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Schweizerisches Bundesblatt.

38. Jahrgang. I.

Nr. 3.

23. Januar 1886.

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Bericht des

Vorsitzenden der Commission des Ständerathes über die Frage des Eintretens auf das eidgenössische Wahlund Abstimmungsgesetz.

(Vom 9. Dezember 1885.)

Tit.

Wie aus dem gedruckt ausgetheilten Protokoll über die Verhandlungen unserer Commission zu entnehmen ist, hat sich dieselbe in erster Linie Rechenschaft geben müssen über die konstitutionelle Tragweite der nationalräthlichen Schlußabstimmung, durch welche das Resultat mehrfacher Commissionai- und Plenarsitzungen jenes Rathes über die fragliche Gesetzesmaterie verworfen wurde. Mit der Mittheilung von dieser Schlußnahme wurde das gesammte Aktenmaterial einfach unserrn Rathe und von diesem dessen Commission ohne Directive übermittelt. Durch diese Ueberweisungen ist die Frage, was nun mit der Angelegenheit weiter zu geschehen habe, nicht gelöst; insbesondere hat der Ständerath seiner Commission in jeder Beziehung freie Berathung offen gelassen. In der Zustellung seitens des Nationalrathes liegt, wenn man die dort über diese Frage gepflogene Discussion mitberücksichtigt, ebenfalls kein Präjudiz; es scheint vielmehr dort die Ansicht vorgewaltet zu haben, maß wolle die Entscheidung dem Ständerath überlassen. Die Bundesverfassung und die Geschäftsreglemente der Räthe beziehungsweise das Bundesgesetz über den Geschäftsverkehr zwischen den beiden Räthen sehen den vorliegenden Fall nirgends vor. Es bleibt deshalb nach Ansicht Ihrer Commission nichts Anderes übrig, als denselben nach Bundesblatt. 38. Jahrg. Bd. I.

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der Natur der Verhältnisse in Berücksichtigung der Stellung unserer gesetzgebenden Räthe unter sich und gegenüber dem Bundesrath zu entscheiden. Es drängt sich zwar angesichts solcher Unklarheiten im regelmäßigen Gang der Geschäftsabwicklung die Vermuthung auf, es möchte irgendwo ein Versehen stattgefunden haben.

Der Referent seinerseits glaubt, daß ein solches in concreto wirklich vorliege. Der Artikel 3 des Bundesgesetzes über den Geschäftsverkehr zwischen den Käthen schreibt vor, daß Gesetze und Beschlüsse, welohe von einem Rath durchberathen worden, wie sie aus der Berathung hervorgegangen sind, dem anderen Rathe mitgetheilt werden. Diese Fassung scheint mir jedenfalls die Ansicht nicht auszuschließen, daß eine Schlußabstimmung vor Zustellung des Ergebnisses der Berathung an den anderen Rath nicht ausdrücklich verlangt wird ; denn das Ergebniü der Berathung ist da, sobald die sämmtlichen Artikel festgestellt sind. Eine Schlußabstimmung ist aber in diesem Stadium der Berathung sachlich unzweckmäßig; dieselbe gelangt erst zu ihrer Bedeutung, wenn die Berathung alle Stadien durchlaufen hat. Es hat wenig Werth, zu wissen, ob ein Gesetz oder ein Beschluß die Mehrheit des Käthes auf sich vereinigt, so lange noch wesentliche Aenderungen an demselben nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich sind.

Die Verschiebung der Schlußabstimtnung auf den Schluß der Berathung durch beide Räthe würde Situationen, wie die vorliegende, ausschließen. Diese Anschauung bat nun freilich keine praktische Bedeutung in der Anwendung auf den vorliegenden Fall, weil wir vor einer vollendeten Thatsache stehen. Ganz abgesehen hievon ist nun aber die Commission der Meinung, daß schon vom Standpunkt der Gleichberechtigung beider Käthe der Ständerath sich das Recht vindiziren müsse, ein vom Nationalrath in Priorität verworfenes Gesetz ebenfalls durchzuberathen, sofern ihm dies gut scheint. Es ergiebt sich dieses Recht schon daraus, daß vom Bundesrath jede Gesetzesvorlage zu Händen beider Rallie vorgelegt wird. Wenn der in Priorität beschließende Rath auf eine Vorlage überhaupt nicht eintreten will, so bleibt dem anderen Rathe nichtsdestoweniger das Recht, auch sein Votum über die Eintretensfrage abzugehen r wenn demselben auch keine andere Bedeutung zukommen würde, als die Constatirung der Uebereinstimmuug oder
Nichtübereinstimmung zwischen beiden Räthen. In concreto hat aber das ablehnende Schlußvotum des Nationalrathes nicht einmal die Tragweite eines Nichteintretensbeschlusses; im Gegenlheil ist eher anzunehmen, daß der Nationalrath eine Gelegenheit, auf die Sache zurückzukommen, nicht ungerne ergreifen würde.

