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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Giovanni Mantovani, von Calestano (Parma), in Luzern, betreffend Verweigerung des Armenrechts in einer Haftpflichtsache durch die Regierung des Kantons Nidwalden.

(Vom 17. Januar 1902.)

Der schweizerische Bundesrat hat

über die Beschwerde des Giovanni M a n t o v a n i , von Calestano (Parma), in Luzern, betreffend Verweigerung des Armenrechts in einer Haftpflichtsache durch die Regierung des Kantons Nidwaiden ; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

<

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Mit Eingabe vom 16. November 1901 erhebt Fürsprecher Albisser in Luzern für Giovanni Mantovani, von Calestano (Parma, Italien), wohnhaft in Luzern, folgende staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesrat:

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Der heutige Kläger und Besehwerdeführer hat vor Kantonsgericht des Kantons Nidwaiden eine Rechtsklage gestützt auf das erweiterte Haftpflichtgesetz vom Jahre 1887 eingereicht, mit dem Rechtsschlusse, es habe A. Guidali, Bauunternehmer in Hergiswil, an den Kläger anzuerkennen und zu bezahlen Fr. 4000 mit Verzugszins zu 5 °/o seit dem 20. März 1901 als Entschädigung für vorübergehende und dauernde Invalidität, unter Kostenfolge für den Beklagten. Diese Entschädigungsklage stützt sich auf die Thatsache, daß der Kläger am 20. März laufenden Jahres im Dienste des durchschnittlich 30--40 Arbeiter beschäftigenden, dem erweiterten Haftpflichtgesetze unterstehenden Beklagten einen Unfall erlitt, dessen Folgen für Kläger eine bedeutende Einbuße an physiologischer Leistungsfähigkeit bedingen. Der Kläger ist durchaus mittellos, arm, ist im Besitze eines Armutszeugnisses seiner Heimatgemeinde Calestano (Parma, Italien^. Da Kläger völlig mittellos, so ersuchte er unter Verweis auf die Haftpflichtklage, und unter Auflegung des Armenscheines seiner Heimatgemeinde beim tit. Regierungsrate des Kantons Nidwaiden um G e w ä h r u n g d e s A r m e n r e c h t e s nach.

Der tit. Regierungsrat des Kantons Nidwaiden wies das Armenrechtsgesueh des Klägers und heutigen Beschwerdeführers jedoch ab, aus durchaus unbegründeten und speciell in Haftpflichtstreitigkeiten unhaltbaren ,,Motiven". Der tit. Regierungsrat von Nidwaiden stützt sich bei seiner Abweisung auf die ärztlichen Zeugnisse, die über den Kausalzusammenhang zwischen Unfall und nachheriger Einbuße an physiologischer Leistungsfähigkeit nicht klaren Aufschluß geben. Die Beurteilung dieses Kausalzusammenhanges der Größe der Einbuße der Arbeitsfähigkeit des Klägers, die Frage der Höhe der Entschädigung etc.

sind aber der Kognition des Richters vorbehalten und es steht natürlich dem Regierungsrate nicht zu, dem Urteile des Gerichtes vorzugreifen und darüber zu befinden, ob der Prozeß gewonnen oder nicht gewonnen werde.

Art. 6 des erweiterten Haftpflichtgesetzes statuiert, daß in Haftpflichtfällen dem bedürftigen Kläger die Wohlthat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes gewährt und Kautionen, Expertenkosten, Gerichtsgeb iihren und Stempeltaxen erlassen werden.

Die Kantone haben diesen Bestimmungen nachzuleben und die Kantonsregierungen sind beauftragt, für die
Vollziehung dieser bundesgesetzlichen Vorschrift besorgt zu sein. Für den Ausweis der Mittellosigkeit genügt auch nach Nidwaldner Recht der Ausweis durch ein Zeugnis des Heimatgemeinderates.

