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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Amnestiegesuche zugunsten der Teilnehmer am Generalstreik vom November 1918.

(Vom 16. Juni 1919.)

Wir beehren uns, Ihnen auftragsgemäss Bericht und Antrag zu stellen über die Gesuche, die für die Führer und Teilnehmer des Generalstreiks vom November 1918 Amnestie zu erwirken bezwecken.

I.

Ein dahingehendes Begehren ist einmal vom Zentralkomitee des S c h w e i z e r i s c h e n G r ü t l i v e r e i n s (sozialdemokratische Volkspartei) zugunsten der im Generalstreikprozess verurteiltet!

Führer der sozialdemokratischen Partei gestellt und im wesentlichen wie folgt begründet worden : Der Generalstreik sei zwar in seinem Endziel, als Mittel zum gewaltsamen Umsturz, vom Grütliverein mit aller Entschiedenheit abgelehnt worden, allein er stelle sich doch als eine Volksbewegung dar, deren Berechtigung angesichts der vielfach verfehlten Politik des Bundesrates und der Bundesversammlung nicht bestritten werden könne. Die Tätigkeit und Stellungnahme der Behörden in mancher Hinsicht habe zu einer tiefen Misstimmung in weiten Kreisen der Bevölkerung und insbesondere der Arbeiterschaft geführt. Ungeachtet des falschen und gefährlichen Unternehmens der Streikführer lebe in den breiten Massen der Gedanke, dass diese Männer sich für das gute Recht der arbeitenden Klassen gewehrt haben ; diese werden die Verurteilung der Führer als ungerecht empfinden und nicht ohne Grund damit die eigene Bewegung getroffen sehen. Machtpolitik könne aber nur die Spannung erhöhen und verderblich wirken. Sache des bürgerlichen Staates, den an den vorhandenen Misständen eine schwere Schuld treffe, sei es, zur Entspannung beizutragen und den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.

729 Sodann ersucht auch der F ö d e r a t i v v e r b a n d e i d g e nössischer B e a m t e r , Angestellter und Arbeiter um Amnestierung der wegen Teilnahme am Generalstreik verurteilten, verfolgten oder noch zu verfolgenden Beamten, Angestellten und Arbeiter der Bundesbahnen, anderer Transportanstaiten und der allgemeinen Bundesverwaltung.

Der Föderativverband weist ebenfalls darauf hin, wie ungünstig durch verfehlte Massnahmen, durch eine kurzsichtige Sparpolitik bei den Bundesbahnen und ändern Transportanstalten die Mentalität besonders des untern Personals beeinflusst und dadurch der Nährboden für eine immer weiter um sich greifende Verstimmung, ja Erbitterung, geschaffen worden sei. Nachdem das Divisionsgericht 3 die Führer der Eisenbahnerverbände freigesprochen, müsste es das Rechtsempfinden verletzen, wenn andererseits Eisenbahner wegen Teilnahme am Streik bestraft würden und überdies noch Gefahr liefen, ihre Stellen zu verlieren. Ebenso unverständlich und das Personal irritierend sei die Tatsache, dass trotz der im Streikprozess erfolgten Abklärung der Ursachen und Vorgänge des Generalstreiks heute noch gegen weitere Angestellte das militärgerichtliche Verfahren eingeleitet werde. Die Verurteilung einer ganzen Reihe von Vertrauensmännern des Transportpersonals würde eine neue Erregung der Geister verursachen, eine neue Scheidewand aufrichten und eine neue, gefährliche Spannung in dieser ausserordentlichen Zeit erzeugen. Die Lösung der dringlichen grossen Fragen der Personalfürsorge, die in gegenseitigem Einvernehmen und im Geiste des Vertrauens erfolgen sollte, würde damit gefährdet. Auch Blätter bürgerlicher Richtung haben bereits den Ruf nach Amnestierung erhoben. Für sie sprechen nicht nur Rücksichten auf das Rechtsempfinden des Personals und weiterer Kreise des Schweizervolkes, nicht nur die gerechte und billige Einschätzung der Lage der Vertrauensmänner des Personals beim Generalstreik, sondern vor allem auch Gründe einer höhern, einsichtsvollem Staatsraison.

Der Föderativverband verweist schliesslich auf das gleichartige Verfahren, das der französische Ministerpräsident in jüngster Zeit in analogen Fällen angewendet habe.

II.