Bei Berathung der zweiten Frage, ob das Eintreten in die Detailberathung des fraglichen Gesetzes sachlich angezeigt erscheine>

39waren wir wieder darin einig, daß eine Revision des Gesetzes vom' 19. Juli 1872 wünschenswert^ sei und daß es infolge dessen uns und dem Ständerath erwünscht sein würde, ein neues Gesetz it>'dieser Materie zu Stande zu bringen, welches die Mehrheit dea Schweizervolkes zu befriedigen vermöchte. An der Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, hatte wenigstens der Referent von Anfang an erhebliche Zweifel. Beinahe in keiner Materie gehen die Anschauungen in den verschiedenen Theilen unseres Vaterlandes weiter auseinander, als in den Hauptpunkten dieses Gesetzes; daneben stehen tiefeingewurzelte Gewohnheiten einer einheitlichen Regelung hindernd im Wege. Die Berathungen im Nalionalrath haben diese schwer zu überwindenden Hindernisse nur zu deutlich gezeigt. Der Entwurf des Bundesrathes stellte sich auf den Standpunkt, daß' wenigstens in den Hauptfragen eine Versöhnung der verschiedenen Anschauungen durch gegenseitige Concessionen, aber auf dem Boden der Vereinheitlichung, gesucht werden solle. In der beigegebeuen Botschaft wird diese Notwendigkeit meines Erachtens in überzeugender Weise dargethan.. (Vergleiche Botschaft, Seite 10 u. 11.)

Bei der Berathung im Nationalrath hat es sich gezeigt, daß die Vertreter der verschiedenen Landestheile mit großer Zähigkeit an, ihren stark auseinandergehenden Anschauungen festhalten. Die Unmöglichkeit, die Gegensätze zu versöhnen, führte dazu, daß der vom Bundesrath vorgeschlagene Weg verlassen wurde. Slatt sich' gegenseitig sachlich entgegenzukommen, half man sieh mit Concessionen an den Kantonalismus und schuf ein Gesetz, an dem der Schöpfer selbst nicht mehr Gefallen finden konnte. Das Stimm-, recht der Concursiten und Almosengenössigen wurde prinzipiell geregelt, gleichzeitig aber bestimmt, daß sich nicht alle Kantone, hieran zu halten brauchen; ebenso wurde ein einheitliches Verfahren' für eidgenössische Wahlen und Abstimmungen festgesetzt, dann aber beigefügt, daß kein Kanton hieran gebunden sei; die Stimmgebung wurde weder obligatorisch noch fakultativ erklärt, sondern der Kantoualsouveränität freie Hand gelassen. Wahlkreiseintheilung und Minoritätenvertretung wurden der Zukunft überlassen. Weniv wir dieses Ergebniß mit dem jetzigen Gesetz vergleichen, so finden wir, daß, abgesehen von denjenigen Bestimmungen, welche die Anfertigung des eidgenössischen
Stimmregisters und das daherige Rekursrecht beschlagen und welche in der Wesenheit unangefochten geblieben sind, an dem bestehenden Zustand kaum etwas Wesentliches geändert wird. Die Westschweiz wird die Concursiten und Almosengenössigen nach wie vor ohne Unterschied stimmen lassen, die Urschweiz würde sieh wahrscheinlich für die etwas ungleiche Elle, die der Nationalrath in dieser Hinsicht ihr gegenüber anwendete, damit helfen, daß sie gernäß ihrer strengeren Auffassung

40 den Concurs fast ausnahmslos als einen verschuldeten erklären wird. Die Wahl und Abstimmung mit Stimmcouvert würde als eidgenössisches Mustersystem im Gesetz stehen, thatsächlich aber da benutzt werden, wo dies bisher der Fall war.

