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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Amnestiegesuch zu gunsten der vom Divisionsgericht der I. Division wegen Ausreissen Verurteilten.

(Vom

15. Dezember 1902.)

Tit.

Unterm 9./10. Dezember 1902 wurde dem Bundesrat z;u Händen der Bundesversammlung von einem genferischen Initiativkomitee ein Gesuch eingereicht, es möchte den vom Kriegsgerichte der I. Division im November Verurteilten Amnestie gewährt werden.

Das Gesuch enthält folgende Begründung: ,,Sans contester aucunement la légalité des décisions du Tribunal militaire, nous croyons cependant qu'au moment où Genève s'apprête à fêter le 300me Anniversaire de l'Escalade qui doit réunir tous les citoyens de notre canton dans un même sentiment d'amour pourla Patrie, il est nécessaire qu'une mesure de clémence intervienne en faveur de ceux dont les familles souffrent cruellement des privations que leur impose l'absence forcée de leurs chefs". *) *) Übersetzung. Ohne die Gesetzmäßigkeit der Urteile des Militärgerichts irgendwie bestreiten zu wollen, halten wir immerhin dafür, es sei, im Momente, wo Genf sich zur 300jährigen Gedenkfeier der Escalade rüstet, welche alle Bürger unseres Kantons in einem gemeinsamen Gefühle der Vaterlandsliebe vereinigen soll, notwendig, daß ein Akt der Milde zu gunsten derjenigen eintrete, deren Familien bitter unter den Entbehrungen leiden, welche ihnen die unfreiwillige Abwesenheit des Familienvaters auferlegt.

Das Gesuch ist von 3555 Unterschriften begleitet. Eine Légalisation derselben hat nicht stattgefunden und es läßt sich somit im Momente nicht feststellen, wie groß die Zahl der gültigen Unterschriften ist. Da aher das Petitionsrecht in Art. 57 der Bundesverfassung J e d e r m a n n gewährleistet ist, und zwar für andere wie für sich, so sind wir der Ansicht, diese Frage könne gänzlich außer Betracht gelassen werden.

Es ist nicht das erste Mal, daß sich die Bundesversammlung mit Amnestiefragen zu beschäftigen hat. Es liegen sogar Präzedenzfälle vor, die insoweit dem heutigen Begehren gleichen, als auch sie .die Folgen von Übertretungen militärischer Gesetze aufheben sollten. Vor allem sei die Amnestie zu gimsten der im Neuenburger Aufstand vom 2./3. Herbstmonat 1856 Beteiligten erwähnt. Art. 5 des am 26. Mai 1857 in Paris zur Erledigung der Neuenburgerangelegenheit abgeschiedenen Vertrages bestimmt, daß für alle politischen und militärischen Verbrechen und Vergehen, welche zu den letzten Ereignissen in Beziehung stehen, volle und gänzliche Amnestie erteilt wird, und zwar zu gunsten aller Neuenburger, Schweizer oder Fremden und n a m e n t l i c h a u c h z u g u n s t e n d e r M i l i z e n , w e l c h e sich d u r c h E n t f e r n u n g ins Ausland der W a f f e n p f l i c h t entz o g e n h a b e n . Demgemäß beschloß die Bundesversammlung damals -r- und zwar jeder Rat für sich -- die Niederschlagung der hängigen Prozesse.

Fünf Jahre später beschäftigte ein anderes Amnestiegesuch die eidgenössischen Räte. Am 30. Juli 1859 war ein Bundesgesetz erlassen worden, das dem bereitss bestehenden Verbot der Werbung und des Eintritts in fremden Kriegsdienst strafrechtliche Sanktion verlieh. Dessenungeachtet begaben sich viele Schweizer in sizilianische Kriegsdienste. Als dann die Piemontesen größere sizilianische Truppenkörper gefangen nahmen, wurden die fremden Söldner, darunter eine Menge Schweizer, in die Heimat spediert.

Hier, wurden über 800 derselben wegen Übertretung des Bundesgesetzes betr. Werbung und Eintritt in fremde Kriegsdienste vor die Gerichte gestellt, was dann 1861 zu einem Amnestiebegehren führte.

Wir werden an anderer Stelle auf diesen Fall zurückzukommen genötigt sein. Zunächst haben wir die Frage zu prüfen, ob die bestehende Gesetzgebung eine Amnestie gegenüber m i l i t ä r i s c h Verurteilten noch zuläßt.

