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Schweizerisches Bundesblatt.

38. Jahrgang. III.

Nr. 36.

28. August 1886.

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Druck und Expedition der Buchdruckerei in Bern.

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Gutachten über den

zum Gesetzesentwurf betreffend Ausdehnung der Haftpflicht vorgeschlagenen Zusatz-Artikel 1bis.

An das Schweeizerischundandelsirthscaftsdepartement.sdeprtement Hochgeachteter Herr Bundesrath!

Die Kommission des Nationalrathes, welche den Entwurf zu einem Bundesgesetze betreffend die A u s d e h n u n g der H a f t p f l i c h t zu prüfen hatte, schlägt folgenden Art. 1bis vor: ,,Der Bund kann Genossenschaften, die sich aus besonders gefährlichen Gewerben zum Zwecke der Kollektivversicherung bilden, unterstützen.

Dieser Antrag ist vom Nationalrathe der Kommission wieder zugewiesen worden, um denselben einer nochmaligen genauen Prüfung zu unterstellen und sodann in der Dezembersession zu berichten.

In Ihrer geehrten Zuschrift vom 26. Juni d. J. an das eidg.

Versicherungsamt wünschen Sie nun zu Händen des Bundesrathes eine eingehende Untersuchung über die Tragweite und Durchführbarkeit, die finanziellen Folgen und die Verfassungsmäßigkeit des neuen Antrages.

Es ist damit die Aufgabe des Versicherungsamts bestimmt abgegrenzt. Es hat nicht sich in akademische Erörterungen über alles das, was auf dem Gebiete der Arbeitergesetzgebung wenn wir freie Hand hätten, wünschbar und erreichbar wäre, einzulassen, sondern soll lediglich untersuchen, ob der neue Antrag unter den Bundesblatt. 38. Jahrg. Bd. III.

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gegebenen Verhältnissen, nach Art. 34 der Bundesverfassung und nach den Grundsätzen des Fabrikgesetzes vom 23. März 1877, in den neuen Gesetzesentwurf eingefügt werden könne.

Prüfen wir daher vor Allem den Z w e c k des neuen Antrages, sodann seine praktischen F o l g e n und schließlich dessen Verhältniß zu den Vorschriften der V e r f a s s u n g .

I.

Daß dem Antrage die wohlgemeinte Absicht zu Grunde liegt, die Annahme des Gesetzes zu erleichtern, soll nicht verkannt werden.

Bei solchen wohlgemeinten Bestrebungen finden aber zuweilen in einem Gesetze Bestimmungen Eingang, welche nachher die Ausführung um so schwieriger machen, -- allgemeine, sehr verschieden deutbare und ohne ein neues Spezialgesetz nicht ausführbare Bestimmungen, welche ein Gesetz möglichst vermeiden soll.

Eine solche vage, dehnbare Bestimmung sehen wir in den Worten: Der Bund ,, k a n n " . Dieses Wort ,,kann" wird in der öffentlichen Diskussion von den Einen. als unschuldig und bedeutungslos hingestellt werden, während wahrscheinlich Andere sehr weitgehende Hoffnungen und Erwartungen daran knüpfen. Solche Bestimmungen passen nicht in ein Gesetz. Wenn der Bund wirklich, was wir später untersuchen werden, an .die hier besprochenen Versicherungen nach der Verfassung Beiträge verabfolgen kann, so hat es keinen Sinn, diese bloße Kompetenz noch einmal auszusprechen. Das Ausführungsgesetz soll sagen , ob der Bund auch, und in welchen Fällen, solche Unterstützungen verabfolgen w i r d , \venn es nicht Begehren rufen soll, welchen man zu entsprechen den Willen oder die Mittel nicht hat.

Auch der Ausdruck ,,Genossenschaften, die sieh aus besonders gefährlichen Gewerben zum Zwecke der Kollektiv Versicherung bilden", ist zu unbestimmt. Nach diesem Wortlaut könnten Produktivgenossenschaften, welche sieh zu dem Zwecke bilden, um ihre Arbeiter bei einer bestehenden Privatvei-sicherungsgesellschaft zu versichern, hiefür vom Bunde subventionirt werden, was aber nicht recht zu der Haltung stimmt, welche die Befürworter des Antrags gegenüber diesen Versicherungsgesellschaften einnehmen. Wir nehmen daher an, der französische Text des Art. l bis , welcher von auf Gegenseitigkeit basirten Versicherungsvereinen der Angehörigen besonders gefährlicher Berufsarten spricht, entspreche dem eigentlichen Ziele der Antragsteller. Aber auch diese Fassung geht noch zu weit.

