertrauen 299.

Die Elemente des Kriegsverbrechens der Verweigerung des Pardons (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xii) bestimmen sich weitgehend nach Artikel 23 Buchstabe d des Reglements des Haager Abkommens IV sowie nach Artikel 40 ZP I. Gemäss diesen Bestimmungen ist es verboten, den Befehl zu erteilen, niemanden am Leben zu lassen, dies dem Gegner anzudrohen oder die Feindseligkeiten in diesem Sinne zu führen.

Gemäss Artikel 8 Absatz. 2 Buchstabe b Ziffer xiv des Statuts, welcher auf Artikel 23 Buchstabe h des Reglements des Haager Abkommens IV zurückgeht, macht sich des Delikts des Entzugs von Rechten und Forderungen von Angehörigen der Gegenpartei strafbar, wer im Kontext eines bewaffneten Konflikts durch einen legislativen oder administrativen Akt die Rechte der Staatsangehörigen einer Gegenpartei aufhebt oder suspendiert oder die gerichtliche Durchsetzbarkeit dieser Rechte verunmöglicht.
Das Verbrechen des Zwangs gegen Angehörige der Gegenpartei zur Teilnahme an Kriegshandlungen gegen ihr eigenes Land, selbst wenn sie bereits vor Ausbruch des Krieges im Dienst des Kriegführenden standen (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xv), entspricht der Formulierung von Artikel 23 letzter Absatz des Reglements des Haager Abkommens IV. Da dieses Verbrechen ähnlich lautet wie die entsprechende schwere Verletzung der Genfer Abkommen (Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. v), kann hier auf die dort gemachten Ausführungen verwiesen werden.

298

Als Beispiele für verbotene Heimtücke nennt Art. 37 Ziff. 1 ZP I folgende Handlungen: das Vortäuschen der Absicht, unter einer Parlamentärflagge zu verhandeln oder sich zu ergeben; das Vortäuschen von Kampfunfähigkeit infolge Verwundung oder Krankheit; das Vortäuschen eines zivilen oder Nichtkombattantenstatus; das Vortäuschen eines geschützten Status durch Benutzung von Abzeichen, Emblemen oder Uniformen der Vereinten Nationen oder neutraler oder nicht am Konflikt beteiligter Staaten.

299 Als Beispiele für zulässige Kriegslisten nennt Art. 37 Ziff. 2 ZP I folgende Handlungen: Tarnung, Scheinstellungen, Scheinoperationen und irreführende Informationen.

530

6.3.3.2.2.3

Verbotene Methoden der Kriegführung

In der Kategorie der verbotenen Methoden der Kriegführung werden die in Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffern i, ii, iii, iv, v, ix, xxiii, xxiv und xxv umschriebenen Tatbestände behandelt.

Das Kriegsverbrechen des Angriffs auf die Zivilbevölkerung als solche oder auf einzelne Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnehmen (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. i), hat seinen vertraglichen Ursprung in Artikel 51 Ziffer 2 ZP I.

Gemäss Artikel 50 ZP I werden als Zivilisten all jene Personen definiert, welche nicht Mitglieder der Streitkräfte sind. Zur Zivilbevölkerung gehören alle Zivilpersonen, wobei die Anwesenheit von einzelnen Mitgliedern der Streitkräfte eine Gruppe nicht ihres zivilen Charakters beraubt. Gemäss Artikel 49 Ziffer 1 ZP I bedeutet «Angriff» sowohl eine offensive als auch eine defensive Gewaltanwendung gegen den Gegner. Nach Artikel 85 Ziffer 3 Buchstabe a ZP I handelt es sich um eine schwere Verletzung dieses Protokolls. Allerdings setzt das Statut entgegen dem ZP I nicht voraus, dass der Angriff ein spezifisches Resultat zur Folge hat, namentlich den Tod oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit. Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i ist somit kein Erfolgs-, sondern ein Gefährdungsdelikt. Der gegen Mitglieder der Zivilbevölkerung ausgeführte, aber fehlgeschlagene Angriff stellt somit nicht lediglich einen Versuch dar, sondern ein vollendetes Kriegsverbrechen. Ein Angriff gegen die Zivilbevölkerung kann auch nicht durch die Berufung auf Repressalien gerechtfertigt werden. Solche sind kraft Völkergewohnheitsrecht gegen Zivilisten immer unzulässig300 und werden auch durch Artikel 51 Ziffer 6 ZP I verboten. Als Kriegsverbrechen verboten sind ebenfalls Angriffe auf zivile Objekte, das heisst auf Objekte, die nicht militärische Ziele sind (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. ii). Dies gilt gemäss Artikel 52 Ziffer 1 ZP I auch für Repressalien gegen zivile Objekte. Im Zweifelsfall stellt Artikel 52 Ziffer 3 ZP I die Vermutung auf, dass es sich nicht um ein militärisches Ziel handelt. Angriffe auf Personal, Einrichtungen, Material, Einheiten oder Fahrzeuge, die an einer humanitären Hilfsmission oder friedenserhaltenden Mission in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen beteiligt sind, gelten ebenfalls als Kriegsverbrechen,
solange diese Personen und Objekte Anspruch auf den Schutz haben, der Zivilpersonen oder zivilen Objekten nach dem internationalen Recht des bewaffneten Konflikts gewährt wird (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. iii). Dadurch werden vom Schutzbereich dieser Norm jene UNO-Missionen ausgenommen, die nicht mehr der Erhaltung, sondern der Durchsetzung des Friedens dienen. Da diese zur Durchsetzung ihres Mandats auch Waffengewalt anwenden dürfen, erhalten diese Einheiten Kombattantenstatus. Diese Unterscheidung entspricht auch Artikel 2 Absatz 2 der Konvention vom 9. Dezember 1994 über die Sicherheit von Personal der Vereinten Nationen und beigeordnetem Personal, die am 15. Januar 1999 in Kraft getreten, von der Schweiz allerdings nicht unterzeichnet worden ist.

Eines der Kriegsverbrechen, dessen Nachweis zu den besonders anspruchsvollen Aufgaben des Anklägers und des Gerichtshofs gehört, ist der Angriff auf militärische Ziele in der Kenntnis, dass der Angriff auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder weit300

Vgl. ICTY, Trial Chamber, The Prosecutor v. Milan Martic , Review of Indictment Pursuant to Rule 61, IT-95-11-R61, Entscheidung vom 8. März 1996, §§. 10 ff.; ICTY, Trial Chamber II, The Prosecutor v. Kupreskic et al ., IT-95-16, Urteil vom 14. Jan. 2000, § 515 und §§ 527 ff.

531

reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. iv). Bisherige vertragliche Grundlagen bilden Artikel 35 Ziffer 3, Artikel 51 Ziffern 4 und 5, Artikel 55 Ziffer 1 sowie Artikel 85 Ziffer 3 Buchstabe b ZP I, welcher dieses Verbrechen als schwere Verletzung qualifiziert.

Das Kriegsverbrechen des Angriffs oder die Beschiessung unverteidigter Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, welche keine militärischen Ziele darstellen (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. v), beruht auf Artikel 25 des Reglements des Haager Abkommens IV von 1907. Zu seiner Auslegung kann gleichzeitig auch Artikel 59 ZP I herangezogen werden. Entscheidend ist für die Strafbarkeit, dass die betroffene Örtlichkeit zur Besetzung offen stand und es sich dabei nicht um ein militärisches Ziel gehandelt hat301. Der Angriff auf Gebäude, die dem Gottesdienst, der Erziehung, der Kunst, der Wissenschaft oder der Wohltätigkeit gewidmet sind, auf geschichtliche Denkmäler, Krankenhäuser und Sammelplätze für Kranke und Verwundete ist als Kriegsverbrechen dann strafbar, wenn es sich nicht um militärische Ziele handelt (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. ix). Seinen Ursprung besitzt dieses Verbrechen in den Artikeln 27 und 56 des Reglements des Haager Abkommens IV von 1907. Objekte, welche der Kultur oder der Religion gewidmet sind, stehen zudem unter dem Schutz der Artikel 53 und 85 Ziffer 4 Buchstabe d ZP I sowie der Haager KulturschutzKonvention von 1954. Das Kriegsverbrechen des Angriffs auf Gebäude, Material, Sanitätseinheiten, Sanitätstransportmittel und Personal, welche die Schutzzeichen der Genfer Abkommen tragen (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxiv), betrifft nicht nur die Schutzzeichen der Genfer Konventionen im eigentlichen Sinn (Rotes Kreuz und Roter Halbmond), sondern auch andere Schutzzeichen oder Identifikationsmethoden, die einen Schutz unter den Genfer Konventionen und im ZP I vorsehen302. Die Objekte und Personen, welche zum Tragen dieser Schutzzeichen berechtigt sind, ergeben sich aus diversen Bestimmungen der Genfer Abkommen und ihrer Zusatzprotokolle303. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass gemäss dem humanitären Völkerrecht die Signalisation für den Schutz
dieser Objekte und Personen nicht entscheidend ist. Sobald der Gegner ihren geschützten Charakter erkannt hat (z.B. ein Feldlazarett), geniessen sie auch Schutz vor Angriffen, wenn sie nicht entsprechend gekennzeichnet sind.

Das Kriegsverbrechen der Benutzung der Anwesenheit einer Zivilperson, um Kampfhandlungen von gewissen Punkten, Gebieten oder Streitkräften fernzuhalten (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxiii), betrifft das so genannte Verbot «menschlicher Schutzschilde»304. Der Täter macht sich nicht nur strafbar, wenn er die Anwesenheit von Zivilpersonen oder anderen geschützten Personen ausnutzt, sondern er macht sich auch strafbar, wenn er diese Person zu diesem Zweck eigens an einen anderen Ort verlegt. Erfasst wird durch diesen Tatbestand aber auch die umgekehrte Vorgehensweise, wenn militärische Einheiten oder Ausrüstungsgegenstände absichtlich in die Nähe von Zivilisten oder anderer geschützter Personen gebracht werden (z.B. in die Nähe von Flüchtlingskonvois), damit sie dort vor Angriffen geschützt wären.

301 302

Zur Definition des militärischen Ziels Art. 52 Ziff. 2 ZP I.

Vgl. insbesondere auch den Anhang I des ZP I, geändert am 30. Nov. 1993, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. März 1994 (AS 1994 786).

303 Vgl. Art. 24­27, 36, 39­44 GA I; Art. 42­44 GA II; Art. 18­22 GA IV; Art. 8, 12­13, 15, 18, 23, 24 ZP I.

304 Vgl. bereits Art. 23 GA III, Art. 28 GA IV und Art. 51 Ziff. 7 ZP I.

532

Tatbestandsmässig ist im Weiteren nicht nur die Verwendung eines menschlichen Schutzschildes zum Schutz eines militärischen Ziels vor Angriffen, sondern auch der Missbrauch der Anwesenheit von Zivilpersonen zum Schutz, zur Förderung oder zur Behinderung von Kampfhandlungen. Als verbotene Methode der Kriegführung wird auch die Aushungerung von Zivilpersonen bestraft (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxv). Dabei wird der Begriff des «Aushungerns» vom Statut nicht nur im wörtlichen Sinn verstanden. Vielmehr wird er im Sinne eines Konzepts umschrieben, indem nicht nur die Entziehung von Lebensmitteln, sondern auch das Vorenthalten der für die Bevölkerung lebensnotwendigen Gegenstände (wie beispielsweise Medikamente) erfasst wird. Als Beispiel wird im Statut die Behinderung von Hilfslieferungen, wie sie nach den Genfer Abkommen vorgesehen sind, genannt. Eine nähere Konkretisierung dieses Verbrechens findet sich in Artikel 54 ZP I.

6.3.3.2.2.4

Verbot des Einsatzes bestimmter Waffen

In der Kategorie des Verbots des Einsatzes bestimmter Waffen werden die in Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffern xvii, xviii, xix und xx umschriebenen Tatbestände behandelt.

Das Kriegsverbrechen der Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xvii) geht auf Artikel 23 Buchstabe a des Reglements des Haager Abkommens IV von 1907 zurück. Dieser Tatbestand betrifft entweder Substanzen, deren Anwendung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge durch ihre toxischen Eigenschaften den Tod oder einen schwerwiegenden Gesundheitsschaden verursachen, oder aber Waffen, die als Folge ihres Gebrauchs eine solche Substanz freisetzen.

Das Kriegsverbrechen der völkerrechtswidrigen Verwendung erstickender, giftiger oder gleichartiger Gase, Flüssigkeiten, Stoffe oder Vorrichtungen (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xviii) stützt sich auf das Genfer Gas-Protokoll von 1925305 und das Chemiewaffenübereinkommen von 1993306, geht jedoch nicht so weit wie das letztgenannte Übereinkommen, welches auch die Bestrafung des Entwickelns, Herstellens und Lagerns chemischer Waffen verlangt. Im Weiteren ist für die Auslegung dieses Tatbestandes auch die Konvention über das Verbot von biologischen und giftigen Waffen aus dem Jahre 1972 von Bedeutung307. Keine Einigung konnte bei der Ausarbeitung des Statuts über ein generelles Verbot von Nuklearwaffen erzielt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Einsatz von Nuklearwaffen in keinem Fall den Regeln des humanitären Völkerrechts und der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterworfen ist. So verbietet das humanitäre Völkerrecht beispielsweise Angriffe gegen Zivilpersonen unabhängig davon, welche Arten von Waffen eingesetzt werden.

305

Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege vom 17. Juni 1925, SR 0.515.105, in Kraft getreten für die Schweiz am 12. Juli 1932.

306 Übereinkommen vom 13. Jan. 1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen, SR 0.515.08, in Kraft getreten für die Schweiz am 29. April 1997.

307 Übereinkommen vom 10. April 1972 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen, SR 0.515.07, in Kraft getreten für die Schweiz am 5. Mai 1976.

533

Der Tatbestand der Verwendung verbotener Geschosse (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xix), dessen Wortlaut sich auf die Haager Erklärung von 1899 stützt308, betrifft Geschosse, die sich im menschlichen Körper leicht ausdehnen oder flachdrücken und damit unnötige Leiden verursachen (sog. «Dumdumgeschosse»). Eine Besonderheit bildet das Kriegsverbrechen der Verwendung von Waffen, Geschossen, Stoffen und Methoden der Kriegführung, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen, oder die unter Verstoss gegen das internationale Recht des bewaffneten Konflikts ihrer Natur nach unterschiedslos wirken (Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xx). Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit erst ausüben, wenn diese Waffen, Geschosse, Stoffe und Methoden der Kriegführung Gegenstand eines umfassenden Verbots sind und auf Grund einer Änderung des Statuts in einer Anlage dieses Statuts enthalten sind, wobei diese Anlage jedoch nach den Artikeln 121 und 123 frühestens an der ersten Konferenz zur Überprüfung des Statuts sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts beschlossen werden kann. Durch diese Regelung wollten sich verschiedene Staaten ­ angesichts der im Vergleich mit den vorhandenen internationalen Abkommen eher kurzen Liste des Statuts ­ die Option offen halten, das Verbot anderer und neuer Waffen in das Statut aufzunehmen, welche die Anforderungen dieses Tatbestands erfüllen.

6.3.4 6.3.4.1

Verbrechen im nicht internationalen bewaffneten Konflikt Geltung des humanitären Völkerrechts in internen Konflikten im Allgemeinen

Bei der Ausarbeitung des Statuts des Gerichtshofs ist lange diskutiert worden, ob auch Verbrechen, die in nationalen Konflikten begangen werden, der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterstellt werden sollten. Warum unterscheidet das Völkerrecht traditionell überhaupt zwischen internen und internationalen Konflikten? Hintergrund dieser Kontroverse bildeten die seit jeher bestehenden Reibungsflächen zwischen dem Bereich der internationalen Beziehungen von Staaten, welche diese ­ unter Berufung auf das Völkerrecht ­ notfalls mit dem Mittel des Krieges beziehungsweise des internationalen bewaffneten Konflikts zu klären versuchen, und dem Bereich der «inneren Angelegenheiten», in welchem Staaten souverän und ohne Einmischung des Auslands entscheiden wollen. Während zwischenstaatliche Konflikte schon seit langem durch die Regeln über die Methoden der Kriegführung und zum Schutz der Opfer geregelt waren, fehlten solche Regeln während langer Zeit in innerstaatlichen Konflikten. Solche wurden traditionellerweise exklusiv als innere Angelegenheiten der Staaten betrachtet. Diese Situation änderte sich erst, als im Jahre 1949 der gemeinsame Artikel 3 der vier Genfer Abkommen angenommen wurde.

Zum ersten Mal stimmten die Staaten einem Minimum an Normen zu, die auch in innerstaatlichen Konflikten zu befolgen waren. Im Jahre 1954 sah das Haager Abkommen zum Schutz von Kulturgut im Fall eines bewaffneten Konflikts vor (Art. 19), dass seine Vorschriften in Bezug auf Kulturgut sowohl in internationalen wie auch in internen Konflikten Anwendung finden würden. Schliesslich wurde im Jahre 1977 die eher rudimentäre Regelung des gemeinsamen Artikels 3 der vier Genfer Abkommen durch das 2. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen präzi308

534

Erklärung betreffend den Gebrauch von Kugeln, die sich leicht im menschlichen Körper ausbreiten oder ausdehnen oder abplatten, SR 0.515.103, ratifiziert am 29. Dez. 1900.

siert und ausgeweitet. Parallel wurde sukzessive die völkergewohnheitsrechtliche Geltung einer grossen Anzahl von Normen, die bisher nur im internationalen bewaffneten Konflikt Anwendung fanden, auch für den nicht internationalen bewaffneten Konflikt anerkannt. Allerdings sahen die genannten völkerrechtlichen Instrumente selbst keine Bestimmungen über die Strafverfolgung bei Verletzungen ihrer Normen vor. Auf internationaler Ebene konnte dies erst mit den Ad-hoc-Tribunalen für Ex-Jugoslawien und Ruanda und nun mit dem Internationalen Strafgerichtshof realisiert werden. Hingegen setzte sich auf nationaler Ebene bereits vorher die Idee durch, dass nationale Gerichte Verletzungen des humanitären Völkerrechts nicht nur dann bestrafen konnten, wenn sie auf ihrem Territorium oder von oder gegen ihre eigenen Staatsangehörigen begangen worden waren, sondern auch dann, wenn es sich beim Täter oder Opfer um Ausländer handelte oder die Verbrechen in einem andern Staat begangen worden waren309.

