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Schweizerische Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 2. Juni 1919, nachmittags 4 Uhr, zur ordentlichen Sommertagung (10. Tagung der XXIV. Amtsdauer) zusammengetreten.

Im N a ti o n al rat hielt bei der Eröffnung der ersten Sitzung Herr Präsident Häberlin folgende Ansprache: Meine Herren Nationalräte !

Schon durfte ich letzte Woche die Hoffnung hegen, dass es mir diesmal erspart sein werde, bei Beginn der Session die zur unheimlichen Regelmässigkeit gewordene Totenklage zu erheben.

Es sollte nicht so sein. Wenn auch die Bundesversammlung selbst von einem Verluste verschont blieb, so wurde eine tiefe Lücke gerissen in das Bundesgericht, mit dem uns viele Beziehungen gemeinsamer Verantwortlichkeit für die höchsten Aufgaben des Staates, verständnisvoller Mitarbeit und Unterstützung in der gesetzgeberischen Arbeit und daher wohl auch vielfacher persönlicher Freundschaften verbinden; dessen Leid also auch unser Leid ist.

Am 26. Mai ist im Alter von 72 Jahren Herr Bundesrichter Georges F a v e y gestorben; nach längerer Krankheit, die ihren Ursprung in der Grippe genommen haben soll, von welcher er während der Sitzung des Bundesstrafgerichtes vom letzten Jahre wegen der Zürcher Bombenaffäre befallen wurde. Herr Favey hat ein reiches, vielgestaltiges Leben hinter sich, das ich nur in knappen Zügen skizzieren kann.

Aus diplomatischen Lehrjahren hinaus berief den jungen Juristen der Heimatkanton Waadt als öffentlichen Ankläger.

Bald ging er zur Anwaltspraxis über, die jedoch seinem wissen- · schaftlichen Triebe nicht genügte.

Mit der Lausanner Akademie machte er deren Umwandlung zur Universität mit. wurde ihr Professor und Rektor, ein hochgeschätzter Lehrer mit eleganter Diktion, juristischer Schärfe und reicher praktischer Erfahrung. Seine erste eidgenössische Funktion war diejenige eines Untersuchungsrichters, an welche sich im Jahre 1900 die eines Bundesrichters anschloss. Während beinahe

533 20 Jahren hat Herr Favey in dieser Eigenschaft seinem Vaterlande gedient. Die hohe Achtung, die er sich durch seine Tätigkeit als Richter, durch seinen Gerechtigkeitssinn, erwarb, erhielt den besten Ausdruck durch die Wahl zum Präsidenten des höchsten Gerichtshofes in den Jahren 1913/14. Mir ist sein Name --· wohl nicht aus Zufall -- am meisten auf dem Gebiete des Strafrechts begegnet. Als Leiter des Bundesstrafgerichtes konnte er seine richterlichen Qualitäten zur besten Entfaltung bringen: mit seinen Erfahrungen befruchtete er hinwiederum die Vorarbeiten zum neuen Strafgesetze, zu dessen Vätern 'er mitgezählt werden darf. Die Eidgenossenschaft hat ihn auch im Militär und in der Vertretung an internationalen Kongressen zu Rate und zu Ehren gezogen. Den Zentrumspolitiker hat er schon früh hinter den Richter zurückgestellt. Persönlich war Herr Favey eine vornehme Gelehrtennatur, der aber Temperament und kaustischer Witz im gegebenen Momente keineswegs fehlte. Wir trauern mit dem Waadtlande um den wackern Eidgenossen, den sie am Auffahrtstage von der ehrwürdigen St. François-Kirche aus zu Grabe getragen haben.

Meine Herren Kollegen, ich lade Sie ein, sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Sitzen zu erheben.

Nachdem dem Toten sein Recht geworden, wenden wir uns dem Lebenden und Werdenden zu. Ihrem Vorsitzenden kommt glücklicherweise nicht die Aufgabe zu, als Weltüberblicker oder gar Kritiker all die Geschehnisse seit der letzten Tagung Revue passieren zu lassen. Wohl aber hat er das schöne Vorrecht, solcher Marksteine im Leben des Bundes und seiner Glieder zu gedenken, welche eidgenössische Freude ausgelöst haben. Ein solcher Gedenktag war der 28. April 1919, an welchem unsere Stadt Genf als künftiger Sitz des Völkerbundes erkoren wurde.