Für den Entscheid über Gewährung oder Ablehnung der Amnestie sowohl wie für das dabei einzuschlagende Verfahren ist es von Bedeutung, Begriff und Wesen der Amnestie klarBundesblatt. 71. Jahrg. Bd. III.

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zustellen und sie insbesondere von dem verwandten Begriff der Begnadigung abzugrenzen.

Amnestie und Begnadigung sind Akte der Staatshoheit, Eingriffe der Staatsgewalt in die Rechtspflege, die zur Folge haben, dass die Ahndung strafbarer Handlungen den ihr durch das Gesetz vorgezeichneten Weg nicht oder nicht bis zu Ende geht. In einem weitern Sinn umfasst die Begnadigung als allgemeinerer Begriff auch die Amnestie (sowie die Rehabilitation und die sogenannte Abolition, d. h. die Niederschlagung einer angehobenen Strafuntersuchung). Im engern und eigentlichen Sinne versteht man unter Begnadigung den gänzlichen oder teilweisen Erlass oder die Milderung einer durch rechtskräftiges Urteil erkannten Strafe. Die Begnadigung bezieht sich also auf einen bestimmten Einzelfall und setzt eine erfolgte Verurteilung voraus, Der Begriff der Amnestie ist bundesrechtlich nicht festgelegt ; sie wird lediglich, zusammen mit der Begnadigung, in Art. 85, Ziff. 7, der Bundesverfassung als in den Geschäl'tskreis beider Räte fallender Gegenstand genannt. Von der Begnadigung im engern Sinne unterscheidet sie sich zunächst dadurch, dass sie durch einen einzigen Akt eine Mehrheit von Delinquenten und Delikten umfasst. Im übrigen hat die Frage, wieweit die durch Verleihung des Amnestierechts der Bundesversammlung eingeräumten Befugnisse gehen, schon wiederholt zu Erörterungen Anlass gegeben. Es ist namentlich streitig geworden, ob die Amnestie auch bereits ausgefällte Urteile aufheben könne oder ob sie nicht vielmehr dem Urteil vorangehen müsse, also nur entweder die Erhebung der Anklage oder die Fortführung einer begonnenen gerichtlichen Untersuchung ausschliessen, rechtskräftige Urteile dagegen nicht antasten könne. Der Bundesrat hat sich früher zu dieser zweiten, engern, auch von Blumer-Morel (Handbuch des Bundesstaatsrechts, Bd. HI, S. 79) vertretenen Auffassung bekannt (vgl. Bericht vom 15. Dezember 1902 über das Amnestiegesuch zugunsten der nach dem Generalstreik in Genf wegen Ausreissens Verurteilten, Bundesbl. 1902, V, 867, insbes. 870 ff). Der Bundesrat befand sich dabei in Übereinstimmung mit der Praxis der Bundesversammlung (Bundesbl. 1861, H, 371, 707, 718, 721 ; 1870, HI, 751 ; 1871,1, 7 ; Sten. Bull.

1912, 749, 754). Allein gerade im Falle des Genfer Generalstreiks änderte die Bundesversammlung ihre Ansicht,
indem sie auf das Amnestiegesuch eintrat, obwohl die Verurteilungen alle bereits erfolgt waren. Die Bundesversammlung nahm demgemäss an, die Amnestie schliesse auch die Befugnis zur Aufhebung

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rechtskräftig erkannter Strafen in sich (Sten. Bull. 1902, 739 ff).

Für das, schweizerische Staatsrecht vertritt die Mehrzahl der Autoren diese Auffassung (Stooss, Grundzüge des schweizerischen Strafrechts, Bd. I, S. 456 ; Stocker, schweizerisches Begnadigungsrecht, S. 86 ; Schollenberger, Komm, zur BV, S. 507 ff. ; Burckhardt, Komm., II. Aufl., S. 697 ; Zürcher, II. Beilagenband zum Protokoll der II, Strafrechtsexpertenkommission, Teil III, S. 38).

Wir zögern heute nicht, dieser Auffassung beizupflichten, die uns dem Wesen der Amnestie besser zu entsprechen und ihrem Zweck vollkommener zu dienen scheint. Wir verstehen demnach unter Amnestie einen Akt der Gnade, der sich auf eine Mehrzahl von Delikten erstreckt, seien diese bereits beurteilt oder nicht. Die Amnestie kann also zugunsten von Verurteilten und von Nichtverurteilten ausgesprochen werden. Mit ihrer Gewährung erlischt sowohl das Verfolgungsrecht wie das Vollstreckungsrecht (im gleichen Sinne Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 18. Aufl., S. 345 ; Merkel, Lehrbuch des Strafrechts, S. 248 ; Delaquis in Fleischmanns Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. I, S. 374).