293 Gemäß Art. 11 des obcitierten erweiterten Haftpflichtgesetzes übt der h. Bundesrat die Kontrolle über die Vollziehung der Vorschriften dieses Gesetzes und damit auch über die Ari. und Weise, wie die Kantone Art. 6 leg. cit. befolgen. Sowohl nach Gesetz als konsequenter Praxis ist für Beschwerden wegen Verweigerung des Armenrechtes in Haftpflichtfällen der h. Bundesrat Beschwerdeinstanz. (Vgl. Entscheid des Bundesgerichtes vom 24. April 1895, Arnet gegen Zug.)

In concreto nun liegt eine völlige Mißachtung des angerufenen Art. 6 des Bundesgesetzes über die Ausdehnung der Haftpflicht vom Jahre 1887 vor. Der Richter hat darüber zu befinden, ob zwischen Unfall und dem jetzigen Befinden des Klägers, der gänzlichen und partiellen Einbuße an physiologischer Leistungsfähigkeit, ein Kausalzusammenhang bestehe .oder nicht; er hat darüber nach Einholung von ärztlichen Gutachten zu urteilen ; er hat die Einrede der Beklagten zu prüfen, zu befinden , ob ein genügender Ausweis betreffend Mittellosigkeit des Klägers vorhanden sei, zudem der Beklagte zugestandenermaßen der Haftpflicht unterstellt ist. Diesen Ausweis der Mittellosigkeit des Klägers haben wir geleistet, und die Weigerung des Regierungsrates von Nidwaiden,' dem Kläger das Armenrecht zu erteilen, bedeutet daher eine flagrante Verletzung des Bundesgesetzes vom 26. April 1887. Die Thatsache, daß Kläger ein Ausländer, ändert hieran nichts, speciell nichts nach dem Haager Übereinkommen, das internationale Civilprozeßrecht betreffend.

Unter Hinweis auf obstehende Anbringen unserer Beschwerdeschrift m i t d e m G e s u c h e u m E i n f o r d e r u n g u n s e r e r Klage und Akten vom Kantonsgerichtspräsidenten N i d w a i d e n stellen wir namens Kläger und Beschwerdeführer das Rechtsgesuch: Es sei, entgegen dem Entscheide des tit. Regiernngsrates des Kantons Nidwaiden vom 4. November 1901, dem Beschwerdeführer in Haftpflichtstreitsachen gegen Bauunternehmer Guidali, Hergiswil, das Armenrecht nach Art. 6 des Buudesgesetzes betreffend Ausdehnung der Haftpflicht vom 26. April 1887 erteilt.

II.

In seiner Vernchmlassung vom 24./26. Dezember 1901 stellt der Regierungsrat von Nidwaiden dieser Beschwerde folgende Thatsachen entgegen :

294 1. Nach Art. 6 des Bundesgesetzes vom 26. April 1887 und § 7 der landrätlichen Verordnung vom 14. April 1888 hat der Staat Nidwalden bedürftigen Personen die Wohlthat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes zu gewähren, wenn die Klage nach vorläufiger Prüfung des Falles sich nicht zum voraus als unbegründet herausstellt.

Das unterm 22. Oktober 1901 von Mantovani beim Regierungsrat gestellte Gesuch um Gewährung des Armenrechtes wurde unterm 28. Oktober vom Regierungsrat zur Prüfung und Begutachtung an Herrn Landammann Businger überwiesen.

2. Auf Relation des Herrn Laudammann Businger, daß der Verletzte wenige Tage nach der Verletzung zu seinen Kameraden gesagt habe, er sei uicht so dumm, er arbeite lange nicht mehr, und gestützt auf die vorgelegten ärztlichen Berichte, wies der Regierangsrat das Gesuch ab. Die Behörde fand, gestützt auf die zur Verfügung stehenden Zeugendepositionen und die vorhandenen ärztlichen Zeugnisse, welche sich gegenseitig durchaus decken und unzweifelhaft darthun, daß Mantovani nicht nur ein Simulant, sondern auch ein Aggravant schlimmster Sorte ist, es sei durchaus keine Aussicht vorhanden, den Prozeß zu gewinnen, sondern es müsse die eingereichte Entsehädigungsklage vor allen Instanzen als unbegründet abgewiesen werden.

Der Regierungsrat stellt daher auch beim ''Bundesrat das Gesuch um Abweisung des in der Beschwerdeschrift vom 15. November 1901 enthaltenen Rechtsgesuches.