Mit aufrichtiger Freude gratulieren wir der Stadt Genf, die wir selbst längst als eines der kostbarsten Juwele im Diadem der Mutter Helvetia schätzen, zu der grossen Ehrung, die ihr damit zuteil geworden ist und die sicherlich auch eine Anerkennung vor allem ihrer vorbildlichen Erfüllung humanitärer Aufgaben während des Weltkrieges ausdrücken sollte. Wir wünschen der Stadt Genf von ganzem Herzen, dass alle die schönen Erwartungen, die sie mit Recht an diese Wahl knüpft, in Erfüllung gehen werden und sind mit ihr der frohen Hoffnung, dass sie nicht nur die Beschenkte, sondern auch die Segenspendende sein werde,

534 dass von ihr aus ihr Wahrspruch ,,post tenebras luxl-t die Finsternisse des heute noch allmächtigen Hass- und Machtkampfes mit den warmen Strahlen der Menschlichkeit und Brüderlichkeit zerteilen möge. Wir freuen uns um so restloser mit unsern Genfer Miteidgenossen, als wir aus ihren eigenen Äusserungen ersehen konnten, wie klar und sauber sie die Dankbarkeit für die ihrer Stadt widerfahrenen Ehrung zu trennen wissen von der rein eidgenössischen Frage des Beitrittes zum Völkerbunde, an die wir in der nächsten Zeit unbefangen und unpräjudiziert herantreten müssen.

Von dieser kommenden und vielen ändern weittragenden Fragen internationaler Ordnung zu sprechen ist mir nicht beschieden. Das eine aber mögen Sie mir gestatten, dass ich an der Pforte so grosser Ereignisse oder Entschlüsse das Vertrauen in unsere höchste Vollzugsbehörde ausspreche, dass sie das Richtige finden möge, um, was ihr allein auch die notwendige Stärke zu verleihen vermag, ein geeintes Schweizervolk hinter sich zu finden. Nicht die schöne Geste tut uns ja not, sondern der eiserne Wille eines ganzen Volkes, um seiner Ideale willen auch Anfechtungen, Gefahr und -- was sich als die schwersteProbe erwiesen hat -- auch die graue Not zu ertragen.

Das einige, der Welt trotz seiner Bescheidenheit imponierende Volk können wir sein, wenn wir im eigenen Hause Ordnung halten, weitausblickende soziale Fürsorge mit solider Finanzgebarung verbinden und unsere ganze öffentliche Tätigkeit durchtränken lassen vom Geiste bundesbrüderlicher Liebe und gegenseitigen wohlwollenden Verständnisses. Das sei nun unsere Aufgabe !

Im S t ä n d e r a t eröffnete Herr Präsident Dr. F. BrUgger die Session mit folgenden Worten : Meine Herren Ständeräte!

Die Wichtigkeit der Stunde verlangt ein kurzes, durchdenkendes Verweilen.

In den nächsten Tagen, in denen wir beieinander sind, werden voraussichtlich die Völkergeschicke sich erfüllen, zum Segen, wenn es einen wirklichen Frieden gibt, zum Unsegen, wenn nur äusserer Zwang, aber kein inneres Finden Unterschriften zu Papier bringen mag.

535 Auch uns wollten die letzten Phasen des Weltkrieges nicht ganz unberührt lassen. Vor wenigen Tagen trat die Frage heran : Wollt auch ihr das letzte Ausringen mitmachen, nicht den blutigen Krieg im Schlachtendonner, aber den bleichen Endkrieg der Hungerblockade? Der Bundesrat hat diese Frage verneint, ohne Zaudern, ohne Zögern, aus der Selbstverständlichkeit unserer Neutralität heraus. Das ganze Schweizervolk steht da wie ein Mann hinter dem Bundesrat.

Ebenso billigt das Schweizervolk die bestimmte, gemessene Art, wie der Bundesrat die endliche Aufhebung der SociétéSuisse de Surveillance gefordert hat, gefordert als gutes selbstverständliches Recht der souveränen Eidgenossenschaft. Für uns sind die Fesseln der S. S. S. nicht mehr länger erträglich, und die grossen Staaten ihrerseits haben heute, nach der tatsächlichen Beendigung des Krieges, nur noch ein ganz minimes Interesse daran. Diesem Rest von blossen Handelsinteressen sich geopfert zu sehen, das hätte die Schweiz nicht verdient.

