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Schweizerische..'

Buudesblatt.

Jahrgang VII. Bandii.

Aro. ä$.

Montag, den Ì6. Juli 1855.

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.Bericht und Antrag der

nationalräthlichen Kommission über die am 11.

März 1855 im 40. und 41. eidg. Wahlkreis (Tessin) stattgehabten Nationalrathswahlen.

(Vom 7. Juli 1855.)

Tit.

Die Kommission*), welche Sie mit Prüfung der Wahlakten des 40. und 41. eidgenössischen Wd)lkreises beauftragt haben, beschäftigte fich in wiederholten Sitzungen mit der Erfüllung des wichtigen Mandats Dieselbe gibt fich anmit die Ehre, ihr diesfälligen vj':r.z objektiv gehaltenes Gutachten sammt Schlußantrag Ihrem Entscheide vorzulegen.

Nachdem der Nationalrath in seiner Sitzung vom 2l. ..Dezember 1854 die Wahlen des 40. und 41« eidg. Wahl*) Bestehend in den Herren Nationalräthen B l a n c h e n a i ) , P f i j s f e x , -Siuggisser, S t r e n g und dein Berichterstatter.

·.8un6c.Jbli.itt. 3aì)x8. VII. -Bd. U.

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194 kreifes unter Anderm wesentlich aus dem ©runde kassirt hatte, weil dieselben unter der Herrfchaft des tefsmifchen Wahlgesetzes vom 7. Inni 1851, wornach der tesstnische Wahlmann, entgegen dem Art. 4 des Bundesgesetzes über die Nationalrathswahlen vom 21. Dezember 1850, anstatt an seinem Wohnorte, in j e d e m Wahleirkel des Wahlkreises (alfo im Heimatort oder Wohnorte) sein Stimmrecht üben konnte, -- vorgenommen worden feien, -- erließ der Große Rath des Kantons Tefjtn am 1. M ä r j 1855 ein Gesetz, in welchem der Art. 10 des Gesetzes vom 7. Inni 1851, betreffend die Wahl der Mitglieder des National- und Ständeraths, mit dem Art. 4 des ·..Bundesgesetzes über die Nationalrathswahlen in -vollkommenen Einklang gebracht wurde. Der frühere Art. 10 lautet nun wörtlich : ,, Die Bürger stimmen an ihrem ,,Wohnsitze, d. h. im Wahleirkel der Gemeinde ihres ,,wirklichen Aufenthalts." *)

Am gleichen Tage -- 1. März -- ward vom Staats* rathe ein Dekret erlassen und der Erlaß auf telcgraphifchem Wege den Regierungsstatthaltern angekünijet, in welchem Die Vornahme der Wahlen der S.-îitgfieder des Nationalrathes im 40. und 41. eidgenössischen Wahlkreise, so wie derjenigen der eidgenössischen Geschrnornen aus Sonntag den 11. März festgcfetzt wurde. In diefcm Dekrete werden die Munizipalitätsbehördcn aufgefordert, nach Maßgabe des modifizirten Wahlgesetzes vom 7. Iuni 1851, in jeder Gemeinde die Verzeichnisse der Stimmfähigen (cataloghi) zu bilden und dieselben gehörig zu publiziren. Gleichzeitig wurde in diesem Dekrete ausdrücklich daran erinnert, daß die Wahlbüreaur ') J cittadini votano nel luogo del loro domicilio, cioè nel cìrcolo del comune di 'loro dimora.

195 nur solche Stimmen berücksichtigen dürfen, welche von dem betreffenden Votanten den Stimmenzählern persön[ich-mündlich oder aber ans einem Zettel -- ebenfalls persönlich -- angegeben werden. Keiner dürfe im Namen oder als Beauftragter eines Andern die Stimme abgeben. Die gestfetzung der Stunde, in welcher die Wahlen am anberaumten Wahltag begonnen werden follen, wurde einem spatern Dekrete aus dem Grunde vorbehalten, rneil, in fo fern die im Projekt liegenden neuen Verfassungsbeftimmungen vom Volk angenommen würden, an demselben ..tage und den eidgenössischen Wahlen vorgängig auch die neuen Wahlen in den Großen Rat!?

und die Bestellung der Friedenegerichte, so wie der Candidatfn für die Bezirksgerichte vorgenommen werden sollten.

Dieses Dekret erlieg der Staatsrath am 7. Mär,v,, am gleichen Tage, an welchem der Große Rath nach Prüfung der Ergebnisse der Abstimmung über die neue Verfassung, diefe als vom Volke angenommen und als Grundgesetz des Sandes erklärt worden war. ..Dieses Dekret fetzte fest: es soll am 11. März mit den Kantonalwählen, und zwar um 9 Uhr Morgens, begonnen werden; wenn diese vullendei feien, haben unmittelbar nachher die eidgenoffifchen Wahlen stattzufinden. Wenn die eidgenösfifchen Wahlen voraussichtlich bis 6 Uhr Abends des gleichen Tages nicht beendigt werden können, fo seien dieselben um 4 Uhr Nachmittags zu unterbrechen, und am Montag darauf und den folgenden Tagen fortzujetzen und z« vollenden. *) *) g. 2. Le operazioni che si prevedesse non poter compirsi per le ore sei pomeridiane, dovranno essere sospese alle ore 4 per essere riprese ali' indomani e ne' susseguenti giorni sino al loro compimento.

196 Sonntags den 11. März fanden dann in allen WahlC.rkeln die Wahlen in den Kantons- und den Nationalrath statt. Am 16. März konstituirte fich der neue ©roge Rath und nahm, wie fich's gebührt, zunächst die Verifi* kation der Wahlakten vor. Nur aus den vier Wahlzirkein S o n v i e o , S e s f a , M a g l i a s i n a und G i u b i a s e o waren Gesuche um Kassation der Wahlen eingegangen.

Sie wurden nach statt-gehabter Prüfung abgewiesen und die Wahlen für gültig erklärt. In R i v i e r a hatten zwei Wahlversammlungen, die eine getrennt von der andern, stattgefunden. Diese wählten dann von drei zu wählenden Mitgliedern zwei. Gleiches geschah im Wahleirkel M a l v o g l i a . Der dritte wurde gleichzeitig in beiden Versammlungen gewählt. Der Große Rath kasfirte je die eine Wahlverhandlung in diesen beiden Wahleirkcln und erklärte die andere für gültig. Eine Klage auf Wahlbestechung gegen den Grojjrath R a g a z z i von Vira wurde untersucht, unbegründet erfunden und abgewiesen. Die WahlProtokolle hinfichtlich der Nationalrathswahlen langten nach einander an den Staatsrath ein, und dieser befchäftigte fich am 4. April in öffentlicher Sitzung mit Prüsung derselben und mit Zusammenstellung der Stimmen, wie solche auf die einzelnen Kandidaten gefallen waren.

Das Ergebniß dieser Verhandlung wurde unterm gleichen

4. April im Amtsblatt (foglio officiale p. 309) publizirt und den Gewählten die Wahlakte übermittelt.

In Geinäßhnt dieser Proklamation erhielten im 40. e i d g e n ö f s i f c h e n W a h l k r e i s e , der die Bezirke M e n d r i s und L a u i s und den Kreis G i u b i a s e o vom Bezirk B eil en z umfaßt.

Stimmen.

Hr. Giacomo Luvini-Perseghini . 7,038 " Giovanni Battista RameUi . . 6,925 ,, Cesare Bernaseoni . . . . 6,974

197 .-pr. Leone Stoppani

,, Filippo Lepori

Stimmen, 550

496

,,

Gaetano guvisoni . . . . 188 Die Zahl der Votanten betrug 7,517.

Der Candidat der Oppofition, S t o p p a n i , der die meisten, d. h. 550 Stimmen machte, hatte also 6,488 Stimmen weniger, als der Candidat der Majorität, der die meisten, d. h. 7,038 Stimmen machte, und noch 6,375 weniger, als der Candidat der Majorität, der die wenigsten, d. h. 6,925 Stimmen machte.

Im 41. e i d g e n ö s s i s c h e n W a h l k r e i s , welcher die Bezirke. S u g g a r u s , M a y n t h a l , B e l l e n z (ohne den Kreis Giubiaseo), R i v i e r a , B l e n t o und Livinien in fich begreift, erhielten Stimmen.

