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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Gottfried Senften, Lehrers in der Lenk, Kanton Bern, und Genossen, betreffend dessen Wahl zum Gerichtspräsidenten des Amtsbezirkes Obersimmental.

(Vom 26. Juli 1902.)

Der schweizerische Bundesrat hat über die Beschwerde des Gottfried S e n f t e n , Lehrers in der Lenk, Kanton Bern, und Genossen, betreffend dessen Wahl zum Gerichtspräsidenten des Amtsbezirkes Obersimmental, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt: A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Am 22. September 1901 wurde Lehrer Gottfried Senften in Lenk mit 605 von 1118 gültigen Stimmen zum Gerichtspräsidenten von Obersimmental gewählt.

II.

Gegen diese Wahl haben Wampfler und Konsorten, stimmfähige Bürger des Amtsbezirkes Obersimmental, unterm 28. September 1901 beim Großen Rate des Kantons Bern Beschwerde Bundesblatt.

54. Jahrg.

Bd. IV.

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eingelegt mit dem Rechtsbegehren, es sei die Wahl als ungültig zu erklären. Die Beschwerdeführer stützten sich materiell darauf, daß die Wahl dem Art. 59 der bernischen Staatsverfassung vom 4. Juli 1893 zuwiderlaufe, ,,indem Lehrer Senften keine juristische Bildung besitze".

Dieser Art. 59 lautet: ,,Die Mitglieder und Ersatzmänner des Obergerichts sollen die Kenntnis der beiden Landessprachen besitzen und sowohl sie als die Präsidenten der Amtsgerichte rechtskundige Männer sein.a

m.

Vom Großen Rate ist die Beschwerde zunächst an den Regierungsrat und eine Kommission des Rates selbst zu Bericht und Antrag gewiesen worden. Der Regierungsrat seinerseits forderte Lehrer Senften auf, seine Gegenbemerkungen zur Beschwerde vorzubringen.

Senften kam dieser Einladung mit Zuschrift vom 10. Oktober 1901 nach, in welcher er im wesentlichen folgendes auseinandersetzte : Die Stelle eines Gerichtspräsidenten von Obersimmental ist eine wenig begehrte. Berufsjuristen, welche bei den Wahlen der letzten fünf Monate als Mitbewerber um die Stelle auftraten, sind unterlegen; andere haben die Annahme der Stelle entschieden abgelehnt : Im Mai 1901 wurde alt-Sekundarlehrer Welten gewählt, im Juni alt-Großrat Ägerter, endlich am 22. September 1902 Lehrer Senften. -- Dieser steht im 28. Altersjahr, hat das bernische Primarlehrerpatent erworben und ist 1894 vom bernischen Regierungsrat zum Offizier ernannt worden.

Was nun den Beschwerdepunkt, daß er nicht ,,rechtskundig"1 sei, anbetreffe, bemerkte er: Es besteht keine gesetzliche Vorschrift, daß ein Gerichtspräsident einen staatlichen Ausweis des Rechtsstudiums oder eines Patentes besitzen soll, wie letzteres für Gerichtsschreiber gefordert wird. Es kann ' daher kaum angehen, einem Autodidakten das Attribut ,,rechtskundig"1 so ohne weiteres abzusprechen. Der Nachweis, daß er nicht rechtskundig sei, kann bloß durch eine Prüfung erbracht werden.

Wahlen von Nicht]uristen als Gerichtspräsidenten sind übrigens im Bernerlande nichts ungewöhnliches. Warum können sie im Obersimmental nicht geduldet werden, wenn in den Amtsbezirken Saanen, Niedersimmental, und, wie man sagt, Oberhasli und Laupen

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Nichtjuristen amten, deren Wahlen vom bernischen Regierungsrate validiert werden konnten? Sogar der Große Rat ^hat ja unter der Herrschaft der alten Verfassung aus dem Doppelvorschlag des Volkes und des Obergerichtes Nichtjuristen als Gerichtspräsidenten gewählt!

Die Regierung, von der Ansicht ausgehend, es handle sich im vorliegenden Falle um eine grundsätzliche Frage, lud auch das Obergericht des Kantons Bern ein, sich in einer motivierten Ansichtsäußerung über die Frage auszusprechen, ob die Wahl des Gottfried Senften als verfassungswidrig betrachtet werden könne oder nicht.

In seinem Gutachten vom 13. November 1901 kam das Obergericht diesem Auftrage nach ; es stellte sich im ganzen und großen auf den Standpunkt der Rechtsausführungen Senftens und kam zum Schluß, es könne die Wahl nicht als verfassungswidrig betrachtet werden.

Zur Begründung dieses Schlusses beruft es sich namentlich auf die Beratung der Verfassung vom Jahre 1846 und macht darauf aufmerksam, es habe sich im Jahre 1846 speziell im Verfassungsrat eine etwas gereizte Stimmung gegen die Advokaten geltend gemacht und man habe infolgedessen dafür sorgen wollen, daß nicht zu viele Juristen als Gerichtspräsidenten gewählt werden.

Es werden denn auch verschiedene Voten zitiert, die in diesem Sinne gefallen sind. Es wurde darauf aufmerksam gemacht, daß es Personen gebe, die keine Rechtsstudien genossen haben, aber infolge langjähriger juridischer Tätigkeit, sei es als Amtsrichter oder als Friedensrichter, so viele Kenntnisse erworben haben, daß sie mit Erfolg eine Gericjitspräsidentenstelle versehen können.

In der Tat wurde im Jahre 1846 im Verfassungsrat der Antrag gestellt und von verschiedenen Seiten verfochten, es möchte das Requisit der Rechtskundigkeit bezüglich der Gerichtspräsidenten und Oberrichter gestrichen werden. Der Verfassungsrat hat jedoch mit großem Mehr beschlossen, es solle bei der bisherigen Bestimmung verbleiben, mit ändern Worten, das Requisit der Rechtskundigkeit solle aufrecht erhalten werden. Im Jahre 1893, bei Anlaß der Beratung der gegenwärtigen Verfassung, ist die Frage von keiner Seite aufgegriffen worden, und infolgedessen ist die Bestimmung, wonach von den Gerichtspräsidenten und Oberrichtern Rechtskundigkeit verlangt wird, ohne Opposition und ohne Diskussion in die neue Verfassung übergegangen. Das Obergericht kommt mit Rücksicht darauf, daß im Jahre 1846 der Antrag gestellt wurde, die Rechtskundigkeit zu streichen,

96 zum Schluß, es gehe nicht an, das Requisit der Reohtskundigkeit nun so auszulegen, daß nur patentierte Juristen als Gerichtspräsidenten wählbar seien. Es könne infolgedessen nicht angenommen werden, daß Senften ein verfassungswidriger Richter sei, denn es gehe nicht an, einem gewählten Richter von vornherein das Attribut der Rechtskundigkeit abzusprechen, man müsse den Mann zuerst an der Arbeit sehen und erst, wenn er sich nicht als tüchtig erweise, könne auf dem Wege der Abberufung Remedur geschafft werden.

Die Regierung des Kantons Bern kam der Einladung des Großen Rates, um Einbringung eines Berichtes, am 11. Januar 1902 nach. Sie beantragte, es sei die gegen die Gerichtspräsidentenwahl des Amtsbezirkes Obersimmental vom 22. September 1901 eingereichte Beschwerde als begründet zu erklären und demgemäß die getroffene Wahl zu kassieren.

Sie spricht sich in ihrem Berichte folgendermaßen aus : Will man vorerst die Bestimmung des Art. 59 der Verfassung, wonach die Gerichtspräsidenten rechtskundige Männer sein sollen, auf rechtshistorischem Wege zu interpretieren versuchen, so wird es sich vor allem empfehlen, auf diejenigen Äußerungen und Anträge zurückzugreifen, welche anläßlich der Aufnahme dieser Bestimmung in die Verfassung von 1831 fielen, denn dieselbe fand Aufnahme in der Verfassung von 1846, trotzdem der Antrag auf Streichung des Erfordernisses der Rechtskundigkeit gestellt und mehrfach verfochten worden war, und in die Verfassung von 1893 ging sie ohne Opposition und Diskussion über.

Die Erörterung des Requisits der Rechtskundigkeit war allerdings in dem Verfassungsrate von 1831 keine umfangreiche und das Protokoll hierüber lautet sehr summarisch. Der Verfassungsentwurf verlangte sowohl von den Oberrichtern als auch von den Gerichtspräsidenten, daß sie rechtskundige Männer seien.

Gegenüber diesem Verlangen scheint sich in der Verfassungskommission eine abweichende Meinung nicht geltend gemacht zu haben. ,,Ein Mitglied stellt -- so wörtlich das Protokoll -- die Wichtigkeit vor, daß der Präsident der Amtsgerichte ein Rechtsgelehrter sei, aber wünscht, daß er älter sei als 25 Jahre. Es verlangt für ihn das vollendete 29. Jahr.a ,,Der Präsident, fährt, es fort, müsse freilich frei unter allen Bürgern gewählt werden, hingegen sollten die Amtsrichter aus dem Amte genommen werd.en, da sie nicht Reehtsgelehrte sein müssen."· Nach Schluß der Dis-

97 kussion wurde sodann einstimmig erkennt, daß der Präsident des Gerichts ein rechtskundiger Mann sein und sein 29. Jahr vollendet haben solle und daß er aus dem ganzen Kanton genommen werden könne.