Bevor wir uns endgültig über die Eintretensfrage schlüssig machten, wollten wir versuchen, ob es möglich sei, in der Commission selbst eine Vereinigung zu Stande zu bringen; in diesem falle hätten wir es wohl wagen dürfen, mit einem einheitlichen Gommissionalantrag an den Ständerath zu kommen in der Hoffnung , daß derselbe die Grundlage einer Verständigung im Rallie und im Volke bilden dürfte. Wir haben deshalb die Hauptdifferenz.puukte, nämlich die Stimmberechtigung, den Ausweis hierüber, das Verfahren, das Obligatorium der Stimmgabe, die Minoritätenveriretung und die Frage der Wahlkreise, in Discussion genommen.

Das Resultat dieser Besprechung findet sich auf S e i t e 18 und 19 des gedruckten Protokolls summarisch zusammengestellt. Das · Wesentliche aus der Begründung der verschiedenen Standpunkte findet sich im Protokoll selbst. Es ergiebt sich hieraus, daß bei den meisten Hauptfragen die Commission sich in zwei ungefähr gleich starke Parteien getheilt, oder dann an drei verschiedenen Auffassungen festgehalten hat. Für Lösung der Fragen auf dem Boden der Vereinheitlichung ergab sich meistens nur eine Stimme.

Bei Berathung des Artikel 3 über die Stimmberechtigung wurde zu Gunsten der kantonalen Freiheit über die nationalräthlichen Concessionen hinaus noch der Grundsatz gestricheo, daß verschuldete Concursiten nur auf eine beschränkte Zeitdauer im Stimmrecht eingestellt werden dürfen. Allerdings erscheint dieser Satz nur als Consequenz des anderen Grundsatzes, daß die Kantone mit freieren Anschauungen die Concursiten und Almosengenössigen überh'aupt nicht einzustellen haben. Drei Mitglieder der Commission machten ihre Zustimmung zum Eintreten auf den Gesetzesentwurf davon abhängig, daß zum Ausweis über die Stimmberechtigung der Beweis über das Nichtvorhandensein von Ausschlußgründen gehörig erklärt und überdies in das Gesetz eine Garantie für eine Wahlkreiseintheilung, die den Minderheiten größere Vertretung sichere, aufgenommen werde. Die anderen drei Mitglieder fanden, daß bei der Frage des Stimmrechtsausweises der Compromiß des Nationalrathes acceptirt werden
sollte, und daß das Wahlkreisgesetz mit dem vorliegenden entweder vollständig vereinigt oder von demselben vollständig getrennt werden solle. Die conservative Partei verfügte zwar in beiden Fragen über die Mehrheit der Stimmen, indem dem Vorsitzenden nach dem Reglement kein Stimmrecht zukam ; gleichwol haben deren Mitglieder in der Schlußabstimmung gegen Eintreten gestimmt.

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Der Vorsitzende der Commission hat ebenfalls für Nichteintreten votirt, ist aber dabei von einem Standpunkt ausgegangen, welcher in der Commission meist ganz vereinzelt geblieben ist. Wenn ich in ganz kurzen Zügen dieses Votum begründe, so schicke ich voraus, daß ich dabei nicht im Namen der Commissionsmehrheit spreche, die zwar zum gleichen Schlußresultat, aber von anderen Gesichtspunkten aus, gelangt ist. Es werden deshalb die einzelnen Fraktionen der Commission ihre Anschauungen und Voten selbst begründen.

An die Spitze m e i n e r Begründung stelle ich den Satz: So wünschenswerth eine Revision des bestehenden, sachbezüglichen Gesetzes ist, so hat dieselbe nur dann einen Werth und eine Berechtigung, wenn das neue Gesetz gegenüber dem jetzigen Zustanä einen Fortschritt im Sinne des Art. 74 der Bundesverfassung enthält, welcher Artikel in seinem zweiten Lemma lautet: ,,Es bleibt jedoch der Gesetzgebung des Bundes vorbehalten, über diese Stimmberechtigung e i n h e i t l i c h e Vorschriften aufzustellen.1' Eineii solchen Fortschritt kann es aber nur dann enthalten, wenn eine sachliche Vereinheitlichung in den Materien, die bis jetzt in dieser eidgenössischen Angelegenheit in den Kantonen verschieden behandelt wurden, möglich ist. Nur ein solches Gesetz kann einen gerechten Anspruch auf die Billigung des Schweizervolkes erheben ; für eine bloße Umschreibung des jetzt bestehenden Zustandes wird sich dasselbe nicht begeistern können. Für diese Anschauung liefert die Abstimmung im Nationalrath den schlagendsten Beweis.

