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Bericht der

Kommission des Ständerates betreffend den diplomatischen Zwischenfall zwischen der Schweiz und Italien.

(Vom

24. April 1902.)

Tit.

Die Mitglieder der Kommission, welche Sie mit der Prüfungdes bundesrätlichen Berichtes vom 15. April d. Js. beauftragten, sind sehr bald und einhellig zur Überzeugung gelangt, daß das Verhalten des Bundesrates volle Billigung verdient.

Zunächst haben sie mit Befriedigung wahrgenommen, dass die von den beiden Regierungen ihren Parlamenten mitgeteilten Aktenstücke unter sich übereinstimmen. Diese Identität kann als ein Zeugnis und als eine Bürgschaft für die beiderseits bei Darstellung der tatsächlichen Unterlage des Zerwürfnisses beobachtete Korrektheit angesehen werden. Wir erblicken darin ein Zeichen, daß auf beiden Seiten der Wunsch vorhanden ist, bei Behandlung der Streitfrage vollkommene Objektivität zu wahren.

Das italienische Aktenbändchen enthält ein Dokument, welches selbstverständlich in der schweizerischen Sammlung nicht erscheinen konnte, nämlich das von Herrn Commandeur Silvestrelli am 5. Februar 1902 an den Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Rom gerichtete Telegramm. Die Bedeutung dieses Aktenstückes wird Ihnen klar werden, sobald wir materiell auf den Zwischenfall eintreten.

973 Der einzige erwähnenswerte Unterschied zwischen den beiden Veröffentlichungen besteht in den ihnen gegebenen Überschriften.

Denn das Grünbuch führt, in italienischer Sprache, den Titel - .

,,Diplomatische Aktenstücke, dem italienischen Parlamente vom Minister des Auswärtigen, Prinetti, vorgelegt. Zwischenfall zwischen dem Commandeur Silvestrelli, Minister des Königs in Bern, und dem Schweizerischen Bundesratea.

Die Überschrift des Blaubuches lautet dagegen : ,,Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Bruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien"1.

Aus diesem Titelunterschied geht indessen nicht hervor, daß in der Auffassung der Tragweite des Streitfalles eine Verschiedenheit bestände. Die italienische Regierung begnügt sich damit,, die Tatsachen zu erwähnen, während der Bundesrat die Konsequenz angibt, welche aus den Tatsachen geflossen ist: den Zwischenfall, der eine zeitweilige Unterbrechung der offiziellen Beziehungen zwischen beiden Ländern zur Folge hatte. Beide Titel entsprechen demnach dem Sachverhalt, und es darf aus ihnen auf keine Verschiedenheit der Absichten bei Darstellung der Tatsachen gefolgert werden.

Daß das schweizerische Blaubuch eine einleitende Botschaft enthält, während im italienischen Grünbuch jedes Vorwort fehlt, erklärt sich ebensowohl aus der Verschiedenheit im Wesen der beidseitigen Staatseinrichtungen als aus den Vorschriften der Geschäftsordnung der Bundesversammlung.

Denn wir haben nicht das parlamentarische Verfahren, das bei unsern italienischen Nachbarn besteht. Das Bundesgesetz vom 22. Dezember 1849 über den Geschäftsverkehr zwischen den Räten, sowie die besondern Geschäftsordnungen des Nationalund des Ständerates zählen abschließend die Modalitäten auf, unter welchen ein Verhandlungsgegenstand bei den gesetzgebenden Räten eingebracht, bezw. deren Einschreiten hervorgerufen worden kann (cf. namentlich Art. 37 der Geschäftsordnung vom 7. Dezember 1849 und Art. 38 derjenigen vom 8. Juli 1850). Der Bundesrat hatte keine Wahl. Die Form einer Botschaft stand ihm allein zur Verfügung. Wenn er sieh ihrer nicht bedient hätte, so wäre den Räten kein anderer Weg offen gestanden als derjenige einer Interpellation. Und das Interpellationsverfahren ist ungenügend, da in demselben der Bundesrat sich nicht in einer im voraus beratenen und festgesetzten Botschaft aussprechen kann.

974 Vom Falle der Interpellation abgesehen und nach dem ordentlichen Gang unserer Arbeiten hätte der Bundesrat erst in seinem Geschäftsbericht für das Jahr 1902 den Räten Bericht erstatten müssen. Dieses Verfahren konnte in der vorwürHgen Angelegenheit offenbar nicht genügen. Die öffentliche Meinung, welche in unserem demokratischen Staatswesen eine hervorragende Rolle spielt, war aufmerksam geworden, ja sogar in Aufregung geraten.

Sie erwartete amtliche Aufklärung ; sie wußte übrigens, daß der Bundesrat, wenn es nötig werden sollte, dem Lande den Sachverhalt mitzuteilen, sich dieser Pflicht nicht entschlagen würde unter Berufung auf Geschäftsordnungsvorschriften. Nun war diese Notwendigkeit eingetreten, denn die Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden befreundeten Völkern hatte eine außerordentliche und neue Lage geschaffen, welche den Räten und dem Schweizervolke ohne Verzug bekannt gegeben werden mußte. Deshalb ergriff der Bundesrat unverweilt die Initiative zu einer öffentlichen Prüfung der Angelegenheit, und wir danken ihm dafür.

Ihre Kommission hat es nicht für notwendig befunden, bei dieser Gelegenheit die Frage unserer Kompetenzen in Bezug auf die internationale Politik einer Prüfung zu unterworfen. Sie schlägt Ihnen einfach vor, bei Behandlung dieses Gegenstandes jede Untersuchung über das Verhältnis der vollziehenden und dei- gesetzgebenden Gewalt in dieser Materie und über die Umschreibung der beidseitigen Zuständigkeit aus der Beratung auszuschließen und die Botschaft des ßuudesrates als einen vorweggenommenen Bericht über einen besondern Gegenstand seiner Geschäftsführung zu betrachten.