Hr. Giovanni Battista Pioda . . 5,363 ,, Giovanni Iauch 5,441 ,, Giuseppe Batocchi . . . . 5,380 " Rocco -.Bonzanigo . . . . 1,553 ,, Ferdinando Cattaneo . . . 1,538

,, Michele Pedrazzini . . . . i,49o

,, Coftantino Monighetti . . .

90 Die Zahl der Votanten in diesem Wahlbezirf be-

trug 7,002.

Der Candidat der Opposition, Bonjanigo, der die meisten, d. h. 1,553 Stimmen machte, hatte noch 3,888 Stimmen weniger, als der Candidat der Majo* rität, der die meisten, und noch 3,810 Stimmen weniger, als der Candidat der Mehrheit, der die wenigsten Stimmen auf fich vereinigte.

Cs haben demnach 14,519 eidgenosfische Wahlmänner an diesen Nationalrathsrcahlen Theil genommen, d. h.

etwa über die 2,000 mehr als im Iahre 1848 und blof

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2,881 weniger, als am 29. Oftober 1854, für welchen Wahltag die politischen Partheien die äußersten Anstrengungen gemacht hatten, um die Stimmf.ihigen ihrer Partei überall her, aus Piémont, Savoyen, dem Innern der Schweiz u. f. w., nach Haufe zu rufen. Diese Thatfache ist um fo bemerFenswerther, wenn man bedenkt, daß feit dem 29. Oktober v. I. massenhafte Auswanderungen aus Tefsin (bis auf mehrere taufend Köpfe) nach Californien, Australien, nach Piemont und, auf Spezialpasse hin, nach der Lombardei, stattgefunden hatten.

Während von den die Regierung unterstützenden Wahlmännern am 29. Oktober 1854 circa 9,000 auf den Wahlplatzen erschienen waren, betheiligten sich von denselben circa 12,400 Votanten bei den Wahlen des l i. März 1853.

Tesfin zählt im Ganzen eirca 25,000-26,000 eidgenös* sifche Wahlmänner, von denen aber bekanntlich mehr als ein Drittel periodisch landesabrnefend ist.

Unterm 4. A p r i l gab die Regierung von Tcssin dem Bundesrath von diesem Ergebniß der Wohlvcrhand-= lungen, welchem gemäß die Herren L u v i n i , R a m e Ili und B e r n a s e o n i , als im 40. eidgenössischen Wahlkreis, und die Herren P i od a, Iauch und Patoechi, als im 41. eidgenössischen Wahlkreis ernannte Mitglieder des Nationalrathes proklamirt worden waren -- vorläufige

Anzeige.

Der Bundesrath bescheinigte am 9. April den Empfang dieser Anzeige und lud den tefftnischen Staatsrath gleichzeitig ein, die WahlprotokoOe und übrigen, auf die Wahlöerhandlungen bezüglichen Akten nach Vorschrift des Art. 28 des einschlägigen Bnndesgesetzfs, so wie den

g)ui.)i;fc;ipK.?flkt, nach Maßgabe des Art. 27 des gleichen

Gesetzes, nachzusenden.

199 Mittelst Botschaft vom 9. Avril gab der Bundesrath feem Nationalrath von den im Kanton Tesfin getroffenen Wahlen Kenntniß mit der Schlußbemerkung: ,,daß die

.bezüglichen Wahlakten und allfälligen Einsprachen dem N a t i o n a l r a t h bei deren Eintref.» fen w e r d e n übermittelt werden."

Ihre Kommission fand aber in Ihrer Sitzung vom 3. I u l i abhin wohl die gegen die Gültigkeit der Wahlen inner der anberäumten gesetzlichen Frist von 6 Xagen eingelaufenen Eingaben -- nicht aber die W a h l p r o * iokolle bei den Akten. Sie steht fich um so mehr ver.« anlaßt, unumwunden ihren Tadel auszusprechen, daß die Regierung von Tesfin die rechtzeitige Ueberfendung diefer Verbalprozesse unterließ. Auch bedauert fie um so mehr, daß der Bundesrath, als seiner Einladung $om 9. April keine Folge gegeben wurde, zwar unterm 20. Mai und 7. Iuni die erforderlichen Rechargen zu endlicher Einsendung der gegen die Wahlverhandlungen erhobenen Reklamationen erließ, in denselben aber der mangelnden Wahlprotokolle felbst keine ausdrückliche Er* wähnung mehr machte -- , als ähnliche Erfcheinungen schon in der Session vom letzten Dezember bei Anlaß der Prüfung der Wahlakten vom 29. Oktober 1854 zu Tage getreten und gerügt worden find.

Ihre Kommiffion forgte dann, um keine Zeit zu ver* Heren, auf telegraphischem Wege dafür, daß die Wahl.Protokolle fchnellstmöglich anher geschickt werden -- und als solche endlich am 6. Iuli in Bern angelangt waren, unterwarf sie dieselben ihrer Prüfung. Das Ergebniß dieser genauen und speziellen Prüsung stellte fich im Einklang mit dem, von dem teffinifchen Staatsrath am 4. April proklamirten Resultate heraus.

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Gegen die W a h l e n tes 40. eidg. W a h l k r e i s e s sind nun Beschwerden bei den Akten : ». von V i l l a (mit 42), S o n v i c o (mit 229) und V a l l e E o l l a (mit 115 Unterfchriften) ; b. »on 7 -..Bürgern ces Wahlkreifes V e z i a ; c. von 157 Bürgern des Kreises M a g l i a s i n a ; d. von 68 Bürgern des Kreises A g n o d. d. 12. März ; e. von 279 Bürgern des Kreises S e ssa d. d. 1 l. März ; f. von verschiedenen Bürgern des Kreises S t a b b io -- 2 Eingaben d. d. 14. und 21. März und eine gleichlautende Beschwerde ; -- g. von Bürgern des Kreises B a l e r n a d. d. 14. März; h. von 71 Petenten des Kreifes M e n d r i f i o d. d. 14.

Märs; i. von 36 Bürgern des Kreises C a b b i od. d. 14. März,

gleichlautend wie f., g., h.; k. von 21 Bürgern des Kreises G i n b i a s e o d. d.

11. März 1855, welchen Beschwerden am 22. März

eine zweite mit 171 Unterschriften folgte ; endlich 1. von 29 Bürgern aus L u g a n o eine vom 6. April datirte, 28 Seiten füllende Protestation gegen die Wahl nicht nur des 40. eidg. Wahlkreifes, fondern gegen a l l e am 11. März getroffenen Wahlen des Kantons Tesfin.

Nimmt man alle Unterfchriften als acht und richtig an, so haben im 40. Wahlkreis von 7517 Stimmenden eirea 1257 Signatare gegen die Wahlverhandlungen reklamirt,.

Gegen die W a h l e n des 41. W a h l k r e i s e s liegen ebenfalls Kassationsgefuche und Protestationen bei den Akten, und zwar : a. drei vom 12. März datirte Eingaben von M e l e z z a , N a v e g n a und G a m b a r o g n o j

20l b. vom 8. April datirte Reklamationen aus den Wahlzirkeln M e l e z j a , G a m b a r o g n o u n d V e r z a s e a ; c. eine vom 8. April datirte Beschwerde mit 47 Unter-

schriften a-..s Valmaggia; d. Beschwerden d. A. vom 26. März angeblich von den Munizipalitäten B i a s c a , O s o g n a und Lo.»

drin o des Bezirks Riviera; e. zwei Petitionen, die eine vom 7. April mit 44 Unterschriften, die andere von F a i d o vom 9. April mit 54 Unterschriften; f. eine vom 1. April datirte Beschwerdeschrift des G.

g. Giudici von Giornieo an den Nationalrath gerichtet, und endlich eine

g. ähnliche Eingabe des Adv. Bianchi in Olivone d. d.

23. April an den Bundesrath und die eidg. gesez* gebenden Räthe gerichtet.

Nimmt man auch hier alle Unterschriften als acht und richtig an, so haben im 41. Wahlkreis von 7002 Votante« 376 Siguatäre gegen die ©ahlverhandlungen Reklamationen erhoben.

Da die »orliegenden Beschwtrdeschriften, die übrigens theils wörtlich, theils inhaltlich großentheils gleichlauten, sowohl über den Verlaus der K a n t o n a l - als der eidg e n o f s i f c h e n Wahlverhandlungen fich auslassen, so ist es schwer, fast unmöglich, auszufcheidcn, was lediglich auf die Wahlen der Nationalräthe, um die es fich hier einzig handelt, Bezug hat. Bei den Akten liegt ein gedrängtet Auszug aus den oben erwähnten Eingaben, so wie aus den Verantwortungen der Wahlbüreaur und Bezirksstatthalter in Bezug auf die erhobenen Beschwerden. Endlich hat der Staatsrath von Xesfin in einer einläßlichen Eingabe an den Bundesrath d. d. 12. Juni 1855 sämmtliche, gegen die Gültigkeit der kant. und eidg.