Bezüglich der Oberrichter meinte ein Verfassungsrat, die Zahl sei nicht wichtig, wichtig sei aber, daß die Mitglieder Rechtskenntnisse besitzen. 10 juridisch gebildete Männer leisten mehr als 30 ungebildete.

Eine Petition von Frutigen (vgl. Tagblatt pag. 427) wollte sogar die Anforderung stellen, daß sie sich über ihre Rechtskenntnisse auswiesen. Wenn auch dieser Anregung keine Folge gegeben wurde, so wurde doch wenigstens im Berichte hervorgehoben, daß in dem Erfordernis der Rechtskundigkeit die wichtigste Bedingung einer guten Rechtspflege liege (ibidem). Ein Mitglied des Verfassungsrates wünschte, daß das Wort Rechtskunde mit dem Wort ,,erprobt11 verstärkt werde. Der Schlußbericht bemerkt zusammenfassend folgendes: ,,Unter Rechtskunde wird auch eine solche verstanden, welche nicht durch Studien, sondern durch lange Erfahrung erworben worden ist. Das Gesetz wird das Beding der Rechtskunde näher bestimmen. Das Wort ,,erprobt"1 kann ohne Anstand beigefügt werden. Dieser Artikel, sowie alle folgenden sind so abgefaßt, daß sie für die nächste Zukunft genügen und später alle möglichen Verbesserungen des Gerichtswesens zulassen.tt Hieraus geht hervor, daß man sich in der vorwürfigen Frage im Jahre 1831 namentlich von zwei unbestreitbar richtigen Prinzipien leiten ließ.

Einmal verlangte man, daß die Rechtskundigkeit entweder durch Studien (und darunter können wohl nur regelmäßige Rechtsstudien verstanden werden) oder aber durch lange Erfahrung erworben werde. Beide Erfordernisse stellen einen mindestens kontrollierbaren Ausweis über die Befähigung zum Richteramte dar.

In zweiter Linie zog man vor allem die damaligen Verhältnisse in Betracht. Man wollte eine Bestimmung in die Verfassung aufnehmen, welche es erlaubte, die vorhandenen Volksrichter, soweit sie tüchtig waren und lange Erfahrung aufwiesen, beizubehalten. Man war sich dabei wohl bewußt, daß man mit Rücksicht auf die damaligen Studienverhältnisse nicht auf einmal einen bedeutend strengern Maßstab annehmen dürfe, daß dies aber mit der Zeit doch nötig werde. Deshalb sagt der zitierte Schlußbericht auch, daß die Bestimmung so abgefaßt sei, daß sie

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für die nächste Zukunft genüge und später alle möglichen Verbesserungen des Gerichts zulasse. Man wollte somit einen dehnbaren Begriff schaffen, der sich den veränderten und erhöhten Bedürfnissen späterer Epochen anpassen ließ.

Im gleichen Sinne äußert sich auch Dr. Rud. Wyß in seinen ,,Ansichten über das Verfassungswerka (abgedruckt im Tagblatt des Verfassungsrates, speziell pag. 433): ,,Was unter rechtskundigen Männern zu verstehen sei, wird das Gesetz bestimmen müssen. Diese Vorschrift ist von höchster Wichtigkeit. Da es nicht schicklich sein kann, einen Kandidaten für ein Obergericht einer Prüfung zu unterwerfen, so muß schon diese Bedingung dahin führen, daß für angehende Staatsmänner ein Studiengang; ein Examen und eine Kandidatur wie für Theologen, Advokaten und Mediziner wird vorgeschrieben werden müssen, damit dann nur sojche zu Oberrichtern gewählt werden, welche früher entweder das Staats- oder das Advokatenpraktikantenexamen abgelegt haben. Bis zu der Epoche, in welcher dann diese Norm geltend gemacht werden kann, z. B. in 10 bis 15 Jahren, können frühere Richter für rechtskundig erklärt werden.a Aber auch die vom Obergericht zitierten Votanten aus dem Verfassungsrat von 1846 stellen nicht in Abrede, daß irgend eine Garantie für die Rechtskundigkeit der zu Wählenden geboten sein müsse.

Eine gesetzliche Regelung der Frage erfolgte nicht. Dies ist wohl nicht nur den Schwierigkeiten zuzuschreiben, welche eine derartige Regelung geboten hätte, sondern in noch höherm Maße dem Umstände., daß man annahm, und nach dem Sinn der Bestimmung auch annehmen durfte, daß die Fassung des Artikels zur Wahrung der Interessen der Rechtspflege im einzelnen Falle eine genügende Handhabe abgab. Die Staatsverfassung sah denn auch ein solches Ausführungsgesetz nie vor.

Was nun die Auslegung des Art. 59 selbst betrifft, so geht die hierseitige Behörde mit dem Obergerichte darin durchaus einig, daß das Erfordernis der Rechtskundigkeit nicht nur dann als erfüllt erachtet werden muß, wenn sich der Kandidat durch ein Patent oder ein Prüfungszeugnis über ein genügendes Rechtsstudium ausweist, auch sie ist vielmehr der Ansicht, daß man sich durch Selbststudium in Verbindung mit langjähriger praktischer Erfahrung diejenigen Fähigkeiten erwerben kann, welche den rechtskundigen Mann ausmachen.

99 Dagegen kann und muß wohl verlangt werden, daß bei dem in Frage kommenden Kandidaten irgend ein I n d i z dafür vorhanden sei, daß er die verfassungsmäßig geforderten Eigenschaften auch wirklich besitzt. Dies wird z. B. dann der Fall sein, wenn er, obgleich ein Laie, in der Jurisprudenz durch irgend eine mehrjährige juristische Tätigkeit, als Amts- oder Friedensrichter, als Aktuar oder dergleichen bewiesen hat, daß er wirklich in der Anwendung der Gesetze (denn dies bedeutet offenbar das Beiwort rechtskundig) vertraut sei. Auf seine bloße Versicherung, er sei Autodidakt, darf dabei nicht abgestellt werden, da dies eine Erwahrung seiner Behauptung, er sei rechtskundig, nicht bildet, besonders wenn (wie im konkreten Fall) seine bisherige Tätigkeit nicht dafür spricht.

Es kommt also in unserm Falle gar nicht, wie das Obergericht glaubt, in erster Linie auf eine Interpretation des Wortes ,,rechtskundig"1 an, sondern darauf, daß ein Beweis für das Vorhandensein der in Art. 59 geforderten Requisiten (mag man sie nun so hoch oder so niedrig schrauben als man will) wirklich erbracht worden sei. Dies ist offenbar in vorliegendem Falle nicht geschehen, behauptet denn auch der Gewählte selbst nicht, daß er ein rechtskundiger Mann im Sinne der Verfassung sei.

Daraus, daß auch in ändern Amtsbezirken Laienrichter als Gerichtspräsidenten funktionieren, kann unseres Erachtens für die vorliegende Frage gar kein Schluß gezogen werden. Der Große Rat kann nur dann fiir die Wahrung der Verfassungsvorschriften in dieser Beziehung eintreten, wenn er auf dem Beschwerdewege darum angegangen wird. Dies war bei den angeführten Wahlen nicht der Fall, deshalb konnte auch dort eine diesbezügliche Untersuchung nicht angehoben werden.

Da es aber hier geschehen ist, hat der Große Rat offenbar die Pflicht, dem Willen der Verfassung Nachdruck zu verschaffen.

Wir möchten aber auch die an den Gerichtspräsidenten zu stellenden Anforderungen nicht allzu niedrig bemessen. Die Aufgabe desselben ist durch die Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte bedeutend erweitert und namentlich erschwert worden. Die modernen Verhältnisse machen die dem Gerichtspräsidenten obliegende Prozeßinstruktion im ordentlichen Verfahren bedeutend schwieriger, der kompliziertere Handel und Wandel vermehrt die Schwierigkeiten, welche die Entscheidung von Bagatellsachen bietet, und endlich haben die neuern eidgenössischen Gesetze, wie das Betreibungsgesetz, die Haftpflichtgesetze, dem Gerichts-

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Präsidenten, sei es als Einzelrichter, sei es als Vorsitzender des Amtsgerichts, neue Aufgaben gebracht, welche an seine juristischen Fähigkeiten, an sein Vermögen, juristische Begriffe zu erfassen, sehr hohe Anforderungen stellen. Zugleich aber sind die von ihm zu entscheidenden Prozesse nicht nur die zahlreichsten, sondern sie schneiden auch am tiefsten ins Volksleben ein.

Es ist deshalb die Pflicht der obern Behörden, nur solche Richter ins Amt eintreten zu lassen, welche bereits in irgend einer Weise bewiesen haben, daß sie jenen juristischen Schwierigkeiten gewachsen sein werden. Wenn die Verfassung rechtskundige Männer verlangt, so geht es nicht an, rechtsunkundige Richter in Funktion treten zu lassen.