Der ßundesrat liât wohl daran getan, so vorzugehen, wie es geschehen. Seine Veröffentlichung hat den besten Eindruck hervorgerufen und ein Mißverständnis, welches durch die Klugheit und den guten Willen der Beteiligten bald aus dem Wege geräumt werden wird, auf seine wahre Bedeutung zurückgeführt.

Ein gewissenhaftes Studium der Botschaft und ihrer Beilagen hat Ihre Kommission in dieser Auffassung bestärkt, und wir hoffen, daß es selbst einer kurzen Zusammenfassung des aktenmäßigen Sachverhalts gelingen wird, die gleiche Überzeugung bei Ihnen hervorzurufen.

Der Ausgangspunkt des Zwischenfalles, um nicht zu sagen seine Entstehung, ist gegeben durch das Telegramm des Commandeurs Silvestrelli vom 5. Februar dieses Jahres. An diesem Tage lenkte der Chef der italienischen Gesandtschaft die Auf-

975 merksamkeit des Herrn Bundespräsidenten auf einen Artikel in der Zeitung ,,II Risveglio" vom 18. Januar 1902, welcher das Andenken des Königs Humbert beschimpfte. Der Herr Bundespräsident antwortete, indem er um Überlassung des betreffenden Zeitungsexemplares ersuchte, um den Artikel vom Gesichtspunkte des Rechts aus durch das Justiz- und Polizeidepartement prüfen zu lassen.

Das ist die erste in Betracht fallende Tatsache. Weder das Blaubuch noch das Grünbuch erwähnen irgend ein Aktenstück aus früherer Zeit. Dem erwähnten Telegramm kommt also die Bedeutung zu, daß es die Angelegenheit in zeitlich bestimmte Grenzen festlegt, ein Umstand, der nicht belanglos ist.

Die Zeitungsnummer wurde · ohne Verzug dem Justiz- und Polizeidepartement übermittelt, und der Herr ßundesanwalt unternahm sofort die ihm aufgetragene Prüfung. Diese Untersuchung führte bald zum Schluß, daß eine gerichtliche Verfolgung auf Grund von Art. 42 des Bundesstrafgesetzes vom 4. Februar 1853 möglich sei, daß aber, nach den Bestimmungen des nämlichen Gesetzes, das Strafverfahren einen förmlichen Strafantrag der auswärtigen Regierung und die Zusicherung des Gegenrechts voraussetze.

Der Bundesrat stimmte der wohlbegründeten Meinungsäußerung des Herrn Bundesanwaltes zu. Er entnahm derselben den Kern seiner Antwort an die italienische Gesandtschaft in Bern. Infolge eines Versehens, das sich aus der successi veri Übermittlung von einem der beteiligten Departemeute zum anderen genügend erklärt, bezeichnete dieses Schreiben vom 25. Februar die mündliche Beschwerde des Herrn Commandeur Silvestrelli irrtümlich als flNotea der Gesandtschaft. Es wurde bald erkannt, daß eine ,,Note"1 im Sinne des diplomatischen Sprachgebrauchs nicht überreicht worden war, und wenn wir dieses geringfügigen und belanglosen Umstandes Erwähnung tun, so geschieht es nur, weil wir die feste Absicht haben, boi unserer Darstellung die gewissenhafteste Genauigkeit walten zu lassen.

Die Vorschriften der schweizerischen Gesetzgebung wurden dem Herrn Minister durch die wörtliche und vollständige Wiedergabe des vorerwähnten Art. 42 des Bundesgesetzes zur Kenntnis gebracht. Damit war der gesetzliche Weg vorgezeichnet, und keiner der Parteien stand es zu, von demselben abzuweichen.

Man wird daher das Erstaunen begreifen, mit dem der Bundes-

976 rat vom Schreiben vom 8. März Kenntnis nahm, in welchem Herr Commandeur Silvestrelli dem Auftrage seiner Regierung gemäß erklärt, daß dieselbe die Absicht nicht habe, die Strafverfolgung des ,,Risveglio11 zu beantragen, auf dessen unqualifiy.ierbaren Artikel er die Aufmerksamkeit des Bundesrates gelenkt habe, unter Protest gegen die solchen Publikationen in der Schweiz gewährte Straflösigkeit. ,,Die königliche Regierung, ,,fügt er hinzu, ,,glaubt, genug getan zu haben, indem sie die eidgenössische Regierung an die Beobachtung ihrer internationaleu Pflichten erinnerte." Und was die Zusicherung des Gegenrechtes anbelangt, so erscheint ihm diese Forderung nicht als gerechtfertigt, denn noch nie habe die Eidgenossenschaft eine solche Klage bei Italien erhoben, ,,wo die eidgenössischen Behörden in der Presse aller Parteien mit Hochachtung behandelt werden, gerade so wie es wünschbar wäre, daß unsere erhabenen Herrscher in der schweizerischen Presse behandelt würden".

Dieses Schreiben ist das für den Streit entscheidende AktenHtück. Durch seine ungewöhnliche Form und besonders durch seine sachlichen Behauptungen war es wohl dazu angetan, eine Regierung zu verletzen, welche keine andere Sorge hatte, als sich genau nach den Bestimmungen des Gesetzes zu verhalten.

Deswegen beeilte sich der Bundesrat, gegen die in demselben enthaltenen Andeutungen und Vorwürfe nach Form und Inhalt sich zu verwahren. Gleichzeitig wiederholte er, daß es lediglich der italienischen Regierung anheimgestellt sei, zu verhindern, daß der ,,Risveglio" straflos bleibe, da es ja genügte, um seine Bestrafung herbeizuführen, wenn dieselbe die sehr einfachen, im schweizerischen Gesetze aufgestellten Bedingungen erfülle.