Unser Haftpflichtgesetz kann nicht die Aufgabe haben, für die gegen-

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seitige Versicherung von Personen und gegen Schädigungen, welche nicht unter dieses Haftpflichtgesetz fallen, also für alle möglichen das menschliche Leben betreffenden Versicherungen Bundesbeiträge zuzusichern, sondern nur für Betriebe, Arbeiter und Unfälle, für welche nach unserm Gesetze H a f t p f l i c h t besteht.

Und welches sind nun diese ,,besonders gefährlichen Gewerbe", an deren Versicherung der Bund beitragen kann? Auch das sagt uns der neue Gesetzesartikel nicht und er erweckt damit, wie eine Lotterie, eine große Menge von Hoffnungen, welche nicht in Erfüllung gehen können Da aber das Gesetz diese gefährlichen Gewerbe dermalen nicht bezeichnen k a n n und da voraussichtlich dieses Nichtkönnen noch mehrere Jahre, wahrscheinlich länger, als das neue Gesetz selbst andauern wird, so ist es wohl besser und richtiger gehandelt, wenn so vage Aussichten gar nicht eröffnet werden. Es ist zwar richtig, daß unsere schweizerische Statistik seit einigen Jahren Angaben über die in unsern Hauptberufsgruppen vorgekommenen tödtlichen Unfälle gesammelt hat. Aber von diesen Unfällen ist nicht gesagt, ob sie bei der Berufsausübung oder außerhalb derselben vorgekommen, was hier sehr wesentlich ist. Und sodann bilden die tödtlichen Unfälle nach der deutschen Statistik nur etwa 2 °/o sämmtlicher Berufsunfälle und sind nach ihrer finanziellen Tragweite nicht einmal die schwersten. Darüber, wie sich die übrigen 98 °/o der Unfälle auf die einzelnen Berufsarten vertheilen und welche die meisten Kosten verursachen, weiß unsere schweizerische Statistik keine und die ausländische nur sehr ungenügende Auskunft zu ertheilen.

Die Vertheidiger des neuen Artikels können mit einigem Recht einwenden, daß, wenn man auch die absolut gefährlichsten Gewerbe nicht nennen könne, doch die P r ä m i e n bekannt seien , welche die Versicherungsgesellschaften für jeden" Beruf ansetzen, und sie beabsichtigten nur, für diejenigen Gewerbe, für welche dermalen die Unfallversicherung ihres Preises wegen ausgeschlossen sei, eine billigere Versicherung in's Leben zu rufen. Hierauf ist jedoch zu erwidern, daß auch die Versicherungsgesellschaften, nach ihren Prämien zu schließen, die mit den verschiedenen Gewerben verbundene Gefahr sehr ungleich taxiren und daß die Unfallversicherung bei keinem Gewerbe so theuer zu stehen kommt, daß sie
unmöglich wird.

Uebrigens ist bei Beurtheilung der Frage, ob es möglich sei, für ein Gewerbe die Kosten der Unfallversicherung aufzubringen, nicht bloß die Höhe der Prämie in Betracht zu ziehen, sondern auch die Rentabilität des Gewerbes selbst, beziehungsweise die Möglichkeit, die Kosten der Versicherung vom Produzenten auf den

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Konsumenten abzuwälzen. Das ist nun ganz besonders beim Baugewerbe der Fall und zwar namentlich dann, wenn der neue und ganz gerechtfertigte Antrag der nationalräthlichen Kommission zu Art. l angenommen wird : Haftbar ist in allen Fällen der Ziffer 2 der U n t e r n e h m e r des betreffenden Gewerbebetriebes auch dann, wenn er den Betrieb oder die Arbeit einem Dritten zur Ausführung übertragen hat.

Mau liât nun, um die Unterstützung der Unfallversicherung durch den Bund zu motiviren, auf den D a c h d e c k erb er u f hingewiesen.