Daraus ergibt sich die verschiedene Bedeutung und Tragweite der Amnestie gegenüber der Begnadigung. Die Wirkung eines Amnestieerlasses reicht viel weiter als die einer Begnadigung, und ebenso verschieden sind Grund und Zweck der beiden Massnahmen. Bei der Begnadigung handelt es sich um eine im Interesse des Verurteilten und auf sein Gesuch hin vorgenommene Milderung eines Urteils, das, auf der Strenge des Gesetzes beruhend, nach den Umständen als zu hart erscheint. Die Amnestie dagegen wird im Interesse des Staates, nicht oder doch nicht vorwiegend aus Rücksicht auf die zu amnestierenden Personen erteilt. Die Schuld des einzelnen wird nicht untersucht, wenn es sich um die Frage der Amnestie handelt; das verbietet sich schon durch den allgemeinen, einen grössern Personenkreis umfassenden Charakter der Amnestie. Für die Gewährung der letztern sind Rücksichten der Staatserhaltung, des öffentlichen Wohles, also Gründe politischer und zweckmässiger Natur massgebend. Ob die Personen, denen die Amnestie zugute kommen soll, ob insbesondere jeder einzelne ihrer würdig sei, kann neben jenen Gründen höherer Ordnung, wenn überhaupt, nur in sehr untergeordnetem
Masse in Betracht fallen. Umgekehrt muss sich die Frage der Begnadigung stets nach den individuellen Verhältnissen des Einzelfalles, nach der Person des Täters und den Umständen der Tat beurteilen. Eine Amnestie kann sich daher

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als geboten erweisen, auch wo eine Begnadigung abzulehnen wäre, wo es an Gründen der Menschlichkeit und Billigkeit zur Rechtfertigung eines Eingriffs dos Staates in den Gang der Rechtspflege fehlt, und eine Amnestie kann folgerichtig vom Träger der staatlichen Souveränität auch aus eigenem Bntschluss angeordnet werden, ohne dass es eines dahinzielenden Begehrens der zu Amnestierenden oder von Dritten zu ihren Gunsten bedarf.

Diese Besonderheiten kennzeichnen das Recht der Amnestieerteilung deutlich als einen von der gesetzlichen Normierung der Rechtspflege unabhängigen Ausfluss der staatlichen Hoheitsgewalt ; die Amnestie ist nicht eine Sache des Rechts, sondern der Politik (Schollenberger. Komm. S. 508).

Wir wollen nur kurz darauf hinweisen, dass früher in Zweifel gezogen wurde, ob die Bundesversammlung das Amnestierecht auch gegenüber militärgerichtlichen Verurteilungen ausüben könne. Im erwähnten Bericht vom 15. Dezember 1902 verneinte der Bundesrat die Frage mit der Begründung, dass die Militärstrafgerichtsordnung zwar ausdrücklich die Begnadigung vorsehe und in die Kompetenz des Bundesrates lege, ein Amnestierecht dagegen überhaupt nicht erwähne. Die Bundesversammlung aber stellte sich auf den gegenteiligen Standpunkt. Der Berichterstatter der nati on al rätlichen Kommission, Brosi, führte damals aus : ,,Das Gesetz braucht von der Amnestie nicht zu sprechen, weil die Amnestie ein Souveränitätsrecht ist, welches durch Stillschweigen nicht eliminiert werden konnte, noch wollte . . . . Die Amnestie besteht gleichwohl fort als ein Souveränitätsrecht der eidgenössischen Räte, und diese haben die Kompetenz, zu entscheiden, ob und unter welchen Verumständungen sie auf den Gedanken einer Amnestie eintreten wollen"- (Sten. Bull. 1902, S. 141). Dieser Ansicht stimmt Burckhardt zu (Komm. S. 696). Angesichts dei' klaren Stellungnahme der Bundesversammlung im Falle des Genfer Generalstreiks halten wir es nicht für notwendig, neuerdings auf die Frage zurückzukommen; jedenfalls entspricht der eben dargelegten Natur des Amnestierechts die Möglichkeit seiner Anwendung auch auf dem Gebiete des Militärstrafrechts, wenngleich die Gesetzgebung über das letztere nur die eigentliche Begnadigung normiert und keinen Hinweis auf die Amnestie enthält.