Die italienische Note vom 8. März hatte die Frage verschoben und den Zwischenfall hervorgerufen; die Antwort des Herrn Silvestrelli vom '23. März vertiefte das Zerwürfnis. In diesem zweiten Schreiben weigert sich der Gesandte, auf juristische Auseinandersetzungen sich einzulassen. Es handelt sich nicht länger um eine bestimmte Tatsache. Der beschimpfende Zeitungsartikel tritt in den Hintergrund. Nunmehr soll die Auseinandersetzung das verbrecherische Treiben des ,,Risveglio" in seiner Gesamtheit umlässen. Der Streit erhält dadurch eine neue Gestalt, er bekommt eine unerwartete Wendung. Er verläßt den Boden des Rechts, auf welchem er sich von Anfang an bewegte, und nimmt einen gleichzeitig diplomatischen und persönlichen Charakter an. Dieser letzte Zug erschwerte besonders

977 den Fortgang einer Unterhandlung, in deren Verlaufe bereits Behauptungen gefallen waren, welche die üblichen und notwendigen Grenzen der gegenseitigen Rücksichten, die sich die Völker schulden, überschreiten.

Von dem Wunsche beseelt, seine guten Beziehungen mit Italien aufrecht zu erhalten, beauftragte nun der Bundesrat unseren schweizerischen Minister in Rom, Herrn Dr. Carlin, bei der königlichen Regierimg die Ersetzung des Herrn Silvestrelli zu erbitten.

Dieser Schritt, welchen frühere Vorgänge nach diplomatischem Rechte mit Rücksicht auf den Charakter der ,,persona grata"' rechtfertigten (vergi, besonders die Angelegenheit Gatacazi zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland, Staatsarchiv 1871, pag. 285) hatte indessen keinen Erfolg, und der Bundesrat war nun in der Lage, seinen amtlichen Verkehr mit Herrn Silvestrelli zu seinem lebhaften Bedauern abbrechen zu müssen. Auf die diesfallsige Mitteilung hin antwortete Herr Prinetti, indem er seine Auffassung aufrecht erhielt. Er schrieb außerdem, daß die schweizerische Gesandtschaft in Rom sich inzwischen in keiner anderen Lage befinden könne, als in derjenigen, in welche die königliche Gesandtschaft in Bern versetzt sei, und daß er sich deshalb seinerseits und zu seinem Bedauern in der Notwendigkeit befinde, seinen offiziellen Beziehungen mit dem bei dem König accreditierten Minister der Schweiz ein Ende zu machen.

Seinem Schreiben vom 9. April war ein Memorandum beigegeben. Er verweist darin auf das Treiben des ,,Risveglio"1.

Schon im Juni 1901 war die Propaganda dieses Blattes dem damaligen Bundespräsidenten, Herrn Bundesrat Brenner, signalisiert worden. Der Geschäftsträger Italiens hatte Bezug genommen auf Art. 4 und 5 des Bundesgesetzes vom 12. April 1894 über die anarchistischen Umtriebe, aber nach aufmerksamer Prüfung hatte der Bundesrat gefunden, daß der Tatbestand dieses Deliktes nicht vorliege. Das Memorandum sagt auch, daß die Strafklage und die Gegenrechtszusicherung, welche als Bedingung zur Erhebung des Strafverfahrens gegen die Zeitung mit Rücksicht auf den Artikel vom 18. Januar 1902 gefordert würden, überflüssig seien, weil die italienische Gesandtschaft ihre Beschwerde nicht gegen diesen oder jenen speciell bezeichneten Artikel, sondern gegen das ganze Treiben des Blattes richte. Anderseits genüge das italienische Gesetz
vollauf, um dem Bund das Gegenrecht zu sichern. Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten bemerkt indessen am Schlüsse seines Memorandums, daß ,,freimütige Auseinandersetzungen zwischen Herrn Silvestrelli und dem Bundesrat

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das geeignetste Mittel wären, um die Mißverständnisse, die entstanden zu sein schienen, zu beseitigen"1.

Der Bundesrat konnte jedoch dio Unterhandlung mit dem Verfasser der ihn verletzenden Briefe nicht wieder aufnehmen.

Dieser enthielt sich seinerseits jeden Schrittes, der dem Wunsche seines Chefs entsprochen hätte. Und so trat eine Unterbrechung der offiziellen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen ein.

Diese streng unparteiische Erzählung der Tatsachen hat Sie zweifellos schon von der Begründetheit unserer Schlüsse überzeugt.

Doch empfiehlt es sich, die hauptsächlichen Punkte näher ins Auge zu fassen, um zu -einem richtigen und endgültigen Urteil über den Zwischenfall zu gelangen, welcher zeitweilig zwei Staaten trennt, die, wie es der Bundesrat am Schlüsse seiner Botschaft, sagt, durch alte Freundschaft und gemeinsame Interessen verbunden sind.