202 SBahlen vom 11. März erhobenen Reklamationen und Protestationen beleuchtet, lieber die Verlesung dieser Akten mag der Nationalrath verfügen. Sie lagen und liegen noch zur Einsicht jedes Mitgliedes bereit.

Die erhobenen Beschwerden und Reklamationen, auf welche das Schlußgefuch um C a f f a t i o n der Wahlen in b e i d e n g e n a n n t e n eidg. W a h l k r e i f e n begründet wird, reduziren sich auf folgende wesentliche Punkte: 1) Die eidg. Wahlverhandlungen vom 11. März l. I., in Folge eines Aufruhrs und unter dem Terrorismus bewaffneter Banden (von besoldeten Bürger.» schaaren, Zroangsanleihen auf die Männer der Opposition) vorgenommen -- seien im Allgemeinen und an und für sich null und nichtig ; insbesondere feien 2) die eidg. Wahlvetsammlungen nicht rechtzeitig und gehörig ausgekündet worden ; 3) sie haben mit den Kanfonalwahlen im gleichen Tage abgehalten und deswegen särnmiliche WahlOperationen übereilt und tumultuanfc-i) vorgenommen werden müssen ; 4) die simultane Abstimmung am gleichen Tag und am gleichen Ort für die Kantons- und Nationalrathswählen habe zur Folge gehabt, daß nicht alle Stimmfähigen ihre Stimmen hätten abgeben können, weil rücksichtlich der Stimmberechtigung der Wähler ganz andere gesetzliche Bestimmungen für die Kantons-, und wieder andere für die eidg. Wahlen bestünden.

-..Sei den Kantonswahlen stimme der ...tesfinerbürger an feinem H e i m a t s o r t (domicile politique on légal), bei den eidgenöfstfchen Wahlen an feinem W o h n o r t (domicile matériel -- Niederlassungsort); ·5) die Verzeichnisse (cataloghi) der .Stimmfähigen feien vor der Wahlversammlung nicht nach Vorschrift des

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Gesetzes »erlesen, vielen Orts auch gar nicht angeschlagen worden; so habe die Controlirung diefer Verzeichnisse gemangelt und es leicht möglich gemacht, daß Unbefugte an den Wahlen Theil nehmen konnten, und wirklich .-.tf)eil genommen hätten; 6) durch Arnstationen einflußreicher Bürger und durch bewaffnete Banden fei die Freiheit der Wahlen kom* promittirt worden; 7) dieWahlvcrsammlungenvonRiviera, B e l l i n z o n a , V c r z a s e a , N a s e g n a . c . , so wie jene des 40. Wahlkreises, seien durch Gewalttätigkeiten gestört und die Wähler der Opposition an der Stimmabgabe gehindert worden; 8) man habe die Stimmzettel nach der Wahloperation beseitigt und verbrannt, so .daß eine Eontrolirung der Richtigkeit der Wahloperationen unmöglich geworden sei.

Auf diele Anklagen und Befchwerden wird entgegenbemerkt, was folgt: Zu 1. Die K a t a s t r o p h e im T e f s i n im -Jebruar und März l a u f e n d e n Iahres ist der e r s t e und a l l g e m e i n e Grund zur Eaffa ti o n der letzten Nationalrathsraahlen.

Ihre Kommission will sich in gegenwärtiger Berichterstattung jeder Schilderung und des eigenen Urtheils über die Ereignisse im Kanton Tesfin vom Hornung und März l. I. enthalten und an ihrer Statt einen unbefangenen Augenzeugen, den eidgenössischen Kommissär, Herrn Oberst B o u r g e o i s sprechen lassen, welcher unierrn 21. ...ipril abhin über die Veranlassung, den Her* und Au%u.g diefer Katastrophe einen Schlufbericht an den Bundesrath erstattet h a t , der in Eile, aber treu übersetzt, also lautet:

204 ,,An den B u n d e s , p r ä s i d e n t e n in Bern.

,,m!

,,In Ihrem Schreiben vom 26. März abhin laden Sie mich ein. Ihnen über die in jüngster Zeit jtattge» habten Ereignisse im Tesfin Bericht ju erstatten.

,,Ohne mich auf eine Menge einzelner Umstände, welche diesen Bericht nur langweilig machen würden, einzu* lassen, werde ich mich darauf beschränken, die Haupt.-, momente hervorzuheben.

,,Der zufällige Tod Degiorgi's veranlaßte das im Teffin fiattgefundene Pronunciamento.

· ,,Schon seit langer Zeit befand fich der Kanton Tesfin in einem Uebergangszustande, dem ein Ende gemacht werden mußte. Ich hatte Ihnen diesen Zustand schon im Ianuar vorausgesagt, als ich, bei meiner Durchreise durch Bern, Sie um Weifungen und Vollmachten ersuchte, um eintretenden Falls Verhaltungsmaßregeln zu befizen Der h. Bundesrath entsprach auch meinem Ansuchen.

,,..Die Entscheidung wurde durch den Druck der ®ränsperre, durch den zügellosen Ehrgeiz und die ®ier einiger überspannten jungen Leute, die den Augenblick, wo sie an's Ruder kommen würden, nicht erwarten mochten, und durch die Leioenschaftlichkcit der ultramontane« Partei, welche nach Rache dürstete und den im Iahr 1839 verlorenen Einfluß wieder zu gewinnen trachtete, beschleunigt.

,,Ihr Ursprung ist jedoch in andern Umständen zu suchen, nämlich in dem Mangel an einer gesicherten finanziellen Grundlage und einer guten Rechtspflege, welch' beiden nur durch eine Verfassung....' und Gesetzes resifion abgeholfen werden konnte. Schon im Iahr

205 1842 wurde dieses Bedürfniß empfunden. Man änderte die Verfassung; allein das Volk verwarf die »orgeschla« genen Reformen.

,,Aus Rückficht auf die Verfassung von 1830, welche erst nach Ablauf von zwölf Iahren Abänderungen erlaubte, hatte man die günstigen Augenblicke von 1839 und 1841, wo das aufgeregte Volk geneigt war, seinen Vorurtheifen zu entsagen, unbenutzt vorübergehen lassen.

,,3m Iahr 1851 wurde neuerdings eine Verfassungsänderung versucht, jedoch ohne Erfolg. Man mußte fich überzeugen, daß nur durch außerordentliche Verhältnisse die Annahme der Reformen, deren Nothwendigkeit das Land so sehr empfand, ermöglicht werden könne.

Man mußte diese Verhältnisse abwarten. Sie traten ein in Folge der zwei Iahre langen Gränzjperre, unter welcher Teffin so vieles gelitten hat.

,,Auch in diesem Kanton hält man wie anderswo viel auf der Trennung der Gewalten und doch verlangt man, daß die Regierung, von der die richterliche Gewalt ganz unabhängig ist, für eine gute Rechtspflege sorge.

.Dessen ungeachtet wurden zu wiederholten Malen ®esetzfsvorfchläge, welche der Staatsrath behufs Abänderung der bezüglichen Organisation vorlegte, »erworfen und die Regierung mußte am Ende selbst das Opfer dieses Mangels an einer guten Rechtspflege werden, damit man die Augen öffnen und zu dem Entschlüsse gdanf..«. könne, diesem Uebel endlich abzuhelfen.

"Keine Verläumdungen, keine Lügen und Niederträchtigkeiten, welcher Art fie auch sein mögen, wurden von der radifakultramontanen Presse, gegenüber der Regierung und den ehrenwertheften ...Ränn.'rn des Landes, gespart. Sie sind unbestraft geblieb..«. Es ist bekannt.

206 daß auch die Bundesbehotden nicht immer geschont worden find.

,,Die Herren Oberingenieur Luechin i und Staatsrath ,5 o g l i a r d i mußten zufehen, wie ihre Verläumdcr im Iahr 1854 vor dem Gericht zu Bellenz triurnphirten.

Am 1. August gl. I. erließ das Appellationsgericht ein Urtheil, welches erklärte, daß durch die Bundesverfafsung> jedes Strafgesetz in Bezug auf Preßangdegenheiten aufgehoben worden fei.

