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Schweizerisches

desbißtt.

Jahrgang II. Band

Nro.

III.

43.

Samstag, den 21. Herbstmonat 1850.

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Verhandlungen der Bundeswersammlttnfl des national- und Ständerathes.

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Bericht und Antrag des

schweizerischen Bundesrathes an die hohe Bundes» versammlung, betreffend den Kompetenzkonflikt zwischen Waadt und Genf, vom 11. Mai 1850.

Tit.

Wir sehen uns veranlaßt, Jhre Entscheidung in einer Angelegenheit anzurusfn, in welcher die Regierung des hohen Standes Gens sich weigert, die Kompetenz des Bundesrathes anzuerkennen.

Der Fall selbst ist im Wesentlichen folgender: Herr Bip p er t, Advokat, in Lausanne, übersandte uns unterm 22. April d. J. eine Beschwerdeschrist, be* Bundesblatt. Jahrg. II. Bd. III,, 5

60 treffend Kompetenzkonflikt der beiden Kantone Waadt und Genf in nachstehender Erbstreitigkeit: Peter David T u r i a n , von Chateau d'Oex, Kantons Waadt, wohnte im Jahre 1842 in Genfund verheirathete sich damals mit einer Gensrn'n, Jeanne Bebaillet. Jm Jahre 1843 bei noch kinderloser Ehe setzte die Fran Turian ihren Mann durch Testament zum Unioersalerben ein.

Nachdem im folgenden Jahre noch ein Sohn, Ludwig Abraham, aus dieser Ehe hervorgegangen war, verstarb die Frau Turian im Jahre 1840. Der Wittwer begab sich nun mit dem Sohne in seinen Hcnnathkanton Waadt zurück, woselbst im Jahre 1849 der Sohn Turian ebensalls verstarb. Das Vermögen der Frau Turian bestand wesentlich in einigen Immobilien im Kanton Genf, auf circa 2000 franz. Fr. gewerthet. Der Vater Turian, von der Ansicht ausgehend, daß die waadtländischen Gesetze Anwendung finden und daß nach denselben der Sohn die Mutter und er hinwiederum den Sohn beerbt habe, wollte die Erbschaft in Genf liqnidiren, was ihm jedoch von den mütterlichen Verwandten seines Sohnes, die sich als Miterben aufstellten, streitig gemacht wurde. Er leitete nun in Morgcs nach den gesetzlichen Formen einen Zivilprozeß ein. Allein seine Gegner blieben aus und belangten ihn bald nachher bei dem Gerichte in Genf, woselbst er seinerseits ebenfalls ausblieb. So waren nun über den nämlichen Streitgegenstand zwei Prozesse im Gange, in Morges und in @enf. Das Gericht in Morges erließ am 5. April d. J. ein definitives Urtheil, wodurch Herr Turian als Universalerbe anerkannt wird. Das Gericht in Genf dagegen fprach vorläufig aus, daß die Jmmobilien nach den genferschen Gesetzen getheilt werden sollen und ernannte Experten zur Schätzung. Der definitive Spruch dieses Gerichtes wurde sodann auf den 7. Mai

61 vertagt. Mittlerweile hatte auch die Regierung von Waadt bei derjenigen von Genf ihre Vermittlung eintreten lassen, allein von letzterer die Antwort erhalten, daß ihr nach der Verfassung von Genf 'keine Einwirkung auf die ge-

richtlichen Urtheile zustehe. Bei dieser Sachlage wandte sich nnn der Anwalt des Herrn Turian an den Bundesrath mit dem Gesuche, den weitern Rechtsgang zu sistiren und eine Entscheidung zu fassen, welche den Konflikt der beiden Jurisdiktionen beendige.