Indem er dem Herrn Bundespräsidenten eine Nummer der Zeitung ,,II Risveglio" vom 18. Januar 1902 zur Kenntnis bracht« und überreichte, welche Beschimpfungen gegen den letzten KönigItaliens enthielt, bezog sich Herr Kommandeur Silvestrelli auf eine bestimmte, der gerichtlichen Beurteilung unterliegende Straftat. Dies war die Auffassung des Herrn Bundespräsidenten, als er Herrn Silvestrelli die Zusicherung gab, daß er die Angelegenheit dem Justizdepartement unterbreiten werde. (,,Sua Eccellenza mi disse di lasciargli T articolo per sottoporlo ali' esame del dipartimento della giustizia." Telegramm des Herrn Silvestrelli vom 5. Februar 1902.) Das verlangte Einschreiten mußte demnach gerichtlicher Natur sein, und der Bundesrat gab dem Geschäftsträger der italienischen Gesandtschaft an, wie eine solche Strafverfolgung einzuleiten sei, und unter welchen Voraussetzungen sie stattfinden könne. Die Antwort des Bundesrates beweist also seine volle Zustimmung zu einer Strafverfolgung in Gemäßheit des in casu einziganwendbaren schweizerischen Gesetzes. Dieses Strafverfahren ist die einzig logische Folge, welche die Unterredung vom 5. Februar haben konnte, in der Herr Bundespräsident Zemp das Eingreifen des Justiz- und Polizei départements in Aussicht gestellt hatte. Blieb dem Bundesrat, nachdem Herr Silvestrelli sich geweigert hatte, die Strafverfolgung zu fordern, ein anderes Mittel, der mündlichen Beschwerde, welche in der Unterredung vorgebracht worden
war, gerecht zu werden? Nein, es gab kein anderes gesetzliches Mittel.

Indem er seine Anschuldigungen erweiterte und die Frage, die bis dahin auf den Zeitungsartikel vom 18. Januar beschränkt war, auf die Gesamtheit der gehässigen Polemik des ,,Réveil"

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ausdehnte, schwächte der Minister Italiens seine Klage und nahm ihr die Bestimmtheit der ins Auge gefaßten Straftat, während doch eine solche Bestimmtheit die Voraussetzung eines jeden gerichtlichen Verfahrens bildet. Der Bundesrat hätte offenbar das Recht nicht gehabt, eine Zeitung vor die eidgenössischen Geschwornen zu bringen, unter der allgemeinen Anklage, daß dieselbe eine systematische, ehrverletzende und abscheuliche Propaganda treibe, wenn das corpus delicti weder vorgelegt, noch specialisiert wurde, und wenn die inkriminierten Artikel nicht ausdrücklich aufgezählt werden konnten. So entstand der Streit über die Umschreibung und die juristische Qualifikation des Deliktes. Es muß dabei bemerkt werden, daß die italienische Gesandtschaft heute nicht mehr behauptet, wie sie es früher einhial bei Gelegenheit eines ähnlichen Artikels der nämlichen Zeitung versucht hat, daß das Gesetz vom 12. April 1894 über die anarchistischen Umtriebe in solchen Fällen Anwendung finde. Sie weigert sich ohne weitere Erklärung, den Bestimmungen des Strafgesetzes sich /.u unterwerfen, aber sie ruft zur Stütze ihrer Auffassung keinen ändern Gesetzestext an. Der Entscheid des Bundesstrafgerichts in Sachen des anarchistischen Almanachs vom 29. Mai 1900 hatte den Sinn des Gesetzes von 1894 festgelegt und machte jedes amtliche Einschreiten auf Grund dieses Gesetzes für den vorwiirfigen Fall zur Unmöglichkeit. Auf dieser Basis hätte ein Prozeß nur zu einem bedauerlichen Mißerfolg führen können, in welchem der Artikelschreiber eine Ermutigung, die Zusicherung der Straflösigkeit gefunden und selbst Lorbeeren gepflückt zu haben gemeint hätte. In der Tat würde der Bundesrat Italien einen sehr übeln Dienst geleistet haben, wenn er ein Verfahren eröffnet hätte, dessen Ausgang nach der Meinung aller Juristen nicht zweifelhaft war. Hat er nicht richtiger gehandelt, indem er einer befreundeten Nation einen Ausgang der Angelegenheit ersparte, . welchen jedermann bedauert und den man noch dazu der Unvorsichtigkeit der schweizerischen Behörden zugeschrieben hätte?

Aber ein anderes Gesetz, ein anderes Gericht mit einem anderen Verfahren konnte in Anspruch genommen werden: das Bundesschwurgericht an Stelle des Bundesstrafgerichts, das Bundesstrafgesetz an Stelle des Gesetzes von 1894. Das setzte allerdings die Verwirklichung von zwei
Bedingungen voraus: einen formellen Strafantrag und eine Gegenrechtserklärung seitens der beleidigten Regierung. Nun konnte sich diese letztere dazu nicht entschließen.

Hätte der Bundesrat sie von diesen Bedingungen befreien können?

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Es hieße, den Bundesrat beleidigen, wollte man eine solche Frage aufwerfen ; denn es würde darin die ganz unzulässige Andeutung liegen, daß die Regierung über den Gesetzen stehe und die Macht habe, sie nach Willkür zu beugen. Wir lehnen es ab, eine solche Hypothese auch nur in Erwägung zu ziehen, weil sie vollkommen unverträglich wäre mit der Achtung vor dem Gesetze, welche die Grundlage jeder politischen Ordnung bildet, in Italien so gut wie in der Schweiz.

Die .Tätigkeit des Bundesrates mußte im Rahmen unseres öffentlichen Rechtes bleiben.

Stellt übrigens das Erfordernis eines ausdrücklichen Strafantrages und einer Gegenrechtserklärung, wie sie die sehr klaren Vorschriften des Bundesstrafgesetzes voraussetzen, ein außerordentliches, der Schweiz eigentümliches und anderen Gesetzgebungen unbekanntes Verlangen dar? Sicher wird nicht gerade in Italien, dem klassischen Lande großer Juriston, eine derartige Kritik laut werden. Die Antwort würde uns sehr leicht lallen. Wir würden uns begnügen, nachzuweisen, daß die Bundesgesetzgebung in diesem Punkte identisch ist mit derjenigen der uns umgebenden Länder.