"Die Regierung widersetzte sich diesem Urteile, indem fie am 4. darauf folgenden September einen Beschluß erließ, welcher das bezügliche ©efctz als noch in Kraft bestehend erklärte. Der Schlag war jedoch geführt und die Schamlosigkeit kannte keine Grunzen mehr.

Ungeachtet der dringencen Beschwerden bei den Gcrichten, wurden nicht nur keinerlei Preß....ergehen, fondern auch keinerlei Gewaltthätigkeitcn oder Uebcrgriffe politischer Natur mehr bestrast. Die Iustizbehörde schien den Muth, den ihre (Stellung fordert, verloren zu haben.

,,Hinsichtlich der ginanzfrage hatte die Sbnahrne der Einkünfte, der Zölle und Ohmgelder, die Verminderung des (Salzverbrauchs in Folge der in der Lombardie und im Piernont bestehenden Salzpreise einerseits, die Zunahme der Slusgaben für das Militär- und Schulwesen aber andererffits schon seit 1848 das Gleichgeroicht gestört.

Die Regierung legte zwar in dem nämlchen Iahre noch eine Botschaft vom 21. August, betreffend Einführung direkter Steuern vor ; allein der Vorschlag wurde »erworfen. Die öffentliche Meinung war nicht genügend vorbereitet. Man zog es vor, zu Nebenmitteln, zu kleinlichen (.ftfpariussen feine Zuflucht und das Verm ö g e n d e r K l ö s t e r in Anspruch zu nehmen, um fich

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Geld zu verschaffen. Als jedoch auch diese, an und für sich schon unzureichenden Hülfsquellen bald versiegten, übertrieb die Koalition die Defizite, suchte eie Verwaltung zu verdächtigen und verweigerte mit einer Treu* losigfeit, der fie den Anstrich der Gewandtheit zu geben sich bestrebte, das einzig vorhandene Mittel, die Steuern, Es war dieß im Monat Mai 1854.

"Es folgten hierauf die eidgenössischen Wahlen, die Versöhnungsversuche, die Weigerung der Koalition, vier von den neun ihr angebotenen Staatsrathsstellen und die Staatsschreiberstelle anzunehmen, die Kassation sämmtlicher Wahlen durch den Nationalrath, die ©ereiztheit der gührer dieser Partei, welche die Aufregung zu erhalten suchten, was ihnen fo gut gelang, daß es an öffentlichen Orten und auf den Straßen, besonders bei Nacht, keine Sicherheit mehr gab und man froh sein mußte, wenn ruhige Bürger nicht in ihren Wohnungen noch beschimpft wurden. Die verfassungsmäßigen Behördcn waren daher ohne Kraft uno Gewalt und es war ihnen unmöglich, das geringste Gute zu bewirken.» E n d l i c h t r a t d e r Tod DegiorQf....» e i n , u n d d i e ß w ö r d e r Blitz, w e l c h e r i n d i e f e r t i e f e n , g i n s t e r n i ß d e n A u s w e g a u s e i n e r f o unerfraglichen Lage zeigte.

"Vermöge ihrer Inkompetenz in ©erichtsfachen war es der Regierung in dieser Angelegenheit unmöglich, für eine gehörige Rechtspflege, bei ihr selbst beginnend«, z« forgen.

"Da sie im Großen Rathe eine große Mehrheit für sich hatte, fo konnte sie nicht abdanken, ohne die ©rundsätze des Sicpräsentativfystems zu verletzen und das Land der Anarchie .preis zu geben. Nichts desto weniger war die Opposition stark genug, um die Mittel, durch welche

208 ein Ausweg aus dieser Lage, namentlich in finanzieller Beziehung möglich gewesen wäre, zu hintertreiben. Das Volk begriff im entscheidenden Augenblicke, was es zu thun hatte. Es wollte durch einen Akt der Souveränetät fich aus diesen Verhältnissen herausreißen, und dieser Akt ist das P r o n u n c i a m e n t o .

"Der am 20. Februar 1855 in Locarne vorgefallene Mord Degiorgi's hatte zuerst nur einen Schrei des Unwillens verursacht. Das Volk, welches Degiorgi liebte und gute Gründe hatte, den Gerichten zu mißtrauen, verlangte ..Öürgfchaftcn für eine schnelle und fichere Rechtspflege.

,,Die Regierung sandte sofort drei ibrer Mitglieder, mit außerordentlichen Vollmachten versehen, nach Locarno, um dort eie Ordmmg zu handhaben. Es gelang ihnen jedoch nur mit Mühe, die Erbitterung des Volkes in den gesetzlichen Schranken zu halten.

,,Die Bewegung nahm aber bald eine ancere Wendüng.

,,Auf die Nachricht von der Ermordung Î D e g i o r g i ' s begab fich eine Menge von Bauern nach der Stadt, welche die Abgesandten der Regierung nur dadurch unter ihre Leitung bringen konnten, daß sie dieselben in ihren ...Dienst nahmen.

,,Donnerstags den 22. Februar war großer Wochenmarkt in Loearno. Man hielt eine Volksversammlung, in welcher ein Ausschuß bestellt wurde, bestehend aus den Herren Dr. Z a e e h e o , von Brissago, ©roßratl); Iofeph P a t o e e h i , Regierungsstatthalter im SJiaynthal; Iohann S eh ir a, Strohhutfabrikant, im Onsernonethal, als Mitgliedern, und den Herren Advokat Mo rb a s i n i aus dein Dnfernonethal und Franz M a r i o t t i , Aktuar des Krtminalgerfchts in Bellens.

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,,Dieser Ausschuß setzte sich, selbst durch den ...Cele* graphe«, mit verschiedenen einflußreichen Bürgern aus allen Theilen des Kantons unverzüglich in Verbindung und sorderte zu einer zahlreichen Versammlung in Belo lenz aus den 24. gleichen Monats aus.

,,Am Mittag des 'festgesetzten ..tages zog eine Kolonne von 400 bewaffneten Männern, unter Anführung des Hauptmanns P a g n a m e n t a , den Ausschuß a n d e r Spitze, in Bellenz ein. Sie wurde von einer Abthei.» lung von cirea 100 bewaffneten Bürgern empfangen, welche ihr entgegenzog, um mit ihr zu fraternifiren.

"Aus allen Gegenden des Kantons waren angesehene Männer in Bellenz eingetrossen. Man hielt eine all* gemeine Versammlung und fügte dem Ausschuß noch die Herren Iauch, Advokat, als Präfidenten, E o r r e e o , Aktuar des Kriminalgerichts des Livinenthals, Pro« sessor L a v i z z a r i von Mendrifio und Großrath R a m e I l i bei. Der Ausschuß legte sich den Namen ,,Liberales Comité" bei.

"Vor ihrer Auflösung genehmigte die Versammlung noch die Grundzüge einer Bittschrift an den Staatsrath, welche das Programm der Bewegung bildete.

,,Diese Bittschrift wurde noch am nämlichen Tag verfaßt und eingereicht. Sie verlangte foforiige Einberufung des Großen Rathes, um a. über die Verfassungsreform und Erneuerung der Behörden; b. über die Annahme des Gesetzes, betreffend die bür*

gerlichen Verhältnisse der Geistlichkeit und die Ausfch[{e§ung der Geistlichen »om Großen Rath;

c. über die Maßnahmen zur Unterdrückung der reaktionären Presse und Bundesblatt. 3ahrg. VII. Bd. II.

17

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d. darüber zu beratschlagen, daß die Unkosten dieses Volksaufstandes nicht dem Staate zur Last fallen möchten, sondern von den R e a k t i o n ä r e n , welche das Volk zu diesem Schritte genöthigt hatten, getragen würden.

,,Obschon die Regierung dem Aufstande eigentlich fremd war, so übersah fie doch bald den Zweck und die 2.ragweite desselben, und schwankte nicht lange in Bezug auf den zu fassenden Entschluß.

,,Sie konnte fich der Bewegung widersetzen, fich zurück* ziehen oder derselben beitreten.

,,Sich widersetzen -- angenommen selbst, daß fie die hiezu erforderliche Gewalt besessen hätte, was jedoch in meinen Augen fehr zweifelhaft ist -- war gleichbcdeu-

tend mit einer Bekämpfung des einzigen Mittels, welches eine Entscheidung herbeiführen konnte, und hätte bei günstigem Erfolge nur den Triumph der Koalition befördert; -- es war ein Kampf gegen die Mehrheit des Großen Rathes, g e g e n sich selbst.