Jedenfalls ist es besser und wird auch im Lande weniger böses Blut machen, wenn man bei der Wahl einen etwas strengern Maßstab anlegt, als wenn man später von dem Rechte der Abberufung Gebrauch macht.

Sollte die Beschwerde als unbegründet abgewiesen werden, so würde damit erklärt, daß auch Männer ohne juridische Kenntnisse ins Obergericht gewählt werden können, indem die Verfassung Oberrichter und Gerichtspräsidenten bezüglich des Requisits der Rechtskundigkeit gleich behandelt.

Im gleichen Sinne wie der bernische Regierungsrat hat sich die vom Großen Rat bestellte Spezialkommission für die Begründeterklärung der Beschwerde und die Kassation der Gerichtspräsidentenwahl Senftens ausgesprochen.

Der Große Rat des Kantons Bern hat hierauf am 27. Januar 1902 die Kassation der Gerichtspräsidenten wähl mit 115 gegen 12 Stimmen ausgesprochen.

Senften wurde unterm 29. Januar 1902 durch das Regierungsstatthalteramt Obersimmental von der Kassation Kenntnis gegeben.

IV.

Gegen den Kassationsbeschluß des Großen Rates des Kantons Bern hat Gottfried Senften mit Eingabe vom 27./29. März 1902 beim Bundesrat die staatsrechtliche Beschwerde erhoben und das Rechtsbegehren auf Aufhebung desselben und Anerkennung seiner Wahl zum Gerichtspräsidenten von Obersimmental gestellt.

Zur Begründung bringt er folgendes vor :

101 Durch den Kassationsbeschluß des Großen Rates werden sowohl Grundsätze der Verfassung des Kantons Bern als auch der Eidgenossenschaft verletzt. Der in Frage kommende Art. 59 der bernischen Staatsverfassung verlangt,' daß die Präsidenten der Amtsgerichte ,,rechtskundige" Männer seien. Weder in der Verfassung selbst noch in den seither erlassenen Gesetzen ist festgestellt, was unter diesem Begriff zu verstehen sei, resp. welche Bedingungen eine Person erfüllen muß, um die Qualifikation ,,rechtskundig" beanspruchen zu können. Die Bedeutung dieses Wortes muß also aus dem Sinn und Geist der Verfassung heraus interpretiert werden. Die Regierung und die großrätliche Kommission einerseits und das bernische Obergericht anderseits sind nun darin einig, daß unter rechtskundigen Männern nicht nur Berufsjuristen, d. h. Personen, die ein Anwalts- oder Notariatspatent besitzen, zu verstehen seien. .Die Regierung behauptet aber ferner, daß die Person, die für eine Gerichtspräsidentenwahl in Frage kommen wolle, den Beweis ihrer Rechtskundigkeit erbringen müsse, und dies könne allein geschehen durch den Nachweis von absolvierten Rechtsstudien oder durch den Nachweis langjähriger Tätigkeit in einer ändern richterlichen Stellung oder als Angestellter bei einem Gericht. Das Obergericht dagegen .nimmt an, daß bei einer durch das Volk getroffenen Neuwahl dem Gewählten von vorneherein die Befähigung zur Wahl eines Gerichtspräsidenten auf Grund mangelnder Rechtskenntnis nicht abgesprochen werden könne, da ein sicheres Urteil hierüber nicht möglich sei, bevor man den Betreffenden nicht selbst an der Arbeit gesehen habe.

Die Ansicht der Regierung und der großrätlichen Kommission verletzt nun die Verfassung in mehreren Beziehungen.

Das Verlangen der Regierung, der Kandidat für eine Gerichtspräsidenterlstelle müsse eine Lehrzeit in irgend einer Stellung an einem Gerichte durchgemacht haben, ist ein rein willkürliches, denn dies bildet keine Garantie, daß ein solcher Kandidat dann auch wirklich das Amt zu erfüllen im stände sei. An fast alle bei den bernischen Gerichten zu besetzenden Stellen, wie diejenige des Amtsrichters, des Friedensrichters, des Betreibuhgsbeamten etc. kann jeder ehvenfähige Bürger gewählt werden, ohne daß er vorher irgend welche Rechtskenntnis zu besitzen braucht. Durch die bloße Tatsache, daß er
ein solches Amt ein Jahr oder mehrere Jahre hindurch ausgeübt hat, wird er nicht rechtskundig. Ferner existieren keine Vorschriften, welche die Regierung oder den Großen Rat ermächtigen, diese oder ähnliche

102 Ausweise von einem Kandidaten zu verlangen ; gleich verhält es sich auch mit der von der Regierung dem Rekurrenten vorgeschlagenen Prüfung.

Auf der ändern Seite steht fest und wird wohl auch kaum bestritten werden, daß die Wähler, die mit dem Kandidaten zusammen leben, ihn im täglichen Verkehre sehen und seine Anschauungen und Kenntnisse prüfen können, allein in der Lage sind, seine Eignung zum Amt eines Gerichtspräsidenten festzustellen. Wenn deshalb eine Wahlversammlung einen Nichtjuristen vorschlägt, so geschieht dies wohl nur dann, wenn die Wähler durch den täglichen Verkehr mit dem Kandidaten die Überzeugung gewonnen haben, diese Person besitze die Anlagen .und Kenntnisse, die das Amt von ihm verlange. Mit ändern Worten, es liegt im Vorschlag allein schon und noch vielmehr in der darauf folgenden Wahl die Überzeugung der Wählerschaft ausgedrückt, daß der Vorgeschlagene rechtskundig sei und sich für das Amt eines Gerichtspräsidenten eigne. Der Regierungsrat und der Große Rat des Kantons Bern sind daher nicht in der Lage, die Eignung des Gewählten zu beurteilen, da sie denselben nicht kennen und ein gesetzlicher Maßstab für eine Prüfung der Rechtskundigkeit fehlt.

Die dem Kassationsbeschluß des Großen Rates vom 27. Januar 1902 zu Grunde gelegte Auslegung des Art. 59 der bernischen Staatsverfassung widerspricht aber auch im fernem der bisherigen, durch die Regierung und den Großen Rat der fraglichen Bestimmung gegebenen Auslegung. Der Große Rat, der von 1846 bis 1893 selbst Wahlbehörde war, hat in dieser Periode auf seinen Wahlvorschlägen Personen zugelassen und sogar als Gerichtspräsidenten gewählt, die sich nicht nach der dem Kassationsbeschluß vom 27. Januar 1902 zu Grunde gelegten Auffassung des Art. 59 der Berner Verfassung als rechtskundig ausweisen konnten. So wird in der Sitzung des Großen Rates vom 23. November 1870 als Erstvorgeschlagener für die Wahl eines Gerichtspräsidenten zugelassen ein Karl Zülli, Handelsmann, in Erlach, und in der Sitzung vom 21. November 1872 wird die gleiche Person zum Gerichtspräsidenten gewählt; in der Sitzung vom 2. Dezember 1874 wird ein Gottfried Zumbrunn zum Gerichtspräsidenten von Niedersimmental gewählt; in der Sitzung vom 23. November 1876 wird auf dem Vorschlag für die Gerichtspräsidentenwahl von Laufen A. Hardmeier, Landwirt, genannt; in der Sitzung vom 7. April 1886 wird Gabriel von Grünigen als Gerichtspräsident von Saanen gewählt; in der Sitzung vom

103 16. April 1890 wird Großrat Nägeli von Meiringen als Gerichtspräsident von Oberhasli gewählt.

Alles das sind nur Beispiele; durch die Zulassung solcher Vorschläge aber und die darauffolgenden Wahlen hat der Große Rat bekundet, daß er die genannten Personen als rechtskundig im Sinne der Verfassung betrachte.

Auch seit der neuen Verfassung vom 4. Juni 1893 sind Personen zu Gerichtspräsidenten gewählt worden, welche die von der Regierung und dem Großen Rate geforderten Requisite in keiner Weise besaßen. Es kann diesbezüglich auf die Ausführungen des bernischen Justizdirektors als Berichterstatter des Regierungsrates an den Großen Rat verwiesen werden, wo mitgeteilt wurde, daß im Amte Laupen ein Nichtjurist als Gerichtspräsident amte, und daß im Oberland gegenwärtig drei Gerichtspräsidenten tätig seien, die beim Antritt ihres Amtes, soviel der Regierung bekannt, keine juristischen Kenntnisse besaßen ; es sind dies die Gerichtspräsidenten von Saanen, Niedersimmental und Oberhasli. Der Berichterstatter der Regierung und der Kommission behauptet nun zwar, es können diese Wahlen nicht als Präjudiz in Betracht fallen, da dieselben mangels einer Beschwerde dem Großen Rat zur Überprüfung nicht vorgelegen haben. Allein dieser Einwand ist unrichtig. Es ist die Pflicht der Regierung, über die Innehaltung der Verfassung zu wachen ; wenn also zur Zeit der fraglichen Wahlen die Regierung den gleichen Maßstab an die betreffenden, zu Gerichtspräsidenten gewählten Personen gestellt hätte, wie jetzt bei der Wahl des Rekurrenten, so hätte sie auch diese Wahlen als verfassungswidrig bezeichnen müssen, und wäre es dann ihre Pflicht gewesen, von Amtes wegen gegen dieselben beim Großen Rate Beschwerde zu erheben.