Die Gesetzgebung der Schweiz hat diesfalls nichts eigenartiges, nichts außerordentliches ; sie enthält keine anderen Grundsätze als diejenigen, welche bei allen unseren Nachbarn Geltung haben.

Artikel 103 des d e u t s c h e n Strafgesetzbuches stellt die gleichen Bedingungen auf für die beantragten Strafverfolgungen.

Stets hat Deutschland die Beachtung dieser Vorschrift verlangt, und stets auch hat sich Deutschland ihr unterworfen, wenn es ihr in den fremden Gesetzgebungen begegnete. Sie kennen, meine Herren, den Straffall Schul, dos jungen Baslers, welcher 1888 in Fastnachtversen das Kaiserliche Regiment in Elsaß-Lothringen verspottet hatte. Auf ausdrücklichen Strafantrag der deutschen Gesandtschaft wurde der Knittelversdichter vor die Bundesassisen geladen und verurteilt. In einem anderen Prozeß, der vor kurzer Zeit vor dem Gericht in Elberfeld gegen den Verleger Wiedmann hängig gemacht wurde, wegen Verletzung der Persönlichkeit des Kaisers Franz Josef, haben die deutschen Behörden einen ausdrücklichen Strafantrag der sich als verletzt ansehenden österreichischen Regierung entgegengenommen. Und als England seine große Unzufriedenheit über für seinen Herrscher beleidigende Karrikaturen bezeugte, antwortete Deutschland, daß ein gerichtliches Verfahren von der Stellung eines Strafantrages abhängig gemacht werden müsse.

981 Österreich beobachtet den gleichen Grundsatz. Die Artikel 487--497 seines Strafgesetzes verlangen die Binreichung einer schriftlichen Strafklage als Vorbedingung jeder Strafverfolgung wegen Injurien, die gegen eine fremde Regierung gerichtet sind.

Sollen wir noch F r a n k r e i c h anführen, dessen Gesetz vom 16. März 1893 die Strafverfolgung wegen Ehrverletzung gegen das Oberhaupt eines fremden Staates abhängig macht von einem ausdrücklichen Strafantrag des Beleidigten? Ein früheres Gesetz vom 19. Juni 1891 enthielt diese Vorschrift auch schon, und die deutsche Botschaft zögerte nicht, in der Angelegenheit der Affichen, welche am Tage nach dem Tode des Kaisers Wilhelm I in Paris verbreitet waren, sich ihr zu unterziehen. Anderseits hat auch Frankreich die Notwendigkeit der Einreichung einer Klage zu Händen der schweizerischen Regierung anläßlich eines noch unvergessenen Prozesses in Neuenburg nicht bestritten.

Wir geben endlich und vor allem die Bestimmungen der Gesetzgebung von I t a l i e n selbst an. Art. 25 des Gesetzes über die Presse, vom 26. März 1848, bestraft die Ehrverletzung fremder Staatsoberhäupter, aber gemäß Art. 56 leg. cit. tritt die Verfolgung nur auf Grund eines ordnungsgemäßen Strafantrages ein.

Bei der Gleichartigkeit dieser Gesetzgebungen mit der unsrigen dürfen wir wohl behaupten, daß das Erfordernis des schweizerischen Gesetzes nicht eigenartig und vereinzelt ist. Und wenn wir dasselbe rechtfertigen sollten, so würden wir seine Begründung in der Notwendigkeit suchen, dem verletzten Staatsoberhaupt selbst die Sorge zu überlassen, die Tragweite und die Schwere der Ehrverletzung zu prüfen und zugleich die Opportunität einer öffentlichen Verhandlung zu erwägen. Wäre nicht zu fürchten, daß der Schutz der guten Beziehungen zwischen den Nationen geschwächt werden könnte, wenn das Gesetz nicht Sorge trüge, die Ausbrüche natürlicher Empörung bei den Behörden des Landes zu dämpfen, wo die Injurien ausgestoßen wurden, und so lärmende Prozesse zu verhindern, -welche der wahre und einzige Interessent mit Unzufriedenheit sehen würde? Das Erfordernis eines Strafantrages erscheint uns viel eher als ein Beweis des gegenseitigen Wohlwollens denn als ein Hindernis für die Rechtssprechung oder als eine Gefälligkeit gegen den Strafbaren. Der schweizerische Gesetzgeber hat also wohl
daran getan, dieses Erfordernis in seine Strafvorschrift aufzunehmen.

Das Erfordernis der Zusicherung des Gegenrechts ist ebenso wenig geeignet, eine Regierung zu überraschen oder zu verletzen.

Bundesblatt. 64. Jahrg. Bd. II.

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982 Es ergiebt sich aus dem schützenden Prinzip der Gleichheit und der Solidarität der Staaten. Es erfährt häufige Anwendung in mehreren Materien, Jüngst noch hat uns Italien diese Zusicherung anerboten, um die Auslieferung eines Verbrechers zu erhalten, und vor wenigen Stunden erst haben Sie diesen Grundsatz Deutschland zugestanden und Deutschland sich uns gegenüber ihm unterzogen. Für die Frage, welche uns gegenwärtig beschäftigt, werden .wir unsere Stütze wieder in dem Beispiele Italiens selbst suchen und davon Akt nehmen, daß, nach der im Memorandum des Herrn Ministers Prinetti enthaltenen Behauptung, das italienische Gesetz selbst das Gcgenreclit verbürgt. Es schein!

fast, als ob ein Mißverständnis zwischen den Parteien obgewaltel habe. Während die Schweiz das Versprechen des Gegenrechts verlangt für die eventuellen Fälle der Zukunft, scheint der Chef der italienischen Gesandtschaft zu glauben, daß es sich um sofortige Bestätigung des Gegenrechts in bereits geschehenen Fällen handle.