III.

Gemäss Art. 85, Ziff. 7, BV wird das Amnestierecht von den eidgenössischen Räten ausgeübt. Art. 92 reiht die Handhabung des Begnadigungsrechtes unter die von der vereinigten Bundes-

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Versammlung zu erledigenden Geschäfte, während das Amnestierecht hier nicht erwähnt wird. Es kann sich deshalb fragen, ob auch die Amnestie in den Geschäftskreis der vereinigten Bundesversammlung falle oder ob sie, gleich allen ändern, in Art. 92 BV nicht erwähnten Gegenständen der Bundesversammlung, von den getrennten Bäten zu behandeln und demgemäss vom Zustandekommen eines übereinstimmenden Beschlusses beider Räte abhängig sei.

Die erste Alternative liesse sich nur mit der Annahme begründen, dass der Art. 92 unter dem Ausdruck ,,Begnadigungsrecht"1 auch die Amnestie verstanden wissen wolle. Denn es ist klar, dass die Vereinigung der Räte als Ausnahme von der Regel der gesonderten Verhandlung, in der das Zweikammersystem zum Ausdruck kommt, einzig auf die in der Verfassung selbst der vereinigten Bundesversammlung vorbehaltenen Gegenstände zur Anwendung gelangen kann. Nun begreift allerdings, wie wir sahen, der Ausdruck ,,Begnadigungsrecht" in einem weitern Sinne auch das Amnestierecht in sich, und zugunsten dieser Auslegung könnte wiederum auf die zwischen den beiden Instituten bestehende Verwandtschaft hingewiesen werden. Allein wir haben dargetan, dass den beiden Begriffen eigentlich nur die Wirkung eines Eingriffs in den normalen Gang der Strafrechtspflege gemeinsam ist, und auch diese Wirkung nur teilweise, indem sie bei der Amnestie bedeutend weiter geht als bei der Begnadigung, während andererseits Grundlagen und Ziele der beiden Arten von Eingriffen durchaus verschieden sind. Die Wesensverwandtschaft kann um so weniger ein schlüssiges Argument für den Einschluss der Amnestie in den Begriff des Begnadigungsrechtes des Art. 92 BV bilden, als diese Vorschrift ihres Ausnahmecharakters wegen jedenfalls nicht ausdehnend zu interpretieren ist. Gegen eine solche Auslegung spricht aber namentlich der Umstand, dass Art. 85, Ziff. 7, im Gegensatz zum Art. 92 die Amnestie ausdrücklich neben der Begnadigung erwähnt, die beiden Begriffe also auseinanderhält. Diese auffällige Verschiedenheit in der Ausdrncksweise widerstreitet der Annahme, dass die Verfassung in Art. 92 auch die Ausübung des Amnestierechts der vereinigten Bundesversammlung habe zuweisen wollen ; sie hätte hier so gut wie in Art. 85 das Amnestierecht ausdrücklich erwähnen müssen.

Unsere Auffassung, dass die Amnestie von beiden in gesonderter Beratung zu verhandeln sei, gründet nicht nur auf den Wortlaut der Verfassung, sondern sachliche Erwägungen. Im Gegensatz zu der auf den

Kammern sich aber auch auf Einzelfall

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beschrankten Begnadigung nähert sich die Amnestie dank ihrer allgemeinen Tragweite einem gesetzgeberischen Erlass ; sie erfasst, ähnlich einem Gesetz, durch einen einzigen Erlass ganze Kategorion von Personen und Handlungen. Mehr noch fällt der politische Charakter der Amnestie ins Gewicht. Um die Frage der Amnestieerteilung wird es sich regelmässig bei Ereignissen von ausgesprochen politischer Bedeutung handeln ; diese rechti'ertigt es, den Ständen den nämlichen Einfluss auf die Entscheidung einzuräumen wie der Volksvertretung, während in der vereinigten Bundesversammlung die Standesstimmen als solche untergehen würden und nur den ihrer im Verhältnis zu den Nationalratsstimmen geringen Zahl entsprechenden Einfluss besässen. Nach der von der Verfassung getroffenen Lösung dagegen kommt ein Amnestieerlass nur wie ein anderer Bundesbeschluss durch die Zustimmung beider Räte zustande.

Die Wissenschaft des schweizerischen Staatsrechts spricht sieh beinahe einstimmig für die hier vertretene Auffassung aus (vgl.

Ullmer, Staatsrechtliche Praxis, Bd. I, Nr. 343 ; Blumer-Morel.