In der Frage des Völkerbundes erwartet das Schweizervolk seit langem vom Bundesrate klare und bestimmte Auskunft über das, was schon gegangen ist und über das, was in Aussicht steht.

Diese Auskunft wird der Bundesrat in dieser Session geben. Er wird damit, so steht zu erwarten, jede Befürchtung zerstreuen können, dass die bisher geheim geführten Vorverhandlungen die Entscheidung des Schweizervolkes irgendwie vorwegnehmend beeinflussen durften.

Die grosse Idée des Völkerbundes ist begrüssenswert, wenn sie rein und klar und wahr aus der Brandung des Streites um die Weltherrschaft emporzutaucheii vermag. In den Streit selbst wollen wir uns nicht mischen, weder jetzt noch später.

Den werdenden Völkerbund wollen wir zuerst uns genau besehen. Die grossen Staaten bestimmen seine Gestaltung, und mitentscheidend werden sie die kleinen Staaten kaum mitreden lassen; der Versuch des Mitredens wäre wahrscheinlich recht undankbar.

Wir können nicht bestimmen, wie die grossen Mächte es halten wollen, aber wir können bestimmen, wie wir selbst es halten wollen : für uns ist nur ein Völkerbund annehmbar, der unsre Neutralität schlechthin, die m i l i t ä r i s c h e wie die w i r t s c h a f t l i c h e , absolut anerkennt und garantiert. Neutral zu sein, vermittelnd und versöhnend und lindernd und helfend, das ist die historische Weltmission der schweizerischen Eidgenossenschaft.

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Und vielleicht finden es die grossen Mächte der Welt in ihrem eigenen Interesse, ein kleines, ruhiges, zuverlässiges, sicheres Land neutral zu erhalten, ein Friedenseiland für die Zeit des Krieges, ein kleines Musterland für die Probleme freiheitlicher Entwicklung und nationaler Einheitlichkeit verschiedener Rassen in der Zeit des Friedens.

Ein kleines Friedensproblem wird vielleicht demnächst an uns herantreten: der von Vorarlberg gewünschte Anschluss an die Schweiz. Für die Ostschweiz speziell hat dieses Problem , einen, ich möchte fast sagen persönlichen Ton alter guter Nachbarbeziehuugen. Um eine äussere Machtfrage handelt es sich da nicht, und deswegen werden wohl auch äussere Hindernisse und Schwierigkeiten nicht sich einstellen. Die Vorarlbergerfrage ist in ihrem Grunde eigentlich eine Art Asylfrage, ein Aufnahmegesuch in das eidgenössische Bürgerrecht. Die Frage wird zu prüfen sein, wohlwollend und freundlich gegen das Vorarlberg, aber auch sorgfältig und allseitig nach der Richtung unsrer eigenen Landesinteressen hin.

Im eigenen Lande stehen die sozialen Probleme, die Umgestaltung und Neugestaltung des wirtschaftliche Lebens im Vordergrund. Alle diese Fragen haben eine ruhige, sorgfältige, natürliche Entwicklung nötig, sollen sie anders zu glücklichen und dauernden Neugestaltungen führen. Der Wahnsinn des gewaltsamen Umsturzes kann nur niederreissen, aufbauen kann er nicht.

Aufbauen und dauernd halten können auch nicht die bloss materiellen Interessen und Bestrebungen, am wenigsten, wenn sie nach Klassen auseinander gehen, und vollends nicht, wenn sie nach Klassen gegeneinander kämpfen !

Aufgebaut, dauernd und glücklich und gross kann nur werden auf dem Boden grosser, wahrer Ideen, auf dem Boden der Liebe und der Treue zu unserm Vaterland, und darüber hinaus auf dem Boden des Christentums, das mit seiner Welterlösung hinter dem Vordergrund unseres schönen irdischen Vaterlandes den unendlichen Horizont der Ewigkeit öffnet, der Ewigkeit mit ihrer Vollendung und mit ihrem Glück.

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