Denn er sagt, daß keine derartige Klage je seitens der Eidgenossenschaft bei Italien erhoben wurde. Offenbar ist unwillkürlich das Prinzip des Gegenrechts mit seiner Anwendung auf bestimmte Tatsachen verwechselt worden. Wenn wir das annehmen, so lag allerdings kein Anlaß zu einer solchen Erklärung vor, da die Eidgenossenschaft über keinerlei Verletzung zu klagen hatte. Hätte die italienische Regierung die gewünschte Gegeurechtsverbürgung gegeben, so hätte sie sich damit durchaus zu keiner sofort stattzufindenden Strafverfolgung verpflichtet.

Wenn die Weigerung auf die Tatsache gestützt wird, daß die Gegenseitigkeit im italienischen Strafgesetzbuch zugesichert sei, so ist dieses Argument nicht besser begründet als das frühere.

Die allgemeine Vorschrift des Gegenrechts, welches in einem Landesgesetz enthalten ist, giebt den auswärtigen Staaten kein Recht, sich darauf zu berufen. Ein solches Recht muß auf einem diplomatischen Vertrage beruhen, oder wenigstens auf dem Austausch gegenseitiger Zusicherungen. Deswegen haben in allen Fällen die mit der Strafverfolgung auf Grund auswärtiger Beschwerden betrauten Gerichte ihr Verfahren mit der Feststellung eingeleitet, daß die Gegenseitigkeit gegenüber dem um Strafverfolgung angegangeneu Lande verbürgt sei, und daß diese Gegenseitigkeit inhaltlich mit der Gesetzgebung
dieses Landes übereinstimme. Diese Rechtsübung, welche einst den Gegenstand einer gelehrten Abhandlung des verstorbenen Bundesrichters Morel in der Revue für schweizerisches Strafrecht bildete, xvurde bei Gelegenheit des Prozesses Schul strikte befolgt. Der Richter fand,

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daß weder die Bestimmung des deutschen Gesetzes, noch der Beschluß des Bundesrates, noch die Verfügung der Anklagekammer, noch selbst die ausdrückliche Erklärung der deutschen Gesandtschaft, welche die Grundsätze des deutschen Rechtes darlegen, für ihn verbindlich seien, und daß seine Pflicht ihm auferlegte, selbst festzustellen, ob das angebotene Gegenrecht inhaltlich demjenigen entspreche, welches in Art. 42 des Bundesstrafgesetzes zugesichert sei. Ein so strenger Gerichtsentscheid mußte dem Bundesrat die strikte Notwendigkeit einer absolut genügenden Erklärung nahe legen. Diese sehr vernünftige Jurisprudenz muß als nunmehr feststehend angesehen werden, und es läge eine unverdiente Geringschätzung der italienischen Rechtswissenschaft darin, wollten wir uns hier noch- bemühen, andere Beispiele anzuführen.

Demgemäß hatte der Bundesrat sehr festen Boden unter den Füßen, als er wiederholt den italienischen Gesandten einlud, die Regeln des gesetzlichen Verfahrens zu befolgen, und die königliche Regierung wird gewiß erkennen, daß, indem sie auf die Ausübung des ihr vom schweizerischen Gesetze zur Verfügunggestellten Rechtes verzichtete und ihre mündliche Beschwerde in einen Protest gegen die uuqualifizierbaren Veröffentlichungen gegenüber vom Bunde angeblich zugestandene Straflösigkeit verwandelte, sie selbst dem Urheber dieser Schriftwerke die Straflösigkeit sicherte und eine Anschuldigung erhob, zu deren Unterstützung auch nicht e i n e konkrete Thatsache angerufen werden konnte.

Diese Anschuldigung hat dadurch einen schweren Charakter erhalten, daß in dem bereits angegebenen Satze die Worte enthalten sind : ,,daß die königliche Regierung genug gethan zu haben glaubt, indem sie die eidgenössische Regierung an die Beobachtung ihrer internationalen Verpflichtungen erinnerte".

Im Bewußtsein, seine Pflicht gegen die ändern Völker stets sorgfältig erfüllt zu haben, mußte der Bundesrat diesen unverdienten Vorwurf zurückweisen, und er tat es in Worten, deren Kraft in ihrer Mäßigung und in ihrer Einfachheit liegt: ,,Diese Note hat sowohl hinsichtlich des Inhaltes als der E'orm den Bundesrat verletzt, und er sieht sich genötigt, gegen ihren Inhalt, den er nicht annehmen kann, zu protestieren.a Weniger konnte er nicht sagen -- und es war auch genügend.

Er verlangte somit die Anwendung der für das Zusammenleben der Staaten und für ihre guten Beziehungen notwendigen

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Grundsätze. Im Gefühle seiner Würde nahm er das Urrecht eines jeden Volkes in Anspruch, frei und ohne Einmischung von außen sein Geschick zu bestimmen, Herr zu bleiben über seine Gesetzgebung und dieselbe nach seinen Bedürfnissen zu gestalten -- und wir haben bereits die Übereinstimmung des schweizerischen Gesetzes mit den auswärtigen Gesetzgebungen konstatiert. Welchen Vorwurf hätte der Bundesrat verdient? Bei keiner Gelegenheit hat sich unser Land der Erfüllung seiner Pflichten entschlagen. Hat es davon nicht zu wiederholten Malen die überzeugendsten Beweise gegeben? Fest entschlossen, ihre Pflichten zu erfüllen, weil deren Beachtung aus sittlicher Notwendigkeit fließt und zum Frieden wie zur Volkswohlfahit beiträgt -- überzeugt, daß die aufrichtige Ausübung der internationalen Solidarität die beste Garantie der Gerechtigkeit ist, welche die Völker sich gegenseitig schulden, hatte die Schweiz sich selbst gegenüber die Pflicht, die Zulage, daß sie den Vorschriften des internationalen Rechts zuwiderhandle, zurückzuweisen.