Bd. III, S. 79; Schollenberger, S. 532; Burckhardt, S. 727; anderer Meinung Stooss, Grundzüge, Bd. I, S. 460). Der Bundesrat scheint in seiner Botschaft vom 5. April 1892 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspllege (Bundesbl. 1892, II, 366 ff.) der Meinung von Stooss beigepflichtet zu haben, dass die Amnestie auch hinsichtlich des Verfahrens der Begnadigung gleichzustellen sei ; im Bericht vom 15. Dezember 1902 dagegen hat er sich mit Bestimmtheit für die getrennte Behandlung ausgesprochen. Und in der Tat sind die bisherigen Fälle der Amnestie in den Jahren 1856, 1861 und 1902 von der Bundesversammlung in getrennter Beratung der Kammern behandelt worden (vgl. Sten. Bull. 1902, 744, 746).

IV.

Handelt es sich schliesslich um die Entscheidung darüber, ob den Amnestiebegehren Folge zu geben sei, so ist nach dem Wesen und Zweck der Amnestie diese Entscheidung ihrerseits in erster Linie nach politischen Erwägungen zu treffen. Die Geschichte lehrt an zahllosen Beispielen, dass in politisch bewegten Zeiten je und je von Einzelnen oder von Angehörigen ganzer Klassen oder Parteien strafbare Handlungen begangen wurden, als Mittel zur Durchsetzung politischer Forderungen oder geradezu in der Absicht, den Umsturz der bestehenden Staatsordnung herbeizuführen. Vom Standpunkt der Selbsterhaltunj;-

735 des Staates betrachtet, müssen solche Handlungen als besonders schwerwiegend und strafwürdig erscheinen. Dessenungeachtet hat der Souverain in vielen Fällen durch eine allgemeine Amnestie die Verfolgung solcher Verbrechen verhindert oder eingestellt, ihre Spuren gleichsam vollständig getilgt. Bin solcher Akt kann sich rechtfertigen aus Rücksichten politischer Zweckmässigkeit.

Allein die Amnestie ist angesichts ihres ausserordentlichen Charakters und ihrer grossen Tragweite mit der grössten Zurückhaltung auszuüben, soll sie nicht ihrerseits zu einer Gefahr für die Autorität der Staatsgewalt werden.

Auch im vorliegenden Falle stehen der Gewährung einer Amnestie schwere Bedenken entgegen. Es ist nicht zu leugnen, dass der Generalstreik, der das Land in grosse Gefahr brachte, in unverantwortlicher, frevelhafter Weise entfacht wurde. Die Handlungsweise seiner Urheber verdient um so schärfere Zurückweisung, als ja unser demokratisches Staatswesen in seiner Verfassungsibrm selbst die Garantie enthält, dass jede vom Willen der Mehrheit getragene Neuerung auf legalem Wege durchgesetzt werden kann. Die Streikführer haben eine schwere Schuld auf sich geladen, und diese verlangt nach Sühne, nicht nur zum Schutz der bedrohten Staatsgewalt, sondern auch mit Rücksicht auf das Volksbewusstsein. Es würde das Rechtempfinden eines grossen Teiles des Schweizervolkes verletzen und neue Erregung verursachen, wenn insbesondere die verantwortlichen Urheber und Führer des Generalstreiks straflos ausgingen. Wir denken sodann an die Angehörigen von Wehrmännern, die infolge des Truppenaufgebotes beim Streik der Grippe zum Opfer fielen; bei ihnen würde die Amnestie sicherlich ein begreifliches Gefühl der Erbitterung wachrufen. Auch auf die Armee selbst könnte sich eine nachteilige Wirkung zeigen ; die Dienstfreudigkeit und der Patriotismus der Truppen, die im November 1918 trotz schwerer Grippegefahr zum Schütze des Staates und zur Aufrechterhaltung der Ordnung einrücken mussten und ihre Pflicht musterhaft erfüllten, könnte einen Stoss erleiden. Ein unvermeidlicher Mangel der Amnestie liegt endlich darin, dass sie denen nicht mehr zugute kommt, die im Zeitpunkt des Amnestieerlasses ihre Strafe bereits verbüsst haben, woraus sich auch im vorliegenden Falle eine stossende, in zufälligen Umständen begründete Ungleichheit
ergeben würde.