"Wir nehmen an, daß bei allen Bauten der Bauunternehmer für die unverschuldeten und nicht durch höhere Gewalt herbeigeführten Verunglückungen der Arbeiter, namentlich auch der Dachdecker, hafte, da derselbe überhaupt leer ausginge, wenn er nicht einmal für die von ihm bestellten Dachdecker haften müßte. Es könnten daher die Dachdeckermeister nur noch für die von ihnen ausgeführten Flickarbeiten haftbar gemacht werden. Nun sind aber die 3786 Dachdecker, welche die Volkszählung von 1880 in der Schweiz ermittelte, in Folge der Natur ihres Geschäftes so über die 3055 Gemeinden unsers Landes vertheilt, es sind auch in unsero größern Städten die Dachdeckermeister so zahlreich (15 -- 20), daß die Meister mit mehr als 5 Arbeitern zu den Ausnahmen gerechnet werden müssen und zur Bildung einer besondern Versicherungsgesellschaft nicht hinreichend wären. So lange solche Kleinbetriebe (wie derjenige der Dachflicker), die nicht über 5 Arbeiter zu verwenden brauchen, der Haftpflicht nicht unterworfen sind, ist auch kein Art. lbis für dieselben nothwendig.

II.

Während der vorgeschlagene neue Art. l b i a zur Erreichung des vorgesteckten Zieles sehr wenig beiträgt, präjudizirt er auf der andern Seite in Fragen, welche noch eines genauem Studiums bedürfen, und führt uns auf Versuche, deren Folgen nicht abzusehen sind. Es ist ja schon möglieh, daß eine gründliche Untersuchung der Frage der Haftpflicht und der Unfallversicherung uns auf eine neue Bahn führen wird. Aber bevor wir das bisherige System aufgeben und die neue Bahn einschlagen, muß durch ein einläßliches Studium der Plan des Neubaus vorbereitet sein. Wenn wir, noch im Ausbau des bisherigen Systems begriffen, ohne Plan Grundsätze einführen, welche einem ganz andern System angehören, so könnten die F o l g e n eines solchen unvorbereiteten Vorgehens gerade das Neue, das angestrebt wird, kompromittiren und gefährden.

49 Wer sagt uns denn, daß, im Falle wir wirklich von der Haftpflicht, welche indirekt die Versicherung herbeifuhrt, übergehen zur o b l i g a t o r i s c h e n (J n fa l i v e r S i c h e r u n g , diese Unfallversicherung auch bei uns nach B e r u f s g e n o s s e n s c h a f t e n zu organisiren sei? Im großen Deutsehen Reiche, dessen Bevölkerung mehr als 15 mal zahlreicher ist als die unsrige, mögen allerdings auch weniger stark besetzte Gewerbe es zu ganz lebensfähigen Berufsgenossenschaften bringen, und wo dies nicht der Fall ist, können dieselben auf dem Wege des Gesetzes andern Berufsgenossenschaften zugetheilt werden. In der kleinen Schweiz, welche durch ihre Sprach Verschiedenheiten auf dem Gebiete des gewerblichen Vereinswesens überdies noch in kleinere Kreise zerfällt, würden einzelne als gefährlich geschilderte Gewerbe schwerlich lebensfähige Versicherungsvereine zu bilden im Stande sein und es dürften die betreffenden Meister noch lieber die fixe Prämie von Versicherungsgesellschaften bezahlen, als das Risiko eines in seinem Bestände* stets gefährdeten Versicherungsvereins mit un begrenzten Nachschüssen tragen, trotz Bundesbeiti'ag. Man spricht zwar von hohen Dividenden der privaten Unfallversicherungsgesellschaften, welche man sich ersparen könne durch das System der Gegenseitigkeit: Thatsache ist jedoch, daß die Unfallversicherungsgesellschaften auf der Kollektivversicherung durchschnittlich mehr Verluste als Gewinne machen und daß, wenn sie Dividenden erzielen, sie diese nicht der Kollektivversicherung der Arbeiter, sondern der Einzelversicherung der Prinzipale und andern mit der Kollektivversicherung verbundenen Geschäftszweigen verdanken.

Nun ist es sonst nicht die Uebung des Staates, wenn er auf dem Gebiete des Versicherungswesens auftritt, den Aktiengesellschaften die guten, Gewinn bringenden Geschäfte zu überlassen und sich die gefährlichem, ja die allergefährlichsten Risiken zu reserviren. Er sucht vielmehr umgekehrt die beiden Arten von Risiken durch ein gewisses Solidaritätsverhältniß zu verbinden, und er leistet damit z. B. auf dem Gebiete der Feuerversicherung den schlechtem Risiken einen größern Dienst, als wenn er diese in einer besondern Gesellschaft sammelte und mit einem Beitrag subventionirie, welcher der Natur der Sache nach im Verhältniß zum Gesammischaden stets
ein bescheidener bleiben müßte.