Ihre Lage inmitten großer Staaten, ihre freiheitlichen Einrichtungen machen es ihr zur strikten Notwendigkeit, gewisse irrige Auffassungen, gewisse Mißverständnisse zu zerstreuen, welche .,,nur zu leicht Wurzel schlagen, wenn man ihrer nicht achtet," wie sich der Geschäftsbericht des Jahres 1852 ausdrückt. Wer eine Behauptung immer wieder aufstellen läßt, trägt bei zur Entstehung der Tatsache. Welches aber war die Behauptung, die der Gesandte Herr Silvestrelli aufstellte? I)a(,> die Schweiz der anarchistischen Presse Straflösigkeit zugestehe.

Im Gesetze von 1894 über die anarchistischen Umtriebe, in der Beteiligung des Bundes an der Konferenz zu Rom, in der Antwort, welche der Buudcsrat vergangenes Jahr auf die Eröffnungen der russischen und der deutschen Regierung erteilte, als es sich um die Wiederaufnahme der Verhandlungen dieser Konferenz handelte, in dem gegen den socialistischen Almanach durchgeführten Prozeß und selbst in dem Anerbieten, den ,,Risveglio"im Strafwege zu verfolgen, läge eine genügende Widerlegung dieses Vorwurfs, wenn eine solche notwendig wäre. Eines Mehrern bedarf es nicht. Unser Land achtet das Recht des freien Gedankens, aber es weist weit von sich die Theorien, welche den freien Gedanken erniedrigen. König Humbert war ein wohlwollender und aufrichtiger
Herrscher, ein erklärter Freund der Schweiz, und der seinem Gedächtnis angetane Schimpf hätte eine allgemeine Empörung hervorgerufen, wenn er in unserm Lande bekannt

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geworden wäre. Aber das Blatt,, das sich dessen unterstand, ist bei uns fast nur seinen Redaktoren bekannt, und auch das vorübergehende Aufsehen, das ihm der gegenwärtige Vorfall verliehen hat, wird von kurzer Dauer sein, weil gebildete Leser bald einer eintönigen Polemik, deren einzige Nahrung Gewalttätigkeit ist, überdrüssig werden. Man gewöhnt 'sich an das Schimpfen solcher Blätter und überhört es. Eine derartige Presse muß bei der Verständigkeit und Ruhe des schweizerischen Volkes ohne Einfluß auf dasselbe bleiben. Wie sollte es sich über Ausschreitungen der Feder oder der Rede aufregen, wenn es sieht, daß sie ununterschiedlich alle Parteien,, alle Bürger, alle Gedanken und alle Dinge treffen, welche es achtet? Das ist das wahre Wesen der Freiheit, daß sie derartige Übel heilt.

Der ,,Risveglio"1 ist ein kleines, in zwei Teile zerfallendes Blatt, deren einer italienisch und der andere französisch ist. In der Nummer vom 18. Januar 1902 enthielt der italienische Teil Beschimpfungen des Andenkens des Königs Humbert, der französische Text aber goß Insulten über schweizerische Behörden aus, und beide Teile wetteiferten in Angriffen gegen die Behörden und gegen die hervorragenden Männer verschiedener Länder und in Aufforderungen zum Boykottieren schweizerischer Fabrikanten.

Diese gewohnten Angriffe blieben hier vollständig unbeachtet und fanden in verächtlichem Schweigen ihren gerechten Lohn.

Hätte Herr Silvestrelli eine tiefere Kenntnis des schweizerischen Volksgeistes, des schweizerischen Volkscharakters, der schweizerischen Gesetze gehabt, so wäre er gewiß zu einer nichtigeren Würdigung der Argumente des Bundesrates gelangt.

Und wenn, trotz allem, der Artikel des ,,Risveglio" zeitweilig seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte, so hätte er nicht verfehlt, mit derjenigen Courtoisie sich darüber zu äußern, die dem italienischen Volke eigen ist, und welche die notwendige Atmosphäre der diplomatischen Beziehungen bildet, weil sie in der Achtung der Sitten, der Einrichtungen und der gesetzlichen Obrigkeit eines Landes besteht.

Es steht uns nicht zu, eine Untersuchung darüber anzustellen, ob Herr Silvestrelli wirklich die Instruktionen seiner Regierung in die Tat übersetzt hat. Diese Seite der Frage entzieht sich unserm Urteil. Doch scheint uns aus einem bezeichnenden Passus im Memorandum des
Herrn Ministers der auswärtigen Angelegenheiten nicht gerade hervorzugehen, daß derselbe die Form billigen wollte, welche Herr Silvestrelli wählen zu müssen glaubte. Denn es heißt dort: ,,Was die Formfrage betrifft, so

986 erscheint der Wortlaut der Note des Herrn Silvostrelli erklärlich genug aus dem Grunde, weil der Gesandtschaft schon lange die Straflösigkeit auffallen mußte, welche die gegen die Einrichtungen des Königreichs gerichteten Angriffe genießen, ohne daß je der Bundesrat in seinen Mitteilungen ein Wort der Mißbilligung dafür gefunden hättoa.