Aus allen diesen Beispielen ergibt sich, daß bei der Prüfung des Vorhandenseins des Requisites der Rechtskundigkeit bis jetzt noch nie ein so strenger Maßstab von der Regierung oder dem Großen Rate angelegt worden ist. Es ist denn auch in den 70 , Jahren, während deren diese Verfassungsbestimmung in Kraft ist, niemals vorgekommen, daß ein Richter wegen Mangels an Rechtskundigkeit nicht bestätigt worden wäre. Der Kassationsbeschluß des Großen Rates vom 27. Januar 1902 bedeutet also eine ungleiche Behandlung der Bürger, durch welche sowohl Art. 72 der bernischen Kantonsverfassung als auch Art. 4 der Bundesverfassung verletzt werden.

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Da es fraglich ist, ob vorstehender Rekurs als eine Beschwerde betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen aufzufassen sei oder nicht vielmehr als eine Beschwerde betreffend Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger, ob also gemäß Art. 189 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 der Bundesrat oder aber gemäß Art. 175 1. c. das Bundesgericht zur Beurteilung dieser Beschwerde kompetent sei, so hat der Rekurrent gegen den Kassationsbeschluß des Großen Rates des Kantons Bern auch beim Bundesgerichte einen staatsrechtlichen Rekurs eingereicht.

Dem Rekurs des G. Senften und dem darin gestellten Begehren schlössen sich mit Erklärung vom 27. März 1902 an: R. Senften, Gemeinderatspräsident, W. Marggi, Friedensrichter, Gottfr. Tritten, Gemeindepräsident und Joh. Riedler, Amtsrichter.

V.

Gestützt auf die Mitteilung des Beschwerdeführers, wonach derselbe die Beschwerde auch beim Bundesgericht eingereicht habe, ersuchte der ßundesrat mit Schreiben vom 4. April 1902, gemäß der Bestimmung von Art. 194, Alinea l, des Organisationsgesetzes, das Bundesgericht, sich über die Kompetenzfrage äußern zu wollen. Der Bundesrat vertrat in seinem Schreiben die Ansicht, daß er auf Grund von Art. 189, Absatz 3, des Organisationsgesetzes für die Entscheidung der Beschwerde kompetent sei ; die Kassation sei aus dem Grunde erfolgt, daß Senften dem Erfordernis des Art. 59 der bernischen Staatsverfassung nicht Genüge leiste, wonach die Gerichtspräsidenten der Amtsbezirke rechtskundige Männer sein müssen ; es sei somit die passive Wahlfähigkeit eines Bürgers bestritten, und es stehe die Gültigkeit einer kantonalen Wahl in Frage.

Durch Urteil vom 16. April 1902 beschloß das Bundesgericht auf den bei ihm eingereichten Rekurs des Gottfried Senften wegen Inkompetenz nicht einzutreten, gestützt auf folgende Erwägungen : ,,In seinem Entscheide in Sachen Huber hat das Bundesgericht ausgeführt, daß Beschwerden betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen nach Art. 189, Absatz 3, des Organisationsgesetzes auch dann in die Kompetenz der politischen Bundesbehörden fallen, wenn es sich dabei um die passive Wahlfähigkeit handelt (A. S. XXIII, 584, Erw. 3). Hieran ist festzu-

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halten, um so mehr, als der Bundesrat sich in jenem Falle der Auffassung des Bundesgerichts angeschlossen hat und auch im vorliegenden Falle sich auf den nämlichen Standpunkt stellt."· VI.

Vom Bundesrat zur Vernehmlassung auf die Beschwerde eingeladen, beantragte der Regierungsrat des Kantons Bern durch Schreiben vom 24./2S. April 1902: 1. es sei auf den Rekurs des Gottfried Senften nicht einzutreten ; 2. eventuell, es sei der Rekurs als unbegründet abzuweisen.

Die Ausführungen des Regierungsrates gehen dahin : 1. Durch gemeinsamen Beschluß des Bundesrates und des Bundesgerichtes ist erkannt worden, daß der Bundesrat sich mit der Behandlung des Rekurses zu befassen habe.

Durch diesen Beschluß ist aber die Frage durchaus nicht präjudiziert worden, ob materiell der Bundesrat zur Beurteilung des vorliegenden Rekurses überhaupt zuständig sei oder nicht.

Wir halten dafür, daß dies nicht der Fall sei, und zwar aus folgenden Gründen : Der Große Rat des Kantons Bern hat die Wahl des Gottfried Senften zum Gerichtspräsidenten des Amtsbezirks OberSimmental a°uf ergangene Beschwerde hin kassiert, weil er dafür hielt, daß dem Lehrer Senften diejenigen Eigenschaften abgehen, welche nach den Vorschriften der bernischen Verfassung ein Bürger besitzen muß, um als Präsident des Amtsgerichts wählbar zu sein. Der Große Rat hat also mit ändern Worten dem Gottfried Senften die p a s s i v e W a h l f ä h i g k e i t zum Gerichtspräsidenten abgesprochen.

Der Bundesrat hat es schon früher jeweilen abgelehnt, über die Frage der passiven Wahlfähigkeit zu urteilen, indem er mit Recht annahm, daß ihm hierzu die gesetzliche Kompetenz fehle.

Wir verweisen in dieser Beziehung auf den Entscheid des Bundesrates vom 12. März 1877, in Sachen der Gemeinde Arni-Islisberg gegen den Regierungsrat des Kantons Aargau (Jahrgang 1878 des Bundesbl., II, 495 ff.) sowie auf den Entscheid vom 14. März 1877 (Jahrgang 1878 des Bundesbl., II, 495), vergi, dazu auch von Salis, Schweizerisches Bundesrecht, II, Nr. 780.

Es muß dabei allerdings bemerkt werden, daß diese Entscheidungen noch unter der Herrschaft des Organisationsgesetzes

106 vom 27. Juni 1874 gefällt wurden. Art. 59, Ziffer 9, dieses Gesetzes besagt, daß dem Entscheide des Bundesrates beziehungsweise der Bundesversammlung unterstellt seien : B e s c h w e r d e n gegen die G ü l t i g k e i t k a n t o n a l e r Wahlen und Abs t i m m u n g e n . Das neue Organisationsgesetz hat einen etwas ändern Wortlaut, indem es dort in Art. 189 heißt : ,,Im fernem ,,hat der ßundesrat oder die Bundesversammlung zu beurteilen : ,,Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der ,,Bürger u n d b e t r e f f e n d k a n t o n a l e W a h l e n u n d A b ,, s t i m m u n g e n auf Grund sämtlicher einschlägiger Bestirn,,mungen des kantonalen Verfassungsrechtes und des Bundes,,rechtes."

Der Ausdruck ,,Beschwerden betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen"1, welchen das Organisationsgesetz vom 22. März 1893 braucht, ist an sich nicht weiter gefaßt, als der Ausdruck ,,Beschwerden gegen die G ü l t i g k e i t k a n t o n a l e r W a h l e n und A b s t i m m u n g e n a, wie er im frühern Organisationsgesetz stand. Es ist in dieser Beziehung darauf hinzuweisen, daß noch im Entwurf des Justizdepartements zum Gesetz von 1893 (Art. 115, Ziff. 7), sowie auch in den zugehörigen Motiven von Bundesrichter H a f n e r (pag. 154) nach wie vor von Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen die Rede ist.

Die jetzige Fassung des Gesetzes Jist somit nichts anderes als eine redaktionelle Änderung. Daß man eine Erweiterung der bundesrätlichen Kompetenz in dieser Beziehung nicht bezweckte, ergibt sich auch noch aus folgender Überlegung: Hätte man nämlich im Gesetz von 1893 der Kognition des Bundesrates auch Beschwerden betreffend die passive Wahlfähigkeit der Bürger unterstellen wollen, so hätte es nahe gelegen, daß man sie auch äußerlich den Beschwerden betreffend die p o l i t i s c h e S t i m m b e r e c h t i g u n g d e r B ü r g e r gegenübergestellt hätte. Das hat man aber absichtlich nicht getan, weil man der Entscheidung des Bundesrates nur die Einwände gegen V o r g ä n g e bei kantonalen Wahlen und Abstimmungen unterwerfen wollte, die dem Bundesrecht oder dem kantonalen Verfassungsrecht widersprechen. Damit steht aber die Frage der passiven Wahlfähigkeit in keinem direkten Zusammenhang; denn die Entscheidung der kantonalen Behörden darüber kann zwar,
wie im vorliegenden Falle, auf das Resultat, nicht aber auf den gesetzmäßigen Gang der Wahlen ihren Einfluß ausüben. Wollte man aber den Bundesrat auch zur Entscheidung der Frage der passiven Wahl-

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fähigkeit als zuständig erklären, so müßte er es logischerweise auch dann sein, wenn sich die Frage lange nach der Wahl, z. ß.

anläßlich des vom Obergericht eventuell in Aussicht genommenen Abberufungsverfahrens erhöbe. Dies würde aber dem Sinne und Geist des Art. 189 0. G. widersprechen. -- Aus dieser Überlegung ergibt es sich wohl am besten, daß die Frage der passiven Wahlfähigkeit direkt außerhalb der durch Art. 189 0. G.

geregelten Materie steht.