Diese Evolution des humanitären Völkerrechts muss gleichzeitig mit den Entwicklungen im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes betrachtet werden. So ist in den letzten Jahrzehnten anerkannt worden, dass der Schutz fundamentaler Menschenrechte eine Angelegenheit ist, welche nicht nur den betroffenen Staat betrifft. Beispielsweise wurden im Rahmen des Europarates verschiedene Überwachungsmechanismen geschaffen und mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein gerichtliches Kontrollorgan institutionalisiert, an welches sich Staaten und Individuen bei Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention wenden können. Die logische Ergänzung dieser Bemühungen zum Schutze der Menschenrechte bilden die internationalen Strafgerichtshöfe, welche nicht in erster Linie für Beschwerden der Opfer von Menschenrechtsverletzungen zuständig sind, sondern sich mit der Bestrafung der Täter befassen. Da seit dem Zweiten Weltkrieg viele bewaffnete Konflikte keinen internationalen Charakter aufweisen und gerade in diesen Konflikten die innerstaatliche Rechtsordnung meist nicht mehr angemessen auf die Verletzungen von Menschenrechten reagieren kann oder will, setzte bei der Ausarbeitung des Statuts eine Mehrheit der Staaten letztlich durch, dass auch Kriegsverbrechen in internen Konflikten vom Gerichtshof beurteilt
werden können.

Damit gelangte die Erkenntnis zum Durchbruch, dass die Unterscheidung zwischen internationalem und internem bewaffneten Konflikt ihren Wert verliert, wenn es um die Bestrafung der Verletzung des humanitären Völkerrechts geht.

Abschliessend sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Status als Kombattant, wie er durch das humanitäre Völkerrecht für den internationalen bewaffneten Konflikt definiert wird, für den internen bewaffneten Konflikt keine Geltung besitzt. Dies hat zur Folge, dass diejenigen Personen, die zu den Waffen greifen und die nicht Mitglieder der regulären Streitkräfte sind, nicht vom Schutz profitieren, welcher das humanitäre Völkerrecht den Kombattanten im internationalen bewaffneten Konflikt gewährt. Vielmehr unterliegen diese Personen den Sanktionen, welche das anwendbare nationale Strafrecht für solche Sachverhalte vorsieht, beispielsweise Bestrafung wegen Mord, Rebellion, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Hochverrat u.a.310.

309 310

Vgl. zur Situation in der Schweiz unten Ziff. 6.4.

Vgl. z.B. Art. 265 StGB (Verbrechen oder Vergehen gegen den Staat. Hochverrat), Art. 266 StGB (Angriffe auf die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft) oder Art. 275 StGB (Gefährdung der verfassungsmässigen Ordnung).

535

6.3.4.2

Begriff und Anwendungsbereich des nicht internationalen bewaffneten Konflikts

Der gemeinsame Artikel 3 der vier Genfer Abkommen von 1949 ist das erste Instrument des humanitären Völkerrechts, welches auf einen bewaffneten Konflikt Anwendung findet, «der keinen internationalen Charakter aufweist»311, und für diesen Vorschriften aufstellt. Angesichts der Verschiedenheit der Situationen, welche diese Bestimmung abdecken musste, konnten sich die Staaten auf keine präzisere Definition des Anwendungsbereichs dieser Norm einigen. Damit der gemeinsame Artikel 3 Anwendung findet, müssen jedoch anerkanntermassen zwei Kriterien erfüllt sein: erstens das Kriterium der Organisation (Existenz einer oder mehrerer organisierter Gruppen, die unter einer verantwortlichen Führung stehen), zweitens das Kriterium der Intensität (Fähigkeit dieser Gruppen, Kampfhandlungen und andere militärische Aktionen durchzuführen). Was die am Konflikt beteiligten Parteien betrifft, so deckt der gemeinsame Artikel 3 unterschiedliche Erscheinungsformen ab.

Dazu gehören Feindseligkeiten, welche zwischen einer Regierung und Rebellen stattfinden, aber auch solche, die bewaffnete Gruppen untereinander ohne Beteiligung einer Regierung austragen312.

Die nächste Entwicklung bezüglich der Frage der Anwendung des humanitären Völkerrechts in nicht internationalen Konflikten fand im Jahre 1954 statt, als das Haager Abkommen zum Schutz von Kulturgut im Fall eines bewaffneten Konflikts verabschiedet wurde. Artikel 19 dieses Abkommens bestimmt, dass im Falle eines bewaffneten Konflikts ohne internationalen Charakter alle Konfliktparteien gehalten sind, «mindestens diejenigen Bestimmungen dieses Abkommens anzuwenden, die die Respektierung von Kulturgut betreffen». Der Anwendungsbereich dieses Abkommens in nicht internationalen bewaffneten Konflikten entspricht jenem des gemeinsamen Artikels der Genfer Abkommen. Es ist heute anerkannt, dass die Regeln über den Schutz von Kulturgut auch in nicht internationalen Konflikten den Status von Völkergewohnheitsrecht besitzen.

Der stellenweise sehr rudimentär und unvollständig gehaltene Wortlaut des gemeinsamen Artikels 3 der Genfer Abkommen von 1949 sowie die Multiplikation innerstaatlicher Konflikte liessen die Schaffung eines spezifischen völkerrechtlichen Instruments für bewaffnete Konflikte nicht internationalen Charakters notwendig erscheinen. So wurde am 8. Juni 1977 das
zweite Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte verabschiedet, welches das Gegenüber des ersten Zusatzprotokolls darstellt. Im Verhältnis zum Anwendungsbereich des gemeinsamen Artikels 3 ist der Anwendungsbereich des ZP II sowohl enger gefasst als auch klarer definiert. Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs ergibt sich dadurch, dass das ZP II nur jene bewaffneten Konflikte erfasst, in denen sich Regierungseinheiten und Rebellen gegenüberstehen, nicht aber solche zwischen bewaffneten Gruppen untereinander. Zudem wird zu den Kriterien der Organisation und der Intensität, wie sie für den gemeinsamen Artikel 3 gelten, ein weiteres Kriterium angefügt. So wird für die Geltung des ZP II verlangt, dass die Rebellen eine effektive Kontrolle über einen 311 312

536

Art. 3 Abs. 1.

Vgl. für eine Analyse des Anwendungsbereichs des gemeinsamen Art. 3 (im vorliegenden Fall bejaht) den Bericht im Fall Tablada der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte vom 18. Nov. 1997, Fall Nr. 11.127, OEA Ser/L/V.II.97. Auszüge dieses Berichts sind in Marco Sassòli/Antoine A. Bouvier, How does Law protect in War? , Genf, IKRK 1999, S. 1042-1053, wiedergegeben.

Teil des Hoheitsgebietes des betreffenden Staates ausüben, welche ihnen erlaubt, «anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchzuführen und dieses Protokoll anzuwenden» (Kriterium der territorialen Kontrolle). Alle drei Kriterien werden in Artikel 1 Ziffer 1 ZP klar definiert. Zusätzlich wird in Ziffer 2 die untere Schwelle des Anwendungsbereichs des Protokolls formuliert: «Dieses Protokoll findet nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendung, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten». Das ZP II vervollständigt und entwickelt somit den gemeinsamen Artikel 3, ohne ihn abzuändern. Je nach Situation ist daher in einem bewaffneten Konflikt der gemeinsame Artikel 3 allein oder zusammen mit dem ZP II anwendbar.

6.3.4.3 6.3.4.3.1

Schwere Verstösse gegen den gemeinsamen Artikel 3 der vier Genfer Abkommen von 1949 (Art. 8 Abs. 2 Bst. c) Anwendungsbereich

Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c des Statuts unterstellt der Zuständigkeit des Gerichtshofs die schweren Verstösse gegen den gemeinsamen Artikel der vier Genfer Abkommen von 1949. Der gemeinsame Artikel 3 enthält die fundamentalsten Grundsätze zum Schutze der Menschenwürde in bewaffneten Konflikten. Er wird häufig als «Mini-Konvention» oder als eine «Konvention in der Konvention» beschrieben. Alle Regeln, welche in Artikel 3 enthalten sind, besitzen den Charakter von Völkergewohnheitsrecht. Sie bilden den Sockel des internationalen Rechts des bewaffneten Konflikts und finden daher in jedem bewaffneten Konflikt Anwendung, sei er international, sei er nicht international. In einer Note vom 23. März 1998 hat die Direktion für Völkerrecht Handlungen, welche gegen Artikel 3 verstossen, als Verletzungen des zwingenden Völkerrechts (ius cogens) qualifiziert313.

Vor Verstössen gegen den gemeinsamen Artikel 3 werden alle Personen geschützt, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen. Dazu gehören jene Personen, die an den bewaffneten Auseinandersetzungen nicht aktiv beteiligt sind, aber auch Mitglieder der bewaffneten Konfliktparteien, welche sich ergeben haben oder sich durch Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder eine andere Ursache ausser Gefecht («hors de combat») befinden. Als Täter kommen grundsätzlich diejenigen Personen in Frage, deren Handlung im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt steht.

6.3.4.3.2

Die strafbaren Handlungen

Die auf Grund des gemeinsamen Artikels 3 der vier Genfer Abkommen verbotenen Handlungen entsprechen weitgehend den auch im internationalen Konflikt strafbaren Delikten. Dies unterstreicht die grundlegende Bedeutung dieser Tatbestände für die menschenwürdige Behandlung der Opfer auch in innerstaatlichen Konfliktsituationen. Sofern die Verbrechen des internen Konflikts keine Besonderheiten aufweisen, sei hier auf die Ausführungen im Rahmen des internationalen Konflikts verwiesen. Im Einzelnen sind folgende Handlungen strafbar: Angriffe auf Leib und Leben,

313

Vgl. SZIER 1999, S. 711.

537

insbesondere vorsätzliche Tötung jeder Art314, Verstümmelung315, grausame Behandlung316 und Folter317 (Art. 8 Abs. 2 Bst. c Ziff. i); Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung (Art. 8 Abs. 2 Bst. c Ziff. ii)318; Geiselnahme (Art. 8 Abs. 2 Bst. c Ziff. iii)319; Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordentlich bestellten Gerichts, das die allgemein als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet (Art. 8 Abs. 2 Bst. c Ziff. iv)320.

6.3.4.4

Andere schwere Verstösse gegen die völkerrechtlich anerkannten Gesetze und Gebräuche im nicht internationalen bewaffneten Konflikt (Art. 8 Abs. 2 Bst. e)

Als eine der Errungenschaften des Römer Statuts kann die Tatsache betrachtet werden, dass die Staaten nicht nur die schweren Verstösse gegen den gemeinsamen Artikel 3 der vier Genfer Abkommen in die Zuständigkeit des Gerichtshofs legten, sondern darüber hinaus auch Verstösse gegen die im ZP II, im Übereinkommen zum Schutz der Kulturgüter von 1954 sowie im Völkergewohnheitsrecht enthaltenen Verbote. Sofern die schweren Verstösse gegen die völkerrechtlich anerkannten Gesetze und Gebräuche im nicht internationalen bewaffneten Konflikt keine Besonderheiten aufweisen, sei hier auf die Ausführungen im Rahmen des internationalen Konflikts verwiesen. Im Einzelnen sind folgende Handlungen strafbar: Angriffe auf die Zivilbevölkerung (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. i)321; Angriffe auf Objekte und Personal, die mit den Schutzzeichen der Genfer Abkommen versehen sind (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. ii)322; Angriffe auf Personal und Objekte, die an einer humanitären Hilfsmission oder friedenserhaltenden Mission in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen beteiligt sind (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. iii)323; Angriffe auf Gebäude, die dem Gottesdienst, der Erziehung, der Kunst, der Wissenschaft oder der Wohltätigkeit gewidmet sind, auf geschichtliche Denkmäler, Krankenhäuser und Sammelplätze für Kranke und Verwundete (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. iv)324; Plünderung (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. v)325; Vergewaltigung, sexuelle 314 315 316 317 318 319 320

321 322 323 324 325

538

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. i.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. x.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. ii-2.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. ii-1 Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxi.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. viii.

Art. 8 Abs. 2 Bst. c Ziff. iv (Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordentlich bestellten Gerichts, das die allgemein als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet) entspricht weitgehend Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. vi (vorsätzlicher Entzug des Rechts einer geschützten Person auf ein unparteiisches und ordentliches Gerichtsverfahren). Art. 8 Abs. 2 Bst. c Ziff. iv garantiert die Einhaltung einiger Minimalgarantien für einen fairen Prozess, bevor ein Urteil oder eine Hinrichtung erfolgen darf. Als Hinweis auf die Elemente eines fairen Prozesses kann die Liste in Art. 6 Ziff. 2 ZP II dienen. Dazu gehört auch der Anspruch, nur vor einem ordentlich bestellten Gericht abgeurteilt zu werden. Ein solches Gericht muss zunächst unabhängig und unparteiisch sein. Unzulässig sind aber auch Spezialgerichte auf einer Ad-hoc-Basis.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. i.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxiv.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. iii.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. ix.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xvi.

Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation und jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. vi)326; Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern unter fünfzehn Jahren in Streitkräfte oder bewaffnete Gruppen oder ihre Verwendung zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. vii)327; völkerrechtswidrige Anordnung der Verlegung der Zivilbevölkerung aus Gründen im Zusammenhang mit dem Konflikt (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. viii)328; meuchlerische Tötung oder Verwundung eines gegnerischen Kombattanten (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. ix)329; Erklärung, dass kein Pardon gegeben wird (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. x)330; Verstümmelung, medizinische oder wissenschaftliche Versuche (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. xi)331; Zerstörung oder Beschlagnahme gegnerischen Guts (Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. xii)332.

6.3.4.5

Verbrechen im nicht internationalen Konflikt ohne Nennung im Statut

Im Vergleich zu den 34 Tatbeständen, welche im internationalen bewaffneten Konflikt in der Zuständigkeit des Gerichtshofs liegen, fällt auf, dass im internen Konflikt nur deren 16 strafbar sind. Dieser Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass das auf innerstaatliche Konflikte anwendbare humanitäre Völkerrecht später entwickelt worden ist und dessen völkergewohnheitsrechtliche Geltung bei der Ausarbeitung des Statuts noch nicht im gleichen Umfang anerkannt war wie das Recht des internationalen bewaffneten Konflikts. Letztlich kann es zwar bereits als Erfolg gewertet werden, dass es gelang, die Bestrafung von Kriegsverbrechen in nationalen Konflikten überhaupt in das Statut aufzunehmen. Doch im Hinblick auf eine umfassende Ächtung bestimmter Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren (so Art. 5 des Statuts), und auf Grund der Tatsache, dass es für die Betroffenen keine Rolle spielt, ob sie in einem internen oder internationalen Konflikt einem Giftgasangriff zum Opfer fallen oder mit verbotener Munition beschossen werden, die unnötige Leiden verursacht, als menschliche Schutzschilde missbraucht oder als Methode der Konfliktführung ausgehungert werden, oder ob unverteidigte Städte oder andere Örtlichkeiten angegriffen werden, wäre es angezeigt, dass an der sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts durchgeführten Konferenz der Vertragsstaaten zur Überprüfung des Statuts (vgl. Art. 123 Abs. 1) die Unterstellung auch dieser Delikte unter die Zuständigkeit des Gerichtshofes erörtert würde. Unlängst hat in diesem Zusammenhang das internationale Straftribunal für Ex-Jugoslawien im Fall Tadic festgehalten, dass es absurd ist, wenn Staaten für Kriege untereinander beispielsweise den Einsatz chemischer Waffen verbieten, hingegen deren Einsatz auf 326 327 328

329 330 331 332

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxii.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xxvi.

Art. 8 Abs. 2 Bst. e Ziff. viii enthält Parallelen zu Art. 8 Abs. 2 Bst. a Ziff. vii sowie Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. viii, stellt aber inhaltlich eine Neuheit gegenüber dem vor dem Römer Statut existierenden humanitären Völkerrecht dar. Das Verbrechen wird gemäss dem Statut nicht durch die Verlegung selbst, sondern durch eine Anordnung begangen.

Allerdings können sich andere Personen in Anwendung der Grundsätze der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit (z.B. als ausführende Gehilfen) ebenfalls strafbar machen.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xi.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xii.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. x.

Vgl. Art. 8 Abs. 2 Bst. b Ziff. xiii.

539

eigenem Territorium gegen die eigenen Staatsbürger zur Niederwerfung einer Rebellion erlaubt wäre333.

6.4

Strafbarkeit der Kriegsverbrechen im geltenden schweizerischen Recht

Im schweizerischen Recht werden Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht im 6. Abschnitt des MStG334 (Verletzung des Völkerrechts im Falle bewaffneter Konflikte) bestraft. Die schweizerischen Militärgerichte können solche Verbrechen unabhängig davon beurteilen, ob sie in einem internationalen oder einem internen bewaffneten Konflikt begangen worden sind, ob das Verbrechen auf schweizerischem Hoheitsgebiet oder im Ausland erfolgte, ob der Täter oder das Opfer schweizerischer oder ausländischer Nationalität war und ob der Täter zivilen oder militärischen Status besass335. Das Universalitätsprinzip besitzt daher bereits heute im Bereich der Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht vollumfängliche Geltung. Gemäss Artikel 75bis Absatz 1 Ziffer 2 StGB und Artikel 56bis Absatz 1 Ziffer 2 MStG unterliegen die Kriegsverbrechen auch nicht der Verjährung. Die einzelnen strafbaren Handlungen ergeben sich aus den in den Artikeln 110­114 ausdrücklich genannten Delikten sowie aus dem Verweis in Artikel 109 MStG. Bei Artikel 109 Absatz 1 MStG handelt es sich um eine Blankettnorm, die grundsätzlich bereits heute alle massgeblichen völkerrechtlichen Verträge im Bereich des humanitären Völkerrechts sowie das einschlägige Völkergewohnheitsrecht erfasst, gleichzeitig aber auch fähig ist, künftige Abkommen und Rechtsentwicklungen aufzunehmen336. Aus rechtsstaatlichen Gründen, insbesondere wegen des im Strafrecht besonders ausgeprägten Legalitätsprinzips, bestanden jedoch schon bei der Schaffung dieser Norm Bedenken, ob durch diese Methode genügend Klarheit über die Strafbarkeit eines Verhaltens im Konfliktfall geschaffen wird337. Auch wenn das schweizerische Recht bereits den Anforderungen entspricht, welche das Statut im Bereich der Strafbarkeit von Kriegsverbrechen stellt, erscheint es heute angemessen, die schwerwiegendsten Verbrechen nach dem Beitritt zum Statut des Strafgerichtshofs in der innerstaatlichen Gesetzgebung präziser zu formulieren.