Begründung.

a. Der Unfall kann schon am 20. März 1901 vor. Der behandelnde Arzt, Herr Dr. von Moos, prognostizierte in seinem Arztattest vom 24. März vollständige Heilung in cirka 10 Tagen und zwar vollständige Heilung ohne Erwerbseinbuße. (Beleg Nr. 1).

b. Im Kurbericht des Herrn Dr. von Moos vom 4. April wird die Vermutung ausgesprochen, der Verletzte könne in 8 bis 10 Tagen arbeitsfähig erklärt werden, mit der Beifügung : .,,Der Betreffende ist entschieden Aggravant." (Beleg Nr. 2.)

c. Mit Schreiben vom 18. Mai wandte sich Herr Dr. von Moos an die schweizerische Gewerbe-Unfallkasse in Zürich mit dem Antrage, der Verletzte möchte in den Spital Luzern verbracht werden, und zwar lediglich im Interesse ständiger Beobachtung und Bewachung. Eventuell wäre eine Röntgenaufnahme zu machen. (Beleg Nr. 3.)

295 d. Der Verletzte wurde hierauf in die Privatklinik des Herrn Dr. C. Kaufmann, Docent der Chirurgie in Zürich verbracht.

Aus einem Bericht des Herrn Dr. Kaufmann, datiert 31. Mai, geht hervor, daß Mantovani seine Hand einfach nicht kurieren lassen und dieselbe auch nicht mehr brauchen will. Nach ärztlichem Befund bestund damals keinerlei Ursache für die Annahme von Schmerzen. Das ungeberdige Benehmen des Verletzten bezeichnete Herr Dr. Kaufmann als ein offenbar planmäßig unzweckmäßiges Verhalten, da er die linke Hand, trotzdem er sie bewegen kann, stets steif hält. Herr Dr. Kaufmann schreibt weiter : ,,Sobald er sich entschließt, die Hand und Finger wieder zu bewegen und auch nur minimale Energie dabei entwickelt, wird er rasch wieder arbeiten können, d e s s e n bin ich s i c h er. " Am Schlüsse schreibt Herr Dr. Kaufmann : ,,Ich rate Ihnen an, den Verletzten mit vorstehender Motivierung jede weitere Entschädigung zu versagen." (Beleg Nr. 4.)

e. Trotz dem Anraten des Herrn Dr. Kaufmann überwies die Haftpflichtversicherungsgesellsehaft den Simulanten dem Privatspitale des Herrn Dr. Robert Steiger in Luzern ; vom 3. Juni bis 22. Juli verblieb Mantovani in diesem Spital. Über das Benehmen des Mantovani während dieser Zeit lassen wir den Bericht und das Gutachten des Herrn Dr. Rob. Steiger vom 2. Oktober 1901 sprechen: ,,Am 22. Juli lief der renitente Mensch ohne Bewilligung des Arztes aus dem Spital fort, kam aber am 24. wieder zur Sprechstunde, um sich ambulant behandeln zu lassen, was ihm natürlich verweigert wurde.

Das Bestreben dieses jungen Faullenzers war und ist offenkundig, ohne zu arbeiten, den Taglohn fortzubeziehen und im Freien herum zu bummeln."

Das Gutachten des Herrn Dr. Rob. Steiger schließt mit dem Satze : ,,Ich glaube nicht, daß für derartige Arbeitsunfähigkeit der Arbeitgeber aufzukommen hat.111 (Beleg Nr. 5.)

f. Für Mantovani wurden an Lohnausfall und Arztconti bereits ausgegeben Fr. 900. 90. (Beleg Nr. 7.)

Rechtsschluß.

Der h. Bundesrat wolle das Gesuch des Giovanni Mantovani um Gewährung des Armenrechtes seitens des Kantons Nidwaiden abweisen.

296

III.

Aus den eingegebenen Beweisbelegen ergiebt sich : a. Das Unfallgutachten des behandelnden Arztes, J. von Moos in Hergiswil, vom 24. März 1901, beschreibt die Unfallverletzung als .,,offene Quetschwunde auf der Streckseite des rechten Zeigefingers -- soll heißen linken -- und Quetschung der Weichteile seitlich unterhalb des rechten Kniegelenkes. Der verfehlte Schlag traf zuerst die Hand und dann den Unterschenkel, weil der Verletzte vermutlich in kniender Stellung sich befand".