Der Rekurrent Senften hat aber auch nicht behaupten können, daß der Große Rat des Kantons Bern mit seinem Kassationsbeschluß einer Vorschrift der Verfassung zuwidergehandelt habe, daß somit der Kassationsbeschluß an sich auf verfassungswidrige Weise zu stände gekommen sei, sondern er hat sich bloß darüber beklagt, daß eine wirklich bestehende Verfassungsbestimmung strenger interpretiert worden sei, als er es für richtig halte. Er bestreitet also an sich dem Großen Rate das Recht nicht, in Fällen, wo den Erfordernissen des Art. 59 der Verfassung nicht genügt sei, eine Gerichtspräsidentenwahl zu kassieren; er bezeichnet es nicht einmal als verfassungswidrig, daß der Große Rat diese Verfassungsbestimmung anläßlich einer Wahl überhaupt zu interpretieren habe, sondern behauptet ein/ig und allein, die tatsächlich gegebene Interpretation sei nicht richtig.

Eine derartige Interpretation der Verfassung liegt aber unstreitig in der Kompetenz der kantonalen gesetzgebenden Behörde.

Wenn sie also hiervon Gebrauch macht, so verletzt sie keine Verfassungsbestimmung, welche auf Wahlen und Abstimmungen Bezug hat. Der Bundesrat ist somit zur Beurteilung eines Rekurses, welcher sich gegen eine derartige Verfügung richtet,. nicht kompetent.

Der Rekurrent scheint dies selbst gefühlt zu haben, indem er sich veranlaßt sah, ausdrücklich noch auf Art. 72 der Kantonsverfassung und auf Art. 4 der Bundesverfassung abzustellen und zu behaupten, es sei ihm gegenüber das Gebot der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. verletzt worden. Diese Bestimmungen sind aber nicht e i n s c h l ä g i g e Bestimmungen im Sinne des Organisationsgesetzes ; der Bundesrat ist also zur Entscheidung nicht kompetent.

Selbstverständlich aber ist, daß sich nicht jemand anders als Senften selbst darüber beklagen kann, daß ihm die passive Wahlfähigkeit abgesprochen wurde.

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2. Den Tatbestand des Falles hat der Rekurrent im allgemeinen richtig wiedergegeben.

Für den Fall also, daß der Bundesrat auf den Rekurs überhaupt eintreten wird, wird er einfach eine Überprüfung der Interpretation vornehmen müssen, welche der Große Rat anläßlich der Kassation der Wahl Senften dem Art. 59 der bernischen Staatsverfassung gegeben hat, sowie derjenigen, welche ihm der Rekurrent gibt.

Die Meinung des Rekurrenten vom Inhalt der genannten Verfassungsbestimmung kann kurz dahin zusammengefaßt werden, daß der zum Gerichtspräsidenten zu Wählende zwar ein rechtskundiger Mann sein soll, daß aber, sobald er einmal vom Volke gewählt sei, seine Rechtskundigkeit vermutet werden müsse und daß alsdann in dieser Hinsicht eine Überprüfung überhaupt nicht mehr vorgenommen werden dürfe. Ist diese ,,prsesumptio juris et de jure" der Rechtskundigkeit des vom Volke gewählten Gerichtspräsidenten richtig, so ist auch ohne weiteres klar, daß der Vorschrift des Art. 59 eine praktische Bedeutung nicht zukommt.

Wie ' in der Rekursschrift richtig bemerkt wird, fand sich die Vorschrift, daß die Präsidenten des Amtsgerichtes rechtskundige Männer sein sollten, schon in den Verfassungen von 1831 und 1846. Anläßlich der Beratung der Verfassung von 1831 wurde aus Volkskreisen die Petition an den Verfassungsrat gerichtet, die zu Gerichtspräsidenten zu Wählenden sollen dazu angehalten werden, sich über ihre Rechtskenntnisse auszuweisen (vgl. Tagblatt des Verfassungsrates p. 427). Man ging aber dann nicht so weit, indem man vor allem den damals bestehenden Verhältnissen Rechnung tragen wollte. Einesteils nämlich besaß man zur Zeit der Aufstellung der Verfassung eine große Anzahl von Richtern, welche sich durch keine Examina über ihre Rechtskenntnisse ausgewiesen hatten ; andererseits war mit Rücksicht auf die damaligen Studienverhältnisse die Zahl der studierten Juristen eine relativ sehr kle.ine.

Auf jeden Fall aber war man entschlossen, bezüglich der Rechtskundigkeit der Präsidenten der Amtsgerichte eine Garantie zu verlangen, indem, wie sich ein Mitglied des Verfassungsrates ausdrückte, dieses Erfordernis die wichtigste Bedingung einer guten Rechtspflege sei ; diese Garantien sollten entweder in einem wirklich akademischen Rechtsstudium, oder aber jn einer praktischen Erfahrung im Rechtswesen bestehen. Der Schlußbericht

109 über die Beratung des Artikels lautet : ,,Unter Rechtskunde wird ,,auch eine solche verstanden, welche nicht durch Studien, son,,dern durch lange Erfahrung erworben worden ist. Das Gesetz, ,,wird das Beding der Rechtskunde näher bestimmen. Das Wort ,, e r p r o b t kann ohne Anstand beigefügt werden. Dieser Artikel, ,,sowie die folgenden, sind so abgefaßt, daß sie für die nächste ,,Zukunft und später alle möglichen Verbesserungen des Gerichts,,wesens zulassen.a Diese Tendenz des Verfassungsrates von 1831 besitzt deshalb für die rechtshistorische Auslegung des Art. 59 K. V.

grundlegende Bedeutung, weil dort überhaupt sein Ursprung zu suchen ist.

Im Verfassungsrate von 1846, wo man auf die Advokaten und überhaupt auf die ,,zünftige'1 Jurisprudenz nicht gut zu sprechen war, wurde die Bestimmung, trotzdem sie mannigfache Anfechtung erlitt, wiederum aufgenommen und ging dann ohne weitere Diskussion in die jetzige Verfassung über.

Aus dieser kurzen rechtsgeschichtlichen Betrachtung geht hervor, daß man dem Requisit der Rechtskundigkeit in Art. 59 der Verfassung von jeher eine ganz bestimmte praktische Bedeutung beimaß. Deshalb geht es auch nicht an, dasselbe zu einem leeren Wortbegriff herabsinken zu lassen. Und wenn auch weder der Große Rat noch der Regierungsrat jemals verlangt haben, daß die Gerichtspräsidenten Berufsjuristen seien, so muß doch von den Kandidaten für eine Gerichtspräsidentenstelle gefordert werden, daß sie sich über irgend eine Tätigkeit ausweisen, welche den Schluß zuläßt, daß sie wirklich das Recht kennen.

Wenn der Regiernngsrat den Rekurrenten anfragte, ob er sich eventuell einer Prüfung unterziehen würde, so war dies nur ein Entgegenkommen, weil der Rekurrent in einer Antwort auf die Kassationsbeschwerde auf eine Prüfung angespielt hatte.

Wenn aber die Rekurrenten behaupten, daß schon die Wahl eines Bürgers zum Gerichtspräsidenten bekunde, daß seine Mitbürger ihn für rechtskundig halten, so kann dies nicht ernst genommen werden. Denn wenn auch der Gewählte längere Zeit unter ihnen lebte, so fehlt ihnen selbst die nötige Erfahrung, um ·beurteilen zu können, ob ihre Vermutung richtig sei oder nicht.

Von noch zweifelhafterem Werte aber ist die Behauptung, welche der Rekurrent dem Berichte des Obergerichtes entnimmt, daß es sich nämlich in der richterlichen Praxis des Gewählten Bundesblatt. 54. Jahrg. Bd. IV.

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no selbst zeigen würde, ob er seinem Amte gewachsen sei oder nicht, und daß man dann noch immer die Wahl habe, ihn abberufen zu lassen. Es ist zu bedenken, daß man mit dieser Maxime die Interessen einer ganzen Anzahl von Rechtsuchenden einer Gefahr aussetzen würde. Es würden aber unter diesem Zustand nicht nur die Wähler selbst, welche diese Persönlichkeit zum Richter haben wollten, leiden, sondern auch eine ganze Anzahl anderer Leute, welche ein verfassungsmäßiges Recht darauf haben, daß ihre streitigen Rechtsverhältnisse von einem Richter beurteilt werden, welcher seinem Beruf gewachsen ist.

Die Verfassung macht in Art. 26, Ziffer 7, dem Großen Rate die Oberaufsicht über die Staatsverwaltung, wozu natürlich auch die Gerichtsbarkeit gehört, zur Pflicht. Er ist dem Volke hierfür verantwortlich und hat somit auch dafür zu sorgen, daß die Staatsverwaltung durch Beamte ausgeübt wird, die zu einer richtigen Ausübung befähigt sind.