333

334 335

336 337

540

Vgl. ICTY, Appeals Chamber, Prosecutor v. Tadic, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction , IT-94-1-AR72, Entscheidung vom 2. Okt. 1995, § 119 ff.

SR 321.0 Die Zuständigkeit der Schweizer Militärgerichtsbarkeit für die Beurteilung von Kriegsverbrechen in nicht internationalen Konflikten, die im Ausland von einem ausländischen Täter an einem ausländischen Opfer begangen worden sind, wurde vom Divisionsgericht 2 in der Rechtssache Fulgence Niyonteze, Urteil vom 30. April 1999 (noch nicht publiziert), und durch das Urteil des Militärappellationsgerichts 1 vom 26. Mai 2000 (noch nicht rechtskräftig) bestätigt; vgl. bereits vorher das Urteil des Divisionsgerichts 1 vom 18. April 1997 in der Rechtssache G.; vgl. im Weiteren zur Frage der Zuständigkeit auch die Botschaft über den Beitritt der Schweiz zur Völkermordkonvention (BBl 1999 5345).

Vgl. Kurt Hauri, Kommentar zum Militärstrafgesetz, Bern 1983, S. 365; Peter Popp, Kommentar zum Militärstrafgesetz ­ Besonderer Teil , St. Gallen 1992, S. 545 ff.

Vgl. Botschaft vom 18. Febr. 1981 über die Zusatzprotokolle zu den Genfer Abkommen, BBl 1981 I 953, 1016.

7

Das Verbrechen der Aggression nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (Art. 5 Abs. 2)

Während der Ausarbeitung des Statuts bestanden Meinungsverschiedenheiten darüber, ob das Verbrechen der Aggression überhaupt in die Liste der Verbrechen aufgenommen werden sollte, für deren Beurteilung der Gerichtshof zuständig ist. Bei der Aggression handelt es sich nicht um eine grundsätzliche Neuerung, enthielten doch schon die Satzungen der internationalen Militärtribunale in Nürnberg und Tokio einen entsprechenden Straftatbestand. Die Staaten konnten sich aber weder auf eine Definition der Aggression einigen338 noch einen Konsens darüber finden, welches das Verhältnis des Gerichtshofs zum UNO-Sicherheitsrat bei der Beurteilung einer individuellen Aggressionshandlung wäre339. Letztlich einigte man sich auf den Kompromiss, dass dem Gerichtshof gemäss Artikel 5 Absatz 1 zwar Gerichtsbarkeit zukommt. Diese wird allerdings gemäss Artikel 5 Absatz 2 so lange suspendiert, bis eine «Bestimmung in Übereinstimmung mit den Artikeln 121 und 123 (...) angenommen worden ist, die das Verbrechen definiert und die Bedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Hinblick auf dieses Verbrechen festlegt. Diese Bestimmung muss mit den einschlägigen Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen vereinbar sein.» Frühestens sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts kann an einer Überprüfungskonferenz über die Annahme des ausformulierten Tatbestandes der Aggression entschieden werden340. Hinsichtlich jener Vertragsstaaten, welche das ausgehandelte Ergebnis nicht annehmen, besitzt der Gerichtshof gemäss Artikel 121 Absatz 5 keine Gerichtsbarkeit.

338

Die in der Resolution 3314 der UNO-Generalversammlung vom 14. Dez. 1974 enthaltene Umschreibung der Aggression stellt noch keine völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Definition dar. Ebenfalls sind nicht alle Formulierungen geeignet, als Grundlage für die Begründung einer individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu dienen. Vielmehr kommt dieser Resolution die Funktion einer politischen Leitlinie für den Sicherheitsrat zu.

339 Dem UNO-Sicherheitsrat kommt gemäss Art. 39 der UNO-Charta das Recht zu, das Vorliegen einer Aggression festzustellen und in der Folge Empfehlungen abzugeben oder Massnahmen zu beschliessen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen. Verschiedene Staaten, allen voran die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, versuchten deshalb, allerdings erfolglos, eine Formulierung zu erreichen, wonach der Sicherheitsrat zunächst das Vorliegen einer staatlichen Aggression feststellen muss und der Gerichtshof erst danach zu entscheiden hat, ob auch eine Einzelperson sich individuell des Verbrechens der Aggression strafbar gemacht hat.

340 Die Arbeiten zum Entwurf eines Tatbestandes der Aggression haben in der Vorbereitungskommission des Internationalen Strafgerichtshofs bereits begonnen; vgl.

Rapport de la Commission préparatoire sur sa quatrième session, Nations Unies, Doc.

PCNICC/2000/L.1/Rev.1, S. 30 ff. (Stand: 3. April 2000).

541

Anhang 2

Allgemeine Grundsätze des Strafrechts und Strafen (Erläuterungen zu den Teilen 3 und 7 des Statuts) 1

Allgemeine Grundsätze des Strafrechts (Teil 3: Art. 22­33)

Artikel 22 des Statuts verankert zunächst das strafrechtliche Legalitätsprinzip «kein Verbrechen ohne gesetzliche Grundlage» («nullum crimen sine lege»). Nach diesem klassischen Grundsatz ist eine Person auf Grund dieses Statuts strafrechtlich nur verantwortlich, wenn das fragliche Verhalten zur Zeit der Tat den Tatbestand eines Verbrechens im Sinn von Artikel 5 erfüllt. Dieses Prinzip wird durch ein Analogieverbot und eine Auslegungsregel erweitert, wonach eine zweideutige Umschreibung zu Gunsten der Person ausgelegt werden muss, die Gegenstand der Strafuntersuchung oder -verfolgung bildet. Schliesslich behält die Bestimmung die Qualifizierung eines strafrechtlichen Verhaltens unter dem übrigen internationalen Recht (ausserhalb des Statuts) ausdrücklich vor und ergänzt in dieser Weise Artikel 10 (Vorbehalt des übrigen Völkerrechts mit Bezug auf die Umschreibung der Verbrechenstatbestände). Als natürlich erachtete man es, dass auch die strafrechtliche Qualifizierung unter nationalem Recht unberührt bleiben muss ­ jedenfalls soweit nicht die Frage einer Neubeurteilung eines Urteils des Gerichtshofs durch ein nationales Gericht in Frage steht, was gemäss Artikel 20 Absatz 2 («ne bis in idem») ausgeschlossen wäre. Weil selbstverständlich, wurde ein solcher Vorbehalt zu Gunsten des nationalen Strafrechts unterlassen.

Artikel 23 verankert kurz den ebenso fundamentalen Grundsatz «keine Strafe ohne Gesetz» («nulla poena sine lege»).

Artikel 24 besagt, dass der Gerichtshof niemanden für ein Verbrechen strafrechtlich verantwortlich machen kann, das vor dem Inkrafttreten des Statuts verübt wurde.

Dieses Rückwirkungsverbot ist in Verbindung mit den Artikeln 11 und 12 zu lesen, wonach der Gerichtshof nur für Verbrechen zuständig ist, die nach Inkrafttreten des Statuts für den Staat, an dessen Ratifikation die Zuständigkeit des Gerichtshofs anknüpft, begangen werden. Entscheidend ist demnach auch unter Artikel 24 nicht das Inkrafttreten des Statuts als solchem (60 Tage nach der 60. Ratifikation), sondern das Inkrafttreten für den Staat, auf dessen Territorium ein Verbrechen begangen wird, oder für den Staat, dessen Staatsangehöriger der Täter ist, je nachdem, an welcher Voraussetzung die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs im Einzelfall anknüpft.

Artikel 24 umschreibt ferner den Grundsatz des Vorbehalts des
milderen Rechts («lex mitior»). Dieses käme wohl nur bei einer zukünftigen Revision des Statuts in Frage, mit dem die Strafbarkeit eingeschränkt würde, was zurzeit schwer vorstellbar scheint.

Artikel 25 verdeutlicht, dass der Gerichtshof nur das Verhalten natürlicher Personen beurteilt. Der Internationale Strafgerichtshof beurteilt also im Gegensatz zum Internationalen Gerichtshof (IGH) nicht das Verhalten von Staaten.341 Die Verantwortlichkeit von Staaten, wie sie sich aus völkerrechtlichen Bestimmungen ausserhalb des Römer Statuts ergeben kann, bleibt allerdings ausdrücklich vorbehalten. Abge341

542

Vgl. Art. 34 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs, SR 0.193.501.

lehnt wurde ein Vorschlag, die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf juristische Personen auszudehnen.

Ebenfalls in Artikel 25 werden die Begehungs- und Teilnahmeformen umschrieben.

Strafbar macht sich zunächst, wer als Täter, als Mittäter oder durch mittelbare Täterschaft ein Verbrechen im Sinne des Statuts begeht. Strafbar ist weiter, wer ein solches Verbrechen anordnet, dazu auffordert oder dazu anstiftet, sofern dieses Verbrechen anschliessend mindestens versucht wird. Unter der gleichen Voraussetzung steht die «Beihilfe oder sonstige Unterstützung» unter Strafe. Strafbar ist weiter die Verschwörung, ohne dass dieser aus dem «common law» stammende Begriff im Statut selbst jedoch verwendet würde. Das Statut enthält stattdessen eine detaillierte Umschreibung: Kennzeichnend ist der vorsätzliche Beitrag eines Einzelnen zur Begehung oder versuchten Begehung eines Verbrechens durch eine Gruppe von Personen, die mit einem gemeinsamen Ziel handeln. Dieser Beitrag muss entweder die kriminelle Tätigkeit oder die strafbare Absicht der Gruppe fördern oder in Kenntnis des Vorsatzes der Gruppe, das Verbrechen zu begehen, geleistet werden. Weiter ist strafbar die «unmittelbare und öffentliche Aufstachelung», allerdings nur in Bezug auf das Verbrechen des Völkermords. Hier ging es darum, die aus Artikel III Buchstabe c der Völkermordkonvention von 1948 stammende Verpflichtung umzusetzen.

Die «Aufstachelung» (geläufiger, aber weniger griffig ist die Übersetzung «Anreizung») zur Begehung von Völkermord setzt die nachfolgende Begehung oder versuchte Begehung des Völkermords nicht voraus und stellt damit ­ genau genommen ­ keine Begehungs- oder Teilnahmeform des Völkermords dar, sondern ein eigenständiges Delikt. Die Platzierung dieser Bestimmung war deshalb lange umstritten; am Ende wurde entschieden, sie in Artikel 25 zu belassen. Schliesslich steht auch der Versuch, ein Verbrechen im Sinne des Statuts zu begehen, unter Strafe. Der Versuch setzt ein, wo die Person einen ersten substanziellen Schritt zur Ausführung des Verbrechens unternimmt. Blosse Vorbereitungshandlungen bleiben damit straflos. Ausdrücklich straflos bleibt sodann die Person, die mit der Ausführung eines Verbrechens begonnen hat, davon aber freiwillig und vollständig zurücktritt oder tätige Reue übt.

Der Gerichtshof hat nach Artikel 26
keine Gerichtsbarkeit über Personen, die zum Zeitpunkt der mutmasslichen Begehung des Verbrechens weniger als 18 Jahre alt waren. Diese Bestimmung war lange umstritten. Ausschlaggebend für den Ausschluss der Strafbarkeit von Minderjährigen unter dem Statut waren schliesslich zwei Argumente: Einerseits wäre das Vorhaben, den Gerichtshof auch noch mit jugendrichterlichen Aufgaben betrauen zu müssen, auf grosse praktische Probleme gestossen; andererseits entstand der Eindruck, dass Minderjährige, welche Verbrechen im Sinne des Statuts verüben, nicht nur Täter, sondern ebenso sehr auch Opfer seien und damit nicht dem hauptsächlichen Täterbild entsprechen, für das der Gerichtshof ins Leben gerufen wurde.

Eine grundlegende Bestimmung des Statuts findet sich in Artikel 27, worin festgelegt wird, dass das Statut auf alle Personen gleichermassen Anwendung findet, unabhängig davon, ob sie in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben oder nicht. Insbesondere spielt es keine Rolle, ob es sich bei der betreffenden Person um ein Staatsoder Regierungsoberhaupt, ein Mitglied der Regierung oder des Parlaments, um einen gewählten Vertreter oder um einen Amtsträger einer Regierung handelt. Immunitäten oder besondere nationale oder internationale Verfahrensregeln, die mit der amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht daran, gegen die betreffende Person vorzugehen.

543

Artikel 28 verankert die Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber und anderer Vorgesetzter. Diese für alle Verbrechen unter Artikel 5 des Statuts bedeutsame Bestimmung ergänzt Artikel 25 Absatz 3 Buchstabe b, wonach sich unter anderem strafbar macht, wer ein Verbrechen «anordnet». Artikel 28 umschreibt nun spezifisch die Verantwortlichkeit von militärischen und zivilen Vorgesetzten für Verbrechen, die von ihren Untergebenen begangen werden. Die Bestimmung unterscheidet zwischen «militärischen Befehlshabern» (und Personen, welche als solche auftreten) einerseits und allen anderen militärischen oder zivilen «Vorgesetzten» andererseits. Die Verantwortlichkeit der militärischen Befehlshaber ist strenger als jene anderer Vorgesetzter: ­

Die Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber oder Personen, welche tatsächlich als solche auftreten, erstreckt sich auf Verbrechen, die von Truppen unter ihrer tatsächlichen Befehls- beziehungsweise Führungsgewalt und Kontrolle als Folge einer mangelhaften Überwachung dieser Streitkräfte begangen werden. Die Verantwortung eines solchen Befehlshabers setzt ein, wo dieser wusste oder unter den gegebenen Umständen hätte wissen müssen, dass seine Truppen diese Verbrechen begingen oder zu begehen im Begriff waren, und er es unterliess, die erforderlichen und angemessenen Massnahmen zu ergreifen, um die Begehung dieser Verbrechen zu verhindern oder die Angelegenheit den zuständigen Behörden zur Strafverfolgung zu übergeben.

­

Der Begriff der «anderen Vorgesetzten» umfasst alle zivilen Vorgesetzten.

Er schliesst aber auch militärische Vorgesetzte ein, soweit sie nicht über Kommandogewalt verfügen oder soweit sie zivile Untergebene haben. Diese «anderen Vorgesetzten» müssen entweder gewusst haben, dass ihre Untergebenen Verbrechen begingen oder zu begehen im Begriff waren, oder Informationen, die eindeutig darauf hinwiesen, bewusst missachtet haben. Zusätzlich ist vorausgesetzt, dass die verbrecherischen Handlungen der Untergebenen im Aufgabenbereich liegen, für den der Vorgesetzte Verantwortung trägt. Dies ist im Falle eines militärischen Befehlshabers richtigerweise nicht erforderlich: Dieser kann, wenn die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, auch für Taten seiner Truppen verantwortlich werden, die diese ausserhalb ihres Aufgabenbereichs, zum Beispiel im Ausgang, ausüben.

Artikel 29 hält fest, dass die in der Zuständigkeit des Gerichtshofs liegenden Verbrechen unverjährbar sind. Es war dies, besonders mit Bezug auf die Kriegsverbrechen, ein nicht ganz unbestrittener Grundsatz.

Artikel 30 behandelt die subjektive Seite der Tat. Strafbar macht sich danach nur, wer die objektiven Tatbestandsmerkmale mit Vorsatz und Wissen verwirklicht. Abweichungen im Rahmen anderer Bestimmungen des Statuts sind möglich. Beim Vorsatz wird zwischen dem tatbestandsmässigen Verhalten (das willentlich vorgenommen sein muss) und dem tatbestandsmässigen Erfolg dieses Verhaltens (für den Bewusstsein genügt) unterschieden. Beim «Wissen» genügt das Bewusstsein, dass ein Umstand vorliegt oder dass im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse eine Folge eintreten wird. Wenngleich die in Artikel 30 verwendeten Rechtsbegriffe nicht mit denjenigen der Schweizer Strafrechtslehre deckungsgleich sind, so ist ihnen mindestens so viel gemeinsam, dass auf der subjektiven Tatseite zwischen einem voluntativen und einem kognitiven Element unterscheiden wird: Der Täter muss ­ in schweizerischen Begriffskategorien gesprochen ­ mit Vorsatz handeln.