869 Art.. 85, Ziff. 7, der Bundesverfassung, gleichlautend mit Art. 74, Ziff. 7, der altea Bundesverfassung, trägt d e n ' C h a r a k t e r einer o r g a n i s c h e n B e s t i m m u n g , welche erst d u r c h a n d e r w e i t i g e B e s t i m m u n g e n des Bundesr e c h t e s i h r e n G e l t u n g s b e r e i c h angewiesen erhält. (Salis, .schweizerisches Bundesrecht, Bd. III, 376). Eine solche ,,anderweitige Bestimmung des Bundesrechts" besitzen wir seit 1889 in .der M i l i t ä r s t r a f g e r i c h t s o r d n u n g . Diese hat eine authentische Interpretation des Art. 85, Ziff. 7, der Bundesverfassung geschaffen, soweit sich derselbe auf militärische Urteile beziehen kann.

Die Militärstrafgerichtsordnung1 kennt nun, aber nur .die B e g n a d i g u n g . Diese wird durch das Gesetz ausdrücklich in die K o m p e t e n z des B u n d e s r a t e s gelegt. Die A m n e s t i e dagegen wird mit keinem Worte erwähnt. Das über diese Verhältnisse eingeholte Gutachten des Oberauditors, Hrn. Oberst Hiltjr, enthält diesbezüglich folgende Ausführungen : ,,Man wird nicht sagen können, die Amnestie sei d e s h a l b nicht ausdrücklich erwähnt worden, weil man sie absichtlich, als ein Recht der Bundesversammlung, habe vorbehalten wollen, oder von den Rechten der Bundesversammlung sei in diesem Gesetze überhaupt nicht die Rede. Beides wäre unrichtig. In dem Art. 214 ist ein Fall vorbehalten, in welchem das Begnadigungsrecht auch fernerhin der Bundesversammlung zustehen soll, und es wäre sehr nahe gelegen, bei diesem Anlasse zu sagen, auch die Amnestie falle in den Geschäftsbereich derselben, wenn sie gegen Urteile der Militärgerichte angerufen werde.

Es wird also kaum angenommen werden können, daß der Gesetzgeber s t i l l s c h w e i g e n d jedem durch Militärgerichte Verurteilten z w e i Wege g a n z n a c h s e i n e r A u s w a h l habe eröffnen wollen, den Weg der Begnadigung beim Bundesrat und den der Amnestie bei der Bundesversammlung.

Ebensowenig darf man angesichts dieses Gesetzes etwa den Satz aufstellen, die Amnestie sei als ein Souveränitätsrecht gar nicht delegierbar, denn das würde auch die Übertragung des Begnadigungsrechtes an den Bundesrat ausgeschlossen haben."

Auch der Oberauditor kommt zum Schlüsse, daß gegen die vorliegenden militärgerichtlichen Urteile nicht Aufhebung oder
Milderung derselben auf z w e i Wegen nach beliebiger Auswahl der Petenten verlangt werden könne, sondern bloß auf dem e i n e n Weg der B e g n a d i g u n g , welcher durch das Aus.Bundesblatt. 54. Jahrg. Bd. V.

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führungsgesetz von 1889 dem Willen des Gesetzgebers gemäß geregelt ist.

Wir pflichten dieser Ansicht bei. Die Militärstrafgerichtsordnung von 1889 hat den Geltungsbereich des Art. 85, Ziffer 7, der Bundesverfassung in dem Sinne beschränkt, daß bei m i l i t ä r g e r i c h t l i c h e n V e r u r t e i l u n g e n A m n e s t i e ausge-* s c h l ö s s e n sei und daß Begnadigungsgesuche gegen militar^ gerichtliche Verurteilungen nur dann in den Geschäftskreis beider Räte fallen, wenn das Urteil auf Todesstrafe lautet oder wenn es von einem außerordentlichen Militärgerichte gefällt wurde.

Aus dieser Ordnung dest Begnadigungsrechtes in dem MilitärStrafgerichtsgesetze ergibt sich die Auflassung des schweizerischen Gesetzgebers, welche Amnestie nur vor ergangenem Urteile eintreten läßt, n a c h ergangenem Urteile aber nur noch die Be^ gnadigung kennt.