Auf den Antrag unferes Justizdepartements, welchem die Beschwerdeschrist des Herrn Bippert, beziehungsweise des Herrn Turian, zur Begutachtung überwiesen wurde, beschlossen wir, dem Petente« in Bezug aus die ©istirung des Prozesses zu entsprechen und die Befchwerdeschrift der Regierung von Genf für sich nnd zuhanden der Betheiligten mitzntheilen und erstere darauf aufmerksam zu machen, daß, da über die Kompetenz der Gerichte des einen und andern Kantons ein Konflikt obwalte, die Notwendigkeit sich ergebe, diesen Konflikt durch die kompetente Bundesbehörde zu entscheiden. Diese Behörde sei aber, unserer Ansicht nach, nicht das Bundesgexicht, weil es sich nicht um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit zwischen zwei Kantonen handle, sondern'nm eine staatsrechtliche Frage über die Jurisdiktionsbefugniß, als Ausfluß der' Territorialhoheit und weil durch Art. 101 der Bundesverfassung solche Fragen auedrücklich der Kompetenz des Bundesgerichtes entzogen feien. Aus diesem Grunde habe der Bundesrath bis anhin folche Kompetenzstreitigkeiten entschieden, wobei sich von selbst verstanden, daß nach Art. 74, §. 15 der Bundesverfassung gegen feinen Entscheid Beschwerde gesührt werden könne. Jnzwischen sei die Regierung von Gens aber eingeladen, darauf hinzuwirken, daß einstroeilen jedes weitere Prozeßverfahren unterbleibe, bis die kompe-

62 tente Bundesbehörde über die Kompetenz der Gerichte des einen oder andern Kantons einen Entscheid gefaßt haben werde.

Hierauf erwiederte die Regierung von Genf mit Schreiben vom 3. Mai unter einläßlichem Eintreten auf die Sache felbst, daß sie dem Bundesrathe in diesem Kompetenzstreite keinen-Entscheid zugestehe, fondern daß derfelbe unmittelbar von der Bundesversammlung ausgehen müsse.

Ferner sei sie nicht besngt, den Gerichten den weitern Rechtsgang zu untersagen, da dieselben von der Vollziehungsgewalt ganz unabhängig seien.

Jn Folge dieser Erwiederung der Regierung von Genf befchlossen wir, diesen Gegenstand auf die Traktanden der bevorstehenden Bundesversammlung zu bringen und der Regierung von Gens rückantwortlich davon Anzeige zu machen, mit dem Bemerken, daß wir gar keinen Werth daraus setzen, für den Entscheid über die staatsrechtliche Frage kompetent erklärt zu werden, wohl aber daraus, daß eine Bundesbehörde zuerst solche Konflikte zwischen Kantonen entscheide und daß nicht mehrere Kantone gleichzeitig in der gleichen Rechtssache die Jurisdiktion ausüben, endlich verlangen wir nicht, daß die Regierung von Genf in der Eigenschaft als Regierung ihren Gerichten einen Befehl erteilen, fondern daß sie, als Organ des Bnndeörathes in ihrem Kantone den Gerichten anzeige, daß von der kompetenten Bundeebehörde zuerst die staatsrechtliche Frage zu entscheiden sei, ob die Gerichte des einen oder andern Kantons in dieser Sache kompetent seien und daß somit jedes weitere Vexsahren zu suspendiren sei.

Dieser deutlichen Erklärung ungeachtet, erließ das Gericht in Genf am 7. Mai nichtsdestoweniger ein desinitives Urtheil in Sachen, wogegen der Turian'fche Anwalt, gestützt auf die von uns erlassene Verfügung der Suspen-

63 sion, unfern Schutz gegen das Verfahren des Gerichtes in Genf anrief, worauf wir nochmals die Regierung von

Genf angingen, die Vollziehung dieses Urtheils zu füspen-

diren, indem wir sie, ans den Fall, daß die kompetente Bundesbehörde über die Kompetenzfrage eine von den 'genferschen Behörden abweichende Ansicht haben sollte, für alle hieraus entspringenden Folgen verantwortlich machten.

Hieraus erwiederte sodann die Regierung von Genf sub 11. Juni, sie habe den erwähnten Suspensionsbeschluß des Bundesrathes ihrem Staatsanwalte zu weiterm Gutfinden zugestellt, mehr zu thun erlauben ihr weder die Gesetze noch die Verfassung des Kantons, da die richter* liche Gi-walt von der exekutiven dortfeits vollständig getrennt und unabhängig stehe. Dabei drückt sie ihr Bedauern darüber ans, daß sie sür die allsälligen Folgen verantwortlich gemacht sei, eine Verantwortlichkeit, welche sie nicht übernehmen könne-, denn nach dortseitigen Gesetzen falle es nicht der Regierung von Genf zu, im Namen des Bundesrathes die Sufpenfion der Vollziehung des richterlichen Urtheils zu verlangen, sondern es sollte dieß durch Herrn Tuxian selbst, gestützt auf die dießfällige Verfügung geschehen; es wäre daher, ihrer Ansicht nach, das Zweckmäßigste, um eine Erledigung dieser Angelegenheit zu erzielen, wenn der Bundesrath den Herrn Turian dahin verständigen würde, diesen Weg einzuschlagen, wodurch sowohl einer Verletzung der dortigen Gesetze als einem Mißbrauch der Gewalt vorgebeugt werden dürfte.