Es wird völlige Heilung nach einer gänzlichen Arbeitsunfähigkeit von cirka 10 Tagen prognostiziert.

b. Der Kurbericht desselben Arztes vom 4. April 1901 erklärt die Verletzung am Bein als geheilt; ,,an der Hand ist die verletzte Stelle noch etwas geschwollen (die offene Wunde ist auch geheilt). Patient giebt entschieden übertriebene Schmerzhaftigkeit an; wird auch mit Massage und Elektricität behandelt; ich glaube, er kann bis in 8--10 Tagen arbeitsfähig erklärt werden. Der Betreffende ist entschieden Aggravant1'. Bin bleibender Nachteil sei nicht zu befürchten.

., c. Am 18. Mai 1901 berichtet J. von Moos, Arzt, an die schweizerische Gewerbe-Unfallkasse in Zürich : ,,In Sachen des Verletzten Mantovani, Giovanni, bei Guidali in Hergiswil, möchte ich Ihnen mitteilen, daß die Heilung sieb so verzögert, daß ich für den Verletzten fast Spitalbehandlung beantragen möchte, und zwar lediglich im Interesse ständiger B e o b a c h t u n g und Ü b e r w a c h u n g . Eventuell wäre eine Röntgenaufnahme zu machen. In jedem Falle aber möchte ich Sie bitten, mir entweder zu gestatten, bei einem Arzte der Stadt Luzern eine Kontrolluntersuchung vornehmen zu lassen und mir entweder die Auswahl frei zu lassen oder einen Herrn Kollegen zu bezeichnen, oder den Patienten direkt ins Spital Luzern zu beordern. Den Spital in Stans kann ich für chirurgische Sachen nicht empfehlen."· d. Den 31. Mai 1901 berichtet Dr. C. Kaufmann, Docent der Chirurgie in Zürich, an dieselbe Gewerbe-Unfallkasse: ,,Der Verletzte war vom 22. dies ab in meiner Anstalt in Beobachtung. Er behauptet, an der Daumenseite des Grundgelenkes des linken Zeigefingers solche Schmerzen zu haben, daß er keine Berührung der Stelle vertrage und den Zeigefinger nicht bewegen könne.

297 Schon bei der ersten Untersuchung raufte sich Mantovani die Haare mit der gesunden Hand, als ich den linken Zeigefinger nur anfaßte. Dasselbe wiederholte sich seither bei jedem Untersuch. Als ich ihn vorgestern wieder untersuchte in Gegenwart meines Assistenten und eines anderen Arbeiters, legte er sich sogar auf den Boden und streckte Beine und Arme in die Höhe nach Art eines unberdigen Jungen. Dabei versuchte ich bloß die Funktion des linken Zeigefingers festzustellen. In den 27 Jahren meiner ärztlichen Thätigkeit habe ich ein solches Betragen beim Betasten eines Fingers noch nicht erlebt.

Meine Untersuchung ergab folgendes: Patient ist körperlich gesund und mäßig kräftig gebaut. Das linke Schulter- und Ellenbogengelenk funktionieren normal. Im linken Handgelenke werden die Drehbewegungen aktiv normal ausgeführt, Beugung und Streckung sind passiv in vollem Umfange und ohne Hindernis ausführbar, ebenso die Seitenbewegungen. Aktiv werden diese Bewegungen trotz Zuredens nicht ausgeführt.

Die sämtlichen Finger werden in leicht gebeugter Stellung gehalten, sie werden mit Ausnahme des Zeigefingers aktiv etwas mehr gebeugt und fast ganz gestreckt. Passiv lassen sich die sämtlichen Finger ohne das geringste Hindernis völlig strecken und spreizen und ebenso ganz zur Faust schließen. Dabei brüllt der Patient und wirft sich am Boden umher.