,,Sich zurückziehen, hieß feinen Posten im entscheiden-* den Augenblick verlassen, hieß den Muth nicht besitze«, einer Entscheidung in dem Momente, wo dieselbe die Wagschale niederdrücken konnte, entgegenzusehen, hieß seine Freunde in dem Augenblicke aufgeben, wo fie dem g e s e t z l i c h a u f g e s t e l l t e n S y s t e m zur Hülfe kamen.

,,Die Regierung faßte demnach den zwar etwas gewagten Entschluß, den ihr die Verhältnisse vorzufchreiben schienen.

,,Sie verbündete fich mit dem Volke und verhinderte dadurch, daß die Bewegung, welche den bestehenden Einrichtungen und Behörden zu Hülfe zu kommen zum Zwecke hatte, einen revolutionären Charakter annahm.

2ll "Nach meiner Anficht handelte sie, indem sie diefe Verbindung eingieng, weise, indem sie dadurch die Mittel in die Hand bekam, die Bewegung auf ihren wahren Zweck, auf die Wiederherstellung des Kantons in konstitutionellcr, organischer und finanzieller Beziehung hin# zuleiten, und fo weit als möglich bedauerliche, unter solchen Umständen beinahe stets unvermeidliche Unord* nungcn verhinderte.

"Sie konnte fich um fo eher darauf einlassen, als es sich hier nicht um ihre eigene Erhaltung handelte, weil ja alle Behörden erneuert werden mußten.

"Sie machte fich m i t dem und f ü r den liberalen Ansschn§ verantwortlich und konnte von diesem Augenblicke (dem 24. Februar als dem Tage der -Bolksoerfammlung in -..Sellenz) an in der glücklichsten Weise ans die Ereignisse einwirken, was sich schon darin zeigte, daß sie, während sie den Begehren der erwähnten Bittschrift alle Rechnung trug, entschlossen den Punkt d abwies, welcher die Auferlegung aller Unkosten auf die Reaktionspartei verlangt hatte.

"Gleich am 24. berief sie den Großen Rath auf den acht und zwanzigsten und die bereits f e i t e i n e m I a h r b e s t e h e n d e Verfassungsrevisionskommifsion auf den 26.

ein, damit sich der Große Rath fofort mit dieser Hauptfrage befchäftigen könne. Am darauf folgenden Tage, (25. Februar), zeigte der liberale Ausschuß seine Einsetzung zum Schütze der Behörden und der Ordnung dem Volke durch eine Proklamation an.

,,Die Volksversammlung vom 24. hatte auch die mili* tärischen Führer bezeichnet und sämmtlich unter den Chefs der regelmäßigen Sandesmilizen, nämlich die Herren

Luvini, gogliardi, Vieari, Pedrazzi und Knegskommissär F o n t a n a gewählt.

212 ,,Diese Organisation war eine Gewährleistung der Ordnung, welche auch, mit Ausnahme der Zerstörung der Druckereien von Faido und Lugano eingehalten wurde. Es war das als Sandwehr organifirte Sßolk, unter der Anführung der gewöhnlichen Ehefs, eine Art improvifirter Bürgerwehr. Man begriff übrigens, daß s in einem solchen Augenblick innerer Zerrissenheit nicht rathsam gewesen wäre, die gewohnlichen Milizen einzus berufen.

,,Eine unerläßliche Bedingung für die Erhaltung der Ordnung bestand darin, daß die Regierung für die Mittel, diese Truppen zu nähren und unterjubringen, sorgen mußte.

,,Die Regierung hatte bereits am 23 , d . h . noch vor der Volfsvcrsarnmluna, in -.Bellenz, »on jedem der drei Hauvtorte die Summe von Fr. 20,000 unter dem îitel eines fünfprozentiften Anleihens verlangt.

,,Diese Maßnahme wurde durch den Erlaß vom 26. in dem Sinne modifizirt, daß das Zwangsanleihen auf die Summe von gr. 275,000 erhöht und so billig als immer möglich auf alle Bezirke vertheilt ward. Die Regierung<5,t,aUhalter erhielten den Auftrag, mit .-piilfe je ztoeier fluger Männer ihrer Wahl die einzelnen Bei-träge, welche die vermoglicheren Bürger zu leisten hätten, ohne Parteirückfichten feftjnsetzen. Dessen ungeachtet be« gegnete es doch, da§ gewisse Regierungs.tat1hc.Uer, dem Druck der Verhältnisse nachgebend, nur Anhänger der Koalition besteuerten. Sobald aber die Regierung hievon Kenntniß erhielt, ertheilte fie den bestimmten Be* fehl, die Beiträge ausjugletchcn, wo etwa Parteilichfeiten Platz geßriffen haben ..lochten. Diesem Befehle wurde auch wirflich Folge geleistet, wofür manche Beweise angeführt tverdcn fonnten. So zahlte z. B. |)r. L u v i n i

213 gr. 3000, eben so viel Hr. B i a n c h i von Lugano, die Familie P i o d a Fr. 1000 u. s. w.

"Die Bewegung verbreitete sich mit Blitzesfchnelligkeit über den ganzen Kanton, und bald standen 6O00 Mann unter den Waffen, denen <5r. 2. 50 täglich auf den Mann bezahlt wurden, mit der Bedingung, für Nahrung und Unterkunft felbst zu sorgen.

,,Das Zentral-Eomité, welches in jedem Bezirke Lokal* Comités hatte, befahl verfchiedcne Verhaftungen, worunter einige Wohnungsarreste waren, die man in w o h l m e i n e n d e r A b ficht anordnete. Kein Mitglied des Großen Raths aber, ausgenommen Hr. S t o p p a n i , wurde verhindert, am 28. den Sitzungen beizuwohnen.

,,In Lugano verbrannte das Volk am Sonntaa,, den 25., Morgens die Druckerei der Unione del Popolo und des Popolino. Die Folge davon war der Ausbruch der Bewegung in diefer Stadt. Bei diefer Gelegenheit wurde auch Hr. S t o p p a n t , ein Mitredaftor dieser Blätter, in's ©efängniß abgeführt. Dieser Mann war in folchem Maße der Gegenstand des Volksnnwillens in Sugano geworden, daß die Annahme wohl erlaubt ist, daß ihm, wenn man ihn gänzlich verfchont hätte, noch Schlimmrns widerfahren wäre. Eine ähnliche Zerstörungsfeenc wiederholte sich am 27. in Faido mit der Druckerei des Patriota, mit dem großen Unterschiede jedoch, daß hier nicht, wie in Lugano, das aufgeregte Volk es war, welches ohne andern Antrieb eine solche ©cwaltthat begieng, fondern eine bewaffnete und unter der Leitung ihrer Führer stehende Kolonne. Dicfe HandInng wird daher auch in meinen Augen stets eine nicht zu recttfertiöende sein und ich habe fie auch in den kräftigsten Ausdrücken getadelt.- (Schreiben an den Staatsroth vorn 28. Februar).

214 ,,Im Allgemeinen wurden im ersten Augenblicke mehrere Wiilkürhandlungen begangen, wie Verhaftungen K.; allein kein Tropfen Blut wurde vergossen und das Eigenthum ward, mit Ausnahme einiger Keller viellei..;ht, geachtet.

Diese ungesetzlichen Handlungen dienten jedoch als Sicher* heitsöentil, durch welches der Dampf entwich, so dag die Volkswuth fich bald darauf wieder legte. Ich bedaure diese Unordnungen; fic find aber nunmehr vollendete Thatsachen (faits accomplis). Wenn nun die Volksrache in erster Linie gegen die materiellen Werkzeuge der koa« lifirtcn Presse jich wandte, so darf man nicht vergessen, daß hauptsächlich d i e s e es war, welche durch ihre zügellosen Acngernngen die Bewegung herbeigeführt hatte und daß es besser ist, daß die Wuth fich gegen die t o b t e n Werkzeuge wandte, als wenn fie sich gegen die uKenschen gewandt hätte.

,,Der auf den 28. Februar einberufene ©refe Rath trat wirklich zufammen. Er hörte den Bericht seiner Komrniffion über den Entwurf der Verfassungsreform an, welchen der Staatsrath schon unterm 14. Ül-pril 1854 ausgearbeitet und in Bezug auf welchen die c,escizc.,ebcnde ...Behörde nach sachbejüglichcr Berathung beschlossen hatte, eine Entscheidung bis im Februar 1855 zu vcrfchieben.

,,Es fand feine lange Besprechung statt, indem der Gegenstand schon vor einem Iahre erschöpft worden war.