Dieselben Umstände, welche gegenwärtig in Oesterreich zu dem Entwurfe führen, die Unfallversicherung nicht nach Gewerben, sondern nach Territorien zu organisiren und innerhalb eines Versicherungskreises a l l e Gewerbe zu einer Anstalt zu vereinigen, dürften auch bei uns, wenn überhaupt dem Volke ein Obligatorium beliebt, den Ausschlag geben und also die Gründung von be-

50 sondern Berufsgenossenschaften für das ganze Land eine nutzlose Bemühung sein.

Wir fragen ferner : Warum soll, wenn einmal der Gesetzgeber findet, die Haftpflicht und die daraus folgende Versicherungspflicht sei für den Arbeitgeber zu schwer, nur der B u n d ihm die Last tragen helfen? Sprechen nicht in der Natur der Sache liegende Gründe dafür, auch den Arbeiter zur Mitleistung beizuziehen, vielleicht auch die Krankenkassen, die Annenverbände, die Bürgergemeinden? Diese Frage muß man lösen, bevor die Haftpflicht aufgegeben wird, soll sie nicht zum Nachtheil des Bundes entschieden werden.

Und jetzt kommt noch die Hauptfrage : bis zu welcher Grenze kann und darf der Bund mit seinen Beiträgen gehen ? Vergessen wir nicht, daß, wenn einmal ein Büdgetposten für diesen Zweck eröffnet ist, derselbe ein ständiger und progressiv wachsender sein wird. Mit kleinen Subsidien an einzelne gerade neu der Haftpflicht unterworfene Gewerbe würde man beginnen ; jede weitere Ausdehnung der Haftpflicht müßte mit neuen Versprechungen erkauft ·werden und würden die Vertreter der bisherigen haftpflichtigen Gewerbe dazu stimmen, wenn nicht die gleiche Vergünstigung allen zugesichert wird? Ist ja doch in der Presse und in der Bundesversammlung ein ansehnlicher Prozentantheil des Bundes nicht bloß für die Versicherung der Arbeiter einzelner Gewerbe, sondern für die Arbeiterversicherung ü b e r h a u p t verlangt worden !

Es ist gewiß nicht überflüssig, sich schon jetzt die Konsequenzen des Prinzips der Bundessubvention an die Kosten der Haftpflicht, resp. der allgemeinen Versicherung der Arbeiter gegen Unfall, zu vergegenwärtigen. Nach der Volkszählung von 1880 waren in deiIndustrie und der Landwirtschaft zusammen genommen circa 1,100,000 erwachsene Personen thätig; von diesen dürften bei einer allgemeinen Arbeiterversicherung mindestens 500,000 Personen in Frage kommen. Nun ist die ' obligatorische allgemeine Unfallversicherung kaum ausführbar, wenn nicht die Unfälle, welche eine Erwerbsunfähigkeit von weniger als 13 Wochen zur Folge haben (welche Unfälle nach der Enquete des Deutschen Reichs 96 °/o aller Berufsunfälle ausmachen), lokalen Krankenkassen zur Besorgung zugewiesen werden können, wie dies in Deutschland geschehen ist. Die allgemeine Unfallversicherung der Arbeiter hat also die allgemeine Krankenversicherung
derselben zur Voraussetzung , und da wir von dieser noch weit entfernt sind , so müssen wir sie in den Kosten Voranschlag einbeziehen. Wenn wir nun erwägen, daß nach eingehenden statistischen Aufnahmen auf einen Kopf der erwachsenen Bevölkerung durchschnittlich per

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Jahr 10 Krankentage fallen, so rechnen wir sehr bescheiden, wenn wir behaupten, es sei -- außer den bereits vorhandenen Mitteln -- noch ein jährlicher Betrag von 15 Franken per Kopf nothwendig, um jedem der 500,000 Arbeiter und Arbeiterinnen im Krankheitsfalle ärztliche Behandlung und einen kleinen Ersatz für entgangenen Verdienst zu sichern. Zu diesen 15 Franken per Kopf kommen wenigstens noch 10 Franken für die Versicherung gegen Unfälle schwererer Art, also nach Abzug derjenigen mit Erwerbsunfähigkeit von weniger als 13 Wochen. Somit ist eine Jahresausgabe von 25 X 500,000 = 12 L /2 Millionen Franken in Aussicht zu nehmen.

