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Botschaft des

Bundesrates an den Nationalrat betreffend die Aufhebung der Immunität gegenüber denjenigen Ratsmitgliedern, die im Strafprozess des Oltener Aktionskomitees etc.

unter Anklage gestellt sind.

(Vorn 24. März 1919.)

Gestützt auf den Befehl des schweizerischen Militärdepartementes vom 18. November 1918 zur Einleitung des militärgerichtlichen Strafverfahrens hat der Auditor des Divisionsgerichtes 3 unterm 7. Januar 1919 gegen nachfolgende Mitglieder des Nationalrates Anklage erhoben : a. wegen Meuterei, begangen durch Erlass oder Verbreitung des Aufrufs zum Proteststreik vom 7. November 1918, gegen die Herren: Duby, Grimm, Jlg und Schneeberger; b. wegen Meuterei, begangen durch Erlass oder Verbreitung des Aufrufs ,,An das arbeitende Volk der Schweiz" vom 11. November 1918, gegen die Herren: Düby, Grimm, Grospierre, Huggler, Jlg, Ryser, Schneeberger, Platten und Schmid ;

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c. wegen Meuterei, begangen durch Erlass oder Verbreitung des Aufrufs ,,An die Eisenbahner aller Kategorien1" mit Instruktion vom 11. November 1918, gegen die Herren: Düby und Huggler; d. wegen Widerhandlung gegen die Bundesratsverordnung vom 11. Novomber 1918 gegen die sämtlichen sub. b und c hiervor aufgeführten Angeschuldigten, soweit nicht eine Verurteilung nach b und c erfolgt.

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Am 21. Januar 1919 begann die Hauptverhandlung vor Divisionsgericht 3 im Assisensaal in Bern ; am 22. Januar 1919 erklärte sich das Gericht für teilweise unzuständig zur Beurteilung der Anklage und setzte die Verhandlungen aus, unter Überweisung der Akten an das schweizerische Militärdepartement zur Beschlussfassuug im Sinne des Art. 5 der M. Str. G. 0. Gegen diesen Entscheid legte der Auditor am 22. Januar 1919 und die Verteidigung am 23. Januar 1919 Kassationsbeschwerde ein.

In der Folge fand gemäss den Bestimmungen der Art. 189 bis 190 M. Str. G. 0. der Schriftenwechsel zwischen den Parteien und dem Grossrichter statt. Am 12. Februar 1919 stellte der Oberauditor die Akten mit seiner Vernehrnlassuug dem Vorsitzenden des Militärkassationsgerichtes zu. Zufolge des schriftlichen Verfahrens vor Kassationsgericht gelangten nunmehr die Akten bei den einzelnen Gerichtsmitgliedcrn in Zirkulation zum Studium.

Durch Urteil des Kassationsgerichtes vom 26. Februar 1919 wurde die Kassationsbeschwerde des Auditors gutgcheissen und die Angelegenheit zur Wiederaufnahme des Verfahrens an das Divisionsgericht 3 zurückgewiesen. Der Grossrichter setzte den Wiederbeginn der Hauptverhandlung auf den 12. März 1919 an. Die Durchführung derselben erfordert nun so viel Zeit, dass das Urteil bis zum Beginn der auf den 24. März 1919 festgesetzten Session des Parlaments nicht gefällt werden konnte. Es hat sich bei dieser Situation die Frage aufgestellt, ob das Verfahren gegen die Mitglieder des Nationalrates trotz Sessionsbeginns fortgeführt werden könne, oder ob das Gericht die Verhandlungen zu unterbrechen und für die Fortführung derselben die Zustimmung des Nationalrates einzuholen habe, d. h. ob die Aufhebung der parlamentarischen Immunität erforderlich sei. Im letztern Falle ist auf die Bestimmung des Art. 136 M. Str. G. 0. aufmerksam /.u machen, wonach, wenn eine längere Unterbrechung der Verhandlung notwendig wird, dieselbe in einem spätem Termin von neuem zu beginnen hat.