Es geht nun aus der ganzen Aktenlage hervor, daß Senften zwar Lehrerbildung und einen militärischen Grad besitzt; diese beiden Eigenschaften aber bieten keine Garantie dafür, daß er, wie er behauptet, Rechtskenntnisse durch Selbststudium erworben hat und wirklich besitzt. Die gegen seine Wahl eingereichte Kassationsbeschwerde beweist deutlich, daß seine Rechtskundigkeit von einem Teil der Bürger des Amtsbezirks Ober-Sirnmental angezweifelt wird. Es war daher die Pflicht des Großen Rates, auf diese Beschwerde hin eine Untersuchung anzustellen, ob bei Senften die von der Verfassung zur passiven Wahlfähigkeit geforderten Requisite vorhanden seien oder nicht.

Es hat nun kein einziger Umstand für die Bejahung dieser Frage gesprochen. Die Behauptung der Beschwerdeführer, daß Senften zu der Stelle, für die er gewählt wurde, von Anfang an nicht wählbar gewesen sei, hat sich also bewahrheitet, weshalb die Wahl kassiert werden mußte.

Der letzte Einwand, welchen die Rekurrenten gegen den Kassationsbeschluß erheben, ist ebenfalls nicht stichhaltig. Der Umstand nämlich, daß auch in ändern Amtsbezirken Gerichtspräsidenten amten, welche sich zur Zeit ihrer Wahl nicht über ihre Rechtskundigkeit ausgewiesen hatten, ist durchaus irrelevant. Die Heranziehung des verfassungsmäßigen Gebotes der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz hat nämlich hier gar keinen Sinn. Art. 59 der Verfassung besagt nicht sowohl, daß jeder, welcher rechtskundig sei, oder sich für rechtskundig halte,

Ili sobald die Wahl auf ihn falle, das verfassungsmäßige Recht habe, als Gerichtspräsident zu amten; er besagt vielmehr, daß alle Bürger das verfassungsmäßige Recht haben, zu verlangen, daß ihre Rechtsstreitigkeiten von rechtskundigen Gerichtspräsidenten beurteilt werden. Wenn also aus irgend einem Grund in irgend einem Amtsbezirk ein Gerichtspräsident gewählt wurde, der den Erfordernissen der Verfassung nicht genügt, so wird dadurch den Bürgern anderer Amtsbezirke nicht die Pflicht auferlegt, sich ebenfalls mit einem nicht rechtskundigen Gerichtspräsidenten zu begnügen, wenn ein solcher gewählt wird.

Es widerspräche dem publizistischen Gedanken, das verfassungsmäßige Recht der Gesamtheit auf fähige Richter dem Rechte des Einzelnen auf Wählbarkeit zu einem gewissen Amte unterzuordnen. Noch viel weniger können die Rekursgenossen Senften behaupten, es sei für sie durch den Kassationsbeschluß ein verfassungsmäßiges Recht verletzt worden.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Die vorliegende Beschwerde gegen den Beschluß des Großen Rates des Kantons Bern vom 27. Januar 1902, durch welchen die Wahl des Rekurrenten Gottfried Senften zum Gerichtspräsidenten des Amtsbezirkes Ober-Simmental kassiert worden ist, ist beim Bundesrate innert der 60tägigeja Rekursfrist eingereicht worden (Art. 178, Ziffer 3, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893).

Bezüglich der^Kompetenz des Bundesrates ist folgendes festzustellen : 1. Wie Bundesrat und Bundesgericht festgestellt haben, und vom bernischen Regierungsrat anerkannt wird, ist die Wahl des Rekurrenten durch den Großen Rat kassiert worden, weil ihm die passive Wahlfähigkeit, d. h. diejenigen Eigenschaften gefehlt hätten, welche nach der Vorschrift von Art. 59 der bernischen Staatsverfassung der Bürger besitzen muß, der zum Amt eines Gerichtspräsidenten gewählt wird.

Der Regierungsrat des Kantons Bern bestreitet, daß · der Bundesrat zur Beurteilung von Beschwerden betreffend die passive Wahlfähigkeit kompetent sei.

112 Wenn unter der Herrschaft des frühern Bundesgesetzes über die Bundesrechtspflege vom 27. Brachmonat 1874 die Kompetenz des Bundesrates, solche Beschwerden zu entscheiden, bestritten werden konnte, so steht dieselbe auf dem Boden des heutigen Organisationsgesetzes vom 22. März 1893 nicht mehr in Frage.

Schon im Beschluß in Sachen Germain Buthey und Etienne Boson in Fully vom 13. Juni 1893, zur Zeit der Geltung des frühern Gesetzes, bat der Bundesrafc sich dahin ausgesprochen,, daß ,,zu den bei Wahlen und Abstimmungen in Betracht fallenden verfassungsmäßigen Rechten der Bürger in allererster Linie di& Stimmberechtigung und die Wahlfähigkeit der Bürger gehören"1.

(Bundesbl. 1893, III, 655, und Bundesbl. 1894, II, S. 43,, Nr. 13.)

Und als nun im Jahre 1897 nach Inkrafttreten des neuen.

Organisationsgesetzes ein gewisser Gottfried Huber beim Bundesgericht gegen einen Beschluß der Regierung des Kantons Aargau Beschwerde führte, weil ihm die Wahlfähigkeit für eine Kaplanstelle im Kanton Aargau abgesprochen worden war, und der Bundesrat vom Bundesgericht auf Grund von Art. 194 des Organisationsgesetzes vom 22. März 1893 um seine Meinungsäußerung über die Kompetenzfrage ersucht wurde, hat er sich mit Zuschrift vom 14. Juni 1897 dahin geäußert: ,,Wir sind unter Hinweis auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Art. 189, Absatz 4, des Organisationsgesetzes der Ansicht, daß in gleicher Weise wie Beschwerden betreffend die aktive Wahlfähigkeit der Bürger, so auch Beschwerden betreffend die passive Wahlfähigkeit vom Bundesrat, und nicht vorn Bundesgericht zu beurteilen sind.

,,Unter der Herrschaft des frühern Organisationsgesetzes vom Jahre 1874 (Art. 59, Absatz 2, Ziffer 9) hatte sich der Bundesrat einige Male dahin ausgesprochen, daß die Entscheidungsbefugnis über Beschwerden betreffend die passive Wahlfähigkeil nicht ihm zustehe (vergleiche Salis, Bundesrecht, II, Nr. 780), dagegen hattedas Bundesgericht in der Sache Ühlinger am 25. Oktober 1875 die Ansicht vertreten, daß Beschwerden, welche die Kassation einer Wahl oder Abstimmung wegen mangelnder Wahlfähigkeit, eines Gewählten anstreben, vom Bundesrat zu entscheiden seien (Bundesgerichtliche Entscheide, I, S. 346). Ein eigentlicher Kompetenzkonflikt zwischen Bundesrat und Bundesgericht lagallerdings nicht vor. Immerhin sah sich der Bundesrat veranlaßt^

115 in seiner Botschaft zum neuen Organisationsgesetz (Bundesbl.

1892, II, 388) auf die sich widersprechenden Ansichten der beiden Bundesinstanzen hinzuweisen. Mit der Vorschrift des Art. 189, Absatz 4, des Organisationsgesetzes vom Jahre 1893 wollte der Bundesgesetzgeber ganz entschieden die Möglichkeit eines zwiefachen Beschwerdeweges in Stimmrechts- und Wahlrechtsangelegenheiten ausschließen, und er übertrug deshalb dem Bundesrat und der Bundesversammlung zur ausschließlichen Kompetenz die Fürsorge für Erhaltung und Wahrung des Bundesrechtes und des kantonalen Verfassungsrechtes in den genannten Angelegenheiten.

,,Wenn in Art. 189, Absatz 4, des Organisationsgesetzes nur ·die ,,politische Stimmberechtigung der Bürger" (also die aktive Wahlfähigkeit), nicht dagegen die passive Wahlfähigkeit genannt ist, so finden wir die Erklärung hierfür in dem Umstände, daß bezüglich der in den Beschwerden sehr häufig behandelten Fragen der aktiven Wahlfähigkeit bis zum Jahre 1893 die Kompetenz der politischen Bundesbehörden gegenüber der Kompetenz des Bundesgerichts keineswegs eine feststehende, unangezweifelte war (den nähern Nachweis erbringt die zitierte Botschaft zum Organisationsgesetz, Bundesbl. 1892, II, 387--390). Die passive Wahlfähigkeit dagegen kam in Rekursen sehr selten zur Erörterung; sie besonders im Gesetz hervorzuheben, lag keine Veranlassung vor. Ist die passive Wahlfähigkeit eines Wahlkandidaten oder eines Gewählterklärten bestritten, so handelt es sich immerhin um eine Beschwerde in einer Wahlangelegenheit; denn für das gültige Zustandekommen einer Wahl ist das Vorhandensein der passiven Wahlfähigkeit eben so notwendige Voraussetzung, wie etwa die Abwicklung eines ordnungsgemäßen Wahlverfahrens oder die formell richtige Ermittlung und Konstatierung des Wahlresultates.