Einen wie großen Theil dieser Summe könnte der Bund beitragen, ohne die Steuern zu erhöhen? Und da die Zölle die Haupteinnahme des Bundes liefern, und da diese, wenn sie wesentlich mehr abwerfen sollen, die Gegenstände des allgemeinen Verbrauchs, die Nahrungsmittel und die Kleidung, treffen müssen, wie viel gewinnt der Arbeiter bei der Subvention aus solchen Finanzquellen ?

Daran muß man denken, bevor man den Grundsatz der Unterstützung der Arbeiterversicherung aus Bundesmitteln ausspricht.

III.

Im Hinblicke auf diese sehr nahe gelegten Konsequenzen des ersten Schrittes einer finanziellen Betheiligung des Bundes bei der Arbeiterversicherung haben wir uns aber auch zu vergegenwärtigen, welche Stellung uns die B u n d e s v e r f a s s u n g gegenüber der Arbeiterfrage anweist.

Unsere gegenwärtige Bundesverfassung gibt dem Bunde (Art. 34, Lemma 1) keine weitere Befugniß, als die, ,,einheitliche Bestimmungen aufzustellen über die Verwendung von Kindern in den Fabriken und über die Dauer der Arbeit erwachsener Personen in denselben ; ebenso ist er b e r e c h t i g t , Vorschriften zum Schütze der Arbeiter gegen einen die Gesundheit und Sicherheit gefährdenden Gewerbebetrieb zu erlassen."

Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter schützen gegenüber der modernen, mit elementaren Naturkräften und großen Kapitalien arbeitenden, den Arbeiter in höherm Maße bedrohenden Industrie -- das ist das dem Bunde in dieser Richtung durch die Verfassung übertragene Mandat. Das ist die Basis der im Fabrikgesetz aufgestellten gewerbepolizeilichen Bestimmungen, das ist auch das Motiv der über das bisherige gemeine Recht hinaus gehenden H a f t p f l i c h t der Unternehmer für die aus ihrer Industrie resultirenden Unfälle. Diese ökonomische Haftpflicht des Unternehmers ist ein

52 M i t t e l , den Unternehmer zu schützenden Vorkehren zu nöthigen.

Soweit dieser Schutz des Arbeiters und die zu diesem Zwecke aufgestellte Haftpflicht begründet sind, soweit sind sie voll und gana geltend zu machen; wo eine ratio legis dafür nicht mehr vorhanden ist, da hört auch das Mandat des Bundes auf. Zur Versicherung seine Zuflucht zu nehmen, hat der Bund keinen Auftrag; der haftpflichtige Unternehmer mag es thun, wenn er es angemessen findet; aber der Bund darf ihm diese Last weder theilweise, noch ganz abnehmen, so lange sie diesen Zweck und diesen privatrechtlichen Charakter hat.

Mit dieser die gesetzliche Haftpflicht vertretenden Unfallversicherung sind nicht zu verwechseln die verschiedenen Formen der Arbeiterversicherung, welche schon vor der Aufstellung der Haftpflicht bestanden haben. In Bezug auf diese Versicherungsformen gibt der Fabrikartikel der Verfassung dem Bunde keinen Auftrag.

Die bundesräthliche Botschaft zum Fabrikgesetz-Entwurf vorn 6. Dezember 1875 sagt dies ausdrücklich : ,,Der vorliegende Gesetzesentwurf' zieht in seinen Bereich nicht alle Verhältnisse der Fabrikarbeiter, sondern nur einzelne, und zwar nur diejenigen, für welche in den Bestimmungen des V e r f a s s u n g s a r t i k e l s ein bestimmter Anhaltspunkt gegeben ist.