544

Artikel 31 führt die Gründe auf, die zum Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit führen. Dabei wird nicht zwischen Rechtfertigungs- und Schuldausschlussgründen unterschieden; es wird vielmehr vom Ergebnis ­ der Aufhebung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit einer Person ­ ausgegangen. In der Sammelbestimmung von Artikel 31 enthalten ist die Geisteskrankheit, sofern diese eine Person daran hindert, die Unrechtmässigkeit ihres Verhaltens einzusehen oder sich danach zu richten. Unter den gleichen Voraussetzungen kann die Intoxikation zum Strafausschluss führen. Zum Problem der freiwilligen Intoxikation sieht das Statut vor, dass eine Person strafbar bleibt, wenn sie gewusst oder das Risiko missachtet hatte, dass sie im Zustand der Intoxikation möglicherweise ein Verbrechen im Sinne des Statuts begehen könnte. Von strafrechtlicher Verantwortlichkeit befreit wird ferner eine Person, die in Notwehr oder Notstand handelt. Notwehrfähig sind neben Leben und körperlicher Integrität im Fall von Kriegsverbrechen auch das Gut, das lebensnotwendig oder für die Ausführung eines militärischen Einsatzes unverzichtbar ist, eine vor dem Hintergrund des geltenden humanitären Völkerrechts zweifelhafte Norm. Die Bestimmung führt weiter aus, dass die blosse Teilnahme an einem Verteidigungseinsatz keinen Grund zum Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit bildet. Ferner kann das Handeln unter Zwang als Folge einer Bedrohung des Lebens oder einer ernsthaften Gefährdung der körperlichen Integrität der handelnden Person oder einer anderen Person strafausschliessend wirken, wenn die Bedrohung in verhältnismässiger Weise abgewendet wurde. Die Bedrohung kann von einem Dritten stammen, sie kann sich aber auch aus den Umständen ergeben. Der Gerichtshof hat in jedem Einzelfall zu prüfen, ob einer der vorgenannten Gründe für die Aufhebung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit tatsächlich Anwendung finden soll. Umgekehrt sieht die Bestimmung die Möglichkeit vor, dass der Gerichtshof einen anderen als einen der genannten Strafausschlussgründe berücksichtigt, wo ein solcher sich aus den in Artikel 21 genannten Rechtsquellen ergibt. Die im Statut genannten Gründe für den Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit sind damit nicht abschliessend. (Ein Problem mit dem Legalitätsprinzip ergibt sich daraus nicht,
geht es doch um ein Kriterium, das die Verantwortlichkeit ausschliessen und sie nicht begründen würde.)

Artikel 32 umschreibt die Irrtumstatbestände und unterscheidet dabei zwischen Tatund Rechtsirrtum. Ein «Tatirrtum» (nach schweizerischer Terminologie müsste wohl von einem «Sachverhaltsirrtum» gesprochen werden) führt zum Strafausschluss, wenn das subjektive Tatbestandselement dadurch entfällt. Hingegen ist der eigentliche «Rechtsirrtum» hinsichtlich der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt (man könnte auch von «Verbotsirrtum» sprechen), kein Grund zum Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Ein «Rechtsirrtum» kann jedoch dann massgeblich sein, wenn er die für den Verbrechenstatbestand erforderlichen subjektiven Tatbestandsmerkmale aufhebt (es ist dies, in schweizerischer Terminologie, ein «Irrtum über die rechtliche Sachlage»). Ein solcher Irrtum ist auch unter den Voraussetzungen von Artikel 33 möglich.

Artikel 33 betrifft das Handeln auf Befehl oder gemäss einer Rechtsvorschrift. Das Handeln auf Anordnung einer Regierungsstelle, eines zivilen oder militärischen Vorgesetzten schliesst die Verantwortlichkeit der handelnden Person nur bei Vorliegen von drei kumulativ erforderlichen Voraussetzungen aus: Die Person musste sich unter einer Rechtspflicht befinden, den Anordnungen der betreffenden Stelle Folge zu leisten, die Person wusste nicht um die Rechtswidrigkeit der Anordnung und die Anordnung war nicht offensichtlich rechtswidrig. Die letzte Voraussetzung wird in545

sofern weiter präzisiert, als Anordnungen zur Begehung von Völkermord oder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in jedem Fall für offensichtlich rechtswidrig erklärt werden. Damit dürfte die Tragweite dieser Bestimmung auf Kriegsverbrechen und gegebenenfalls auf die Angriffshandlung beschränkt bleiben.

Teil 3 enthält auffälligerweise keine Bestimmung zur Frage der Tätigkeits- oder Unterlassungsdelikte. Die diesbezügliche Debatte erreichte in Rom eine Komplexität, die schliesslich nur durch die ersatzlose Streichung jeglicher Bestimmung geschlossen werden konnte. Es wird demnach am Gerichtshof sein, darüber zu befinden, ob und allenfalls welche Delikte unter welchen besonderen Voraussetzungen auch durch Unterlassen begangen werden könnten.

2

Strafen (Teil 7: Art. 77­80)

Die Arbeiten an der Umschreibung der Strafarten und des Strafmasses im Vorfeld und an der Römer Konferenz erwiesen sich als mühevoll und emotionsgeladen.

Während eine vor allem aus lateinamerikanischen Ländern bestehende Staatengruppe die Haltung vertrat, eine maximale Freiheitsstrafe von mehr als 25 Jahren Freiheitsentzug sei unannehmbar, fand eine andere, für diese Art von Verbrechen sei gegebenenfalls nur die Todesstrafe angemessen, auf deren Verankerung im Statut auf keinen Fall verzichtet werden dürfe.

Vor die Wahl gestellt, sich zu einem Kompromiss zusammenzufinden oder die Verantwortung für das Scheitern der Römer Konferenz tragen zu müssen, konnten sich die beiden Seiten schliesslich doch auf eine gemeinsame Lösung einigen: In Artikel 77 nennt das Statut als Hauptstrafe eine Freiheitsstrafe bis zu einer Höchstdauer von 30 Jahren. Wenn es durch die aussergewöhnliche Schwere des Verbrechens und die persönlichen Verhältnisse des Verurteilten gerechtfertigt ist, kann diese Höchststrafe ausnahmsweise überschritten und eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden.

Integrierender Bestandteil dieses Kompromisses ist allerdings auch eine auf eine schweizerische Anregung zurückgehende Verfahrensvorschrift (Art. 110), die den Gerichtshof anhält, das ursprünglich verhängte Strafmass nach Ablauf einer bestimmten Mindestdauer zu überprüfen. Diese Überprüfung erfolgt, wenn der Verurteilte zwei Drittel seiner Strafe, bei lebenslangem Freiheitsentzug 25 Jahre Freiheitsstrafe verbüsst hat. Anschliessend wird diese Prüfung in regelmässigen Abständen, die in der Verfahrens- und Beweisordnung festzulegen342 sind, wiederholt.

Anlässlich dieser Überprüfung kann der Gerichtshof das Strafmass herabsetzen, wenn er nach Anhörung des Verurteilten das Vorliegen eines der in Artikel 110 Absatz 4 genannten Faktoren feststellt. Mit dieser Bestimmung konnte nicht nur eine Lösung für das Problem der Höchststrafe und der Strafart gefunden werden, sondern gleichzeitig auch festgehalten werden, dass allein der Gerichtshof zur Änderung einer von ihm verhängten Freiheitsstrafe zuständig bleibt.

Nur als Zusatzstrafe zu einer Freiheitsstrafe kann der Gerichtshof nach Artikel 77 Absatz 2 eine Geldstrafe verhängen und die Einziehung der unmittelbar oder mittel342

Der endgültige Entwurf der Verfahrens- und Beweisordnung sieht einen zeitlichen Abstand von drei Jahren vor, den die Richter beliebig verkürzen können: Texte final du projet de Règlement de procédure et de preuve, Rapport de la Commission préparatoire de la Cour pénale internationale du 30 juin 2000, Nations Unies, document PCNICC/2000/INF/3/Add. 1, Règle 224.

343 A.a.O., Règle 145.

546

bar aus den Verbrechen stammenden Vermögenswerten anordnen, wobei die Rechte gutgläubiger Dritter zu wahren sind.

Angesichts des für alle Verbrechen nach Artikel 5 geltenden, sehr offenen Strafrahmens ­ keine Mindeststrafe, Höchststrafe von 30 Jahren, ausnahmsweise lebenslängliche Freiheitsstrafe ­ kommt den Kriterien für die Festsetzung der Strafhöhe im Einzelfall grosse Bedeutung zu. Artikel 78 nennt die beiden wichtigsten Faktoren der Strafzumessung: die «Schwere des Verbrechens» und die «persönlichen Verhältnisse des Verurteilten». Im Übrigen verweist die Bestimmung auf die Verfahrensund Beweisordnung. In der Verfahrens- und Beweisordnung sind denn auch ausführliche Regeln zur Strafzumessung enthalten, die dem Gerichtshof als Anleitung dienen sollen, wie der vom Statut eingeräumte erhebliche Spielraum bei der Straffestsetzung auszufüllen ist.343 Unter anderem werden als strafmildernde Umstände die in Artikel 31 («Gründe für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit») genannten Gründe analogieweise herangezogen, nämlich in den Fällen, in denen die dort genannten Voraussetzungen (seelische Krankheit oder Störung, Intoxikation, Notwehr, Notstand usw.) nicht zu einem vollständigen Strafausschluss ausreichen, wohl aber strafmindernd zu berücksichtigen sind.

Artikel 78 enthält noch zwei weitere Grundsätze, die bei der Straffestsetzung zu berücksichtigen sind. Zunächst verankert Absatz 2 das Anrechnungsprinzip. Bei der Verhängung einer Freiheitsstrafe muss der Gerichtshof die Zeit anrechnen, welche die Person auf Anordnung des Gerichtshofs bereits in Haft verbracht hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Freiheitsentzug am Sitz des Gerichtshofs oder in einem Staat stattgefunden hat. Überdies kann der Gerichtshof auch Zeiten anrechnen, die eine Person auf Grund des innerstaatlichen Rechts im Freiheitsentzug verbracht hat, wenn ein Bezug zu dem vom Gerichtshof beurteilten Verbrechen besteht. Es ist sinnvoll, den Gerichtshof in diesem Fall nicht zur Anrechnung zu verpflichten, sondern Ermessen einzuräumen: Immerhin vorstellbar sind Fälle, in denen der betreffende Staat seinen «Gefangenen» unter Bedingungen «festhält», die mit einem tatsächlichen Freiheitsentzug wenig zu tun haben.

Artikel 78 Absatz 3 regelt sodann die Fälle der Konkurrenz. Die Bestimmung legt ­ wie viele andere des
Statuts ­ Zeugnis ab vom zwar etwas umständlichen, aber letztlich geglückten Versuch, Vorstellungen der Rechtstraditionen des angelsächsischen «common law» und des kontinentalen «civil law» zu vereinigen: In Fällen echter Konkurrenz setzt der Gerichtshof für jedes einzelne Verbrechen ein Strafmass fest. Anschliessend setzt er ein Gesamtstrafmass fest, das mindestens dem höchsten Einzelstrafmass entspricht, aber das in Artikel 77 vorgesehene Höchststrafmass nicht übersteigt. Nach Auffassung einiger Delegationen kann die Festsetzung von Einzelstrafen für jedes begangene Verbrechen im Fall einer Berufung wertvolle Hinweise liefern, wenn die Berufungskammer beispielsweise den Schuldspruch für ein Verbrechen aufhebt. Umgekehrt vermeidet die Festsetzung eines Gesamtstrafmasses das unschöne Bild einer Addition von mehreren Haftstrafen und leistet Gewähr für die Beachtung des in Artikel 77 vorgesehenen Höchstmasses.

Auf Beschluss der Versammlung der Vertragsstaaten wird nach Artikel 79 zu Gunsten der Opfer der vom Gerichtshof beurteilten Verbrechen und deren Angehöriger ein Treuhandfonds errichtet. Dieser Treuhandfonds wird nach Kriterien verwaltet, die von der Versammlung der Vertragsstaaten (Art. 112) festzulegen sind. Der Fonds kann aus den vom Gerichtshof verhängten Bussen und verfallenen Vermögenswerten gespiesen werden, wenn der Gerichtshof so entscheidet. Umgekehrt kann der Gerichtshof aber auch selbst auf den Fonds zurückgreifen (Art. 75 Abs. 2).

547

Artikel 80 stellt klar, dass Teil 7 des Statuts keinen Einfluss auf die Anwendung der nach dem nationalen Recht vorgesehenen Strafen und Strafarten hat. Diese Erklärung wurde insbesondere auf Drängen der Staaten eingefügt, die in ihren nationalen Rechtsordnungen die Todesstrafe kennen. Artikel 80 kann sich aber auch für diejenigen Staaten als nützlich erweisen, die in ihren landesrechtlichen Strafordnungen eine Höchststrafe vorsehen, die deutlich unter dem im Statut vorgesehenen Strafrahmen liegt. Auch an dieser Stelle ist zwar der allgemeine Komplementaritätsvorbehalt zu beachten: Verurteilt ein nationales Gericht einen Täter, auferlegt es ihm aber eine ganz unerklärlich tiefe Strafe, so könnte dies vom Gerichtshof als Scheinprozess beurteilt werden und zur Folge haben, dass der Gerichtshof die Zuständigkeit an sich zieht. Bei den im schweizerischen Recht vorgesehenen Strafdrohungen besteht jedoch mit grosser Wahrscheinlichkeit keine Gefahr, dass ein solcher Fall eintritt. Teil 7 ist nur für Strafverfahren vor dem Gerichtshof anwendbar und hat damit keinen Einfluss auf das innerstaatliche Recht. Umgekehrt hat auch das innerstaatliche Recht grundsätzlich keinen Einfluss auf die Straffestsetzung des Gerichtshofs. Anders als in den Statuten der Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda und im Gegensatz zum Entwurf der Völkerrechtskommission wird der Gerichtshof bei der Straffestsetzung nicht auf das Landesrecht verwiesen ­ jedenfalls nicht über das in der allgemeinen Bestimmung über das anwendbare Recht (Art. 21) vorgesehene Ausmass hinaus.

548

Anhang 3

Das Verfahren vor dem Gerichtshof (Erläuterungen zu den Teilen 5, 6 und 8 des Statuts) 1

Ermittlungen und Strafverfolgung (Teil 5: Art. 53­61)

Artikel 53: Einleitung von Ermittlungen Artikel 53 regelt die Voraussetzungen der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.

Die Bestimmung muss zusammen mit den Artikeln 13­15 gelesen werden, worin der Auslösungsmechanismus für ein Verfahren vor dem Gerichtshof beschrieben wird.

Danach können jeder Vertragsstaat und der Sicherheitsrat mit einer Situation an den Ankläger gelangen. Dieser kann aber auch von sich aus ein Verfahren eröffnen. Im letztgenannten Fall umschreibt Artikel 15 im Einzelnen das Verfahren, das der Ankläger zu befolgen hat. Die materiellen Kriterien hinsichtlich der Frage, ob Ermittlungen eingeleitet werden sollen oder nicht, finden sich allerdings nicht in den Artikeln 13­15, sondern in Artikel 53. Neben der Umschreibung dieser Kriterien enthält Artikel 53 dann zusätzlich auch Bestimmungen zum Verfahren, das der Ankläger zu befolgen hat, wenn er keine Untersuchung eröffnet oder diese einstellt.

Sowohl Artikel 15 als auch Artikel 53 stellen äusserst heikle Kompromisse dar, welche sehr spät im Verhandlungsprozess (und unabhängig voneinander) gefunden werden konnten. Dieser Umstand erklärt die umständliche Formulierung von Artikel 53 und verhinderte eine einfachere Strukturierung der massgeblichen Vorschriften. Das Verhältnis von Artikel 53 zu Artikel 15 wird im Übrigen in den Verfahrens- und Beweisregeln im hier beschriebenen Sinne geklärt.

Artikel 53 Absatz 1 umschreibt die Voraussetzungen, die der Ankläger für den Entscheid über die Einleitung von Ermittlungen zu berücksichtigen hat: Er muss bei seiner Entscheidung zum einen prüfen, ob die ihm vorliegenden Informationen «hinreichende Verdachtsgründe» dafür bieten, dass ein Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs begangen wurde. Gleichzeitig muss er von der Zulässigkeit des Falles im Sinne von Artikel 17 überzeugt sein. Zu langen Debatten gab die Frage Anlass, ob dem Ankläger ein Ermessen zukommen solle, trotz Vorliegens dieser beiden Voraussetzungen keine Ermittlungen einzuleiten (Opportunitätsprinzip), oder ob im Gegenteil eine strenge Offizialmaxime gelten solle. Schliesslich wurde ­ nicht zuletzt um dem Ankläger eine Möglichkeit zu geben, sich und den Gerichtshof im weiteren Sinne vor einer drohenden Überflutung mit Fällen zu schützen ­ ein gemässigtes Opportunitätsprinzip verankert. Dem Ankläger bleibt nun ein
gewisses Ermessen, keine Ermittlungen einzuleiten, sofern dies den Interessen der Gerechtigkeit nicht dienlich wäre. Das Statut stellt allerdings die Vermutung auf, dass im Regelfall eine Strafuntersuchung im Interesse der Gerechtigkeit liegt, insbesondere «unter Berücksichtigung der Schwere des Verbrechens und der Interessen der Opfer». Entscheidet der Ankläger aus Opportunitätsüberlegungen dennoch gegen die Eröffnung einer Strafuntersuchung, so unterrichtet er die Vorverfahrenskammer von seinem Entscheid.

Artikel 53 Absatz 2 umschreibt die Gründe, die den Ankläger dazu führen können, ein Verfahren nach Abschluss der Ermittlungen einzustellen. Dies ist der Fall, wenn keine «hinreichende rechtliche oder sachliche Grundlage» besteht, um einen Haftbefehl oder eine Vorladung nach Artikel 58 erlassen zu können, wenn sich die Sache 549

als unzulässig herausstellt (Art. 17) oder wenn die Strafverfolgung nicht im Interesse der Gerechtigkeit liegt (wobei der Ankläger in diesem späteren Stadium über ein etwas grösseres Ermessen verfügt als noch bei seinem Entscheid über die Einleitung von Ermittlungen unter Absatz 1). Stellt der Ankläger die Strafuntersuchung ein, so informiert er die Vorverfahrenskammer und gegebenenfalls den Staat oder den Sicherheitsrat, der dem Ankläger die Situation unterbreitet hat.

Der Staat, der eine Situation nach Artikel 14 unterbreitet hat, bzw. der Sicherheitsrat, der eine Situation unter Artikel 13 Buchstabe b unterbreitet hat, kann die Entscheidung des Anklägers bei der Vorverfahrenskammer anfechten. Das genaue Verfahren hierbei wird im Rahmen der Verfahrens- und Beweisordnung festgelegt.

Die Vorverfahrenskammer kann die Einleitung von Ermittlungen bzw. die Fortsetzung der Strafverfolgung nicht autoritativ anordnen, sondern den Ankläger nur einladen, seinen Entscheid zu überprüfen. Anders verhält es sich bloss, wenn der Ankläger einen Nichteinleitungs- oder Einstellungsentscheid nur mit Opportunitätsüberlegungen begründet. In diesen Fällen kann die Vorverfahrenskammer den entsprechenden Entscheid des Anklägers sogar von sich aus überprüfen, ohne dass ein entsprechendes Gesuch eines Staates oder des Sicherheitsrates vorliegen müsste, und dem Ankläger verbindliche Weisungen erteilen.