Ich halte sodann dafür, daß das Ausehen der Eidgenossenschaft es nicht erlaubt, daß diese, eidgenössische Frage in Hauptpunkten auf dem Boden der Kantonalsouveränität neu geordnet wird, weil hierin eine Schwächung des eidgenössischen Staatsgedankens läge. Wenn es nicht möglich ist, jetzt die Gegensätze zu vereinigen, so ist es viel besser, diese Lösung einer späteren Zukunft zu überlassen, als durch ein neues gesetzgeberisches Werk zu constatiren, daß wir uns in dieser Frage sachlich nicht einigen können, und den bestehenden Zustand erst recht festzunageln. Es ist zwar davon gesprochen worden, die gesetzgebenden Räthe schwächen den Glauben des Volkes an ihre Befähigung zur Gesetzgebung, wenn sie in dieser Weise ihre Ohnmacht an den Tag legen. Diesem Vorwurf halte ich entgegen, daß
das Bedauerliche in der vorhandenen Thatsache liegt und daß es einer Selbsttäuschung gleichkommt, wenn ma'n dieselbe nicht zugestehen will. Wenn es den Käthen an dem Zustandekommen eines neuen eidgenössischen Wahlgesetzes gelegen ist, so müssen sie diesen Willen damit kund geben, daß die verschiedenen Parteien sich gegenseitig Concessionen machen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es einen besseren Eindruck auf die öffent-

42 ·liehe Meinung machen würde, wenn wir ohne jede Aussicht auf Erfolg im Rathe selbst langwierige und nutzlose Berathungen beginnen würden in der sicheren Voraussicht, daß das Resultat un^erer Arbeit die Billigung des Volkes nicht finden wird.

Es ist nun allerdings zuzugeben, daß das Resultat der Be' j-athungen nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden kann; aber schon die Stellung des Ständerathes als Vertreter der kantonalen Interessen und Anschauungen läßt wenig Hoffnung Raum, daß hier der Einheitsgedanke zum Ausdruck komme, und sodann haben die ßerathungen in unserer Commission in dieser Hinsicht bej mir jede Allusion beseitigt. Die Vertreter der Westschweiz waren bereit, den Grundsatz, daß die Einstellung der Concursiten im Stirnmrecht in der ganzen Schweiz an eine bestimmte Zeitdauer gebunden sein soll, zu opfern gegenüber der Freiheit, die ihnen zugesichert wurde, keine Einstellung eintreten lassen zu müssen. Der Antrag von Herrn Ständerath Fischer, einfach zu erklaren, daß die Kantone jn dieser Hinsicht wie bisher frei seien, wurde zwar verworfen, auf einem Urnweg dann aber im Wesentlichen dies doch beschlossen.

Es wollte freilich dem Umstand Bedeutung beigemessen werden, daß der Grundsatz aufgestellt sei, die unverschuldeten Concursiten dürfen nicht vom Stimmrecht ausgeschlossen werden. Allein näher betrachtet kommt diesem Satz sehr wenig praktische Bedeutung zu, weil der Begriff des unverschuldeten Concurses nicht festgestellt jst, vielmehr dem Ermessen der competenten kantonalen Behörde anheimgestellt bleibt. Für den, der einen strengen Maßstab anwenden will, wird es ein Leichtes sein, bei jedem Concursfall als Ursache etwas Leichtsinn dieser oder jener Art herauszufinden.

Bin wirksames Mittel gegen allzu ungleiche Behandlung dieser Classe von Schweizerhürgern in den verschiedenen Kantonen findet sich nur in der zeitlichen Schranke der Einstellung im Stimmrecht.

Selbst bei der Frage de« Stimmrechtsausweises konnte sich die Commission nicht einigen. Die Vertreter der conservativen Partei hielten daran fest, daß Art. 43, Lemma 2, der Bundesverfassung bestimmt verlange, daß der Stimmberechtigte bei der erstmaligen Ausübung des Stimmrechtes in einer Gemeinde den Nachweis leiste, daß bei ihm keine Ausschlußgründe zutreffen; > dieselben machten aus dieser Forderung sogar eine conditio sine
qua, non. Die anderen drei Mitglieder hielten dafür, daß der Art. 4 . der nationalräthlichen Fassung, wonach der Gemeinderath der neuen Wohngemeinde berechtigt und auf Verlangen verpflichtet ist, bei der früheren Wohngemeinde sich über das Vorhandensein von Aus'schlußgründen zu erkundigen, ein billiger Ausgleich der verschiedenen Auffassungen des erwähnten Art. 43 der Bundesverfassung enthalte.