So wurde Alles bei Seite gelassen, was die allgemeine ökonomische Wohlfahrt der Arbeiter bezweckte; so auch manche nahe liegende Bestimmung im Interesse ihrer sittlichen Förderung; so namentlich auch Alles, was auf das V e r s i c h e r u n g s w e s e n der A r b e i ter, auf Kran k en-, A l t e r s - und U n t e r s t ü t z u n g s k a s s e D, deren Einrichtung und Verwaltung Bezug hat. -- -- Dies Alles ist, soweit die Gesetzgebung überhaupt sich damit zu befassen hat, der Gesetzgebung der K a n t o n e überlassen, welche jetzt schon über manche Punkte der genannten Kategorien Bestimmungen getroffen hat.tt Uebrigens hat .auch die Motion Klein, Decurtins etc., welcher der Bundesrath mit seiner Gesetzes vorläge zu entsprechen glaubte, gar nicht den Sinn, es solle die Haftpflicht abgeschafft oder erleichtert werden, sondern sie verlangt ausdrücklich A u s d e h n u n g der Haftpflicht und Erleichterung der Geltendmachung der daherigen E n t s c h ä d i g u n g s a n s p r ü c h e ; und wenn außerdem auch noch die U n t e r s u c h u
n g der Frage der obligatorischen Unfallversicherung verlangt und beschlossen wurde, so hatte auch dieses Begehren nicht den Sinn einer Entlastung der Arbeitgeber, sondern einer bessern Erfüllung der Haftpflicht durch ein anderes Versicherungssystem. Auch wurde von den Motionsstellern mit großem Nach-

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druck auf die Gewinne der Arbeitgeber hingewiesen, aus welchen ein Mehreres zu Gunsten der Arbeiter beansprucht werden dürfe.

Auch das Referat von Hrn. Fürsprecher S e h e r r er, ,,die obligatorische Unfall versicherung", auf welches sich der Berichterstatter der nationalräthlichen Kommission berief, stellt in Fettschrift die These a u f : ,,Wie die Haftpflicht gemäß einem erweiterten Begriff desVerschuldens e i n z i g auf dem Arbeitgeber geruht hat, so ist auch d i e P r ä m i e f ü r d i e l e d i g l i c h a n S t e l l e d e r Haftpflicht getretene Unfallversicherung voll u n d g a n z v o m A r b e i t g e b e r z u bezahlen.

Wie könnte man nun dem Bunde in dem Augenblicke, wo man die Haftpflicht, dieses prophylaktische Schutzmittel für den Arbeiter, auf andere gefährliche Gewerbe ausdehnen zu müssen glaubt, im gleichen Athemzuge das Recht ertheilen, die Last dieser Pflicht durch Beiträge beliebig zu mildern, resp. die Haftpflicht, die man aufgestellt, wieder abzuschwächen? Warum soll ferner der Bund auf einmal privatrechtliche Verpflichtungen, welche man als gerecht und nothwendig gefunden hat, den Verpflichteten theilweise ahnehmen und selbst übernehmen, als ob das Gesetz eine Unbill enthielte ?

Wird damit nicht bei den Betreffenden, welchen man mit einem kleinen Beitrag die neue Zumuthung annehmbarer zu machen versucht, der Verdacht erweckt, man verlange etwas, was sie nicht schuldig seien? Steht die Haftpflicht nicht auf demselben Verfassungsboden, wie der Normal-Arbeitstag und das Verbot der Kinderarbeit in den Fabriken?

Wir halten den Moment nicht dazu geeignet, von dem Boden der Verfassung und der Fabrikgesetzgebung, auf dem wir mit Zustimmung des Volkes stehen, sich zu entfernen, so lauge dasjenige, was au dessen Stelle treten soll, noch so ungewiß und so unsicher ist. Die Haftpflicht, wie sie das schweizerische Gesetz normirt hat, ist eine Errungenschaft, auf welche die Arbeiter anderer Staaten mit Neid hinblicken. Wenn in Deutschland die Haftpflicht durch die obligatorische Unfallversicherung ersetzt werden mußte, so ist damit der Stab noch nicht gebrochen über unsere Haftpflichtgesetzgebung. Während die Haftpflicht der Industrie bei uns derjenigen der Eisenbahnen nachgebildet ist, war sie im Deutschen Reiche eine ganz andere, viel beschränktere: der Arbeitgeber haftete nur,
wenn ihm ein Verschulden nachgewiesen werden konnte, und die Beweislast war dem Verletzten aufgebürdet. So kam es, daß die Arbeitgeber faktisch für höchstens 1/5 sämmtlicher

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Betriebsunfälle verantwortlich erklärt wurden, und die Entsehädi.gungen waren durchschnittlich niedrige. Im Vergleich mit einer solchen Haftpflicht mußten sogar die bescheidenen Entschädigungen, welche im Deutschen Reiche die neue obligatorische Unfallversicherung bietet, als ein Fortschritt empfunden werden.