Ist eine Erklärung auch zugleich eine Billigung? Niemand wird sich darin täuschen. Die Anschauung, welche Herr Prinetti am Schlüsse seines Memorandums ausdrückt, führt den Streit in dïe Grenzen dessen zurück, was er sehr richtig einen persönlichen Zwist genannt hat, und gestattet uns, die baldige Wiederkehr guter gegenseitiger Beziehungen zu erhoffen. Feste Bande der Freundschaft, gemeinsame ökonomische Interessen, ein starker Einwanderungszufluß verknüpfen beide Völker, welche übrigens, man muß es gestehen, ob des Mißverständnisses zwischen dem Gesandten Italiens und dem Bundesrato nicht in Aufregunggeraten sind. In allen Ländern hat die politische Welt ihm jede größere Bedeutung abgesprochen. Ebensowenig sind die öffentliche Meinung und die europäische Presse darüber in Bestürzung geraten. Beiderseits hat die nationale Presse, in ihrer Allgemeinheit, die Rolle begriffen, welche ihr die Umstände anwiesen. Sie hat mit Sorgfalt alles vermieden, was den Zwist hätte verschärfen können, und hat sich bemüht, den Vorfall auf sein wahres Maß zurückzuführen. Und schon weist sie den auf ihn bezüglichen Mitteilungen einen untergeordneten Rang an.

Der Sachverhalt ist also einem Ausgleich günstig.

Indem wir uns offen aussprechen, glauben wir, einen unzweideutigen Bewies unseres aufrichtigen Wunsches gegeben zu haben, Beziehungen zwischen beiden Staaten wieder entstehen zu sehen, deren Festigkeit von der gegenseitigen Achtung der Selbständigkeit und der Gleichberechtigung beider Staaten abhängig sein wird.

Meine Herren, Wir schlagen Ihnen vor, von der uns gewordenen Mitteilung Akt zu nehmen und das Verhalten des Bundesrates zu billigen. Er tat, was er tun mußte. Seine Wachsamkeit und sein Takt werden im gegebenen Augenblicke dem bedauernswerten Zwischenfall zwischen unserem Lande und Italien eine angemessene Lösung bereiten.

Sie werden diesen Anträgen, wie wir es bestimmt hoffen, Ihre volle Zustimmung erteilen. Dieselben ergeben sich nicht weniger

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aus den tatsächlichen Verhältnissen als aus der durch die Sachlage geschaffenen Notwendigkeit und entsprechen dem gegenseitigen Bedürfnis.

Ein Minister der öffentlichen Angelegenheiten hat einst auf der Rednerbühne des italienischen Parlamentes die Worte gesprochen: ,,Was die Schweiz anbelangt, so wäre es unpolitisch, von Seiten Italiens irgend etwas zu tun, was die guten Beziehungen, welche wir zur Eidgenossenschaft haben, gefährden könnte."· Und dieser Tage hat ein einflußreiches Organ der römischen Presse geschrieben : ,,Die Freiheit, deren die Schweiz sich erfreut und sich rühmt, ist eine Wohltat nicht für sie allein, sondern für die ganze Menschheit.lt Das sind redliche Worte, welche wir gerne vernehmen, weil sie ein lebhaftes und durch nichts abzuschwächendes Gefühl ausdrücken.

Deshalb hegen wir, indem wir nach dem Verlangen des Bundesrates den Gegenstand, der unserer Beratung unterworfen wurde, abschließend behandeln, die feste Hoffnung, daß, wenn die beiden Regierungen die Zeichen verstehen, die sie überall wahrnehmen können,, und wenn sie sobald als möglich die einstimmigen Wünsche erfüllen, die Stunde herannaht, wo beide Völker ihre gemeinsame Arbeit dankbar wieder aufnehmen werden.

Die Kommission hat hiermit ihre Aufgabe erfüllt, und sie erwartet nun, daß Sie in Ihrer Vaterlandsliebe, nachdem Sie über den Gegenstand volle Auskunft erhalten, der folgenden Schlußnahme, welche der Nationalrat bereits angenommen hat, zustimmen werden : Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Botschaft des Bundesrates vom 15. April 1902 betreffend den diplomatischen Zwischenfall zwischen der Schweiz und Italien, nimmt Akt von den Erklärungen des Bundesrates und billigt seine Haltung in dieser Angelegenheit.

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B e r n , den 24. April 1902.

Der Berichterstatter: Für die Kommission, Richard, Ständerat.

988

# S T #

Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Gesuche der Kantone Aargau und Zürich um Erlaß der sogenannten Nationalbahngarantieschuld.

(Vom 29. April 1902.)

Tit.

Am 23. September 1897 richtete der Regierungsrat des Kantons Aargau eine Eingabe an den Bundesrat, in welcher er mitteilte, er sei von den aargauischen Garantiestädten Baden, Lenzburg und Zofingen ersucht worden, anläßlich der Beratungen über das Rückkaufsgesetz den Nachlaß ihrer Restschuld aus dem Bundesdarleihen vom 21. Dezember 1883 bei den eidgenössischen Räten zu beantragen. Der Regierungsrat nehme keinen Anstand, diesem begründeten Begehren zu entsprechen, nachdem ihm bekannt geworden sei, daß aus ändern Kantonen ähnliche Postulate, die mit der Rückkaufsfrage konnex seien, ebenfalls gestellt werden.

Zur Begründung des Begehrens machte die Eingabe geltend, daß die Nationalbahn, die heute einen Bestandteil des Netzes der schweizerischen Nordostbahn und (für die Linie Aarau-Zofingen) der schweizerischen Centralbahn bilde, aus Mitteln von Gemeinden und Privaten erstellt worden sei. Die Erstellung der Gesamtlinie habe einen Kostenaufwand von rund 33 Millionen Franken erfordert, wovon auf die Westsektion 17 Millionen entfielen.

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Bericht der Kommission des Ständerates betreffend den diplomatischen Zwischenfall zwischen der Schweiz und Italien. (Vom 24. April 1902.)

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30.04.1902

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