Unter diesen Umständen sehen wir uns veranlaßt, die Angelegenheit Jhren. Entscheide vorzulegen.

Es handelt sich zunächst nicht um die Frage, welches von den Kantonsgerichten diese Sache zu entscheiden habe, sondern vielmehr um die Frage, welche Bundesbehörde kompetent sei, diesen Konflikt zu entscheiden. Die Regie-

64 rung von Genf bestreitet die Kompetenz des Bundesrathes, indem sie den Entscheid unmittelbar von der hohen Bundesverfammlung verlangt. Wenn wir es mit unserer Pflicht und Ueberzeugung vereinigen könnten, die Kompetenz abzulehnen, so würden wir es gerne thnn. Denn solche Konflikte zwischen zwei Kantonen sind häusig sehr schwierige und zeitraubende Geschäfte; sie sind ferner nnangenehme und undankbare Geschäfte, weil man in der Regel einer Kantonsregierung Unrecht geben muß. Dessenungeachtet müssen wir uns für die Ansicht aussprechen, daß der vorliegende Fall zunächst in unsere Kompetenz gehöre, immerhin unter Vorbehalt des Rekurses an die hohe Bundesversammlung gemäß Art. 74, §. 15 der Bundesverfassung. Zur Begründung dieser Ansicht geben wir uns die Ehre, Sie auf Folgendes aufmerksam zumachen: Es fragt sich vor Allem aus, ob der vorliegende Fall dem öffentlichen oder dem Privatrechte angehöre. Wir stehen keinen Augenblick an, das Erste« zu behaupten.

Es handelt sich ja nicht darum, über die Erbanfprüche der betheiligten Personen zu entscheiden; dieß ist allerdings ein Zivilprozeß, der vor die Gerichte gehört. Allein dieser Prozeß ist nnr die Veranlassung zu dem Konflikte zwischen beiden Regierungen, in welchem es um die Frage zu thun ist, ob die Behörden von Gens oder diejenigen von Waadt kompetent seien; es handelt sich also offenbar um Jurisdiktionsbefugniß als Ausfluß der Territorialhoheit, und um die Grundsätze, welche dießfalls das öffentliche Recht der Eidgenoffenschaft an die Hand gibt. Wir finden daher gerade über Kompetenz der Kantone in Rechtsfachen eine Reihe von Bestimmungen in der Bundesverfassung und in den Konkordaten, welche die Hauptquelle des fchweizerischcn ©taatsrechtes bilden. Wenn nun aber die Frage staatsrechtlicher Natur ist, fo gehört sie nach der

05 ausdrücklichen Bestimmung des Art. 101 der Bundesverfassung nicht in die Kompetenz des Bundesgerichtes. Auf diefen Fall nun, daß man die Frage als eine staatsrechtïiche auffassen würde, erklärt die Regierung von Genf die Kompetenz der hohen Bundesversammlung und nicht diejenige des Bundesrathes für begründet. Jn Berücksichtigung des Art. 74, §. 15 und 16 der Bundesverfassung sind wir weit entsernt, der hohen Bundesversammlung das Recht des obersten Entscheides bestreiten zu wollen ; allein wir glauben, zunächst habe sich der Bundesrath mit solchen Entscheidungen zu besassen, und wir nehmen die Freiheit, Sie aus solgende Momente ansmerksam zu machen : 1) Es liegt gewiß in der Natnr der Sache, daß die Anwendung von Verfassung, Gefetzen, Konkordaten und Beschlüssen auf täglich vorkommende einzelne Falle nicht zunächst der obersten Landesbehörde zusteht, deren wesentlicher Wirkungskreis sich aus die Gesetzgebung und Oberaufsicht bezieht, fondern der Gerichts- oder Regierungsbehörde, je nachdem der Gegenstand privatrechtlich ist oder nicht. Die umgekehrte Ansicht müßte in der That zu einer sonderbaren und schwerfälligen Praxis führen. Es kommen

nämlich fehr häufig solche Fälle vor, die bisweilen sehr dringlich sind, z. B. bei Fragen über die Zulässigkeit von Arrestanlegung. Jn allen solchen Fällen müßte man der von uns bestrittenen Ansicht nach, entweder die hohe Bundesversammlung einberufen, oder die Betheiligten müßten bis zu ihrem Zusam* mentritte, vielleicht sast ein Jahr, warten.