, Zugunsten der Amnestie lässt sich auf den ausgesprochen politischen Charakter des Generalstreiks hinweisen. Es handelte sich um eine durch revolutionäre Umwälzungen in grossen Nach-

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barstaaten ausgelöste Massenbewegung, deren Ursachen sowohl als deren Ziele politischer Natur waren. Dieser Charakter der ganzen Bewegung drückt auch den dabei begangenen strafbaren Handlungen einen besondern Stempel auf und lässt sie nicht auf eine Linie stellen mit gemeinen, aus selbstsüchtigen Motiven begangenen Verbrechen. Die Gewährung einer Amnestie vermöchte vielleicht beruhigend auf das politische Leben einzuwirken und die Überbrückung der Gegensätze zu erleichtern. Dadurch könnte sie der friedlichen Lösung der schwebenden politischen und sozialen Probleme förderlich sein, während die Vollziehung der Strafe an zahlreichen Führern und Teilnehmern des Generalstreiks die Leidenschaften aufs neue entfesseln und die Spannung zwischen den sozialen Klassen und den politischen Parteien wiederum verschärfen könnte. Die Bestrafung der Führer grosser Bewegungen ist geeignet, sie als Märtyrer ihrer Sache erscheinen zu lassen und damit wiederum Anlass zur Beunruhigung der Massen zu geben.

Es wird Sache der Bundesversammlung sein, die Gründe, die für und die gegen eine Amnestie sprechen, gegeneinander abzuwägen und daraus ihren Schluss zu ziehen. Sie wird sich dabei leiten lassen von der Rücksicht auf das Wohl des Landes, dem alle ändern Interessen sich unterzuordnen haben.

Unserseits halten wir dafür, dass im gegenwärtigen Zeitpunkt auf die Amnestiebegehren nicht eingetreten werden kann.

Eine jetzt erteilte Amnestie hätte zur Folge, dass gerade die zu Freiheitsstrafen verurteilten Urheber des Streiks gänzlich straflos ausgingen. Das halten wir umsoweniger zulässig, als anderseits viele Teilnehmer des Streiks, denen ein weit geringeres Mass von Verantwortung auffällt, ihre Strafen bereits erstanden haben. Die Amnestiebegehren stellen sich daher heute als verfrüht dar. In einem spätem Zeitpunkt, wenn insbesondere die Hauptführer des Generalstreiks wenigstens einen Teil ihrer Freiheitsstrafen verbüsst haben werden, wird die Gewährung einer Amnestie in Erwägung gezogen werden können. Wir sind uns allerdings bewusst, dass inzwischen möglicherweise an einer Reihe weiterer Verurteilter die Strafe vollzogen sein wird und dass diese Personen damit der Wohltat einer allfällig später erteilten Amnestie verlustig gehen ; allein bei der allgemeinen, stets eine grössere Zahl von Delinquenten umfassenden Tragweite
der Amnestie lassen sich solche Konsequenzen nicht vermeiden, wie denn auch die Rücksicht auf die Person und das Streben nach ausgleichender Billigkeit gegenüber den politischen Motiven der Amnestie in den Hintergrund treten muss.

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Schliesslich geben wir Ihnen, wie dies schon mit Schreiben vom 27. Mai dieses Jahres geschah, Kenntnis von einer Verfügung, die das Militärdepartement, nach Einsichtnahme der Erhebungen über die Teilnahme des Personals der öffentlichen Verkehrsanstalten am Landesstreik, im Einvernehmen mit dem Post- und Eisenbahndepartement kürzlich getroffen hat; dieser Verfügung zufolge wird von einer weitern Verfolgung des Personals der öffentlichen Verkehrsanstalten, das am Streik teilgenommen, sich jedoch eines Vergehens im Sinne von Art. 3, 4 oder 5 der Verordnung vom 11. November 1918 betreffend Massnahmen gegen die Gefährdung und Störung der innern Sicherheit der Eidgenossenschaft nicht schuldig gemacht hat, abgesehen.

Durch diese Verfügung ist das Begehren des Föderativverbandes eidgenössischer Beamter, Angestellter und Arbeiter zum Teil bereits gegenstandslos geworden.

Gestützt auf unsere Ausführungen ^beantragen wir Ihnen : es sei auf die gestellten Amnestiebegehren zurzeit nicht einzutreten.

Genehmigen Sie, sehr geehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 16. Juni

1919.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Ador.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Steiger.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Amnestiegesuche zugunsten der Teilnehmer am Generalstreik vom November 1918. (Vom 16. Juni 1919.)

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25.06.1919

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