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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Alois Bernhard in Zürich gegen den Entscheid der Appellationskammer des zürcherischen Obergerichts vom 12. Dezember 1901.

(Vom 9. Mai 1902.)

Der schweizerische Bundesrat hat

über die Beschwerde des A l o i s B e r n h a r d in Zürich gegen den Entscheid der Appellationskammer des zürcherischen Obergerichts vom 12. Dezember 1901; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Durch Verfügung des Statthalteramts Zürich vom 5. Juni 1901 wurde dem Rekurrenten eine Polizeibuße von Fr. 200 auferlegt. Das Bezirksgericht Zürich, IV. Abteilung, und ebenso die Appellationskammer des zürcherischen Obergerichts, bestätigten diese Maßregel.

Gegen den vom 12. Dezember 1901 datierenden obergericht liehen Entscheid reichte der Rekurrent ani 10./11. Februar 1902

356 gleichzeitig beim Bundesrat und Bundesgericht Beschwerde ein.

Der an den Bundesrat gerichteten Beschwerde lag der angefochtene Entscheid nicht bei, und in der Rekursschrift war das Dispositiv des Entscheides nicht angeführt. Am 15. Februar 1902 sandte der Rekurrent mit einem vom 14. Februar 1902 datierten Begleitschreiben eine Abschrift des obergerichtlichen Urteils ein. Nach dieser Abschrift trägt das obergerichtliche Urteil das Datum des 12. Dezember 1901, und hat der Angeklagte ,,in der heutigen Appellationsverhandlunga den Antrag auf Aufhebung eventuell Ermäßigung der auferlegten Buße gestellt.

Im Dispositiv wird ,,Mitteilung an das Bezirksgericht Zürich, IV. Abteilung, und an die Staatsanwaltschaft0' angeordnet.

II.

Die staatsrechtliche Beschwerde des Rekurrenten an den Bundesrat schließt mit dem Begehren: ,,Das Urteil der Appellationskammer sei wegen Verletzung des Grundsatzes der Handels- und Gewerbefreiheit aufzuheben."

m.

Mit Schreiben vom 13. Februar 1902 hatte sich der Bundesjat zur Lösung der Prioritätsfrage in der Behandlung des beiden Behörden vorliegenden Rekurses an das Bundesgericht gewandt.

Nachdem durch Zuschrift vom 19. Februar 1902 der Bundesrat um Sistierung der Erledigung seiner Beschwerde bis zur Ausfällung des Entscheides des Bundesgerichts ersucht hatte, gab das Bundesgericht durch Zuschrift vom 15. April 1902 dem Bundesrat davon Kenntnis, daß Alois Bernhard den beim Bundesgericht eingelegten Rekurs auf eine Verletzung der Art. 4 und 56 der Bundesverfassung gestützt habe und daß das Bundesgericht am 19. März 1902 über die Beschwerde im Sinne von Abweisung wegen Verspätung erkannt habe. Eine Abschrift des betreffenden Entscheides lag bei. Die Motive verweisen auf den Entscheid in Sachen Motor contra Schneider, vom 14. November 1901. Dort hatte das Bundesgericht prinzipiell entschieden, daß zur Begründung des staatsrechtlichen Rekurses nach Art. 178 0. G. als Formerfordernis die Einlegung der angefochtenen Entscheidung innerhalb der Rekursfrist gehöre; ein Rekurs, der dieses Erfordernis nicht erfülle, sei wegen mangelnder Substantiierung zurückzuweisen.

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B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

Die Kompetenz des Bundesrates zur Entscheidung über den vorliegenden Rekurs ist laut Art. 189 0. Gr. gegeben, da Rekurrent seine Beschwerde auf eine Verletzung des Art. 31 der Bundesverfassung stützt.

II.