Der Bundesrat ist nun bei der Prüfung der Frage, ob in concreto zur Fortführung des Verfahrens eine Aufhebung der parlamentarischen Immunität erforderlich sei, zu nachfolgenden, Erwägungen und Schlüssen gekommen : I.

Ihrer Natur nach ist die parlamentarische Immunität nichts anders als Einschränkung der ßichtcrgewalt, also ein Einbruch

546 in den Grundsatz der Rechtspflege. Es ist ein Privilegium, ein Vorzugsrecht, gegenüber dem verl'assungsmässigen Grundsatze der ·Gleichheit aller. Aus diesem Grunde darf eine bezügliche Gesetzebbestimmung nicht extensio interpretiert werden ; was nicht expressis verbis in einem solchen Gesetz enthalten ist, darf nicht als bestehend angenommen werden.

In sachlicher Beziehung hat die Immunität drei Arten von Vergehen und Verbrechen der Parlaments- und Regierungsmitglieder zum Gegenstand : 1. Delikte, welche im Missbrauch oder in Ausübung ihrer amtlichen Funktionen begangen werden ; 2. allgemeine Delikte und Vergehen ohne Zusammenhang mit der amtlichen Stellung, begangen während der Dauer der Versammlung j 3. Delikte der zweiten Kategorie, welche ausserhalb der Sessionsdauer begangen worden sind und mit Bezug auf welche bereits bei den Gerichten Verfahren pendent sind.

In Frankreich, Deutschland, Österreich, Belgien usw. sind alle diese drei Fälle in den einschlägigen Verfassungsartikeln ausdrücklich geregelt.

Die Ausgestaltung des Immunitätsrechtes geht auf die französische Revolution zurück und hat ihren Abschluss gefunden in den 30 er Jahren des letzten Jahrhunderts, in der belgischen Verfassung vom 7. Februar 1831. Dort ist bestimmt: ,,Aucun membre de l'une ou de l'autre chambre ne peut pendant la durée de la session être poursuiri ni arrêté en matière de repression qu'avec l'autorisation de la chambre dont il fait partie, sauf le cas de flagrant délit.

La détention ou la poursuite d'un membre de l'une ou l'antre chambre est suspendue pendant la session et pour toute sa durée si la chambre la requiert/1 Diese Grundsätze haben dann in der Folge in beinahe identischer Form in den Verfassungen fast aller Staaten des Kontinentes Aufnahme gefunden (vgl. Weismann : ,,Die prozessuale Privilegierung gesetzgebender Versammlungen". Zeitschrift für gesamte Strafrechtswissenschaft Band IX, 1889, S. 379 ff.).

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Das hier statuierte Privilegium ist nicht ein Recht der Mitglieder eines Hauses, sondern des Hauses selbst. Für die Frage der Aufhebung der Immunität im einzelnen Falle sind also allein die Interessen des Hauses, nicht diejenigen der Betroffenen, massgebend.

II.

Diese Regelung der Frage im Ausland war auch den eidgenössischen Räten bekannt im Zeitpunkte des Erlasses der eidgenössischen Bestimmungen und doch geht unser Recht dabei seine eigenen besonderh Wege. Einerseits regelt es diese Fragen nicht in der Verfassung, dann auch nicht in einem besondern Zusammenhang. "Wir haben eine ausdrückliche Regelung für die Delikte der ersten Art, d. h. die Verbrechen und Vergehen, die mit der amtlichen Stellung im Zusammenhang stehen, im Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit der eidgenössischen Behörden und Beamten vom 9. Dezember 1850, Art. l und 17 ff. Daneben haben wir das Bundesgesetz über die politischen und polizeilichen Garantien zugunsten der Eidgenossenschaft vom 23. Dezember 1851. Dieses enthält in ganz unzweifelhafter Weise eine Regelung der Verfolgung der w ä h r e n d der «Dauer der Session beg a n g e n e n Vergehen und V e r b r e c h e n des gewöhnlichen Rechtes. Ob das Gesetz auch die Verhältnisse mit Bezug auf v o r der Versammlung begangene Delikte und auch mit Bezug auf die Weiterverfolgung bereits eingeleiteter Verfahren bei derartigen Delikten regelt oder regeln will, steht nicht ohne weiteres fest.