Der Ankläger kann von sich aus jederzeit auf einen Entscheid zurückkommen, wenn neue Tatsachen oder Informationen vorliegen (Art. 53 Abs. 4).

Artikel 54: Pflichten und Befugnisse des Anklägers bei Ermittlungen Nach Absatz 1 hat der Ankläger die Aufgabe, «zum Zweck der Wahrheitsfindung» alle Tatsachen und Beweismittel zu ermitteln und dabei gleichermassen die belastenden wie die entlastenden Umstände zu erforschen. Er soll eine wirksame Ermittlung und Strafverfolgung sicherstellen, gleichzeitig aber die Interessen und persönlichen Umstände der Opfer und Zeugen beachten. Ferner muss er die Rechte von «Personen», die sich aus diesem Statut ergeben, uneingeschränkt beachten. Unter «Personen» werden hier insbesondere die Personen verstanden, gegen die eine Strafuntersuchung geführt wird. Das Statut spricht oft nur von «Person», um die Problematik zu umgehen, ab welchem Zeitpunkt von einer «verdächtigen» oder «angeschuldigten»
Person gesprochen werden muss: Diese Begriffe waren zu stark mit innerstaatlichen Rechtsvorstellungen besetzt.

Gemäss Absatz 2 ist der Ankläger zur Durchführung einer Strafuntersuchung auf dem Territorium des Staates berechtigt, wo dies auf Grund von Teil 9 (also in Zusammenarbeit mit dem betreffenden Staat) oder auf Grund der Ausnahmebestimmung von Artikel 57 Absatz 3 Buchstabe d (ohne diese) vorgesehen ist.

Weitere allgemeine Zuständigkeiten des Anklägers betreffen die Möglichkeit zum Abschluss von Abmachungen oder Übereinkünften mit Staaten, zwischenstaatlichen Organisationen oder Personen zur Erleichterung der Zusammenarbeit oder die Möglichkeit, Garantieerklärungen hinsichtlich der Vertraulichkeit von Informationen zu gewähren oder zu verlangen (Abs. 3).

Artikel 55: Rechte der Personen während der Ermittlungen Das Römer Statut weist den Grundrechten der Personen, die Gegenstand einer Strafuntersuchung sind, grösste Bedeutung zu. Neben den Rechten, die der Person hinsichtlich eines Freiheitsentzugs zukommen (vgl. etwa Art. 58 und 59), finden sich die entsprechenden Bestimmungen hauptsächlich in den Artikeln 55 und 67. Arti-

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kel 55 umschreibt die Rechte der Personen während des Ermittlungsverfahrens, während Artikel 67 diejenigen Rechte enthält, die der Person im Hauptverfahren zukommen. Die beiden Bereiche lassen sich allerdings nicht so streng trennen, wie dies auf Grund ihrer Platzierung im Statut den Anschein macht. Beide Bestimmungen, Artikel 55 und Artikel 67, haben den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte344 und insbesondere dessen Artikel 14 zum Ausgangspunkt. In einigen Fällen wurden, angesichts des Umstandes, dass der Pakt schon über dreissig Jahre alt ist und nur Minimalgarantien enthält, einige Ergänzungen und Verbesserungen an Bestimmungen des Paktes vorgenommen: Schliesslich handelt es sich um einen internationalen Gerichtshof, der hinsichtlich der Achtung der Grund- und Menschenrechte hohen Ansprüchen genügen soll. So wurde etwa in Artikel 55 Absatz 1 Buchstabe c das Recht auf Befragung in einer Sprache zuerkannt, die die Person «vollständig» versteht und spricht.

Artikel 55 kann gewisse Auswirkungen auf das nationale Verfahren haben, indem die Rechte nach Absatz 2 nicht nur bei einer Einvernahme einer Person vor dem Gerichtshof und am Sitz des Gerichtshofs zu beachten sind, sondern auch bei einer Befragung durch die nationalen Behörden, wenn diese Befragung auf Grund eines Ersuchens des Gerichtshofs erfolgt. Hier handelt der Gerichtshof gewissermassen durch die innerstaatlichen Ermittlungsbehörden. Daraus ergeben sich keine gesetzlichen Auswirkungen auf die innerstaatlichen Strafverfahren, doch ist bei der Durchführung von Rechtshilfemassnahmen diesen Anforderungen des Statuts Rechnung zu tragen (vgl. hierzu Art. 34 und 35 des Entwurfs eines Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und Erläuterungen in Ziff. 3.3.5.2 der Botschaft).

Artikel 56: Einmalige Gelegenheit zu Ermittlungsmassnahmen Artikel 56 weist der Vorverfahrenskammer bestimmte Aufgaben zu, wenn eine «einmalige Gelegenheit» besteht, bestimmte Ermittlungsmassnahmen zu ergreifen.

Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn die Aussicht besteht, dass bestimmte Beweismittel in einem späteren Stadium oder für die Zwecke der Hauptverhandlung nicht mehr oder nicht mehr in dieser Form zur Verfügung stehen. Dieser Fall kann auftreten, wo beispielsweise ein Zeuge sehr alt oder lebensbedrohlich
krank ist, aber auch dort, wo eine Untersuchungsmassnahme als solche einmaligen Charakter hat (zum Beispiel die Aushebung eines Massengrabes). Weil solche Massnahmen in der Hauptverhandlung voraussichtlich nicht mehr wiederholt, sondern nur noch deren Ergebnisse dokumentiert werden können, ist es besonders wichtig, dass bei den Ermittlungen keine Fehler begangen werden. Auch kann das Unmittelbarkeitsprinzip in der Hauptverhandlung betroffen sein, was unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensrechte des Angeklagten zu berücksichtigen ist. In Fällen von einmaligen Gelegenheiten zu Ermittlungsmassnahmen kommt aus diesen Gründen neben dem Ankläger auch der Vorverfahrenskammer eine wichtige Rolle zu.

Auf Gesuch des Anklägers kann die Kammer die für die Wahrung der Wirksamkeit und der Integrität des Verfahrens sowie der Rechte der Verteidigung erforderlichen Massnahmen anordnen. Dem Ankläger kommt die Pflicht zu, die nach diesem Verfahren erlangten Beweismittel der betreffenden Person vorzulegen, wenn sich diese in Haft befindet oder eine Vorladung erfolgt ist. Artikel 56 Absatz 2 enthält eine illustrative Liste von möglichen Massnahmen, die von der Vorverfahrenskammer er344

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lassen werden können. Bemerkenswert ist insbesondere Buchstabe e: Danach kann die Kammer einen Einzelrichter bestimmen, welcher fortan Empfehlungen oder Anordnungen hinsichtlich der Sammlung und Sicherung von Beweismitteln und der Einvernahme von Personen erlassen kann.

Wo die Vorverfahrenskammer zur Ansicht gelangt, es biete sich eine einmalige Gelegenheit zu Ermittlungsmassnahmen, ohne dass der Ankläger ein Ersuchen nach Absatz 1 gestellt hätte, so kann sie, nach einer Rücksprache mit dem Ankläger, solche Massnahmen von sich aus anordnen. Ein solcher Entscheid ist berufungsfähig (Abs. 3 Bst. b, vgl. auch Art. 82 Abs. 1 Bst. c).

Die Zulässigkeit von Beweismitteln, welche auf Grund dieser Bestimmung erhoben werden, richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen zur Verwendung von Beweismitteln (Art. 56 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 69).

Artikel 57: Aufgaben und Befugnisse der Vorverfahrenskammer Nachdem in Artikel 56 bereits einige Sonderfunktionen der Vorverfahrenskammer umschrieben werden, stellt Artikel 57 eine allgemeine Bestimmung zu den Aufgaben und Befugnissen dieser Kammer dar. Wichtige Entscheide müssen durch die aus drei Mitgliedern bestehende Kammer getroffen werden. Es betrifft dies Entscheide über die selbstständige Einleitung eines Verfahrens durch den Ankläger (Art. 15), über die Zulässigkeit eines Verfahrens im Rahmen von Artikel 18 und 19, über die Ermächtigung des Anklägers, gegen den Willen eines Staates Untersuchungsmassnahmen auf dessen Territorium vorzunehmen (Art. 54 Abs. 2 Bst. b in Verbindung mit Art. 57 Abs. 3 Bst. d), über die Anklagebestätigung (Art. 61) und schliesslich über den Schutz von Informationen betreffend die nationale Sicherheit (Art. 72).

Diese Entscheide ergehen mit Mehrheitsbeschluss. Alle anderen Entscheide der Vorverfahrenskammer können von einem einzelnen Richter wahrgenommen werden, sofern die Verfahrens- und Beweisordnung oder die Vorverfahrenskammer selbst nichts anderes bestimmt (vgl. dazu Ziff. 2.2.2 dieser Botschaft zu Art. 39).

Artikel 57 Absatz 3 legt allgemeine Funktionen der Vorverfahrenskammer fest. Sie kann auf Antrag des Anklägers Anordnungen und Befehle erlassen, die für die Zwecke der Untersuchung erforderlich sein können. Sie kann zu Gunsten der Person intervenieren, die verhaftet oder vorgeladen wurde, um deren Möglichkeiten der
Verteidigung aufrechtzuerhalten, sei es bezüglich einer einmaligen Gelegenheit zu Ermittlungsmassnahmen (Art. 56) oder sei es im Hinblick auf Informationen, für welche die Zusammenarbeit gemäss Teil 9 des Statuts notwendig ist. Die Vorverfahrenskammer kann ferner zu Gunsten von Opfern oder Zeugen, der Sicherung von Beweismitteln, des Schutzes von Personen im Freiheitsentzug und des Schutzes sicherheitsrelevanter Informationen tätig werden.

Neben diesen allgemeinen Zuweisungen von Zuständigkeiten regeln die Buchstaben d und e von Absatz 3 zwei besondere Fälle. Wenn der Ankläger auf dem Gebiet eines Staates Untersuchungsmassnahmen treffen will, hat er grundsätzlich dessen Zusammenarbeit gemäss Teil 9 des Statuts zu suchen. Nun schreitet der Gerichtshof auf Grund des Komplementaritätsgedankens nur ein, wenn die in erster Linie zuständigen Staaten ihre Strafverfolgungspflichten nicht erfüllen können oder wollen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass der Ankläger im Laufe seiner Ermittlungen Massnahmen auf dem Gebiet eines Staates treffen möchte, dessen Rechtssystem zusammengebrochen ist oder dessen nationale Behörden nicht willens sind, mit dem Gerichtshof im Rahmen von Teil 9 zusammenzuarbeiten. In einem solchen Fall kann sich der Ankläger durch die Vorverfahrenskammer ermächtigen lassen, auch ausser552

halb der in Teil 9 vorgesehenen Bestimmungen über die Zusammenarbeit zwischen Vertragsstaat und Gerichtshof vorzugehen. In der Praxis wird sich der über keine eigenen Polizeitruppen verfügende Ankläger aber genau überlegen wollen, welches die Chancen und Risiken eines solchen Vorgehens sind. Etwa denkbar wären immerhin Ermittlungsmassnahmen des Anklägers unter dem Schutz internationaler Truppen auf dem Gebiet eines solchen Staates. Artikel 57 Absatz 3 Buchstabe d verankert jedenfalls die Zuständigkeit der Vorverfahrenskammer, den Ankläger zu ermächtigen, ausnahmsweise ohne die Zusammenarbeit eines Staates auf dessen Territorium Ermittlungsmassnahmen zu treffen.

Die zweite Sonderzuständigkeit der Vorverfahrenskammer wird in Buchstabe e von Absatz 3 festgehalten: Wurde gegen eine Person ein Haftbefehl oder eine Vorladung gemäss Artikel 58 erlassen, so kann die Vorverfahrenskammer die Zusammenarbeit eines Staates im Sinne von Artikel 93 Absatz 1 Buchstabe j anfordern und ihn damit auffordern, Massnahmen zu erlassen, um eine spätere Einziehung von Vermögenswerten zu ermöglichen.

Artikel 58: Haftbefehl und Vorladung Artikel 58 regelt die Voraussetzungen und das Verfahren für den Erlass eines Haftbefehls oder einer Vorladung durch die Vorverfahrenskammer. Gelangt der Ankläger im Verlaufe seiner Ermittlungen zur Überzeugung, es bestehe der begründete Verdacht, dass eine Person ein Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs begangen habe, so kann er bei der Vorverfahrenskammer den Erlass eines Haftbefehls oder, wenn er die Festnahme der Person nicht für erforderlich erachtet, deren Vorladung vor den Gerichtshof beantragen. Artikel 58 umschreibt die materiellen und formellen Voraussetzungen für diese Massnahmen.

Ein Haftbefehl kann erlassen werden, wenn begründeter Tatverdacht und wenn entweder Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr besteht (Art. 58 Abs. 1).

Die Bestimmung führt ferner die für das Gesuch des Anklägers an die Vorverfahrenskammer erforderlichen Elemente auf und umschreibt den Inhalt des Haftbefehls (Abs. 2 und 3). Der Haftbefehl ist bis auf Widerruf gültig (Abs. 4), wobei ein einmal erlassener Haftbefehl unter Umständen auch abgeändert werden kann (Abs. 6). Auf der Grundlage des Haftbefehls kann der Gerichtshof um die vorläufige Festnahme in einem Vertragsstaat oder um
die Verhaftung und anschliessende Überstellung einer Person an den Gerichtshof ersuchen (Abs. 5).

Ist nur der dringende Tatverdacht, aber keine der übrigen Voraussetzungen für die Anordnung eines Freiheitsentzugs gegeben, so kann die Kammer eine Vorladung vor den Gerichtshof verfügen. Um die Wirkung dieser Vorladung zu verstärken, kann die Vorverfahrenskammer den Staat ersuchen, gegebenenfalls weniger weit gehende Massnahmen als den Freiheitsentzug zu treffen, damit das Erscheinen der Person vor dem Gerichtshof sichergestellt werden kann. Zu denken ist etwa an eine Kaution. Dies ist aber nur so weit möglich, als eine solche weniger weit gehende Massnahme in der innerstaatlichen Rechtsordnung vorgesehen ist.

Artikel 59: Festnahme im Gewahrsamsstaat Artikel 59 regelt das Verfahren bei der Verhaftung einer Person in deren Aufenthaltsstaat. Absatz 1 dieser Bestimmung verpflichtet den Vertragsstaat, auf ein entsprechendes Ersuchen des Gerichtshofs Sofortmassnahmen zur Festnahme der Person in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Gesetzgebung und den Vorschriften in Teil 9 des Statuts zu treffen. Diese Bestimmung stellt eine Konkretisierung 553

der Verpflichtungen zur Zusammenarbeit gemäss Artikel 89 Absatz 1 und Artikel 92 Absatz 1 dar. Bei ihrer Verhaftung muss die Person einer zuständigen innerstaatlichen Justizbehörde vorgeführt werden, welche prüft, ob sich der Haftbefehl tatsächlich auf die fragliche Person bezieht, ob die Verhaftung selbst ordnungsgemäss vorgenommen wurde und ob die Rechte der Person gewahrt wurden (Abs. 2). Die Behörde des Gewahrsamsstaats hat jedoch kein Recht, die Rechtmässigkeit des durch den Gerichtshof ausgestellten Haftbefehls selbst zu prüfen. Dafür ist allein der Gerichtshof zuständig (Abs. 4).

Hingegen ist die nationale Behörde so lange für die Behandlung von Haftentlassungsgesuchen zuständig, als sich die Person auf dem Staatsgebiet aufhält (Abs. 3).

Die Vorverfahrenskammer ist von einem solchen Gesuch jedoch in Kenntnis zu setzen und zur Vernehmlassung einzuladen. Sie kann gegebenenfalls Empfehlungen abgeben und, falls eine provisorische Haftentlassung durch die innerstaatliche Behörde angeordnet wird, periodische Berichte über den Stand der Angelegenheit anfordern (Abs. 5 und 6).

Artikel 59 Absatz 7 schliesslich verankert eine wichtige Selbstverständlichkeit: Sobald der Gerichtshof die Überstellung der verhafteten Person anordnet, muss diese vom Gewahrsamsstaat so bald wie möglich an den Gerichtshof überstellt werden.

Insgesamt stellt Artikel 59 eine differenzierte und ausgewogene Bestimmung dar, die nicht unnötig in die innerstaatlichen Zuständigkeiten der Vertragsstaaten eingreifen will. Gleichzeitig ist diese Regelung aber auch anspruchsvoll: Ihr Funktionieren setzt in der Praxis voraus, dass der betreffende Staat und der Gerichtshof eng miteinander zusammenarbeiten.

Artikel 60: Einleitende Verfahrensschritte Artikel 60 betrifft die ersten Verfahrensschritte vor dem Gerichtshof, nachdem die Person, gegen welche ermittelt wird, vor dem Gerichtshof erschienen ist. Zunächst prüft die Verfahrenskammer gemäss Absatz 1, ob die Person über den gegen sie bestehenden Verdacht und die ihr nach dem Statut zustehenden Rechte belehrt worden ist. Die Absätze 2­4 enthalten Regelungen zur Haftprüfung bis zum Beginn des Hauptverfahrens, wobei die in Artikel 58 Absatz 1 aufgeführten Haftgründe nach wie vor den Massstab bilden. Die Vorverfahrenskammer überprüft regelmässig ­ sei es auf Antrag der betreffenden
Person, des Anklägers oder auf eigene Initiative hin ­, ob die Voraussetzungen weiterhin erfüllt sind, um die Person in Haft zu belassen. Eine Haftentlassung kann gegebenenfalls auch unter Auflagen erfolgen. Bei ihrem Entscheid berücksichtigt die Vorverfahrenskammer auch die Dauer der Untersuchungshaft: Ist diese infolge von Verzögerungen, die der Ankläger zu vertreten hat, unangemessen lange, so erwägt die Vorverfahrenskammer die unmittelbare Haftentlassung der Person mit oder ohne Auflagen. Die Vorverfahrenskammer kann bei Bedarf einen neuen Haftbefehl erlassen, um die Anwesenheit einer einmal auf freien Fuss gesetzten Person wieder sicherzustellen.