Daß bei uns mit dem Verzicht auf unsere bessere Haftpflicht ein Mehreres geboten werden müßte, sagt man deutlich genug; dagegen ist man über die Beschaffung der nöthigen Mittel noch ganz im Unklaren. Mit der Zusicherung eines Bundesbeitrages ist noch gar nichts geleistet, so lange nicht die Beitragsquoten a l l e r Betheiligten und die Verwendungsweise festgestellt sind, durch eine solche bedingungslose Zusicherung begibt sich de; Bund des Einflusses, den er in der bezüglichen Gesetzgebung ausiüben könnte, und leistet auf die Hülfsmittel Verzicht, welche zugedeihlichen Lösung der Frage absolut erforderlich sein würdenr Der Bund dürfte, ebenso gut wie das Deutsche Reich, die Unfallversicherung gesetzlich organisiren, ohne sich finanziell bei derselben zu betheiligen. Aber sich finanziell betheiligen, ohne die Organisation, die zweckmäßige Verwendung seiner großen Geldopfer und die auch von anderer Seite aufzubringenden Geldmittel zu sichern, das darf und kann er nicht; wenn er Beiträge bewilligt, so muß er deren Verwendung ordnen und überhaupt die Unfallversicherung so einrichten, daß der Zweck auch erreicht wird.

Wenn aber der Bund auf dem Gebiete des Versicherungswesens derart auftritt, dann verläßt er wiederum eine Position, welche ihm Artikel 34 der Bundesverfassung, und zwar Lemma 2 desselben, anweist. Nach Lemma 2 des Art. 34 hat er auf dem Gebiete des Versicherungswesens nur die Kompetenz und die Aufgabe, über die privaten Versicherungsgesellschaften Aufsicht zu üben, nicht aber durch eigene Initiative ihnen Konkurrenz zu machen oder sie gar zu beseitigen. Durch materielle Staatsunterstützung eine Versicherungsunternehmung erheblieh begünstigen ist schon an sich auch ohne Obligatorium eine Vei-unmöglichung der freien Konkurrenz; noch bestimmter tritt freilich das M o n o p o l hervor, wenn mittelst des Obligatoriums die Konkurrenz ausdrücklich beseitigt wird.

Erst vor wenigen Monaten ist ein von den eidgenössischen Käthen erlassenes und vom Volke nicht angefochtenes Bundesgesetz in
Kraft getreten, welches die von der Bundesverfassung verlangte Aufsicht über die privaten Versicherungsunternehmungen regelt.

Noch o liegen absolut keine Erfahrungen über die Wirkungen dieser Aufsteht vor, noch nicht einmal ein Bericht über den Stand und

55 ·die Geschäftsführung dieser Unternehmungen. Ob diese Unternehmungen, durch die Bundesaufsicht bewacht und in Schranken gehalten, den Erwartungen, von welchen der Gesetzgeber erfüllt war, und dem öffentlichen Bedürfniß genügen werden oder ob auf irgend einem Gebiete der Bund selbst als Versicherer aufzutreten habe, konnte noch gar nicht amtlich konstatirt werden. Eine solche Konstatirung, ein einläßlicher Nachweis sollte doch vorliegen, bevor man dem Volke Geldopfer zumuthen darf, um auf irgend einem Gebiete der Vevsicherungsindustrie von Bundes wegen Geschäfte in's Leben zu rufen ; so lange wir diesen Nachweis nicht erbringen können, würde es mit Recht uns anweisen, vorerst mit den bestehenden Verfassungs- und Gesetzesvorschriften Versuche zu machen, bevor wir ihm neue vorschlagen und zu deren Ausführung Subsidien verlangen. Wir können also auch aus dem Grunde, weil Art. 34, Letnma 2, unserer Bundesverfassung dem Bunde nur eine Kompetenz und ein Mandat zur B e a u f s i c h t i g u n g der privaten Versicherungsunternehmungen ertheilt und ein weitergehendes Eingreifen desselben ausschließt, den vorgeschlagenen Art. lble nicht befürworten.

Mit ausgezeichneter Hochachtung !

B e r n , den 6. August 1886.

Der Direktor des eidg. Versicherungsamts: Kummer.

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Gutachten über den zum Gesetzesentwurf betreffend Ausdehnung der Haftpflicht vorgeschlagenen Zusatz-Artikel 1bis.

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1886

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36

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28.08.1886

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