Im allgemeinen ist bezüglich des Amnestiebegriffes folgendes zu sagen : Der Begriff der Amnestie ist in der Wissenschaft nicht absolut feststehend. Die gegenwärtig in der deutsehen Jurisprudenz vorherrschende Meinung unterscheidet zwischen Einzelbegnadigung, Begnadigung einer Mehrheit (Amnestie) und Niederschlagung des Strafverfahrens vor gefälltem Urteil (Abolition) (so v. Liszt, Salis etc.}.

Stehen sich in der Wissenschaft eine Reihe von Schulmeinungen gegenüber, so ist dagegen der Begriff der Amnestie in der schweizerischen Rechtspraxis durchaus feststehend. Amnestie i s t eine N i e d e r s c h l a g u n g d e r U n t e r s u c h u n g , e i n V e r z i c h t auf den Straf a n s p r a c h vor E r l a ß eines r e c h t s k r ä f t i g e n U r t e i l s . Begnadigung ist d a g e g e n v o l l s t ä n d i g e r oder t e i l w e i s e r S t r a f e r l a ß nach der FäK lung eines rechtskräftigen Urteils.

Daß zwischen Begnadigung und Amnestie ein wesentlicher, und zwar nicht nur äußerlicher, Unterschied bestehen muß, zeigt schon die Bundesverfassung. Während Begnadigungsgesuche von der vereinten Bundesversammlung behandelt werden, haben die Räte über Amnestiebegehren getrennt zu beraten (Art. 92 der Bundesverfassung).

Daß ferner dieser Unterschied der von uns angeführte ist, ergibt sich aus einem Vergleich der Präzedenzfälle. Als es sich im Jahre 1861 darum handelte, alle diejenigen, welche sich der

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Übertretung des Verbots des Eintritts in fremde Kriegsdienste schuldig gemacht hatten, der Bestrafung zu entziehen, wurden in der Bundesversammlung zwei Motionen eingereicht, dahingehend, 1. es sei das S t r a f v e r f a h r e n gegen die Übertreter des Bundesgesetzes betreffend Werbung etc. a u f z u h e b e n (Amnestie), 2. es sei den bereits Verurteilten der Rest der Strafe zu erlassen (Begnadigung) (Siehe Bundesblatt 1861, II, 371 fi1., 707, 718 und 721.)

Die Formulierung dieser Motionen zeigt deutlich den prinzipiellen Unterschied, welcher zwischen Amnestie und Begnadigung gemacht wurde. Einer der damaligen Kommissionsberichte enthält bereits diejenigen klaren Begriffsbestimmungen, welche in der Folge für die Begriffe der Amnestie und Begnadigung grundlegend wurden: ,,Die Amnestie bezweckt die Niederschlagung bezw. Nichtanhebung des Strafverfahrens, die Begnadigung bezweckt hingegen nur, dass die ausgefällte Strafe abgekürzt wird."

Der grundsätzliche Unterschied, der zwischen Amnestie und Begnadigung besteht, wurde während der ganzen Verhandlungen nie verleugnet: zuerst verwarfen die Räte in g e t r e n n t e r Ber a t u n g die Amnestiemotion, dann vereinigten sie sich, um in gemeinsamer Sitzung Verwerfung der Begnadigungsmotion zu beschließen.

Die Praxis weist nicht e i n Beispiel auf, welches von einer andern Auffassung des Amnestiebegriffs als den von uns angeführten zeugte ! Sowohl im Prozesse wegen Wahlunordnungen in Giubiaseo, Agno und im Tal Onsernone (1855) wie in den Prozessen wegen der Tessiner Ereignisse vom März 1889 und September 1890 handelte es sich immer um N i e d e r s c h l a g u n g der P r o z e s s e , um Aufhebung des Strafverfahrens v o r gefälltem Urteil.

Eines der hervorragendsten Werke über schweizerisches 'Staatsrecht, .das Handbuch von Blumer-Morel, äußert sich folgendermaßen : ,,Eine B e g n a d i g u n g setzt immer voraus, daß ein Gerieht auf eine Strafe erkannt habe, deren Nachlaß oder Umwandlung verlangt wird, sie unterscheidet sich dadurch von der A m n e s t i e , welche gegenüber politischen Vergehen von ·der souveränen Behörde eines Staates, in der Eidgenossenschaft von der Bundesversammlung, aus allgemeinen Gründen des Staats-

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.wohles erteilt werden kann, ehe ein Urteilsspruch vorliegt und selbst ohne daß die Schuld des einzelnen näher untersucht wird."1 Es geht aus allen diesen Vorgängen deutlich hervor, daß im schweizerischen Staatsrechte unter ,,Amnestie"1 dasjenige verstanden wird, was in der Wissenschaft in der Regel mit ,,Abolition" bezeichnet wird.