Artikel 61: Anklagebestätigung Das Vorverfahren wird mit der Anklagebestätigung abgeschlossen. Artikel 61, die letzte umfangreiche Bestimmung in Teil 5, beschäftigt sich mit dieser Phase. An dieser Stelle wird ersichtlich, dass die Vorverfahrenskammer auch die Aufgaben einer eigentlichen Anklagekammer versieht. Das Anklagebestätigungsverfahren vor der Vorverfahrenskammer ist kontradiktorisch ausgestaltet.

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Die Anklagebestätigung erfolgt nach einer mündlichen Verhandlung. Sie findet grundsätzlich in Anwesenheit des Anklägers und der beschuldigten Person sowie deren Rechtsbeistand statt. Die Bestimmung hält noch einmal fest, dass diese Verhandlung «innerhalb einer angemessenen Frist nach Überstellung der Person oder ihrem freiwilligen Erscheinen vor dem Gerichtshof» stattzufinden hat (Abs. 1).

Die Vorverfahrenskammer kann in Abwesenheit der Person verfahren, wenn diese auf Anwesenheit verzichtet hat, wenn sie geflohen oder nicht auffindbar ist, obwohl alle angemessenen Massnahmen ergriffen worden sind, um ihr Erscheinen vor dem Gerichtshof sicherzustellen und sie über die Anklagepunkte informieren. Auch in diesem Fall aber kann die Vorverfahrenskammer die Anwesenheit des Rechtsbeistands anordnen, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich scheint (Abs. 2).345 Soweit die Person erreichbar ist, muss sie vor der Verhandlung mit einer Kopie der Anklageschrift bedient und über die Beweismittel informiert werden, auf welche sich der Ankläger stützen will. Zu diesem Zweck kann die Vorverfahrenskammer anordnen, dass bislang geschützte Informationen offen gelegt werden (Abs. 3, vgl.

auch Art. 54 Abs. 3 Bst. e).

Der Ankläger kann seine Anklagepunkte vor der Verhandlung über die Anklagebestätigung abändern, muss die betreffende Person dann allerdings über diesen Schritt informieren. Zieht er einzelne Anklagepunkte zurück, so hat er diesen Entscheid gegenüber der Kammer zu begründen (Abs. 4). Diese Vorschrift will verhindern, dass der Ankläger mit der beschuldigten Person in Verhandlungen über einzelne Anklagepunkte, ein Schuldgeständnis oder die zu verhängende Strafe tritt (Verbot des «plea bargaining»; vgl. auch Art. 65 Abs. 5).

Bei der Verhandlung muss der Ankläger jeden Anklagepunkt durch Beweismittel untermauern können, die ausreichen, um den dringenden Verdacht zu begründen, die beschuldigte Person habe das ihr zur Last gelegte Verbrechen begangen. Immerhin kann sich der Ankläger dabei auf dokumentiertes oder summarisches Beweismaterial stützen, braucht also nicht die Zeugen vorladen zu lassen, auf deren Aussage er sich in der Hauptverhandlung stützen will (Abs. 5). Die beschuldigte Person kann sich der Anklage widersetzen, die Beweismittel anfechten oder selbst Beweise vorlegen (Abs. 6).
Die Vorverfahrenskammer kann die Anklagepunkte bestätigen und an die urteilende Kammer überweisen. Auch eine nur teilweise Bestätigung ist möglich, wobei die Vorverfahrenskammer den Ankläger anweisen kann, die übrigen Anklagepunkte bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu ergänzen (Abs. 7). Lehnt die Vorverfahrenskammer die Bestätigung eines Anklagepunktes ab, so ist es dem Ankläger freigestellt, zu einem späteren Zeitpunkt mit zusätzlichem Beweismaterial nochmals vor der Kammer aufzutreten (Abs. 8).

Auch nach der Bestätigung der Anklagepunkte durch die Vorverfahrenskammer kann der Ankläger seine Anklage noch abändern, dies aber nur mit der Genehmigung der Vorverfahrenskammer. Werden zusätzliche Anklagepunkte erhoben oder bestehende Anklagepunkte erweitert, so muss darüber erneut eine Verhandlung durchgeführt werden. Hat das Hauptverfahren einmal begonnen, so kann der Ankläger keine neuen Anklagepunkte mehr vorbringen. Er kann solche nur noch zurück345

Diese Regel weicht von der Regel 61 des Ad-hoc-Tribunals für Ex-Jugoslawien ab, wo die Anwesenheit eines Rechtsvertreters für diesen Fall ausgeschlossen wird.

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ziehen, wobei er in diesem Fall die Genehmigung der urteilenden Kammer einholen muss. Dieses Genehmigungserfordernis wurde unter anderem deshalb im Statut verankert, um die Parteien von einem «plea bargaining» in letzter Minute abzuhalten (Abs. 9).

Das Verfahren der Bestätigung der Anklage hat Auswirkungen auf die Gültigkeit eines Haftbefehls, indem dieser seine Gültigkeit bezüglich der Anklagepunkte verliert, welche von der Vorverfahrenskammer zurückgewiesen oder vom Ankläger zurückgezogen wurden (Abs. 10).

Als Folge der Anklagebestätigung wird eine Hauptverfahrenskammer als urteilende Kammer konstituiert, welche für den weiteren Verlauf des Verfahrens verantwortlich ist. Die Hauptverfahrenskammer wird vom Präsidium des Gerichtshofs (Art. 38) eingesetzt. Die Vorverfahrenskammer bleibt nur so weit in Funktion, als die Hauptverfahrenskammer ihr auf der Grundlage von Artikel 64 Absatz 4 allenfalls noch besondere Aufgaben überweist. Ausserdem bleibt die Vorverfahrenskammer für die Bestätigung von Anklagepunkten zuständig, die der Ankläger gemäss Artikel 61 Absatz 8 nachholt (Art. 61 Abs. 11).

2

Hauptverfahren (Teil 6: Art. 62­76)

Artikel 62: Ort des Hauptverfahrens Das Verfahren findet grundsätzlich am Sitz des Strafgerichtshofs in Den Haag statt.

Ausnahmen von diesem Grundsatz sind zulässig (vgl. auch Art. 3 und Art. 4 Abs. 2).

Die Voraussetzungen und das Verfahren für eine zeitweilige Verlegung des Verfahrens oder von Teilen davon werden in der Verfahrens- und Beweisordnung festgelegt.

Artikel 63: Verhandlung in Anwesenheit des Angeklagten Artikel 63 hält fest, dass eine Hauptverhandlung nur in Anwesenheit des Angeklagten möglich ist. Diese Frage bildete an der Römer Staatenkonferenz Gegenstand heftiger Kontroversen. Auf der einen Seite stand die Furcht, ein Angeklagter könnte durch sein Verhalten das Strafverfahren vor dem Gerichtshof beliebig lähmen oder verunmöglichen, wenn kein Abwesenheitsverfahren vorgesehen werde. Dagegen wurde die Ansicht vertreten, ein solches Verfahren verletze die Verteidigungsrechte des Angeklagten. Wieder andere Staaten führten vor allem praktische Gründe gegen ein Abwesenheitsverfahren an: Die Verankerung eines Verfahrens in absentia des Angeklagten hätte Auswirkungen auf andere Teile des Statuts gehabt, für deren Regelung in Rom keine Zeit mehr blieb.

Artikel 63 Absatz 1 sieht nun vor, dass der Angeklagte bei der Hauptverhandlung anwesend zu sein hat. Vorbehalten bleibt gemäss Absatz 2 einzig die Entfernung des Angeklagten aus dem Gerichtssaal, wenn dieser die Verhandlung dauernd stört. In einem solchen Fall müssen technische Möglichkeiten gefunden werden, um ihn am Gang des Verfahrens dennoch teilnehmen zu lassen.

Wenn das Statut nun auf ein Abwesenheitsverfahren verzichtet, so ist dieses Ergebnis nicht zu bedauern: Ein Hauptverfahren in Abwesenheit des Angeklagten durchzuführen, im Wissen darum, dass er auch nach der Urteilsverkündung vermutlich nicht verhaftet und das Urteil deswegen nicht vollzogen werden kann, wäre wenig sinnvoll und der Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs nicht zuträglich. Auch dürfte den 556

Opfern nicht gedient sein, wenn sie bei einer späteren Wiederholung des Verfahrens, nachdem der erstinstanzlich Verurteilte doch noch gefasst werden kann, das Erlittene gegebenenfalls ein zweites Mal durchleben müssen. Ausserdem sieht Artikel 61 Absatz 2 eine verhältnismässig grosszügige Lösung für die Möglichkeit vor, bis zur Bestätigung der Anklage in Abwesenheit der Person vorzugehen. Um moralischen Druck auszuüben, damit die Staatenwelt ihre Anstrengungen verstärkt, eine bestimmte Person zu verhaften, kann der Gerichtshof die bestätigte Anklage gegen diese Person veröffentlichen. Es bedarf dafür keiner aufwendigen Hauptverhandlung, deren Wirkung wegen Abwesenheit des Angeklagten auch nicht mehr als bloss symbolischer Natur wäre.

Artikel 64: Aufgaben und Befugnisse der Hauptverfahrenskammer Wie Artikel 57 über die Aufgaben und Befugnisse der Vorverfahrenskammer stellt auch Artikel 64 über die Aufgaben und Befugnisse der Hauptverfahrenskammer eine Sammelvorschrift dar. Die Vorschrift beginnt mit einem allgemeinen Verweis auf die Aufgaben und Befugnisse, die sich aus dem Statut und der Verfahrens- und Beweisordnung ergeben (Abs. 1). Allgemeiner Natur ist auch die Verpflichtung der Hauptverfahrenskammer, die Rechte des Angeklagten und den Schutz der Opfer und der Zeugen zu gewährleisten (Abs. 2).

Absatz 3 betrifft die Vorbereitung der Hauptverhandlung. Hier gilt es, in Verbindung mit den Parteien das Verfahren und die Verfahrenssprache festzulegen und allfällige Anordnungen zur Offenlegung von zuvor nicht offen gelegten Informationen zu treffen. Die Hauptverfahrenskammer kann, soweit dies für die wirksame und faire Verfahrensführung notwendig ist, einzelne Fragen an die Vorverfahrenskammer zurückweisen oder an einen Richter aus einer andern Abteilung verweisen (Abs. 4).

Von dieser Möglichkeit dürfte insbesondere dann Gebrauch gemacht werden, wenn die Hauptverfahrenskammer ansonsten in Gefahr geriete, sich vorzubelasten. Die Hauptverfahrenskammer kann Verfahren verbinden oder trennen, wie sie es für zweckmässig erachtet (Abs. 5).

In Absatz 6 sind weitere Aufgaben und Befugnisse der Hauptverfahrenskammer vor und während der Hauptverhandlung aufgelistet. So sorgt sie etwa für den Schutz vertraulicher Informationen, insbesondere solcher zum Schutz der nationalen Sicherheit (Art. 72). Von einer
gewissen Bedeutung ist auch Absatz 6 Buchstabe d, der die Hauptverfahrenskammer anhält, zusätzlich zu den von den Parteien bereits vor dem Hauptverfahren gesammelten oder während des Hauptverfahrens vorgelegten Beweismitteln die Beibringung weiterer Beweismittel anzuordnen. Dies ist eine der Passagen des Statuts, aus welcher die eher kontinentalen Rechtsvorstellungen entsprechende aktive Rolle der Hauptverfahrenskammer bei der Ermittlung der Wahrheit hervorgeht. Dem gleichen Geist entspringt Artikel 69 Absatz 3. Die Richter sind nicht einfach Zuschauer des Wortgefechts zwischen Anklage und Verteidigung. Sie nehmen das Verfahren auch in der Substanz in die eigenen Hände.

Die Hauptverhandlung ist nach Absatz 7 grundsätzlich öffentlich. Bei Vorliegen besonderer Umstände kann die Kammer aber beschliessen, dass bestimmte Verfahrensabschnitte unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchlaufen werden. Dies ist namentlich der Fall, wenn gemäss Artikel 68 Zeugen oder Opfer geschützt werden müssen oder wo es um vertrauliche oder schutzwürdige Informationen geht.

Zu Beginn der Verhandlungen werden dem Angeklagten die von der Vorverfahrenskammer bestätigten Anklagepunkte vorgelesen. Die Hauptverfahrenskammer hat sich davon zu überzeugen, dass der Angeklagte das Wesen der Anklage versteht, 557

und hat ihm Gelegenheit zu geben, ein Geständnis im Sinne von Artikel 65 abzulegen oder sich für unschuldig zu erklären. Der vorsitzende Richter leitet das Verfahren und stellt dessen Fairness und Unparteilichkeit sicher. Den Parteien ist Gelegenheit zu geben, Beweismittel in Übereinstimmung mit dem Statut vorzulegen (Abs. 8).

Nach Absatz 9 beurteilt die Hauptverfahrenskammer die Zulässigkeit beziehungsweise die Erheblichkeit von Beweismitteln und trifft alle erforderlichen Massnahmen, um die Ordnung während der Verhandlung aufrechtzuerhalten. Über die Verhandlung wird ein Protokoll geführt (Abs. 10).

Artikel 65: Verfahren nach einem Geständnis Während Artikel 64, indem er die Aufgaben und Befugnisse der Hauptverfahrenskammer umschreibt, gleichzeitig die Grundzüge des ordentlichen Verfahrens erläutert, beschäftigt sich Artikel 65 mit dem Sonderverfahren, das befolgt wird, wenn ein Geständnis vorliegt. Bei Vorliegen eines Geständnisses sind gewisse Abkürzungen des Verfahrens möglich. Voraussetzung hierfür ist, dass der Angeklagte die Art und die Folgen des Geständnisses versteht, das Geständnis nach hinreichender Beratung mit seinem Verteidiger freiwillig ablegt und durch hinreichende Tatsachen und Beweismittel untermauert (Abs. 1). Ist die Hauptverfahrenskammer davon überzeugt, dass alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, so kann sie das Geständnis zusammen mit allfälligen weiteren Beweismitteln als rechtsgenügliche Grundlage für den Beweis anerkennen, dass das entsprechende Verbrechen vom Angeklagten tatsächlich begangen wurde, und kann diesen dafür verurteilen (Abs. 2). Ist die Hauptverfahrenskammer davon hingegen nicht überzeugt, so fährt sie gemäss dem gewöhnlichen Verfahren fort. Allenfalls kann sie die Sache an eine andere Hauptverfahrenskammer verweisen (Abs. 3).

Auch bei Vorliegen eines gültigen Geständnisses kann die Hauptverfahrenskammer, wenn sie es für erforderlich erachtet, den Ankläger jederzeit ersuchen, zusätzliche Beweismittel beizubringen oder Zeugen vorführen zu lassen, zum Beispiel weil dies für eine vollständigere Sachverhaltsermittlung im Interesse der Opfer angezeigt ist (Abs. 4). Allfällige Absprachen zwischen dem Ankläger und der Verteidigung bezüglich Anklagepunkten, eines Geständnisses oder der vom Ankläger geforderten Strafe binden den Gerichtshof in keiner Weise
(Abs. 5). Mit diesem Verbot des Feilschens ­ des «plea bargaining» ­ und der der Hauptverfahrenskammer ausdrücklich überbundenen Verpflichtung, sich von der Übereinstimmung des Geständnisses mit den Tatsachen zu überzeugen, enthält Artikel 65 genügend Sicherheiten, um auch für die Länder der kontinentalen Rechtstradition annehmbar zu sein, zumal die Bestimmung in Zusammenhang mit Artikel 66 Absatz 3 gelesen werden muss. So ist denn Artikel 65 als ein weiterer, geglückter Kompromiss zwischen den Vorstellungen verschiedener Rechtstraditionen zu bezeichnen.

Artikel 66: Unschuldsvermutung Artikel 66 verankert die Unschuldsvermutung zu Gunsten der angeklagten Person, wie sie etwa in Artikel 14 Ziffer 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte346 erscheint. Wenn Artikel 66 Absatz 1 in Abweichung von der Sprache des Paktes davon spricht, «jeder» (und nicht nur «jede angeklagte Person») habe Anspruch auf die Unschuldsvermutung, so ist damit keine substanzielle Änderung gemeint. Die Formulierung stammt vielmehr noch aus einem Stadium der Ver346

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handlungen, in dem das Konzept der Anklagebestätigung (Art. 61) noch nicht ausgereift war.

Die Absätze 2 und 3 trennen dogmatisch zwei verwandte Gedanken. Absatz 2 betrifft die Beweislast und stellt klar, dass es am Ankläger ist, die Schuld des Angeklagten zu beweisen. Am urteilenden Gericht ist es hingegen, sich von der Schuld des Angeklagten über jeden vernünftigen Zweifel hinaus zu überzeugen, bevor es zur Verurteilung schreitet (Abs. 3).

Artikel 67: Rechte des Angeklagten Artikel 67 enthält die Liste der Rechte des Angeklagten im Hauptverfahren und setzt so Artikel 55 fort, der für das Vorverfahren gilt. Die Formulierung dieser Rechte lehnt sich wiederum eng an den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte an und hebt die dort enthaltenen Mindestgarantien in einzelnen Punkten leicht an.

Artikel 67 Absatz 2 enthält zudem eine weitere Bestimmung über die Offenlegung von Beweismitteln. Hier geht es um Beweismittel, die sich in der Hand des Anklägers befinden und von denen vermutet wird, dass sie zu Gunsten des Angeklagten sprechen oder die Glaubwürdigkeit der Beweismittel des Anklägers beeinträchtigen könnten. Das Gericht kann die Offenlegung solcher Beweismittel anordnen.