Eine nähere Untersuchung in dieser Hinsicht ergibt: Art. 1. Abs. l, des Garantiegesetzes lautet: ,,Gegen die Mitglieder des National- und des Ständerates k a n n w ä h r e n d d e r D a u e r d e r V e r s a m m l u n g eine polizeiliche oder g e r i c h t l i c h e V e r f o l g u n g wegen Verbrechen oder Vergehen, welche sich nicht auf ihre amtliche Stellung beziehen, n u r m i t Z u s t i m m u n g d e r B e h ö r d e , w e l c h e r sie a n g e h ö r e n , stattfinden.111 Während der deutsche Text vom ,,Stattfinden" der Verfolgung spricht und der italienische (,,aver luogo"1) damit übereinstimmt, lautet der französische Text ,,aucune poursuite judiciaire ou de police ne pourra être dirigée . . . u . Der deutsche und italienische W'ortlaut umfasst nicht nur dio Einleitung,

548 sondern auch dio Fortsetzung einer Verfolgung; die französische Fassung könnte hingegen zum Ausdruck bringen, dass nur die Einleitung der Verfolgung gemeint sei.

Im bundesrätlichen Entwurf zum Garantiegesetz (Bundesbl.

1851, Bd. III, 8. 236) war die Rede von einer ,,Verfolgung wegen solchen Verbrechen und Vergehen, welche während der Dauer der Versammlung der betreffenden Behörde begangen werden". Die gleiche Fassung findet sich auch in don Anträgen der ständerätlichen Kommission. Im Ständerat erhielt der Abs. l des Art. l die jetzige Fassung, die nicht mehr darauf abstellt, ob das Delikt während der Sessionsdauor begangen worden ist, sondern darauf, ob die Verfolgung während der Sessionsdauer stattfindet.

Aus welchen Gründen diese Änderung vorgenommen wurde, ist unbekannt. Es lässt sich nur sagen, dass die eidgenössischen Räte bei der Beratung des Garantiegesetzes im allgemeinen die Tendenz hatten, die Immunitätsrechte ihrer Mitglieder auszudehnen, Ob aber der Gesetzgeber die Absicht hatte, die Fortsetzung einer vor der Sessionseröffnung begonnenen Verfolgung dem Art. l, Abs. l, zu unterstellen, lässt sich nicht feststellen.

Der vierte Absatz des Art. l sieht vor : ,, W e n n b e s c h l ö s s e n w i r d der Kl âge F o I g e zu g e b e n , so geschieht die Überweisung an die Anklagekammer des Bundesgerichts oder in unbedeutenden Fällen an die Gerichte des Kantons, in welchem die eingeklagte Handlung begangen wurde". Diese Bestimmung kann sich nur auf die E i n l e i t u n g der Verfolgung beziehen, nicht aber auf die Fortsetzung einer schon vor der Sessionseröffnung begonnenen Verhandlung. Deshalb könnte aus dem Abs. 4 gefolgert werden, dass der ganze Art. l (also auch der erste AbsaU) sich nur auf die Einleitung der Verfolgung beziehe. Den gleichen Schluss legt auch der erste Absatz des Art. 2 nahe: ,,Überdies darf keine der itn Art. l bezeichneten Personen ohne Bewilligung derjenigen Behörde welche, nach Art. l ü b e r A n h e b u n g d e r U n t e r s u c h u n g e n t s c h e i d e t , verhaftet werden" (,,sans l'autorisation du corps qui, d'après l'art, l, accorde ou refuse la faculté de diriger les poursuites", ,,senza l'autorizzazione del corpo che, giusta il medesimo art. 1 accorda o nega la facoltà di procedere").