Der ©roße Rath genehmigte am 1. März den vorgelegten Entwurf und am 4. wurde die Verfassung der Genehmigung des Volkes vorgelegt, welches ihn mit großer Mehrheit annahm.

,,In der nämlichen Session unterwarf der ©roße Rath auch das Wahlgesetz für die Nationalrathewahlen tiniger Abänderung, um es mit den eidg. Befiimrnungen in Einklang zu bringen.

215 ,,Die Verfassungsreform bestimmte die Amtsdauer des «Staatsrathspräsidenten auf 6 Monate, statt nur 1 Monat wie früher, beschränkte die Zahl der Mitglieder des Staatsrathes von 10 auf 7, den Staatsfchreiber inbe·griffen, und die des Appellationsgerichts von 13 auf 9, indem sie diefer Behörde einen beständigen Versammlungsort anwies, und sezte in Kriminalfachen dieIury ein.

Dem Großen Rathe wurde unter gewissen Vorbehalten das Recht der Initiative eingeräumt und die Zahl der gewöhnlichen jährlichen Versammlungen diefer Behörde auf zwei festgesezt, ohne eine Zeitdauer dafür zu bestimmen. Das Alter für die Ausübung der bürgerlichen Rechte wurde von 25 auf 20 und für die Großraths* mitglieder, die Mitglieder der Gerichte L Instanz, fo wie ber griedensgerichtc »on 30 auf 25 Iahre herabgesetzt.

Den Mitgliedern der Geistlichkeit wurde das Stimm- und Wählbarkeitsrecht entzogen. Endlich erklärte man die înit der Bundesverfassung nicht vereinbaren Verfügungen für aufgehoben und verordnete durch eine Uebergangsbejïïmmung die Totalerneuerung fämmtlicher Gewalten (pouvoirs).

,,Seit dem 1. März hatte der Staatsrath die Kreisverfammlungen auf Sonntag den 11. März einberufen, um die Wahlen der Mitglieder in den Nationalrath und der eidg. Gefchwornen vorzunehmen. Er entfprach dadurch den wiederholten Einladungen des Bundesrathes und den unaufhörlichen Begehren der Koalition.

"Im Allgemeinen gingen diefe Wahlen ruhig vor sich, und die kleinen Störungen, welche vorkamen, waren von feiner Bedeutung.

"In Bezug auf den Großen .Jiath stellte sich das Ergebniß folgendermaßen : Auf 114 Abgeordnete, aus denen diese Behörde besteht, gehören 90 der Regierungspartei

216 und 24 der konservativen und klerikalen Partei an. Die übrigens nicht zahlreiche Partei S t o p p an i scheiterte

gänzlich.

,,Der neue Große Rath trat zum ersten Male am 16. März zusammen und genehmigte ein Steuergefetz, welches ihm von dem noch im Amte flehenden frühern Staatsrathe vorgelegt wurde, so wie einen Amnesi.ebe* schlug. Dieses Steuergesetz wird es ermöglichen, der Verwaltung einen regelmäßigen Fortgang zu verfchaffen.

,,Der neue Staatsrath wurde am 22. gewählt, am 23. beeidigt, und übernahm am 24. März die Zügel der Regierung.

,,Am 24. Februar also ernannte die Volksversammlung das ,,Liberale Eomite" und am 24. März, also einen Monat nachher, trat der neue Staatsrath in Funktion.

Diese Regierung besteht aus talentvollen, einflußreichen Männern, welche »on den befien Abfichten beseelt fchei» nen. Man erwartet daher auch sehr viel, vielleicht nur zu viel von ihr. Denn, wenn auch einerseits die Aufhebung der Gränzsperre, das Fallen der Lebensmittelpreise und der Beginn der guten Iahresjeit günstige Umstände find, so wird andererseits die Vollziehung des Steuergesetzes sehr viel Takt und Festigkeit erfordern,

da die unzufriedene Geistlichkeit wahrscheinlich nicht auf-

hören wird, unter der Hand fortzuwühlen, und wenn man ihr auch nicht freie Hand lassen kann, so .liegt in .zu großem Zwange gegen fie auch einige Gefahr, wodurch ·Oie Lage eine sehr schwierige wird.

,,Indessen ist zu hossen, daß diese Hindernisse nicht unübersteigbar sein werden und daß es der Regierung uiit dem gehörigen 3.akte, mit .Jejtigkeit und ......atcirlandsliebe gelingen möge, dem Kantone Iahre des Friedens und Gedeihens, deren er fo fehr bedarf, zu »erschossen»

217

"Um nicht zu weitläufig zu werden, will ich hier nicht die ganze Thätigkeit des Kommissariats während dieser Zeit wieder in Erinnerung bringen, da ich die Ehre hatte. Ihnen, Herr Präsident, bereits die Abschrift aller in Sachen mit der Regierung von Tesfin gewech* selten Briefe mitzutheilen und da Sie auch meine Berichte über alle direkten und indirekten Schritte, die ich that, erhalten haben. -Jch beschränke mich bloß darauf, zu erwähnen, daß die Regierung und eben fo auch das liberale Comite die größte Willfährigkeit gegen die eidg.

Behörde, und den eidg. Kommissär befonders, an den Tag legten, indem sie allen (Sinladungen, welche an sie gerichtet wurden, (unter anderm in Bezug auf die Entfernung der bewaffneten Macht aus dem Hauptorte während der Dauer der Großrathsfitzungen, deren Entlassung vor den eidg. Wahlen, die Freilassung der mei.« sten Verhafteten, die Amnestie und die Verkeilung des Zwangsanleihens), girne entsprachen. Meine Aufgabe war, wie man leicht begreifen wird, eine sehr delikate und schwierige. Jch durste hier nicht rücksichtslos verfahren; die Kantonalfonveränetät und der Art. 16 der ..Bundesverfassung stunden entgegen. Der einzige Ausweg, der sich mir darbot, war das Mittel der Ueberredung, und ich habe diefen Weg auch eingeschlagen. Die Hauptbedingung eines glücklichen Erfolges aber bestand darin, daß es mir gelang. Das Zutrauen der Regierung und des Ausschusses zu erwerben und meine Interven« tion nicht verhaßt zu machen, indem ich mir den Anschein gegeben hätte, mehr und Besseres als fie zu bewirken.

Sie hätten sonst leicht den Einfluß, den sie so glücklicher Weile auf die Massen ausübten, verlieren können, und diese Massen hätten fich, ihrer Führer ledig, ohne Zweifel bedauerlichen Ausschweifungen überlassen, da 'ich selbst

218

keine Mittel bereit gehabt hätte, um fie durch die Gewalt in Ordnung zu halten, am wenigsten aber in dieser Jahreszeit, wo die eidg. Hülfe nur zu spät hätte anlangen können. In dieser ganzen Angelegenheit habe ich also mit unabläsfiger ...thätigkeit, und wo das Bedürfniß es erheischte, auch mit Festigkeit gehandelt; allein ich habe mich immer so benommen, daß ich die Eigenliebe der Führer nicht össentlich verletzte, indem ich stets das Verdienst der Räthe, welche ich ihnen gab, ihnen auch zu lassen bestrebt war. Daher haben auch Viele gefragt: .Wo ist der eidg. Kommissär? Was thut er? Es stand mir nicht ...u, ihnen selbst zu antworten. Ich überlasse dieß den braven Bürgern, welche mich handeln sahen und Zeugen meines Benehmens und meiner Bemühungen gewesen find.

,,Schließlich erlaube ich mir noch die Bemerkung, daß ohne Zweifel bedauerliche Unordnungen auch ftattgefunden haben. Allein unter solchen Umständen muß man fich über diese vereinzelten Thatsachen zu erheben und den Zweck, welcher erreicht wurde, nämlich die Wiederherstellung der Ordnung und des Landfriedens, im Auge zu behalten wissen und fich fragen, was wohl geschehen wäre, wenn, um die Krise, welche von einem Tage auf den andern auszubrechen drohte, zu beendigen, die Koa* lition zuerst ju Tätlichkeiten geschritten wäre? Wir hätten den erhitterteften Bürgerkrieg mit allen seinen traurigen Folgen gehabt.

,,Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.

,, B e r n , den 21. April 1855.