Gestützt auf diese Ausführungen halten wir dafür, es sollte dem von einer Anzahl von Bürgern aus dem Kanton Genf zu gunsten der kriegsgerichtlich verurteilten Unteroffiziere und Soldaten eingereichten Amnestiebegehreri aus formellen Gründen keine Folge gegeben werden. Indessen legen wir hierauf nicht das entscheidende Gewicht. Vielmehr halten wir dafür, daß triftige Gründe vorliegen, einem Amnestiebegehren, wie es vorliegt, nicht zu entsprechen.

Will man auf eine materielle Prüf'oig der Angelegenheit eintreten, so ist zunächst darauf aufmerksam zu machen, daß die Verurteilten selbst weder ein Amnestie- noch ein Begnadigungsgesuch eingereicht haben. Ob dieselben ihr Vergehen bereuen oder ob sie in ihrer Auflehnung gegen das Gesetz verharren, ist nicht ersichtlich. Vor und nach dem Urteile erfolgte Kundgebungen lassen vielmehr darauf schließen, daß eine Wiederholung ähnlicher beklagenswerter Vorgänge zu befürchten ist, falls eine solche Dienstverweigerung keine strafrechtlichen Folgen nach sich ziehen würde.

Die Urteile des Militärgerichtes haben nicht dem Zwecke der Abschreckung gedient. Die Strafausmessung richtete sich nicht nach der Wirkung, welche die Verurteilung auf die Massen ausüben sollte, sondern das Gericht hat in jedem einzelnen Falle den Grad des individuellen Verschuldens abgewogen, es hat jeden Strafminderungsgrund berücksichtigt und den außergewöhnlichen Verhältnissen Rechnung getragen. Diese Tatsache hat selbst das Amnestiegesuch zugeben müssen.

Mit ebenderselben Milde wurde die Untersuchung geleitet.

Nur diejenigen Nichteinrückenden, welche erklärten, sie haben absichtlich, im Bewußtsein der vollen Tragweite ihrer Handlungen, dem Aufgebot keine Folge geleistet, wurden vor ein Kriegsgericht gestellt.

Unser Wehrwesen ist eine der Grundlagen unseres Staates.

Die Genfer Ereignisse bedeuteten den Versuch einer Unter-

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grabung unseres Wehrwesens, das gerade darauf beruht, daß der Bürger trotz der kurzen Dienstzeit so viel Disziplin besitzt, jedem Kufe des Vaterlandes ungesäumt und vorbehaltlos Folge zu leisten.

Gegenüber gewissen Auslassungen sei an dieser Stelle festgestellt, daß der Zweck des Truppenaufgebots die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und daß der Erlaß desselben. eine Pflicht der Regierung des Kantons Genf war. Die Nichtbefolgung des von der zuständigen Behörde erlassenen Aufgebots war eine strafbare Handlung. Die Refraktäre haben mit vollem Bewußtsein die Folgen ihrer Handlungsweise auf sich genommen. Dem Eintritt dieser Folgen durch Erlaß einer Amnestie hemmend in den Weg zu treten, würde mit dem Ernste des kriegsgerichtlichen Verfahrens nicht vereinbar sein.

Die Genfer Ereignisse dürfen sich nicht mehr wiederholen, und wäre das leider .doch der Fall, so sollen wenigstens die obersten Behörden des Landes das Bewußtsein haben, nicht durch eine allgemeine Amnestie einer solchen Wiederholung Vorschub geleistet zu haben. Das Ansehen- und die Würde des Landes, seine Zukunft und die Gerechtigkeit gegenüber denen, die ihre Pflicht getan haben, fordern die Ablehnung des begehrten Amnestieerlasses.

Wir beehren uns, gestützt auf diese Ausführungen, Ihnen zu beantragen, Sie wollen dem Amnestiegesuch des genferischen Initiativkomitees keine Folge geben, und benützen auch diesen Anlaß, um Sie, Tit., unserer vollkommenen Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 15. Dezember 1902.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t : Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft; Bingier.

-SKW^--

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