43 Ich habe keine Gründe gehört, die dargethan hätten, daß der Vermittlungsbeschluß des Nationalrathes nicht den berechtigten Interessen und den praktischen Bedürfnissen vollständig entspreche.

Vielleicht der allerschwierigste Punkt des ganzen Gesetzes ist das Verfahren, weil hier die Macht der Gewohnheit einer Vereinheitlichung große Schwierigkeiten bereitet. In Genf glaubt man, nur das System mit abgestempelter Stimmkarte sei einfach und schütze zugleich vor Mißbrauchen; die Waadt findet, ohne das Stimtncouvert sei eine von ungehöriger Beeinflussung freie Abstimmung nicht durchführbar; eine Anzahl Kantone wollen gedruckte, andere nur geschriebene Stimmzeddel zulassen, in anderen gilt das System des offiziellen Stimmseddels bald mit, bald ohne Zulassung von Stellvertretung. Das sind nun alles freilieh bloße Formalitäten, aber in diesen Formalitäten liegt doch viel Materielles verborgen.

Wenn man überall ein loyales Vorgehen bei den Parteien uud den Wahlbüreaux voraussetzen dürfte, so läge an dieser Form nicht viel; weil aber erfahrungsgemäß diese Voraussetzung nicht zutrifft, so liegt in der möglichsten formellen Garantie zum Schute vor Beeinflussungen unzuläßiger Art ein Stück freies Wahlrecht des Bürgers.

Uebrigens wird kein System in dieser Hinsicht unbedingten Schutz gewähren, und verlangt andererseits die rasche Abwicklung der Wahlgeschäfte möglichst einfache Operationen. Aus den bezüglichen Dehatten im Nationalrath scheint mir der Schluß gerechtfertigt, daß die Aufstellung eines einheitlichen Wahlsystems die Annahme des Gesetzes in hohem Maße gefährden würde. Darf man aber das nicht wagen, so hat es meines Erachtens auch keine Berechtigung, ·doch ein solches System im Gesetz selbst aufzuführen; viel richtiger würde einfach gesagt, daß die Kantone ihr Wahlgesetz in Anwendung auf eidgenössische Abstimmungen dem ,,Bundesrath zur Genehmigung zu unterstellen haben.

Die Forderung, daß das proportionelle Wahlsystem, bezw. die Minoritätenvertretung eingeführt werde, ist in bestimmter Form in der Commission nicht gestellt worden. Ich glaube, daß in allen Parteien diese Frage als nicht hinreichend spruchreif betrachtet wird und daß man einsieht, daß der Bund sich in dieser Hinsicht nicht zum Versuchsfeld hergeben kann, während die Kantone sich in ihren Angelegenheiten freie Hand behalten. Der
Bericht des Regierungsrathes von Luzern an den dortigen Großen Ruth wird in der bundesräthlichen Botschaft (Seite 25 oben) mit Recht als auch für die Eidgenossenschaft maßgebend hingestellt. Trotzdem bin ich überzeugt, daß unter diesem Titel eine zahlreiche Opposition gegen das Gesetz geschaffen wird.

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Gewissermaßen als Abschlagszahlung an die Forderung der Minoritätenvertretung wurde das Begehren auf Garantie für eine gerechte Wahlkreiseintheilung gestellt in der Weise, daß im Gesetze keine größeren als Dreierwahlkreise zuläßig erklärt werden.

Einen solchen Grundsatz in's Gesetz aufzunehmen, wäre aber höchst unzeitgemäß, weil man sich dadurch für die Berathung der Wahlkreiseintheilung unnöthiger Weise die Hände binden würde. Der Bundesrath anerkennt, daß das Wahlkreisgesetz der Verbesserung fähig sei; bevor aber diese Frage in ihren Consequenzen geprüft ist, wäre es voreilig, ein Prinzip aufstellen zu wollen.