"Der e i d g e n ö s s i s c h e K o m m i s s ä r : ,,Sig. B0urgeois-Doga.h"

219 Zu 2. Nicht rechtzeitige Auskündung der Wahlöerfammlungen.

Darauf wird erwidert: die Wahlverfammlung ist -- unter Vorbehalt der .j-j-estfetzung der Anfangsftunde -- schon am 1. März auf den 11., also 10 Tage vorher, ausßeknndet worden. Um die gleiche Zeit sind die Munizipalitätsbehörden aufgefordert worden, die Stimmfähigkeitsliften zu bilden und 8 Tag vor dem Wahltag zu publiziren. 4 Tage nach der Publikation hat jeder Bürger gegen die Richtigkeit der Lifte reklamiren können.

Man darf und muß lim so gewisser annehmen, daß dem Gesetz vom 1. März 1855, welches das Alles vorge...

schrieben, Vollzug gegeben worden, weil diesfalls recht.» zeitig keinerlei Beschwerden bei der Behörde anhängig gemacht worden sind.

Zu 3. Man h a b e k e i n e Zeit g e h a b t , am g l e i c h e n T a g e die k a n t o n a l e n und ei dg. W ahl e n z u g l e i c h v o r z u n e h m e n -- d a h e r d a s ordnungswidrige und tumultuarische Versahren.

Darauf wird erwidert: Um die politifche Krife rasch zu vollenden, hat man die ReFonstituirung des Großen Ralhes nicht in die Länge »erfchieben und eben fo wenig das Volk durch zu viele wiederholte Wahlversammlungen ermüden wollen. Uebrigens ist gar nicht vorgeschriebenworden, daß man die kantonalen und eidg. Wahlen an e i n e m Tage vornfhrnen müsse. Im Gegentheil hat das zweite Alinea des '·Hit. 3 de«.* großräihl. Dekrets vom 7. März aus* drücflich vorgesehen, daß da, wo man füglich die eidg.

Wahlen nicht mehr Sonntags den 11. März vornehmen könne, selb.- am Montag darauf und den folgenden Tagen vorgenommen, bezichuugsnmfc beendigt werden follen.

Solches ist auch wirklich in den Wahleirkeln von Risiera..

220

Giornieo, Faido und Gambarogno geschehen, abgesehen von der Wahlversammlung von T i c i n o , welche, da am 11. März Unruhen stattfanden, am 18. März vorge» nommen wurde. Daß bei diesen Wahlversammlungen ordnungswidrig verfahren worden sei, wird entschieden in Abrede gestellt.

Zu 4. Die K a n t o n a l w a h l e n und die eidg.

W a h l e n h ä t t e n nicht a n E i n e m T a g e stattfinden können, weil der Wähler dort -- bei den K a n t o n a l w a h l e n -- nur am . p e i m a t s o r t (domicile légal), h i e r -- bei den eidg. W a h l e n -- h i n g e g e n am W o h n o r t (domicile matériel) sein Stimmrecht habe ausüben können.

Darauf wird erwidert: Es ist die Behauptung durchaus ungesetzlich, daß der ïeffiner, wenn es fich um die Wahlen in den Großen Rath handelt, fein Stimmrecht nur in der H e i m a t g e m e i n d e ausüben könne ; er kann solches auch für die Kantonalwahlen in der N i e * d e r l a s s u n g s g e m e i n d e , wenn e r , nach einem Aufenthalt von 12 Monaten, fich hier auf das Stimmfähigkeitsregister tragen läßt. Der behauptete Unterschied zwischen der h e i m a t o r t l i c h e n und n i e d e r l a s s u n g s o r t l i c h e n Stimmfähigkeit, je nachdem man kantonale oder federale Wahlen trifft, vornimmt, besteht also nicht*).

,,·...Der Wohnfitz in einer andern als der (gemeinde des ...Bürgerorts -- sagt ausdrücklich das Gesetz vom 24, *) II domicilio In un commune, quando non sia nel primitivo , risulta dal fatto dell avere ivi stabilito la dimora almeno da un anno, oltre ali' essersi fatto da un anno inscrivere nel catalogo civico del commune stesso.

Art. 4. Legge del 24 Nov. 1851 sul!' incorporazione del cittadini nei cataloghi civici.

221 Noöfmber 1851 über die Einverleibung der Bürger in die Stimmregister -- wird durch die Niederlassung während wenigstens eines Iahres erworben. Der Betreffende hat sich überdies daselbst in das Stimmregister der Ge» meinde einschreiben zu lassen."

Art. 5. Kein Bürger kann gleichzeitig in mehr als einer Gemeinde in das Stimmregister sich einschreiben lassen und das Stimmrecht ausüben*)."

Würde der von den Kassationswerbern behauptete Unterschied zwischen der heimatlichen und wohnfitzlichen Stimmfähigfeit dort für die k a n t o n a l e n und hierfür die f e d e r a l e « Wahlen bestehen, so wären gewiß einzelne Wähler aufgetreten, welche dagegen reklamirt und geklagt hätten, daß fie Sonntags den 11. März entweder bei den kantonalen oder bei den federale« Wahlen nicht haben mitstimmen können. Es ist aber Thatfache, daß k e i n e i n z i g e r Bürger s i c h darüber beschwerte, daß er nicht gleichzeitig an zwei Orten stimmen konnte.

Z u 5. D i e V e r z e i c h n i s s e d e r S t i m m f ä h i g e n f e i e n nicht a n g e f c h l a g e n u n d vor der W a h l v e r s a m m l u n g nicht abgei e fe n w o r d e n je.

Hierauf wird erwidert : Die Publikation der Stimm* fähigkeits-Eataloge, durch das Gefetz vom 1. März 1855 zu Art. 13 ausdrücklich »orgeschrieben, hat stattgesunden.

Der -.Beweis liegt darin, daß dießfalls keine einzige rechtzeitige Reklamation an die Behörden eingelangt ist. Sollte die Publikation in der einen oder andern Gemeinde unterlassen worden fein, ohne daß rechtzeitige Klage erho*) Art. 5. Niuno può essere inscritto e votare contemporaneamente in più di un commune.

222

ben wurde, so kann das jedenfalls kein stichhaltiger Grund sein, die Wahlen zu kasfiren.

Daß eine gesetzliche Vorschrift bestehe, wornach die Verlesung der Cataloge vor der eidg. Wahlversammlung stattzufinden habe, ist durchaus unrichtig. Das gerade Gegentheil ist vielmehr wahr. Der Art. 19 des Ge.> setzes vom 7. Inni 1850 sagt wörtlich : ,,Ist die Versammlung, ohne daß die vorherige Ver.» lesung der Stimmfähigkeitsregister stattzufinden hat, konstituirt, so wird dieselbe mittelst Namensruf im offenen Skrutinium zur Abstimmung fchreiten."*) In gleichem Sinn lautete die Regierungsverordnung »om 1. März 1855: ,,Von der vorgängigen Verlefung der Stimmfähigkeitsregister ist Umgang zu nehmen." **) Die Unterlassung eines Aets, von welchem Gesetz und Verordnung dispenfirten, kann wohl auch feinen Grund zur Cassation der Wahlen bilden.

Z u O u n d 7. V e r l e t z u n g d e r W a h l f r e i heit durch Arrestation e i n f l u ß r e i c h e r Bürger und gewaltthätige Störung der Wahlversammlungen.

Hierauf wird erwidert: Am 11. März find im Ganzen 10 Individuen, deren Namen bei den Acten liegen, in polizeilicher Haft gesessen. Darunter hat fich der in der Prozedur des Spionen C o n t i n i implizirte Apotheker U b o l d i befunden. Leute von Bedeutung oder Einfluß find an diesem Tage gar keine unter den Verhafteten *) Costituita l'Assemblea senz' obbligo della preliminare lettura dei cataloghi, si procederà tflla votazione per appello nominale a scrutinio aperto.

"") È dispensata la previa lettura dei cataloghi.

223 gewesen an§er Hr. S t o p p a n i, der übrigens nicht von Polizei-, fondern von Gerichts wegen verhaftet und in der Haft sicherer gewefen zu fein scheint, als wenn er auf freiem gujje geblieben wäre. Daß sich sonst ein nationalräthlicher Kandidat unter den Verhafteten gefunden habe, steht mit der Wahrheit nicht im Sinklange.

Eben so kann die Thatfache nicht bestritten wercen, daß vor den Wahlen der aufgestellten Volksgarde anbefohlen wurde, die Waffen abzulegen, und daß man diesem Befehl golge leistete.

In Bezug auf behauptete S t ö r u n g e n der W a h l v er f a m m lung en und v o r g e f a l l e n e G e w a l t t h ä t i g k e i t e n enthält der Bericht des eidg.