Nach seiner Angabe bestand die Wunde am linken Zeigefinger in einer oberflächlichen Hautabschürfung an zwei Stellen der Rückfläche des Grundgelenkes. Man findet heute kaum noch die Narben der beiden Wunden. Die Haut ist in ihrem Bereiche etwas geschwellt, glatt-glänzend und leicht blaßrot. Die Zeigefingerspitze ist jedoch kaum verändert. Auch der Handrücken ist etwas geschwellt, die Haut aber nicht gereizt oder entzündet.

Außer der Überempfindlichkeit am Zeigefinger besteht an der ganzen linken Hand und am Arme keine Gefühlsstörung. Das von Herrn Dr. Schuler erstellte Röntgenbild ergiebt ganz normale Knochenkonturen. Die Umfangsmaße der beiden Arme betragen an der Oberarmmitte rechts 25, links 24,s, an der größten Vorderarmdicke 26 rechts und 25 cm. links.

Die genaueste und wiederholte Untersuchung ergab keinerlei Ursachen für die geltend gemachten enormen Schmerzen am linken Zeigefinger, wegen deren Mantovani die linke Hand stets steif hält und in der Weste trägt. Er war niemals dazu zu bringen, mir eine einfache Übung der Hand am Nebeischen

298 Apparate zu machen, trotzdem er mehrere verletzte Arbeiter mit steifen Händen und eine ältere empfindliche Dame daran üben sah.

Der behandelnde Arzt, Herr Dr. von Moos, giebt Ihnen schon unterm 4. April a. c. an, daß Patient die Schmerzen übertreibe.

,,Nach meinem Befunde besteht gegenwärtig keinerlei Ursache mehr für die Annahme von Schmerzen. Dazu kommt das ungebärdige Benehmen des Verletzten schon bei leichten Berührungen und sein offenbar planmäßig unzweckmäßiges Verhalten, da er die linke Hand, trotzdem er sie bewegen kann, stets steif hält.

Er ist jeder Belehrung völlig verschlossen, soweit ich es beobachten kann. Sobald er sich entschließt, die Hand und Finger wieder zu bewegen und auch nur minimale Energie dabei entwickelt, wird er rasch wieder arbeiten können, dessen bin ich sicher.

Nach meinem Dafürhalten w i l l Mantovani einfach die Hand nicht gebrauchen und schädigt sich natürlich, weil unsere Glieder nur durch regelmäßigen Gebrauch funktionstüchtig erhalten bleiben 5 je länger er sein unzweckmäßiges Verhalten fortsetzt, um so mehr. Seine jetzige Arbeitsunfähigkeit ist die ausschließliche Folge dieses eigenwilligen unzweckmäßigen Verhaltens und muß deswegen nicht entschädigt werden. Ich rate Ihnen an, dem Verletzten mit vorstehender Motivierung jede weitere Entschädigung zu versagen.u e. Ein Gutachten von Dr. Rob. Steiger in Luzern, vom 2. Oktober 1901, stellt fest: ,,Am 3. Juni überwies Ihr Inspektor, Herr Rolli, den Verletzten zur B e h a n d l u n g und Begutachtung der eventuellen Unfallsfolgen meinem Privatspitale. Gleichzeitig mit beiliegend retournierten Unfallsschadenanzeige vom 21. März, Arztzeugnis von Dr.

J. von Moos in Stansstad ; Gutachten von Dr. C. Kaufmann in Zürich vom 31. Mai 1901 nebst Radiographie vom 23. Mai 1901.

Aus dem Zeugnis von Herrn Dr. von Moos ergiebt sich, daß Mantovani am 20. März eine Quetschung der linken Hand durch Schlag erlitten, welche eine Rißquetschwunde auf der Streckseite des linken Zeigefingers bedingte.

Das Gutachten von Herrn Kaufmann erklärt 31. Mai Mantovani für einen schweren Aggravanten mit sehr minimem objektivem Befunde an der verletzten linken Hand. (1. c. Seite 2.)

299 Am 3. Juni fand ich bei Mantovani eine starke Schwellung des linken Handrückens. Die Untersuchung des Patienten war eine sehr erschwerte, weil er sich auch in gleicher Weise bei der Untersuchung gebärdete wie bei Herrn Dr. Kaufmann. (1. c.