,,Der Streit über die passive Wahlfähigkeit einer Person wird selten in der Weise zum Ausbruch kommen, daß die richtige ·oder unrichtige Anwendung eines bestimmten Wahlrequisits auf einen Gewählten in Frage steht; vielmehr wird meistens darüber Beschwerde geführt werden, daß überhaupt ein Wahlrequisit aufgestellt worden ist; es wird die das Wahlrequisit vorschreibende Norm etc. vom Standpunkt der verfassungsmäßigen Rechtsgleichheit angefochten werden. Trotzdem ist auch in so gearteten Fällen die Entscheidungsbefugnis für den Bundesrat in Anspruch zu nehmen, weil die Stimm- und Wahlrechtsfragen in ihrer Gesamtheit den politischen Bundesbehörden zur Beurteilung über-

114 wiesen worden sind, unter welchem Gesichtspunkte immer diese Fragen bei den Bundesinstanzen anhängig gemacht werden.

,,Diese unsere Auffassung entspricht übrigens nicht nur unserer bisherigen Praxis (vergleiche besonders Bundesbl. 1897, I, 393, 394), sondern sie stimmt, wie wir glauben annehmen zu dürfen, rollständig überein mit den Ausführungen des Bundesgerichtes in dem den 10. Juni 1896 entschiedenen Freiburger Handel (Bundesgerichtliche Entscheidungen, XXII, S. 373).a In seinem Urteile über die Beschwerde des Gottfried Huber vom 30. Juni 1897, auf welches das Urteil des Bundesgerichtes vom 16. April 1902 Bezug nimmt (A. S. XXIII, S. 584), hat sich das Bundesgericht zur Ansicht des Bundesrates bekannt und folgendes in Erwägung gezogen : ,,Steht die Fähigkeit zur Bekleidung eines Amtes in Frage, so ist für die gegen den angefochtenen regierungsrätlieben Beschluß erhobenen Beschwerden nicht das Bundesgericht, sondern der Bundesrat, eventuell die Bundesversammlung kompetent.

Während unter der Herrschaft des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 darüber Zweifel bestehen mochten, ob den politischen Behörden nicht bloß die Beschwerden betreffend die aktive Wahlfähigkeit und über das Wahlverfahren zugewiesen seien, während solche über die passive Wahlfähigkeit unter die Regel, d. h. in die Kompetenz des Bundesgerichts gefallen wären, ist seit Inkrafttreten des neuen Organisationsgesetzes vorn 22. März 1893 ein Zweifel nicht mehr möglich. Denn es geschah gewiß mit Absicht, daß die fragliche Bestimmung in Art. 59, Absatz 2, Ziffer 8, des früheren Gesetzes, wonach als Administrativstreitigkeiten bezeichnet waren die ,,Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen'0, im neuen Gesetze (Art. 189, Absatz 4) die allgemeinere Fassung erhielt: ,,Ferner hat der Bundesrat oder die Bundesversammlung zu beurteilen : Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen", und es kann der Zweck dieser veränderten Redaktion nur darin erblickt werden, die Möglichkeit eines zweifachen Beschwerdeweges in der nämlichen Wahlangelegenheit auszuschließen und sämtliche daherige Anstände, somit auch solche über die passive Wählbarkeit, den politischen Behörden zuzuweisen. Es handelt sich dabei ja
ebenfalls um eine Beschwerde betreffend eine kantonale Wahl. Und wenn die passive Wahlfähigkeit neben der aktiven, der politischen Stimmberechtigung, nicht besonders erwähnt ist, so findet das

115 seine einfache Erklärung darin, daß eben die meisten Wahlbeschwerden die letztere zum Gegenstand hatten und auch in Zukunft haben werden."

An dieser Interpretation von Art. 189, Absatz 3, des Organisationsgesetzes muß festgehalten werden ; die in der Beschwerdevernehmlassung des bernischen Regierungsrates aufgestellte Behauptung, wonach die gegenüber dem alten Organisationsgesetz veränderte Fassung des heutigen Gesetzes eine lediglich redaktionelle Abänderung sei, ist, wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, unhaltbar. Die vom bernischen Regierungsrat ausgesprochene Befürchtung, daß der Bundesrat, wenn er sich einmal für Beschwerden betreffend die passive Wahlfähigkeit für kompetent erklärt habe, es auch dann sein müsse, wenn die Frage sich erst lange n a c h der Wahl erhöbe, trifft nicht zu, da die für die Einreichung staatsrechtlicher Beschwerden bei den Bundesbehörden nach Art. 178, Ziffer 3, vorgesehene Rekursfrist von 60 Tagen einer solchen Verschleppung den Riegel stößt.

Die Kompetenzeinrede des bernischen Regierungsrates, die sich darauf gründet, daß die Frage der passiven Wahlfähigkeit außerhalb der durch Art. 189 des Organisationsgesetzes geregelten Materie liege, ist somit zu verwerfen.

2. Die Regierung des Kantons Bern hat eine Kompetenzeinrede auch aus dem Umstand abgeleitet, weil Rekurrent es nicht als verfassungswidrig bezeichnet habe, daß der Große Rat des Kantons Bern Art. 59 der bernischen Staats Verfassung interpretiert, sondern daß er einzig und allein behaupte, die tatsächlich angewandte Interpretation sei nicht richtig ; eine solche Interpretation liege unstreitig in der Kompetenz der kantonalen gesetzgebenden Behörden.

Es ist demgegenüber festzustellen, daß der Beschwerdeführer die Deutung des Art. 59 der bernischen Verfassung als in mehreren Beziehungen der Verfassung widersprechend erklärt hat.

Diese Behauptung des Beschwerdeführers allein gibt dem Bundesrat die Kompetenz zur Entscheidung, da der Bundesrat urteilt auf Grundlage ,,sämtlicher einschlägiger Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechtes und des Bundesrechtes" (Art. 189, Absatz 3, des Organisationsgesetzes).

II.

Die Aktivlegitimation des Beschwerdeführers G. Senften ist nicht bestritten ; er selbst hat das erste Recht, die Gültigkeit der

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auf seine Person gefallenen Wahl zu verfechten. Aber auch die Personen, welche sich dem Rekurs angeschlossen haben, deren Eigenschaft als stimmberechtigte Bürger des Wahlbezirkes nicht bestritten ist, müssen als zum Rekurse legitimiert erachtet werden ; denn auch sie haben ein Interesse daran, daß die mit durch ihre Stimmen beeinflußte Wahl des Senften zum Gerichtspräsidenten aufrecht erhalten bleibe, wenn wirklich der Kassationsbeschluß des Großen Rates des Kantons Bern eine Verfassungsverletzung enthalten sollte.

III.

Die materiellen Beschwerdepunkte lassen sich dahin zusammenfassen, der Große Rat des Kantons Bern habe willkürlicherweise besondere Requisite für die Wählbarkeit zu einer Gerichtspräsidentenstelle aufgestellt; mit der Aufstellung dieser neuen Norm für die passive Wahlfähigkeit verletze die bernische Behörde aber auch den Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, weil sie den heute angelegten Maßstab bisher nie gebraucht habe.

Unter diesen zwei Gesichtspunkten ist die Begründetheit der Beschwerde zu prüfen.

1. B e t r e f f e n d die B e h a u p t u n g der Willkür.

Der Bundesrat hat in Übereinstimmung mit der Bundesversammlung festgestellt, daß ein Entscheid dana als willkürlich bezeichnet werden müsse, wenn derselbe objektiv in keiner Weise zu rechtfertigen sei, d. h. wenn er entweder ohne Gründe erlassen worden sei, oder wenn dessen Gründe gegen klares Recht verstoßen (bundesrätlicher Entscheid in Sachen Alfred Ceppi vom 24. Juni 1901, Bundesbl. 1901, III, 893).

. Weder das eine noch das andere kann vom Beschluß des Großen Rates des Kantons Bern vom 27. Januar 1902 gesagt werden. Der Große Rat hat in seinem Kassationsbeschluß die Gründe des regierungsrätlichen Berichtes zu den seinigen gemacht ;· diese Gründe hat aber der Beschwerdeführer nicht zu widerlegen vermocht.

Den ersten Abweisungsgrund des Großen Rates, die aus der geschichtlichen Entwicklung des Art. 59 der bernischen Staatsverfassung abgeleitete Überlegung, welche der Vertreter des Regierungsrates dahin formuliert hat: ,,gerade w e i l die Vorschrift der Rechtskundigkeit im Jahre 1846 angefochten, aber schließlich doch mit großem Mehr wieder aufgenommen worden

117 ist, und ohne Opposition in die Verfassung von 1893 überging, muß man daraus den Schluß ziehen, daß es im Willen der Behörden gelegen habe, daß das Begehren der Rechtskundigkeit nicht eine illusorische Bestimmung sein dürfe, sondern ihre Bedeutung und ihren Zweck haben solle" (Tagblatt des Großen Rates des Kantons Bern, Jahrgang 1902, S. 7) : diese historische Interpretation ist vom Beschwerdeführer überhaupt nicht angefochten worden. Sie hält übrigens auch dem Interpretationsversuch des bernischen Obergerichtes stand.