Kommissärs eine bemerkenswerthe, fchlagende Stelle.

Hinsichtlich der Wahlversammlungen des 41. Wahlkreises insbesondere wird bemerkt :

Die Wahlmänner in R i v i e r a , die sich am 11.

März für Vornahme der Kantonalwahlen in zwei Lager getrennt, hatten sich am 12. freiwillig für Vornahme der Nationalrathswahlen vereinigt, und es bezeugen die reklamirenden Munieipalitäten von B i a s e a , D f o g n a und S o d r i n o felbst, daß die Wahlverhandlung in lega* 1er Weife stattgefunden habe.

Einige Särmereien von Wahlmännern der Opposition aus Daro abgerechnet, feien --- bemerkt das Gutachten der Tefsiner Regierung -- auch die Wahloerhandlungen von B e l l i n z o n a in legaler Ordnung vorüber gegan« gen, und die gegentheiligen Behauptungen des -Beschwerdeführers Herrn Giudici feien bloße Erfindung.

Von den 22 Reklamanten aus V e r z a s c a werde keiner im Ernste behaupten können, es fei ihm nicht frei gestanden zu votiren, wie er es für gut gefunden. Wenn

224 eine kleine Anzahl von Wählern aus subjektiver Furcht einer möglichen Störung den Wahlplaft verlassen habe, fei dieß gewiß fein Grund, eine Wahlversammlung zu kasfiren, die sehr zahlreich besucht gewesen sei.

Das ©leiche fei der gali mit den Wahleirfeln von N a v e g n a , M e le z z a und G a m b ar o g n o Gegen die Behauptungen, es seien Gewaltthätia,feiten fast in allen WahUirfeln des 40. Wahlkreises vorgefallen, treten die Wahlbüreaur, darunter Mitglieder der Oppofitionspartei, wie z. B. der Notar Francesco B a s s i von Sonvieo mit entschiedenen Behauptungen auf. Man behauptete, Dr. V i s c o n t i sei bei der Wahl* vcrhandlung in Magliasina von den Liberalen mißhandelt worden. Darüber zur Rede geftellt, erklärte er felbst, diese Behauptung sei unwahr.

Marino Cattaneo von Balerna, einer der Kässationsroerber, deponirte in einem vom Statthalter zu Mendris gepflogenen Untersuch: Innoeenz C a s ad ini hab1 ihm am Tage der Wahl ein Bulletin mit den drei Namen der Candidateti der Liberalen in die .pand öfge* ben, das er dann vor seinen (Cavadinis) Augen zer* rissen. Angefragt, ob er deshalb von wem immer angelassen oder mißhandelt worden sei, anticortete er: Nein, und erklärte im Weitern, da| er frei, ganz frei gewesen sei, die Stimme zu geben, wem er wollte.

N i r g e n d s wird auch in den R e k l a m a t i o n e n b e h a u p t e t oder d a r g e t h a n , daß in de n und den W a h l z i r k e l n so und so »iel W a h l m ä n n e r der O p p o s i t i o n d u r c h Ge w a l t t h ä t i g k e i t e n a n d e r S t i m m g a b e v e r h i n d e r t w o r d e n s e i e n , der* m a ß e n , d a ß , w e n n s o l c h e s n i c h t d e r Fall ge.= wefen, das ©esammtergebniß der Wahlen in

225

fcem einen oder a n d e r n Wahlkreis ein a n d e r e s «gewesen wäre.

Zu 8. V e r b r e n n u n g der Stimmzettel um dieEontrolirungderWahloperationenunmöglich zu m a c h e n .

Hierauf wird bemerkt : der Art. 25 des Bundesge* setzes vom 21. Dezember 1850 über die Wahl der MiV glieder des Nationalrathes überläßt es den Kantonen, die weiter erforderlichen Vorschriften, betreffend das bei 'Nationalrathswahlen zu beobachtende Verfahren festzufetzen. In Folge dessen lassen einige Kantone die Nalionalrathswahlen in geheimer Abstimmung mittelst StimmBetteln, .andere in offener Abstimmung durch das einfache Handmehr vornehmen.. Es schreibt nun allerdings der Art. 28 des mehrerwähnten BundesgefeCes vor, daß die Stimmzettel unter Verwahrung der Kantonsregie* rungen bleiben, von den letztern nur dann einzusenden seien, falls der Nationalrath es verlange, und dag dieselben erst nach Anerkennung der Wahlen, auf welche sie fich beziehen, vernichtet werden können. Diese Vorschrift beschlägt aber natürlich nur diejenigen Kantone, in welchen die Mitglieder des Nationalrathes in geheimer Abstimmung mittelst Stimmzetteln gewählt werden. So braucht es im Kanton A p p e n z e l l und in U r i , wo die Wahlen in den Nationalrath an der Landsgemeinde stattfinden, keine Stimmzettel und es kann also der Artikel 28, 2tes Alinea, des eben erwähnten Bundesgefetzes auf die Appenzeller und Urner Nationalrathswählen gar keine Anwendung erleiden.

Aehnliches ist nun aber auch der Fall in Bezug auf die Nationalrathswahlen im Kanton T essi n. Hier wird nach Maßgabe bestehender gesetzlicher Vorschriften in den verschiedenen Wahlzirkeln nicht in g e h e i m e r ·8tm«s&la«. Sahtg. vil. ..Öd. II.

18

226

Abstimttiung mittelfl -Stimmzetteln, sottderft »per »appello nominale a scrutinio aperto," d. h. in ofstuer -Abiiimmurig mittelf. Namensruf di« Wahl vorge* nommer.. Allerdings ist «s dem Wahlmann geflawt, die Namen der Candidaten, für welche er stimm*, aus einem Papier einzureichen; allein die .ètimmenz'abler

haben nichts desto weniger die diesfällige schriftliche Stimm-

gebung in das Stirnmverzeichniß einzutragen, so daß diese V e r z e i c h n i s s e (Cataloghi) und nicht die aus* nahmsweise schriftlich eingereichten Stimmgebungen, dit ohne Anstand sofort beseitigt werden können, die Con# troie bilden.

Nachdem auf solche Weise Ihre Kommission die von den Kassationswerbern angeführten wesentlichsten Gründe und Anbringen, auf welche gestützt sie um Annullirung der am 11. März l. I. im Kanton Teflin stattgehabten Nationalrathswahlen nachsuchen, einläßlich geprüft und nicht stichhaltig gefunden hat, um die nachgesuchte Kas* sation auszusprechen, stellt dieselbe, ganz abgesehen von .politischen Rückfichten, welche es höchst wünschenswert.)

machen, daß der kaum aus einer schweren Krifis hervorgegangene Kanton Tesfin nicht in neue unabsehbare Unruhen und Bewegungen hineingeworfen werde, mit Einmuth - was das Difoofitiv desselben betrifft*) -- folgenden B e s c h l u s s e s a n t r a g : Der s c h w e i z e r i s c h e N a t i o n a l r a t h ,

Nach Anficht und Prüfung der, von der Regierung des Kantons Tesfin übermittelten verfchiedenen Rekla*) Herr Nationalrath S t r e n g stellte, was die Motivitung betrifft einen Minoritätsantrag.

227

mationen, betreffend die am 11. März 1855 stattgehabten Nationalrathswahlen des 40. und 41. eidgenössifchen Wahlkreises, fo wie des vom 12. Brachmonat l. I. durch die gleiche Kantonsregierung darüber eingesandten Gutachtens, -- Nach Anhörung des Berichts des eidgenössischen Kommissärs vom 21. April über die Ereignisse im Kan* ton Tesfin im Monat Hornung und März l. I., -- beschließt: Die in jjrage liegenden Wahlen des 40. und 41.

eidgenössischen Wahlkreifes sind anmit als gültig erklärt.*) Hochachtungsvoll zeichnet, B e r n , den 7. Juli 1855.

Namens der Kommiffion: HnngerMhlev, Berichterstatter.

·) Dieser Slntrag wurde in der Sitzung des 5.,ationalrafhes vorn 9 Juli 1855 mit 76 gegen 16 Stimmen zum Beschlüsse erheben.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht und Antrag der nationalräthlichen Kommission über die am 11. März 1855 im 40.

und 41. eidg. Wahlkreis (Tessin) stattgehabten Nationalrathswahlen. (Vom 7. Juli 1855.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1855

Année Anno Band

2

Volume Volume Heft

33

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

16.07.1855

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193-227

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10 001 694

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