Seite l und 2.) Die nur in mehrfachen Malen und erst nach äußerst energischem Zureden mögliche Untersuchung ergab die gleichen Resultate wie sie Herr Kaufmann in seinem Gutachten angiebt, neu war eine s t a r k e S c h w e l l u n g auf dem l i n k e n H a n d r ü c k e n . Diese war bedingt durch einen Flüssigkeitserguß unter der Haut des Handrückens. Die am 4. Juni vorgenommene Probepunktion, die nur durch List ausgeführt werden konnte, ergab, daß die Flüssigkeit aus reinem Blute, ohne Beimischung von weissen Blutkörpern oder Kokken bestand. Die Kulturversuche ergaben keine Mikrobenwucherung. Patient verweigerte die vorgeschlagene Incision, verweigerte und verunmöglichte mit der Vorgabe unerträglichen Schmerzes selbst leichteste Massage und bedrohte mich bei diesen Versuchen mehrfach mit der Faust. Die Gewerbe-Unfallkasse wünschte trotzdem auf meinen Bericht weitern Verbleib des Patienten in meinem Privatspitale, wo derselbe mit Hochlagerung der Hand und kalten Umschlägen behandelt wurde. Vom Anfang und irn weitern Verlaufe der Behandlung verweigerte Patient die aktiven ihm vorgeschriebenen Bewegungen der Finger, die passiven verunraöglichte er durch Geschrei und unmöglichste Körperbewegungen.

Auf dem R ü c k e n des Zeig efinge r g r u n d g c l e n k e s trat nach und nach eine V e r f ä r b u n g der Haut auf, w e l c h e e i n e N e k r o s e d e r H a u t b e f ü r c h t e n ließ, b e i später v o r g e n o m m e n e n passiven Bewegungen des Z e i g e f i n g e r s f a n d s i c h d e u t l i c h e s K r e p i t i e r e n längs der Strecksehne.

Später verweigerte Mantovani die vorgeschriebene Bettruhe und Hochlagerung der Hand und lief am 22. Juli ohne meine Erlaubnis aus dem Privatspital e.

Am 24. erschien er in meiner Sprechstunde, um sich ambulant behandeln zu lassen. Ich verweigerte im Einverständnisse O mit der Gewerbeunfallkasse demselben eine derartige v ö l l i g a u s s i c h t s l o s e Behandlung.

Mantovani drohte mit italienischem Konsul und Advocat. Herr Dr. Limacher in Luzern untersuchte den Patienten am 4. August, dessen Gutachten ich anbei ebenfalls retourniere.

300

Derselbe konstatiert einen schwärzlichen Punkt, mit blaurötlich verfarbter, geschwollener Umgebung über dem Grundgelenke des linken Zeigefingers, leichte Schwellung des Zeigefingers und der Hand in der Gegend der Grundgelenke.

Die übrigen Angaben sind durch die Angaben und den Willen des Verletzten mitbedingte und daher nur mit Vorsicht zu verwerten.

Ich konstatierte am 4. August noch krepitierende Entzündung in der Strecksehne des Zeigefingers, daneben die oben angegebene Hautveränderung.

Gutachten.

Der Befund von Herrn Dr. Kaufmann vom 31. Mai und mein Befund vom 3./4. Juni differieren darin, daß der Bluterguß unter Haut am 31. Mai vollständig fehlte, am 3. Juni vorhanden war.

Nach Herrn Dr. Kaufmann war der Maon arbeitsfähig, nach meinem Befunde nicht, trotzdem auch ich den Mann als Aggravanten schlimmster Sorte unbedingt bezeichnen muß.

Die Schwellung bedingt durch Bluterguß kann keine Folge der ersten Verletzung sein, es muß zwischen der Untersuchung von Herrn Dr. Kaufmann und mir etwas Neues der Hand zugestoßen sein ; Mantovani weiß darüber natürlich nichts anzugeben.

Eine zweckmäßige Behandlung, Incision eventuell Massage wurde von Mantovani verweigert. Die nach und nach entstehende leichte Haütgangrsen ist eine Folge der Verweigerung richtiger Behandlung, da der zwischen Haut und ernährendem O ö?