Artikel 68: Schutz der Opfer und Zeugen und ihre Teilnahme am Verfahren Der Opferhilfe und dem Schutz der Zeugen wird im Statut eine dem Verbrechenskatalog angemessene grosse Bedeutung zugemessen. Neben zahlreichen anderen Bestimmungen des Statuts widmet sich vor allem Artikel 68 dem Schutz der Opfer und der Zeugen und legt die Grundzüge für ihre Teilnahme am Verfahren fest. Der Geltungsbereich dieses Artikels ist nicht auf das Hauptverfahren beschränkt, sondern gilt grundsätzlich für das gesamte Verfahren.

Gemäss Absatz 1 hat der Gerichtshof die Pflicht, die geeigneten Massnahmen zu treffen, um die Sicherheit, das körperliche und seelische Wohl, die Würde und die Privatsphäre der Opfer und der Zeugen zu schützen, wobei die Rechte des Angeklagten sowie die Fairness und Unparteilichkeit des Verfahrens nicht beeinträchtigt werden dürfen. Im Stadium der Ermittlungen und der Strafverfolgung ist namentlich der Ankläger zuständig, solche Schutzmassnahmen zu treffen.

Im Hauptverfahren kann eine solche Massnahme beispielsweise darin bestehen, einen Teil des Verfahrens unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen
oder die Vorlage von Beweisen mittels elektronischer oder sonstiger besonderer Übertragungsmittel zu gestatten. Solche Massnahmen sind insbesondere dann von Bedeutung, wenn es sich um ein Opfer sexueller Gewalt handelt oder ein Kind betroffen ist, das als Opfer oder Zeuge im Verfahren auftritt (Abs. 2).

Die Opfer haben die Möglichkeit, in geeigneter Weise am Verfahren teilzuhaben, wo ihre persönlichen Interessen betroffen sind. Der Gerichtshof gestattet den Opfern, ihre Auffassungen und Anliegen in den von ihm für geeignet befundenen Verfahrensabschnitten vorzutragen, wobei wiederum die Rechte des Angeklagten nicht beeinträchtigt werden dürfen. Der Gerichtshof kann auch eine Opferhilfeorganisation oder eine andere gesetzliche Vertretung der Opfer vor dem Gerichtshof zulassen. Die Verfahrens- und Beweisordnung regelt die Einzelheiten (Abs. 3).

559

Die der Kanzlei angegliederte Abteilung für Opfer und Zeugen (Art. 43 Abs. 6) kann den Ankläger und das Gericht hinsichtlich Schutzmassnahmen beraten (Abs. 4).

Artikel 68 Absatz 5 sieht Einschränkungen von der Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln oder Informationen vor, wenn andernfalls von einer ernsten Gefährdung der Sicherheit eines Zeugen oder seiner Familie ausgegangen werden muss.

Die Rechte des Angeklagten sowie die Fairness und Unparteilichkeit des Verfahrens bleiben auch hier ausdrücklich vorbehalten.

Schutzmassnahmen können auch zum Schutz von Bediensteten oder Vertretern des Staates erlassen werden (Abs. 6).

Artikel 69: Beweismittel Artikel 69 enthält Vorschriften über die Erhebung und die Zulässigkeit von Beweismitteln. Auch in dieser Bestimmung mussten Vorstellungen des angelsächsischen Rechtskreises, dessen Verfahrensrecht sich durch teils ausführliche und formalisierte Beweisvorschriften auszeichnet, und der kontinentalen Strafverfahren, die sich am Grundsatz der freien Beweiswürdigung orientieren, überbrückt werden. Artikel 69 sieht nun die Grundzüge eines Kompromisses vor, der in der Verfahrensund Beweisordnung weiter spezifiziert wird.

Gemäss Absatz 1 muss sich jeder Zeuge vor der Aussage verpflichten, die Wahrheit zu sagen. Der Zeuge muss grundsätzlich an der Verhandlung persönlich aussagen; vorbehalten bleiben die besonderen Schutzmassnahmen gemäss Artikel 68 oder die entsprechenden Bestimmungen in der Verfahrens- und Beweisordnung. Der Gerichtshof kann auch Video- oder Audiotechnik zulassen (Abs. 2).

Von grosser Bedeutung ist Absatz 3. Danach können die Parteien in Einklang mit Artikel 64 alle Beweismittel vorbringen, die für die Sache erheblich sind. Der Gerichtshof seinerseits ist zuständig, alle Beweismittel anzufordern, die er für die Wahrheitsfindung für erforderlich hält. An dieser Stelle wird die Aufklärungspflicht des Gerichtshofs besonders deutlich.

Der Gerichtshof entscheidet über die Massgeblichkeit oder Zulässigkeit jedes Beweismittels, wobei sowohl dessen Beweiskraft als auch ein möglicher Schaden in Betracht gezogen werden, welcher dem Verfahren durch die Verwendung dieses Beweismittels allenfalls erwachsen könnte (Abs. 4). Der Gerichtshof achtet die Zeugnisverweigerungsrechte in der Weise, wie sie in der Verfahrens- und Beweisordnung vorgesehen
sind. Geregelt werden insbesondere der Schutz des Anwaltsgeheimnisses, des Arzt- oder Priestergeheimnisses oder der Schutz von Informationen, die Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Ausübung ihres Mandats in Erfahrung gebracht haben (Abs. 5). Für gerichtsnotorische Tatsachen bedarf der Gerichtshof keiner Beweismittel (Abs. 6).

Artikel 69 Absatz 7 sieht vor, dass Beweismittel, die in Verletzung dieses Statuts oder international anerkannter Menschenrechte erlangt wurden, für unzulässig erklärt werden, wenn diese Verletzung entweder an der Vertrauenswürdigkeit des Beweises erhebliche Zweifel erwachsen lässt oder die Zulässigkeit des Beweismittels der Integrität des Verfahrens entgegensteht und dieser schweren Schaden zufügen würde. Diese Vorschrift setzt die Schwelle für eine obligatorische Unzulässigkeit eines Beweismittels sehr hoch an. Sie ist als «Muss-Vorschrift» ausgestaltet und sagt deshalb nichts darüber aus, unter welchen Voraussetzungen der Gerichtshof allenfalls weitere Beweismittel für unzulässig erklären kann. An Stelle übermässiger for560

malistischer Beweisvorschriften wird dem Gerichtshof mit dieser Bestimmung richtigerweise ein weites Ermessen eingeräumt, wie mit unrechtmässig erworbenen Beweismitteln zu verfahren sei. Diese Flexibilität kann vom schweizerischen Standpunkt aus nur begrüsst werden.

Absatz 8 enthält schliesslich einen Vorbehalt dahingehend, dass der Entscheid des Gerichtshofs über die Erheblichkeit oder die Zulässigkeit eines Beweismittels unabhängig von der Anwendung des innerstaatlichen Rechts durch einen Vertragsstaat ergeht. Damit wird letztlich eine Selbstverständlichkeit ausgedrückt, nämlich die, dass der Gerichtshof nicht zuständig ist, nationale Beweisvorschriften zu überprüfen.

Artikel 70: Straftaten gegen die Rechtspflege Artikel 70 befasst sich mit den Widerhandlungen gegen die Rechtspflege vor dem Gerichtshof. Mit dieser Vorschrift wird dem Internationalen Strafgerichtshof die Möglichkeit eingeräumt, Rechtspflegedelikte, die im Rahmen eines Verfahrens vor diesem Gerichtshof begangen werden, selbst zu ahnden. Zu diesem Zweck umschreibt Absatz 1 die falsche Zeugenaussage, die Vorlage von falschen, ge- oder verfälschten Beweismitteln, die unlautere Beeinflussung von Zeugen oder Bediensteten des Gerichtshofs, Vergeltungsmassnahmen gegen Bedienstete des Gerichtshofs sowie die aktive und passive Bestechung. Diese Vergehen können mit einer Strafe von bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug oder einer Geldstrafe in Übereinstimmung mit der Verfahrens- und Beweisordnung geahndet werden (Abs. 3). Ebenfalls in der Verfahrens- und Beweisordnung werden gemäss Absatz 2 die allgemeinen Grundsätze und die Verfahrensregeln hinsichtlich der im Statut umschriebenen Rechtspflegedelikte vorgeschrieben. Bereits im Statut wird jedoch festgelegt, dass Teil 9 über die internationale Zusammenarbeit und Rechtshilfe auf die Delikte in Artikel 70 nicht anwendbar ist, sondern dass vielmehr das nationale Recht des ersuchten Staates gilt.

Absatz 4 sieht vor, dass der Gerichtshof die Verfolgung der Rechtspflegedelikte auch abtreten kann, wenn im betreffenden Staat die Aussicht auf eine befriedigende Strafverfolgung besteht. Aus diesem Grund ist vorgesehen, dass jeder Vertragsstaat die in seinem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Rechtspflegedelikte auf Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof ausdehnt. Der Frage des Verhältnisses
zwischen den Zuständigkeiten des Gerichtshofs einerseits und der nationalen Behörden andererseits wird in den Verfahrens- und Beweisregeln nachgegangen. Klar ist jedoch schon auf Grund des Statuts, dass es der Gerichtshof ist, der darüber entscheidet, ob er ein Verfahren selbst durchführen oder einen Staat mit dieser Aufgabe betrauen will (Kompetenzkompetenz). In der Praxis dürfte sich der Gerichtshof wenn immer möglich von solchen Angelegenheiten entlasten wollen, die ja nicht zum Kernbereich seiner Aufgaben gehören. Auf der anderen Seite ist es richtig, dem Gerichtshof die Mittel zu geben, um die Kontrolle über das Verfahren in seiner Hand zu behalten. Der Gerichtshof muss einschreiten können, wenn Attacken gegen seine Rechtspflege geritten werden.

Artikel 71: Ordnungswidrigkeiten Artikel 71 knüpft an die in Artikel 64 Absatz 9 vorgesehene Befugnis der Hauptverfahrenskammer an, Massnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung während der Verhandlung zu treffen. Ungebührliches Benehmen vor Gericht kann durch zeitweise oder dauernde Entfernung aus dem Gerichtssaal, eine Geldstrafe oder 561

durch ähnliche Massnahmen geahndet werden. Die Verfahrens- und Beweisordnung regelt das Weitere.

Artikel 72: Schutz von Informationen betreffend die nationale Sicherheit Das Statut nimmt an verschiedenen Orten auf den Schutz vertraulicher Informationen Bezug (so in Art. 54 Abs. 3 Bst. e und f, Art. 57 Abs. 3 Bst. c, Art. 64 Abs. 6 Bst. c, Art. 68 Abs. 6 oder Art. 73). Artikel 72 bildet dabei die zentrale Bestimmung für den Schutz von Informationen, welche die nationale Sicherheit betreffen. Wegen ihrer politischen Bedeutung war diese Bestimmung an der Römer Konferenz lange Zeit umstritten und wurde schliesslich gar Bestandteil des Schlusspakets der Verhandlungen. Die Notwendigkeit einer Bestimmung zum Schutz nationaler Sicherheitsinteressen war dabei nicht einmal ernsthaft bestritten. Eine Kontroverse hatte sich aber namentlich um die folgende Frage entsponnen: Soll dem Staat, der die Zurückhaltung von Informationen mit nationalen Sicherheitsinteressen begründet, oder aber dem Gerichtshof, der solche Informationen verwenden möchte, das letzte Wort zukommen, wenn sämtliche Verhandlungslösungen zwischen Staat und Gerichtshof gescheitert sind? Artikel 72 sieht nun eine differenzierte Lösung vor.

Macht ein Staat geltend, die Offenlegung von Informationen oder Schriftstücken beeinträchtige seine nationalen Sicherheitsinteressen, oder bestätigt ein Staat die entsprechende Behauptung einer Person, die vor Gericht auftritt, so versuchen der betroffene Staat und die Verfahrensbeteiligten, auf der Grundlage von Absatz 5 eine einvernehmliche Regelung zu erzielen. Einige Möglichkeiten für eine Lösung der Auseinandersetzung in dieser Phase werden in den Buchstaben a­d dieses Absatzes beispielhaft aufgezeigt. Ist auf dieser Grundlage jedoch keine Lösung der Frage möglich, so macht der Staat dem Ankläger oder dem Gerichtshof eine entsprechende Mitteilung, die so konkret zu begründen ist, wie dies ohne Beeinträchtigung der nationalen Sicherheitsinteressen des Staates möglich ist (Abs. 6).

In diesem Stadium gilt es nun zu unterscheiden, ob der Gerichtshof die Information im Rahmen eines Ersuchens unter Teil 9 des Statuts erhalten und verwenden möchte oder im Rahmen einer anderen Form des Verkehrs zwischen Gerichtshof und Staat.

Im ersten Fall kann der Gerichtshof weitere Konsultationen abhalten und allenfalls
geschlossene Anhörungen unter Ausschluss einer Partei abhalten; er kann jedoch die Offenlegung nicht verbindlich anordnen, wenn der Staat weiterhin einen Ablehnungsgrund nach Artikel 93 Absatz 4 geltend macht. Tritt dieser Fall ein, so bleibt dem Gerichtshof letztlich nur die Möglichkeit, die Angelegenheit nach Artikel 87 Absatz 7 der Versammlung der Vertragsstaaten beziehungsweise dem Sicherheitsrat, wenn dieser das Verfahren ausgelöst hat (Art. 13 Bst. b), zu übergeben. Geht es dagegen nicht um die Erledigung eines Ersuchens im Rahmen von Teil 9, so kann der Gerichtshof die Offenlegung der Information verbindlich anordnen.

In der Praxis dürfte zwischen den beiden Alternativen kein allzu grosser Unterschied bestehen: Ist der betroffene Staat der Ansicht, es seien tatsächlich ernsthafte nationale Sicherheitsinteressen im Spiel, so wird er sich auch von einer Anordnung des Gerichtshofs nicht beeindrucken lassen; dem Gerichtshof bliebe auch in diesem Fall wohl nur übrig, mit der Angelegenheit an die Versammlung der Vertragsstaaten beziehungsweise den Sicherheitsrat zu gelangen.

Artikel 73: Informationen und Unterlagen von Dritten Artikel 73 ergänzt Artikel 72 und regelt die Frage, wie vorzugehen ist, wenn ein Staat um Informationen ersucht wird, die zwar nicht seine eigene nationale Sicher562

heit betreffen, die er aber nur unter Zusage der Geheimhaltung von Dritten erhalten hat. Zu denken ist etwa an Berichte ausländischer Nachrichtendienste sowie staatlicher oder nichtstaatlicher Organisationen, die für ihre Tätigkeit auf den Schutz der Vertraulichkeit angewiesen sind.

Bei der Beantwortung dieser Frage unterscheidet Artikel 73 danach, ob die ursprüngliche Quelle eine Vertragspartei ist oder nicht. Stammt die Information ursprünglich von einer Vertragspartei, so ist dieser zuzumuten, dass sie, an Stelle des vom Gerichtshof ersuchten Staates, das Verfahren gemäss Artikel 72 durchläuft.

Stammt die Information hingegen aus einer anderen Quelle, so muss der ersuchte Vertragsstaat gegenüber dem Gerichtshof angeben, aus welchen Gründen ihm die Herausgabe der verlangten Information unmöglich ist. Das Statut schweigt sich über die Folgen dieser Bekanntgabe aus. Davon auszugehen ist jedoch, dass in der Praxis Konsultationen zwischen dem Gerichtshof und dem ersuchten Staat stattfinden, wobei dem Staat letztlich das Entscheidungsrecht verbleibt. Denkbar wäre wohl aber auch hier, dass der Gerichtshof die Angelegenheit nach Massgabe von Artikel 87 Absatz 7 der Staatenversammlung beziehungsweise dem Sicherheitsrat übergeben möchte.

Artikel 74: Anforderungen an das Urteil Artikel 74 befasst sich mit den Anforderungen an das durch die Hauptverfahrenskammer ausgesprochene Urteil. Nach Art des «common law» geht das Statut davon aus, dass das Urteil im Schuldpunkt in der Regel separat vom Urteil im Strafpunkt (Art. 76) ergeht.

Nach Artikel 74 Absatz 1 ist die Anwesenheit der drei Richter der urteilenden Kammer in jedem Stadium des Verfahrens erforderlich. Zu Beginn eines Verfahrens können Ersatzrichter bezeichnet werden, welche gewissermassen als Reserve an den Verhandlungen teilnehmen. Dies dürfte insbesondere in Verfahren zweckmässig (oder gar unerlässlich) sein, von denen zu erwarten ist, dass sie sich über eine längere Zeit hinziehen.

Das Urteil darf nicht über die in der Anklage dargestellten Tatsachen und Umstände hinausgehen. Es stützt sich auf die Würdigung der während der Verhandlung beigebrachten und erörterten Beweise (Abs. 2). Die Richter treffen ihr Urteil wenn möglich einstimmig, sie können aber auch mit Mehrheit entscheiden (Abs. 3). Die Urteilsberatung ist vertraulich (Abs. 4).
Umstritten war die Frage der Möglichkeit, dem Urteil im Fall eines Mehrheitsentscheides Individualmeinungen anzufügen. Absatz 5 sieht im Sinne eines Kompromisses vor, dass ein einziger Entscheid ergeht, der jedoch die Meinungen der Mehrheit und der Minderheit zum Ausdruck bringen muss. Das Urteil ist öffentlich zu verkünden.

Artikel 75: Wiedergutmachung für die Opfer Artikel 75 sieht die Möglichkeit vor, Opfern von Verbrechen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Auch diese Bestimmung legt Zeugnis von der grossen Bedeutung ab, die den Opfern im Rahmen des Statuts zukommt.

Absatz 1 beauftragt den Gerichtshof, Grundsätze über Entschädigungszahlungen von Opfern zu erarbeiten. Auf dieser Grundlage kann der Gerichtshof sodann im Einzelfall Entschädigungen zuerkennen. Dabei kann er eine verurteilte Person un563

mittelbar zu Zahlungen anhalten oder dem Opfer Wiedergutmachungsleistungen aus dem Treuhandfonds gemäss Artikel 79 ausrichten lassen (Abs. 2).