Die weitere Frage, ob der Rekurs rechtzeitig eingereicht worden sei, richtet sich nach Art. 178, Ziff. 3, in Verbindung mit Art. 190 0. Gr., wonach die Beschwerde binnen sechzig Tagen von der Eröffnung oder Mitteilung der Verfügung oder des Erlasses an gerechnet, dem Bundesrat schriftlich einzureichen ist und die Anträge des Beschwerdeführers, sowie deren Begründung enthalten soll.

Im vorliegenden Fall hat die Rekursfrist offenbar am 13. Dezember 1901 zu laufen begonnen. Nach der vom Rekurrenten eingelegten Abschrift des rekurrierten Urteils nämlich wurde dasselbe am 12. Dezember 1901 gefällt. Da im Dispositiv nur Mitteilung an die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft, nicht aber an den Appellanten verfügt ist, und der Appellant in der Verhandlung anwesend war, wie sich daraus ergiebt, daß er sein Appellationsbegehren selbst vorbrachte, so darf und muß angenommen werden, das Urteil sei dem Appellanten in jener Sitzung am 12. Dezember 1901 eröffnet worden. Dies um so eher, als der Rekurrent in der Beschwerdeschrift nichts anderes behauptet oder dargethan hat.

Die Rekursschrift ging beim Bundesrat am 11. Februar 1902 ein und wurde laut Poststempel am 10. Februar 1902, also am letzten Tag der Frist aufgegeben und damit rechtzeitig eingelegt.

Im Eingange sagt der Rekurrent: er produziere eine Abschrift des obergerichtlichen Erkenntnisses, die er selbst auf der Grerichtskanzlei angefertigt habe. Diese Abschrift lag aber der Rekursschrilt nicht bei, sondern wurde erst nachträglich am 15. Februar, mit Begleitschreibungen vom 14. Februar, eingesendet. Dieselbe langte also zweifellos erst nach Ablauf der Rekursfrist beim Bundesrate ein.

358 Stellt man sich auf den Boden der oben angeführten grundsätzlichen Entscheidung des Bundesgerichtes, so muß der Rekurs wegen mangelnder Begründung zurückgewiesen werden, da die Beilegung des Entscheides, der angefochten werden will, zur Begründung gehört. Der Bundesrat pflegt von grundsätzlichen Entscheidungen des Bundesgeriohts in Auslegung des bezüglichen Gesetzes ohne schwerwiegende Gründe nicht abzuweichen. Er hat um so weniger Veranlassung, es im gegenwärtigen Falle zu thun, als die Beschwerdeschrift des Rekurrenten ohne Kenntnis des Textes des Urteils, welches angefochten werden wollte, teilweise unverständlich bleibt. Der Rekurrent verweist nämlich an mehreren Stellen der Rekursschrift auf aus dem Urteil des Obergerichtes (siehe den Eingang von Ziffer II und III der Rekursschrift) hervorgehende Annahmen, welche nur an der Hand des Urteilstextes begreiflich erscheinen. Man kann also, selbst wenn man nicht soweit gehen wollte wie das Bundesgericht, und in jedem Falle, in welchem der Rekurrent ohne durch besondere Umstände daran verhindert zu sein, unterläßt, seiner Beschwerdeschrift die angefochtene Entscheidung in Abschrift beizulegen, sagen, daß die vom Rekurrenten Alois Bernhard eingereichte Rekursschrift unvollständig substantiiert ist, weil ihr eine Abschrift des Entscheides des Obergerichtes des Kantons Zürich nicht beigegeben wurde.

Der Rekurrent hat keine besondern thatsächlichen Verumständungen angeführt, welche es ihm verunmöglicht hätten, die Abschrift der obergerichtlichen Entscheidung rechtzeitig anzufertigen und seiner Beschwerdeschrift beizulegen.

Demnach wird erkannt: Auf den Rekurs wird nicht eingetreten.

B e r n , den 9. Mai 1902.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Vizepräsident:

Deucher.

,

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:

Ringier.

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