Unterhautzellgewebe befindliche Bluterguß sehr langsam resorbiert und dadurch die Ernährung der Haut beeinträchtigt wurde. Die beständige Ruhehaltung der Hand und Finger bedingte die Sehnenscheidenentzündung des Streckers des Zeigefingers.

Ich halte dafür, daß Mantovani beim Ein- und Austritte aus meinem Privatspitale nicht ganz arbeitsfähig war, beim Eintritte infolge Verletzung seiner Hand, die zwischen 31. Mai und 3. Juni eingetreten sein muß, beim Austritte infolge seiner fortgesetzten Weigerung, eine zweckentsprechende Behandlung zu dulden. Ich glaube nicht, daß für derartige Arbeitsunfähigkeit der Arbeitgeber aufzukommen hat."

/. Gemäß Policenrechnung der Gewerbe-Unfallkasse sind in Sachen Guidali/Mantovani verausgabt worden:

301 Zahlung an Lohnausfall vom 20. März 1901 bis 1 4 . Juni 1901 . . . . . . .

., ,. Nota Dr. Kaufmann, Zürich . . .

,, Dr. von Moos '.,.

l ,, Dr. Steiger Total

F r . 247.

,, 110.

,,148.

,, 395.

10 80 -- --

Fr. 900. 90

Für die Richtigkeit Zürich, 17. Dezember 1901."g. Die landrätliche Verordnung betreffend die Haftpflicht, vom 14. April 1888, bestimmt in § 7: ,,Für dürftige Arbeiter, welche nach Maßgabe der citierten eidgenössischen Gesetze Klage erheben und deren Erwerb und Vermögen nicht ausreicht, neben dem Lebensunterhalt für sich und die Ihrigen die Prozeßkosten zu bestreiten, übernimmt der Staat die Führung des Prozesses durch den Staatsanwalt oder einen vom Regierungsrate beauftragten Anwalt und die Kosten, sofern dieselben nicht der beklagten Partei auferlegt werden können.

Zum Ausweis der Bedürftigkeit seitens des Klägers ist ein Zeugnis seiner Heimat- oder Wohngemeinde erforderlich. Bei Anständen über dessen Haftbarkeit entscheidet der Regierungsrat.

Diese Rechtswohlthat kann vom Regierungsrate auch verweigert werden, wenn die Klage zum voraus sieh als unbegründet herausstellt.a

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Gemäß Art. 6 des Bundesgesetzes vom 26. April 1887, betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881, haben die Kantone auf dem Gesetzgebungs- oder Verordnungswege dafür zu sorgen, daß bedürftigen Personen, welche eine Haftpflichtklage erheben, auf ihr Verlangen die Wohlthat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes gewährt und Kautionen, Gerichtsgebühren und Stempeltaxen erlassen werden, ,,wenn die Klage nach vorläufiger Prüfung des' Falles sich nicht zum voraus als unbegründet herausstellt.a Nach § 7 der landrätlichen Vollziehungsverordnung vom 14. April

302

1888 steht im Kanton Nidwaiden dem ßegierungsrate das Recht der Bewilligung dieser Rechtswohlthat zu.

Durch Schlußnahrne vom 4. November 1901 hat der Regierungsrat das Armenrechtsgesuch des Rekurrenten abgewiesen, da nach Einsicht der vorliegenden Zeugnisse und Gutachten der Arzte Kaufmann und Steiger ,,keine Aussicht zur Gewinnung des Prozesses mit Herrn Guidali vorhanden'-'- sei.

II.

Diese Schlußnahme kann vom Bundesrate, der gemäß Artikel 11 des angeführten Bundesgesetzes die Kontrolle über Vollziehung desselben auszuüben hat (Vgl. A. S. der Entscheidungen des Bundesgerichtes XXII, 382; Bundesbl. 1897, I, 141) nach Lage der Akten nicht gutgeheißen werden.