Ueberblicke ich das muthmaßliche Resultat der Verhandlungen, so bleibt mir ein Gesetzesentwurf, der in der Hauptsache lediglich die Anlegung des eidgenössischen Stimmregisters einheitlich und besser als das jetzige Gesetz regelt. Ich verkenne zwar nicht, daß hierin ein Fortschritt liegt; es sind durch die ungenügenden sachbezüglichen Bestimmungen des bestehenden Gesetzes bei eidgenössischen Wahlen im Tessin Uebelstände zu Tage getreten, die vielleicht bei besserer Gesetzgebung unterblieben wären. Wenn es aber nur in diesem einen Punkte möglich ist, etwas Besseres zu schaffen, so scheint es mir gerathener, die sachbezüglichen Artikel herauszugreifen und in einer zweiten Novelle zum Wahlgesetz zu revidiren. Es könnte dies mit leichter Mühe geschehen, und würde wahrscheinlich ein solches Nachtragsgesetz ohne Anfechtung unter Dach gebracht.

Im Hinblick auf den Gang der Verhandlungen im Nationalrath und das Ergebniß jener Berathungen, im Hinblick auf die Stellung des Ständerathes itn schweizerischen konstitutionellen Organismus, im Hinblick auf das Brgebniß der Berathungen unserer Commission, im Hinblick endlich auf die vielen Differenzpunkte dieses Gesetzesund die gemachte Erfahrung, daß Gesetze, die nicht in Uebereinstimtnung zwischen den Parteien der gesetzgebenden Käthe zu Stande gekommen sind, selten das Referendum glücklich passirt haben, halte ich dafür, daß es zur Zeit nicht möglich ist, im Sinne des Art. 74 der Bundesverfassung ein Gesetz zu schaffen, wie es die verfassunggebenden Organe in Aussicht genommen haben, und daß deßhalb nichts Anderes übrig bleibt, als entweder die Sache einstweilen auf sieh beruhen zu lassen, oder durch ein zweites Nachtragsgesetz die Bestimmungen über
Anlegung des eidgenössischen Stimmregisters und das bezügliche Rekursverfahren für sich zu revidiren.

Ich stelle namens der Mehrheit der Commission den Antrag: ,,Es sei zur Zeit in die Berathung des Gesetzesentwurfes des Bundesrathes über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen d. d. 30. Ok-

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tober 1883 nicht einzutreten", füge jedoch nochmals bei, daß die Begründung des Antrages als individuelle Ansicht des Referenten IM betrachten ist.

B e r n , den 9. Dezember 1885.

Der Vorsitzende der Ständer äthlichen Commission:

3. Altwegg.

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Bericht einer

Fraktion der ständeräthlichen Kommission betreffend die Eintretensfrage in die Berathung des Gesetzentwurfes über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen.

(Vom 9. Dezember 1885.)

Tit.

Ihre Kommission hatte sich auftragsgemäß vorab zwei Fragen zu beantworten : 1) D ü r f e n wir in die Berathung des Gesetzentwurfes eintreten, nachdem der Nationalrath, welcher die Priorität besaß, das Gesetz verworfen hat ?

2) S o l l e n wir, vorn Opportunitätsstandpunkte, dermalen eintreten ?

Die erste Frage erhielt von der Kommission mit Einmuth eine bejahende Antwort. Der Sprechende will die Gründe nicht einläßlich wiederholen, welche Herr Präsident A l t w e g g Ihnen vorgeführt. Der Bundesrath hat gegenüber der Bundesversammlung von seinem Recht der Initiative Gebrauch gemacht, indem er ihr einen bezüglichen Gesetzentwurf mittelst Botschaft vom 30. Oktober 1883 unterbreitete. Er hat das verfassungsgemäße Recht zu verlangen, daß b e i d e eidgenössische Kammern auf Grund einläßlicher Prüfung über die Eintretensfrage schlüssig werden. Dieses Recht beruht auf dem gegenseitigen, zumal in Art. 102, 4, der Bundesverfassung ausgeprägten staatsrechtlichen Verhältnis zwischen Bundesrath und Bundesversammlung, und das betreffende Verfassungsrecht

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Bericht des Vorsitzenden der Commission des Ständerathes über die Frage des Eintretens auf das eidgenössische Wahl- und Abstimmungsgesetz. (Vom 9. Dezember 1885.)

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1886

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23.01.1886

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