2) Obiger Grundsatz wird auch durch Art. 90, §. 2 der Bundesversassung bestätigt; er lautet so: ,,Der Bundesrath hat für Beobachtung der Verfassung, ,,der Gesetze und Befchlüsse des Bundes, so wie der Vor-

66 "fchriften eidgenössischer Konkordate zu wachen; er trifft "zur Handhabung derselben von sich aus oder auf einge"gangene Beschwerde die erforderlichen Verfügungen."

Dieses ganze, dem Bundesrathe zugewiesene Geschäftsgebiet besteht vorzugsweise aus staatsrechtlichen Streitfragen und fomit verlöre dieser Artikel größtentheils seine Bedeutung, sobald man dem Art. 74, §. 16 die Bedentung gäbe, daß die hohe Bundesversammlung sich zunächst und unmittelbar mit diesen Geschäften zu befassen habe.

Wir wollen ferner an einem Beispiele zeigen, zu welchen sonderbaren Konsequenzen man mit einer solchen Ansicht käme. Bekanntlich besteht zwischen einigen Kantonen über den Gerichtsstand in Erbsachen ein Konkordat. Setzen wir nun den Fall, der sehr leicht möglich ist, daß zwischen zwei Kantonen, die im Konkordate stehen, und zwischen zwei andern, die nicht dazu gehören, ganz der gleiche Kompetenzstreit ausbreche, so wird Niemand bezweifeln wollen, daß nach Art. 90, §. 2 der Bundesverfassung zunächst der Bundesrath jenen Streit zu entscheiden hätte.

Wird man nun dessenungeachtet behaupten wollen, die gleiche Streitfrage gehe den Bundesrath nichts an, fobald die Kantone nicht in dem Konkordate stehen? -- Der Art. 90, §. 2 beweist, beiläufig bemerkt, auch wieder, daß Fragen, wie die vorliegende, nicht vor das Bundesgericht gehören. · 3) Auch die Bundesgesetzgebung bestätigt nnfere Ansicht und zeigt, daß die hohe Bundesversammlung die zitirten Verfassungsartikel so verstanden habe. Denn im Gesetze über die Organisation nnd den Geschäftsgang des Bundesrathes heißt es:

"Art. 25, §.6 die Prüfung von Kompetenzstreitigkeiten ,,der Kantone mit den Bundesbehörden oder unter sich "u. s. w. steht dem Justiz- und Polizeidepartemente zu."

67 Diese Gegenstände müssen also offenbar in den Geschäftskreis des Bundesrathes gehören, wenn dessen Justizdépartement fie begutachten soll.

4) Jn Folge Alles dessen hat sich denn auch in diesem Sinne eine konstante Praxis gebildet. Wir haben schon eine Reihe solcher Kompetenzstreitigkeiten entschieden, ohne daß bis jetzt eine Beschwerde dagegen erhoben wurde. Gegenwärtig ist eine solche ..Beschwerde angekündigt in einem Kompetenzstreit zweier Kantone, der sich ebensalls ans den Gerichtsstand in einer Erbssache bezieht. Allein diese Befchwerde wird das Materielle nnferes Entscheides zum Gegenstand haben, nicht unsere Kompetenz, weil die letztere von beiden betreffenden Regierungen anerkannt wurde.

Aus diesen Gründen stellen wir den Antrag : "Die hohe Bundesversammlung möge in Anwendung "von Art. 74, §. 17 der Bundesversassung erklären, daß ,,dex -.Bundesrath in der vorliegenden Streitfrage zwischen

"den Regierungen von Waadt und Genf kompetent sei, "unter Vorbehalt der Beschwerdesührung, welche nach "Art.

74, §. 15 der Bundesverfassung über Verfügungen

,,des Bundesrathes an die Bundesversammlung zulässig ist."

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer ausgezeichnetsten Hochachtung.

Bern, den 11. Mai 1850.

Im Namen des fchweizerifchen Bundesrathes, Der Bundespräsident:

·4?. Drue9.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:

Schieß.

Bundesblatt. Iahrg. n. Bd. In.

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Bericht und Antrag des schweizerischen Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend den Kompetenzkonflikt zwischen Waadt und Genf, vom 11. Mai 1850.

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21.09.1850

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