Es ist aktenmäßig festgestellt, daß Rekurrent am 20. März 1901 einen Gewerbeunfall erlitten hat, der eine Arbeitsunfähigkeit von vorläufig 10 Tagen bewirkte; objektiv war konstatiert eine offene Quetschwunde auf der Streckseite des linken Zeigefingers und eine Quetschung der Weichteile seitlich unterhalb des rechten Kniegelenkes. Gemäß Kurbericht vom 4. April war die Verletzung am Bein geheilt, an der Hand dagegen war die verletzte Stelle noch etwas geschwollen, wenn auch die Wunde geheilt war; es wurde eine weitere Arbeitsunfähigkeit von 8--10 Tagen in Aussicht gestellt. Die Arztberichte Kaufmann, vom 31. Mai, und Steiger, vom 2. Oktober 1901, nennen den Beschwerdeführer allerdings einen Aggravanten und Simulanten und erachten dessen fortdauernde Arbeitsunfähigkeit als eine Folge seines kurwidrigen und unzweckmäßigen Verhaltens, allein Dr. Kaufmann konstatiert einen geschwellten Handrücken und Dr. Steiger nennt diese Schwellung noch am 3. Juni eine ,,starke". ,,Diese war bedingt durch einen Flüssigkeitserguß unter der Haut des Handrückens. Die am 4. Juni vorgenommene Probepunktion ergab, daß die Flüssigheit aus reinem Blut, ohne Beimischung von weißen Blutkörpern oder Kokken bestand."1 ^Auf dem Rücken des Zeigefingergrundgelenkes trat nach und nach eine Verfärbung der Haut auf.

welche eine Nekrose der Haut befürchten ließ, bei später vorgenommenen passiven Bewegungen des Zeigefingers fand sich deutliches Krepitieren längs der Strecksehne."· Noch am 4. August konstatierte Dr. Steiger ,,krepitierende Entzündung in der Strecksehne des Zeigefingers, daneben die oben angegebene Hautveränderun» a .

303

Aus diesen Feststellungen ergiebt sich vorläufig eine \v i r k l i e h e , o b j e k t i v k o n s t a t i e r b a r e Gesundheitsschädiguug des Mantovani, so daß derselbe also nach den Bestimmungen der Haftpflichtgesetzgebung einen Haftpflichtanspruch erheben kann.

Ob derselbe daneben ein ,,Aggravant schlimmster Sorte11 sei, ob er die Heilungsunmöglichkeit selbst verschuldet, ob ihm aus diesen Gründen sein Haftpflichtanspruch zu kürzen oder ganz abzusprechen sei : das alles sind Momente, die dem richterlichen Urteil, nicht dem prima facie Gutfinden der Armenrechtsinstanz zur Entscheidung zu unterbreiten sind. Die Klage Mantovani ist also keineswegs ,,zum voraus unbegründet". Letztere Ausdrucksweise des Gesetzes ist dahin auszulegen, daß nicht die thatsächliche Begründetheit der Klage bei Erteilung des Armenrechtes zu prüfen ist, sondern daß nur zu untersuchen ist, ob der Anspruch, wie er vom Gesuchsteller erhoben ist, aus den behaupteten Thatsachen r e c h t l i c h begründet werden kann. Ist dies der ,,Fall, so ist das Armenrecht zu gewähren. Durch die Gerichte ist dann festzustellen, ob der erhobene Anspruch wirklich begründet ist. Denn ,,zum voraus"1 unbegründet ist eine Klage nur dann, wenn der in ihr erhobene Anspruch, so wie er erhoben wird, von vornherein unbegründet oder unzulässig ist. Dies trifft aber, wie nachgewiesen wurde, im Falle des Rekurrenten nicht zu.

Demnach wird erkannt: Die Beschwerde wird als begründet erklärt und die Regierung des Kantons Nidwalden eingeladen, dem Mantovani das Armenrecht zur Durchführung seiner Haftpflichtklage zu bewilligen.

B e r n , den 17. Januar 1902.

Im Namen des Schweiz, ßundesrates, Der Bundespräsident: Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Biiigier.

·-§-

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Giovanni Mantovani, von Calestano (Parma), in Luzern, betreffend Verweigerung des Armenrechts in einer Haftpflichtsache durch die Regierung des Kantons Nidwalden. (Vom 17. Januar 1902.)

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