Dieser Wortlaut deutet darauf hin, dass eine während der Session
erfolgende Verhaftung eines Ratsmitgliedes der Zustimmung des Rates bedarf, dass aber eine solche Zustimmung nicht erforderlich sei, wenn die Verhaftung vor der Sessionseröffnung

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stattgefunden hat und es sich bloss um die Fortdauer der Haft während der Session handelt. Dies ergibt sich jedoch aus Art. 2 nicht mit Sicherheit 5 der Art. 2 ist so mangelhaft redigiert, dass sich seine Tragweite nicht in zweifelsfreier Weise bestimmen lässt.

Der Zweck der Art. l und 2 geht dahin, die Mitglieder der Bundesversammlung gegen eine durch eine Strafverfolgung während der Sessionsdauer mögliche missbräuchliche Verhinderung an der Ausübung ihres Mandai es sicher zu stellen ; namentlich soll dadurch die ungestörte Tätigkeit der eidgenössischen Räte gegenüber einer missbräuchlichen Strafverfolgung ihrer Mitglieder gesichert werden.

Diesem Zwecke entspricht es, dass nicht auf den Zeitpunkt der Anordnung, sondern auf den des Vollzuges der Strafverfolgungsmassnahmen abgestellt werde.

Expressis verbis kennt also das Garantiegesetz ein Recht des Rates auf Unterbrechung eines bereits begonnenen Strafverfahrens nicht J ). Es kann sich daher nur fragen, ob die Fortsetzung eines Strafverfahrens während der Session schlechthin zulässig ist (ohne dass der Rat Unterbrechung verlangen könne) oder aber ob das Strafverfahren durch die Sessionserüffnung ipso jure unterbrechen wird (und erst, wenn der Rat die Zustimmung zur Fortsetzung erteilt hat, fortgesetzt werden darf). Mit Rücksicht auf den Zweck der Immunitätsbestirnmungen und auf den deutschen und italienischen Wortlaut des Art. l, Abs. l, nehmen wir an, dass letzteres der Fall ist, und d a s s a u c h die F o r t s e t z u n g eines vor dem Sessioiisbeginne eingeleiteten Strafverfahrens als ,, s t a t t f i n d e n t t der V e r f o l g u n g im Sinne des Art. l, Abs. l, zu b e t r a c h t e n ist 2 ). Immerhin ist zuzugeben, dass auch die gegenteilige Auslegung möglich ist.

Gestützt auf diese Ausführungen beehren wir uns dem Nationalrat den Antrag zu unterbreiten : ') Laut Muralt (Die parlamentarische Immunität in Deutschland und der Schweiz, S. 120) kennen auch die kantonalen Rechte eine Befiignis d<-s Grossen Rates, die Unterbrechung des Strafverfahrens zu verlangen, nicht.

2 ) Muralt (S. 118) vertritt die gleiche Auffassung. Professor Flfiiner scheint dagegen in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung (1917, Nr. 1167 und 1174) über die parlamentarische Immunität den Standpunkt einzunehmen, dass nur die E i n l e i t u n g der Strafverfolgung der Zustimmung des Rates bedürfe.

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Es sei zur Durchführung des vor Divisionsgericht 3 pendenten Strafverfahrens die Immunität nachfolgender Mitglieder des Nationalrates aufzuheben : des Herrn E m i l D i i b y , ,, ,, RobertGrimm, .,, ,, Achille Grospierre, ,, ,, August Huggler, ,, ,, K o n r a d Ilg, .,, ,, Friedrich Platten, ,, ,, Emil Ryser, ,, ' ^ Jacques Schmid, ,, ^ O s k a r S c h n e e b e r g e r.

Genehmigen Sie die Versicherung unserer vorzüglicher Hochachtung.

B e r n , den 24. März 1919.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Ador.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Steiger.

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Botschaft des Bundesrates an den Nationalrat betreffend die Aufhebung der Immunität gegenüber denjenigen Ratsmitgliedern, die im Strafprozess des Oltener Aktionskomitees etc. unter Anklage gestellt sind. (Vom 24. März 1919.)

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