Bevor der Gerichtshof über eine Wiedergutmachung entscheidet, lädt er die verurteilte Person, die Opfer oder andere interessierte Personen oder Staaten zu Stellungnahmen ein (Abs. 3). Der Gerichtshof kann einen Vertragsstaat um Massnahmen gemäss Artikel 93 Absatz 1 ersuchen, wobei insbesondere an das Einfrieren oder die Beschlagnahme von Vermögenswerten zu denken ist (Abs. 4). Eine Anordnung einer Wiedergutmachung gegenüber dem Verurteilten ist vom Vertragsstaat so zu vollstrecken wie Geldstrafen und Einziehungsanordnungen (Abs. 5 mit Hinweis auf Art. 109; die nicht völlig geglückte Redaktion lässt sich dadurch erklären, dass die Arbeiten an Art. 109 bereits abgeschlossen waren, als eine Einigung über Art. 75 möglich wurde).

Die Bestimmung über die Wiedergutmachung für die Opfer endet mit dem allgemeinen und wichtigen Hinweis, dass andere (und möglicherweise weiter gehende) Rechte von Opfern unter nationalem oder internationalem Recht vorbehalten bleiben. Auch Artikel 75 ist damit vom Geist der Komplementarität durchdrungen.

Artikel 76: Strafspruch Nach einer Verurteilung auf der Grundlage von Artikel 74, dem Urteil im Schuldpunkt, muss sich die Hauptverfahrenskammer über das Strafmass aussprechen. Zu diesem Zweck kann sie, wenn nicht das vereinfachte Verfahren nach Vorliegen eines Geständnisses gemäss Artikel 65 Anwendung findet, eine weitere Verhandlung anordnen, in welcher zusätzliche Anträge oder Beweismittel hinsichtlich des Strafmasses vorgebracht oder vom Gerichtshof angefordert werden können. In diesem Verfahrensabschnitt sollen auch die Eingaben nach Artikel 75 bezüglich der Wiedergutmachung der Opfer entgegengenommen werden. Das Urteil über das Strafmass und über allfällige Wiedergutmachungszahlungen soll öffentlich und wenn möglich in Anwesenheit des Verurteilten verkündet werden.

3

Berufung und Wiederaufnahme (Teil 8: Art. 81­85)

In fünf Bestimmungen behandelt das Statut die Rechtsmittel gegen Entscheide des Gerichtshofs. Artikel 81 handelt von der Berufung gegen einen Frei- oder Schuldspruch oder gegen den Strafspruch. Artikel 82 regelt die Beschwerde gegen sonstige Entscheide, und Artikel 83 legt die Grundsätze für das Berufungsverfahren fest. Artikel 84 sodann sieht die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens vor. Artikel 85 schliesslich handelt von der Entschädigung an unrechtmässig festgenommene oder verurteilte Personen.

Artikel 81: Berufung gegen Frei- oder Schuldspruch oder gegen den Strafspruch In Artikel 81 sieht das Statut die Möglichkeit der Berufung sowohl gegenüber einem Urteil im Schuldpunkt (Art. 74) als auch gegenüber einem Entscheid über das Strafmass (Art. 76) vor. In Absatz 1 werden die Gründe aufgeführt, unter welchen der Ankläger oder die verurteilte Person ein Urteil im Schuldpunkt anfechten können. Es sind dies: Verfahrensfehler, fehlerhafte Tatsachenfeststellung oder fehlerhafte Rechtsanwendung. Die verurteilte Person oder zu ihren Gunsten der Ankläger kann überdies jeden anderen Grund geltend machen, «der die Fairness oder Verlässlichkeit des Verfahrens oder des Urteils beeinträchtigt». Das Strafmass kann vom 564

Ankläger oder von der verurteilten Person als unverhältnismässig gerügt werden.

Wird im Schuldpunkt appelliert, kommt die Berufungskammer aber zum Schluss, nur das Strafmass sei überhöht, so lädt sie die Parteien ein, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Wird umgekehrt nur das Strafmass angefochten, gerät die Berufungskammer aber zur Überzeugung, es sei die Verurteilung bezüglich eines Anklagepunktes aufzuheben, so lädt sie die Parteien ebenfalls zur Stellungnahme ein (Abs. 2). Insgesamt kann also festgestellt werden, dass die Berufungskammer über eine weite Kognition verfügt und dass das Auseinanderfallen des Entscheides über den Schuldpunkt und des Entscheides über den Strafpunkt der Person nicht zum Nachteil gerät.

Eine erstinstanzlich verurteilte Person bleibt während der Dauer der Berufung grundsätzlich im Freiheitsentzug, es sei denn, die Hauptverfahrenskammer (also nicht die Berufungskammer) entscheide im gegenteiligen Sinn. Wurde eine Person erstinstanzlich freigesprochen oder hat sie die festgesetzte Strafe bereits verbüsst, so wird sie freigelassen, wenn nicht die Hauptverfahrenskammer auf Gesuch des Anklägers hin gegenteilig entscheidet. Eine solche Verfügung kann sogleich bei der Berufungskammer angefochten werden (Abs. 3). Im Übrigen hat die Berufung aufschiebende Wirkung (Abs. 4).

Artikel 82: Beschwerde gegen sonstige Entscheide Artikel 82 umschreibt in loser Folge weitere Möglichkeiten der Beschwerdeführung vor der Berufungskammer. Im Allgemeinen handelt es sich dabei um die Anfechtung von Zwischenverfügungen. Ausnahme bildet die Verurteilung zu Wiedergutmachungsleistungen gemäss Artikel 75 (Art. 82 Abs. 4).

Jede Partei kann in Übereinstimmung mit der Verfahrens- und Beweisordnung eine der folgenden Verfügungen anfechten: ­

eine Entscheidung über die Gerichtsbarkeit oder Zulässigkeit (einschliesslich einer vorläufigen Entscheidung betreffend die Zulässigkeit) (Art. 18 Abs. 4);

­

eine Entscheidung betreffend die Freilassung einer Person;

­

eine Entscheidung der Vorverfahrenskammer, von sich aus Massnahmen bei einer einmaligen Gelegenheit zu Ermittlungsmassnahmen gemäss Artikel 56 Absatz 3 zu treffen; und schliesslich

­

jede weitere Entscheidung, welche die Verfahrensführung in wesentlicher Weise betrifft und welche durch eine unmittelbare Klärung durch die Berufungskammer das Verfahren wesentlich voranbringen kann, wobei über das Vorliegen dieser Voraussetzung die Kammer befindet, deren Entscheid angefochten werden soll («leave to appeal»-Verfahren) (Abs. 1).

Absatz 2 sieht eine weitere Beschwerdemöglichkeit für den Staat und den Ankläger (nicht aber für die Person, gegen welche ein Verfahren läuft) vor, wo die Vorverfahrenskammer gemäss Artikel 57 Absatz 3 Buchstabe d einen Entscheid darüber gefällt hat, ob der Ankläger zu ermächtigen sei, auf dem Gebiet eines Staates Ermittlungen vorzunehmen, ohne dessen Zusammenarbeit erhalten zu haben. Auch hier ist die Zustimmung der Vorverfahrenskammer erforderlich.

Eine weitere besondere Beschwerdemöglichkeit regelt Absatz 4: Opfer, die verurteilte Person oder gutgläubige Eigentümer von Vermögensgegenständen können gegen einen Entscheid gemäss Artikel 75 über die Ausrichtung von Wiedergut565

machungsleistungen an die Opfer appellieren. Die Einzelheiten werden in der Verfahrens- und Beweisordnung festgelegt.

Gemäss Absatz 3 hat eine Beschwerde im Sinne von Artikel 82 nur dann aufschiebende Wirkung, wenn die Berufungskammer dies so beschliesst. Die Verfahrensund Beweisordnung regelt auch hier die Details.

Artikel 83: Berufungsverfahren Artikel 83 regelt das Berufungsverfahren. Diese Bestimmung findet nur für das ordentliche Berufungsverfahren im Sinne von Artikel 81 Anwendung; das Verfahren bei Beschwerden gegen sonstige Entscheidungen gemäss Artikel 82 wird dort und in der Verfahrens- und Beweisordnung festgelegt.

In Artikel 83 wird zunächst festgehalten, dass die fünf Mitglieder zählende Berufungskammer alle Befugnisse der Hauptverfahrenskammer besitzt (Abs. 1). Die Berufungskammer kann einen vorinstanzlichen Entscheid aufheben, abändern oder eine neue Verhandlung vor einer anderen Hauptverfahrenskammer anordnen. Sie kann eine Frage für zusätzliche Abklärungen des Sachverhalts auch an die ursprüngliche Hauptverfahrenskammer zurückweisen. Das Urteil kann nicht zu Ungunsten der verurteilten Person abgeändert werden (Verbot der «reformatio in peius»), wenn nur die verurteilte Person (beziehungsweise der Ankläger in deren Namen) Berufung eingelegt hat (Abs. 2).

Die Berufungskammer trifft ihren Entscheid einstimmig oder mit einfacher Mehrheit. Wo keine Einstimmigkeit herrscht, soll das Urteil sowohl die Mehrheits- als auch die Minderheitsmeinung darstellen. Anders als auf der Ebene der Hauptverfahrenskammer (Art. 74 Abs. 5) bleibt es einem Richter im Berufungsurteil allerdings unbenommen, über eine Rechtsfrage eine individuelle oder abweichende Meinung anzufügen. Der Entscheid wird öffentlich verkündet (Abs. 4).

Ebenfalls anders als im erstinstanzlichen Verfahren vor der Hauptverfahrenskammer kann die Berufungskammer auch in Abwesenheit einer Person entscheiden (Abs. 5).

Eine Person kann sich also einer rechtsgültigen Verurteilung nicht dadurch entziehen, dass sie nach dem Urteil der Hauptverfahrenskammer flieht.

Artikel 84: Wiederaufnahme des Verfahrens Neben der Berufung und der Beschwerde gegen sonstige Entscheidungen sieht das Statut ­ als ausserordentliches Rechtsmittel ­ in Artikel 84 auch die Möglichkeit der Wiederaufnahme vor. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich
des Schuldspruchs oder des Strafspruchs ist möglich, wenn nach Eintritt der Rechtskraft eines Urteils des Gerichtshofs neue Beweismittel entdeckt werden, welche zum Zeitpunkt der damaligen Verhandlung nicht zur Verfügung standen und welche derart wichtig scheinen, dass das Urteil möglicherweise anders ausgefallen wäre.

Ausserdem ist die Wiederaufnahme gegeben, wenn entdeckt wurde, dass prozessentscheidende Beweismittel falsch, ge- oder verfälscht waren, oder wenn sich ein Richter einer ernsthaften Amtspflichtverletzung schuldig gemacht hat, welche seine Amtsenthebung im Sinne von Artikel 46 rechtfertigen könnte. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens kann vom Verurteilten oder von ihm nahestehenden oder ausdrücklich beauftragten Personen sowie vom Ankläger zu Gunsten des Verurteilten beantragt werden (Abs. 1).

Für die Entgegennahme des Wiederaufnahmegesuches ist die Berufungskammer zuständig. Je nach den Umständen kann diese die ursprüngliche Hauptverfahrens566

kammer einberufen, eine neue Hauptverfahrenskammer beauftragen oder sich selbst für zuständig erklären. Weitere Einzelheiten bleiben der Verfahrens- und Beweisordnung vorbehalten.

Artikel 85: Entschädigung an zu Unrecht Festgenommene und Verurteilte Artikel 85 behandelt den Fall, in dem eine Person vom Gerichtshof zu Unrecht festgenommen oder verurteilt wurde.

Absatz 1 gibt Artikel 9 Ziffer 5 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte347 wieder, wonach jede Person, die unrechtmässig festgenommen oder in Haft gehalten worden ist, einen Anspruch auf Entschädigung hat. Absatz 2 entspricht fast wörtlich Artikel 14 Ziffer 6 des Paktes, der die Entschädigungspflicht im Falle eines Fehlurteils verankert. Gestrichen wurde nur die Erwähnung der Begnadigung, weil eine solche im Statut nicht vorgesehen ist.

Kontrovers war die Frage, ob das Statut im Bereich der Entschädigung über die beiden genannten Minimalbestimmungen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte hinausgehen solle. Artikel 85 Absatz 3 eröffnet nun «unter aussergewöhnlichen Umständen» eine weitere Entschädigungsmöglichkeit auch im Falle eines rechtskräftigen Freispruchs, wenn sich ergibt, dass im Laufe des Verfahrens schwere und offensichtliche Fehler begangen wurden. Die eng gehaltene Formulierung verweist auf das Ermessen des Gerichtshofs und auf die weitere Behandlung in der Verfahrens- und Beweisordnung. Darin wird der Gerichtshof angewiesen, bei der Beurteilung eines Gesuchs nach Artikel 85 Absatz 3 die Folgen zu berücksichtigen, die der vom Gerichtshof begangene Fehler für die persönliche, familiäre, gesellschaftliche und berufliche Lage der Person hatte 348.

347 348

SR 0.103.2 Texte final du projet de Règlement de procédure et de preuve, Rapport de la Commission préparatoire de la Cour pénale internationale du 30 juin 2000, Nations Unies, document PCNICC/2000/INF/3/Add. 1, Règle 175.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

392

1 Allgemeiner Teil 1.1 Das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs: ein Instrument zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte 1.2 Geschichte und Werdegang des Internationalen Strafgerichtshofs 1.3 Bedeutung des Internationalen Strafgerichtshofs im System der internationalen Friedenssicherung 1.4 Die schweizerische Haltung zum Internationalen Strafgerichtshof 1.4.1 Rolle der Schweiz in den Verhandlungen und Würdigung des Verhandlungsergebnisses 1.4.2 Die Haltung der Bundesbehörden 1.4.3 Das Vernehmlassungsverfahren

394

2 Besonderer Teil: Inhalt und Anwendungsbereich des Statuts 2.1 Allgemeines 2.2 Der Gerichtshof 2.2.1 Institutionelles (Teil 1: Art. 1­4 und 21) 2.2.2 Zusammensetzung und Verwaltung des Gerichtshofs (Teil 4: Art.

34­52) 2.3 Zuständigkeit des Gerichtshofs 2.3.1 Ausübung der Gerichtsbarkeit (Art. 12) 2.3.2 Komplementarität (Art. 17) 2.3.3 Auslösung der Verfahren (Art. 13­15, 18 und 19) 2.3.4 «Ne bis in idem» und Nichtrückwirkung (Art. 20 und 11) 2.4 Das Verhältnis des Gerichtshofs zu den Vereinten Nationen, insbesondere zum Sicherheitsrat 2.5 Die Straftatbestände des Statuts (Art. 5­9) 2.5.1 Völkermord (Art. 6) 2.5.2 Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7) 2.5.3 Kriegsverbrechen (Art. 8) 2.5.3.1 Allgemeines 2.5.3.2 Verbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt 2.5.3.3 Verbrechen im nicht internationalen bewaffneten Konflikt 2.5.4 Aggression (Art. 5 Abs. 2) 2.6 Allgemeine Grundsätze des Strafrechts und Strafen 2.6.1 Allgemeine Grundsätze des Strafrechts (Teil 3: Art. 22­33) 2.6.2 Strafen (Teil 7: Art. 77­80) 2.7 Das Verfahren vor dem Gerichtshof (Teile 5, 6 und 8) 2.8 Internationale Zusammenarbeit und Rechtshilfe (Teil 9: Art. 86­102) 2.8.1 Grundsätze 2.8.2 Überstellung 2.8.3 Andere Formen der Zusammenarbeit 2.9 Vollstreckung (Teil 10: Art. 103­111)

407 407 407 407

568

394 395 401 404 404 406 406

409 414 414 416 417 420 421 422 422 423 423 423 424 425 426 426 426 427 428 430 430 435 439 443

2.10 Versammlung der Vertragsstaaten (Teil 11: Art. 112) 2.11 Finanzierung des Gerichtshofs (Teil 12: Art. 113­118) 2.12 Schlussbestimmungen (Teil 13: Art. 119­128)

445 446 447

3 Das Statut und die schweizerische Rechtsordnung 3.1 Allgemeines 3.2 Revision des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes: Ausdehnung der Rechtspflegedelikte auf das Verfahren vor dem Gerichtshof 3.3 Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof 3.3.1 Einführung 3.3.2 Allgemeine Bestimmungen 3.3.3 Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof 3.3.3.1 Grundsätze der Zusammenarbeit 3.3.3.2 Zuständigkeit des Gerichtshofs 3.3.3.3 Verkehr mit dem Gerichtshof 3.3.3.4 Weitere Bestimmungen 3.3.4 Überstellung der vom Gerichtshof verfolgten oder verurteilten Personen 3.3.4.1 Voraussetzungen 3.3.4.2 Überstellungshaft und Sicherstellung 3.3.4.3 Überstellungsentscheid 3.3.5 Andere Formen der Zusammenarbeit 3.3.5.1 Voraussetzungen 3.3.5.2 Einzelne Formen der Zusammenarbeit 3.3.5.3 Verfahren 3.3.5.4 Rechtsmittel 3.3.6 Vollstreckung der Sanktionen des Gerichtshofs 3.3.6.1 Strafentscheide 3.3.6.2 Einziehungsanordnungen 3.3.7 Schlussbestimmungen 3.4 Zum Bundesbeschluss betreffend die Genehmigung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs

449 449

4 Auswirkungen 4.1 Finanzielle und personelle Auswirkungen 4.2 Volkswirtschaftliche Auswirkungen 4.3 Auswirkungen auf die Informatik

481 481 482 482

5 Legislaturplanung

483

6 Verhältnis zum europäischen Recht

483

7 Verfassungsmässigkeit

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452 454 454 456 456 456 459 460 461 462 462 464 466 468 469 471 474 476 477 478 479 480 480

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Anhang 1: Die Straftatbestände des Statuts (Erläuterungen zu den Artikeln 5­9 des Statuts)

489

Anhang 2: Die allgemeinen Grundsätze des Strafrechts und Strafen (Erläuterungen zu den Teilen 3 und 7 des Statuts)

542

Anhang 3: Das Verfahren vor dem Gerichtshof (Erläuterungen zu den Teilen 5, 6 und 8 des Statuts)

549

Bundesgesetz über die Änderungen des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Entwurf)

571

Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (Entwurf)

573

Bundesbeschluss betreffend die Genehmigung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (Entwurf)

594

Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs

596

570