Der Regierungsrat und Große Rat haben aber ihrer historischen Interpretation noch die Erwägung beigefügt, die sie aus ·dem Wortlaut und dem Sinn der Verfassung allein ableiten: ,,die Präsidenten der Amtsgerichte sollen rechtskundige Männer sein". Da die Verfassung ein Gebot ausspreche, so müsse man wenigstens ,,Indizien''1 für das Vorhandensein der Rechtskunde seitens eines Gerichtspräsidentenkandidaten fordern, wenn man das Requisit der Verfassung nicht zu einem leeren Wortbegriff herabsinken lassen wolle. Was nun der Rekurrent hiergegen vorbringt, ist nicht, daß der Wahlkandidat nicht rechtskundig ·sein müsse; sein Vorwurf der Willkür richtet sich nur gegen ·die vom Großen Rat aufgestellte Forderung des Nachweises der Rechtskundigkeit überhaupt, und gegen die als Indizien für das Vorhandensein derselben bezeichneten Tatsachen insbesondere.

Er behauptet, daß ein Beweis der Rechtskundigkeit nicht verlangt werden dürfe, weil weder in der bernischen Verfassung, noch in bernischen Gesetzen Vorschriften über eine Beweisleistung bestehen. Damit gibt er nun schon implicite zu, daß es bestimmte Verhältnisse giebt, bei deren tatsächlichem Vorhandensein die Rechtskunde angenommen werden müßte. Wenn nun aber die bernische Verfassung ihrem Gebote, daß nur Rechtskundige als Gerichtspräsidenten gewählt werden können, keine Ausführungsbestimmung gegeben hat, so ist es nicht nur nicht willkürlich, sondern es war geradezu Pflicht des Großen Rates als Rekursbehörde für Wahlbeschwerden, von sich aus festzustellen, was er unter Rechtskundigkeit verstanden wissen "wollte.

Wenn Rekurrent des weitern erklärt, daß auch die Indizien, welche der Große Rat verlange, keinen Beweis für die Rechtskundigkeit zu erbringen vermögen, so ist dies vollkommen richtig.

Wenn aber der Rekurrent die richtige
Folgerung aus seinem Einwände ziehen wollte, so konnte er nicht zum Schlüsse kommen, daß es willkürlich sei, ,,Indizien" zu verlangen, sondern dazu, ·daß der Wahlkandidat den vollgültigen Beweis für seine Rechts-

118 kundigkeit abzulegen habe. Der Einwand des Rekurrenten beweist nur, daß die bernischen Behörden mit den heute an die 'Wahlkandidaten gestellten Anforderungen bis an die niedrigste Grenze dessen gegangen sind, was sie verlangen mußten, um überhaupt dem Gebote der Verfassung gerecht zu werden. Denn die bernische Rechtssprache braucht sonst den Ausdruck in einem Sinne, der jedenfalls ein höheres Maß von juristischer Bildung voraussetzt, als das hier geforderte. So z. B. in dem Bericht des Regierungsrates vom 10. November 1846 über die Organisation des Notariatskollegiums für den Leberberg. Nach Ziffer 2 dieses Beschlusses soll das Prüfungskollegium für Notariatsaspiranten bestehen ,,aus drei von dem Regierungsrate aus der Zahl der R e c h t s k u n d i g e n oder Notarien zu erwählenden Mitgliederna. Diese nur rechtskundigen Mitglieder der Prüfungskommission müssen also doch mindestens diejenigen Kenntnisse besitzen, welche ein Notar besitzen soll, was einerseits aus der ihnen gestellten Aufgabe (Prüfung der Notarien) anderseits aus der Gleichstellung mit den Notarien (aus der Zahl der Rechtskundigen ,,odera Notarien) hervorgeht.

Was nun endlich die Qualifikation des Rekurrenten selbst zur Bekleidung des ihm durch die Wähler des Obersimmentales angetragenen Postens anbelangt, so hat derselbe nicht behauptet, irgend welchen Ausweis über praktische Betätigung im Rechtswesen oder seinerseits gemachte Rechtsstudien zu besitzen ; die Tatsache, daß er geprüfter Schullehrer und Offizier der schweizerischen Armee ist, sowie die Behauptung, daß er Autodidakt sei, sind vom Großen Rate nicht als solche Indizien aufgefaßt worden, und können es selbstverständlich auch nicht sein.

Wenn der Regierungsrat dem Rekurrenten durch das Angebot der Abnahme einer Prüfung ein solches Beweismittel io die Hand geben wollte, das als Indiz für seine Rechtskundigkeit hätte angenommen werden können, so kann Lehrer Senften deswegen sich jedenfalls nicht über Willkür beklagen.

2. B e t r e f f e n d r e c h t s u n g l e i c h e Behandlung.

Auch der zweite Hauptbeschwerdepunkt, wonach die Bundesverfassung dadurch verletzt sei, daß vom Großen Rat in rechtsungleicher Weise an die Person des Rekurrenten ein anderer Maßstab gelegt worden sei als bisher an die Kandidaten für Gerichtspräsidentenstellen, entbehrt der Begründung.

a. Wenn der Große Rat des Kantons Bern, der durch die frühern Verfassungen bis 1893 selbst als Wahlbehörde bestellt

119 war, auf Grund derselben Bestimmung, die in Art. 59 der heutigen Verfassung niedergelegt ist, Wahlen getroffen hat, die mit den heute aufgestellten Grundsätzen im Widerspruch stehen, so beweist dies an sich noch keine Verletzung der Rechtsgleichheit der Bürger. Denn die kompetenten Behörden sind zweifellos befugt, durch Annahme einer neuen Auslegung irgend einer Gesetzesoder Verfassungsstelle eine Änderung ihrer bisherigen Praxis herbeizuführen, wenn, wie dies in casu der Fall ist, die für die Änderung vorgebrachten Gründe nicht bloß vorgeschobene Behauptungen sind. (Bundesratsbeschluß in Sachen Stadiin-Graf und Genossen vom 21. Juli 1899, Bundesbl. 1899, IV, 218, Ziff. 5.)

Der Vorwurf der willkürlichen Interpretation von Art. 59 der o bernischen Verfassung und einer Verletzung der Rechtsgleichheit kann dem Großen Rat des Kantons Bern um so weniger gemacht werden, als aus den unwidersprochen gebliebenen Ausführungen des Regierungsrates zu entnehmen ist, daß die Schöpfer der bernischen Verfassungen von 1831 und 1846 mit Absicht einen so elastischen Begriff wie das Wort ,,rechtskundig" als Requisit für die passive Wahlfähigkeit in die Verfassung aufnahmen, um bei veränderter Lage, d. h. wenn mit der Zeit die Zahl der rechtskundigen Personen steigen würde, höhere Anforderungen an die Wahlkandidaten stellen zu können, ohne gezwungen zu sein, deswegen zu einer Verfassungsrevision greifen zu müssen.

Wenn also der Große Rat, wie er nicht bestreitet, jetzt die Zeit für gekommen ansieht, wo entsprechend der durchschnittlich höhern Bildungsstufe und der Verbreitung der Rechtskenntnis die Bedingungen auch für die Gerichtspräsidentenkandidaten höher gestellt werden können, so handelt er nicht gegen die Verfassung; er führt im Gegenteil aus, was die Schöpfer derselben gewollt.

b. Die Behauptung, eine Verletzung der Rechtsgleichheit sei durch den Großen Rat auch dadurch begangen worden, daß die heute amtierenden Präsidenten von drei Gerichtsbezirken nicht Juristen seien, d. h. bei ihrer Wahl die heute an den Rekurrenten gestellten Requisite nicht erfüllt hätten, beruht auf einem tatsächlichen Irrtum. Die Regierung hat bereits in ihrem Bericht an den Großen Rat diesen Vorwurf mit dem Hinweis darauf beantwortet, daß der Große Rat jene Gerichtspräsidenten weder selbst gewählt noch ihre Wahl zu bestätigen
noch überhaupt sich irgendwie mit den Wahlen zu befassen hatte, da eben der Große Rat seit 1893 nicht mehr Wahlbehörde ist. Die Rekursschrift hat das nicht bestritten. War aber der Große Rat weder Wahl- noch Validationsbehörde, so können ihm auch jene

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Wahlen nicht zum Vorwurf gereichen ; die Wahlen wurden auch nicht, wie diejenige des Beschwerdeführers, auf dem Wege der Erhebung einer Kassationsbeschwerde vor den Großen Rat zur Entscheidung gebracht. Es fehlt daher im vorliegenden Fall überhaupt an einer Entscheidung der obersten kantonalen Behörde, unter der Vorschrift der neuen Verfassung von 1893, welche zur Vergleichung könnte herangezogen werden.

Demnach wird erkannt: Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 26. Juli 1902.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Gottfried Senften, Lehrers in der Lenk, Kanton Bern, und Genossen, betreffend dessen Wahl zum Gerichtspräsidenten des Amtsbezirkes Obersimmental. (Vom 26. Juli 1902.)

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1902

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31

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30.07.1902

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