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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung zum Begnadigungsgesuche des wegen fahrlässiger Eisenbahngefährdung verurteilten Heinrich Metzger, gewesenen Lokomotivführers der schweizerischen Nordostbahn, in Seebach bei Zürich.

(Vom 21. Juni 1902.)

Tit.

1. Am 4. Juni 1899, nachts 11 Uhr 57 Minuten, fuhr der Nachtschnellzug Zürich-Genf bei seiner Einfahrt in den Bahnhof A a r a u über die vorgeschriebene Haltestelle hinaus, und stieß dabei auf zwei am Westende des Bahnhofes bei Km. 49,541 zur Übernahme des Zuges 26 auf dem gleichen Geleise bereit stehende Centralbahn-Lokomotiven, was einen schweren Unfall zur Folge hatte. Infolge des Anpralles des Zuges 26 auf die beiden Centralbahn-Lokomotiven, welcher in einem einmaligen heftigen Krachen sich äußerte, wurde das hintere Ende des Packwagens von den Rädern abgehoben und schob sich in das vordere Ende des darauf folgenden Paris-Lyon-MéditerranéeWagens hinein ; der freigewordene Radsatz stand, die Achse in der Längsrichtung des Geleises, bei Km. 49,56O mitten zwischen den Schienen. Der Paris-Lyon-Méditerranée-Wagen war mit der Mittelachse entgleist. Ein abgebrochener Puffer flog bei Km. 49,552 nach links in einen Garten hinein, an Bundesblatt

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dessen Einzäunung einen Granifcpfosten abreißend, ein Zeichen für die Gewalt des Zusammenstoßes. Abgesehen von den vielen leichten Verletzungen, wurden 2 Tote und ',i Schwerverletzte konstatiert. An Material waren beschädigt worden NordostbalmMaschine Nr. 190, Nordostbalm-Gepäckwagen Nr. 2087 und ParisLyon-Méditerranée-Personeuwagen AB 3 Nr. 1265t) ; Nordostbahn-Wagen 0 1572 und die folgenden blieben unversehrt. Der gesamte Materialschaden wurde von der Eisenbahnverwaltung auf Fr. 24--28,000 geschätzt. (Ziffer IV des bezirksgerichtlichen Urteils.)

2. Wegen dieses Unfalles erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, gestützt auf einen Delegationsbeschluß des schweizerischen Buudesrates, bei den Gerichten des Kantons Aargau gegen Heinrich Metzger, welcher den Nachtschnellzug als Lokomotivführer bedient hatte, Anklage wegen Vergehens im.

Sinne des Art. 67 b des Bundesstrafrechtes.

Das Bezirksgericht Aarau erkannte durch Urteil vom 30. März 1901 in Würdigung der Untersuchungsakten und der mündlichen Vorträge des Staatsanwaltes und des Verteidigers: ,,Der Beanzeigte wird unter Annahme weitgehender Milderungsgründe schuldig erklärt, infolge fahrlässiger Nichterfüllung der ihm obliegenden Dienstpflicht eine erhebliche Gefährdung und Beschädigung des Nachtschnellzugos Nr. 26 vorn 4. Juni 1899 herbeigeführt zu haben, was den Tod von zwei, ferner schwere und leichte Verletzungen von acht Personen, sowie einen Materialschaden von cirka Fr. 25,000--30,000 verursachte.1' Gestützt hierauf wurde Metzger verurteilt zur ausgestandenen Untersuchungshaft (welche 5 Wochen gedauert hatte), zu weitern 3 Wochen Gefangenschaft und Fr 100 Geldbuße, im Falle der Unerhältlichkoit umgewandelt in fernere 20 Tage Gefangenschaft, zur Bezahlung einer auf Fr. 100 angesetzten Spruchgebühr, sowie zur Tragung der sämtlichen Kosten der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens. Über die Strafausmessung wird im bezirksgerichtlichen Urteil gesagt (pag. 25) : ,,War das Gericht einstimmig darin, daß Metzger ein Verschulden treffe, so gingen die Meinungen über die Intensität seines Verschuldens, beziehungsweise über die Stärke, in welcher die obgenannten außerhalb der Thütigkeit Metzgers liegenden Thatbestandsmerkmale zum Unglücksfall beigetragen, auseinander.

Eine Minderheit hätte nämlich über den Beanzeigten noch eine mehrmonatliche Freiheitsstrafe ausgefällt, davon ausgehend, daß

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das Vorgehen der Bahugesellschaft, soweit dieselbe innert den Vorschriften ihrer Réglemente gehandelt habe, nicht als erheblicher Mildcrungsgrund angesehen werden könne. a 3. Das aargauische Obergericht, an welches der Verteidiger des Angeklagten sowohl als der Staatsanwalt des Kantons Aargau rekurrierten, bestätigte das erstinstauzliche Urteil in allen Teilen mit der einzigen Abänderung, daß die gegen Metzger ausgesprochene Freiheitsstrafe von 3 Wochen auf 4 Monate erhöht wurde. Ferner wurde der Verurteilte verpflichtet, der Staatsanwaltschaft zu Händen des Staates Aargau und der schweizerischen Eidgenossenschaft die Kosten der Rekursinstanz mit Fr. 70 und eine obergerichtliche Staatsgebühr von Fr. 50 zu bezahlen.

Zur Begründung der Erhöhung der Freiheitsstrafe wird dabei bemerkt (obergerichtliches Urteil, pag. 14) : ,,Muß aber auf den Rekurs eingetreten werden, so erzeigt sich derselbe auch als begründet. Das strafrechtliche Verschulden Metzgers ist wie gezeigt ein schwereres, als die bezirksgerichtliche Mehrheit angenommen hat. Das Obergericht findet daher, es sei Metzger für sein Vergehen mit einer viermonatlichen korrektioneilen Freiheitsstrafe, ohne Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungshaft, nicht zu hart gestraft."· 4. Mit Eingabe vom 1. Mai 1902 stellt Heinrich Metzger durch seinen Verteidiger Advokat Dr. Eugen Curti in Zürich das Gesuch, es möchte die ihm durch das aargauische Obergoricht auferlegte Strafe von 4 Monaten Gefängnis und Fr. 100 Goldbuße auf dem Gnadenwege erlassen und er überdies von der Zahlung der Gerichtskosten, die sich auf die Summe von Fr. 3314. 55 belaufen, ganz oder teilweise befreit werden. Die Regierung des Kantons Aargau gelangt gestützt auf ein Gutachten ihrer Staatsanwaltschaft zu dem Schlüsse, daß kenn Grund vorliege, die dem Metzger auferlegte Strafe zu erlassen und verwahrt sich dagegen, daß etwa zu Lasten des Kautons dem Verurteilten Gerichtskosten abgenommen werden.

5. Nach Lage der Akten konnte ein persönliches Verschulden an dem eingetretenen Eisenbahnunfall niemand zur Last fallen, als dem Lokomotivführer Heinrich Metzger. Es war auch während des ganzen Untersuchungs- und G erichts Verfahrens kein Zweifel darüber, daß es sich nicht um Arglist oder Absicht handeln könne, sondern um bloße Fahrlässigkeit eines sonst als vertrauenswürdig und gewissenhaft erprobten Balmangestellten. Metzger war denn selbst nicht im Falle, die Verantwortlichkeit für die

888 Führung des aufprallenden Sclmellzugos von sich auf eine andere Person abzulenken. Dagegen kam in Frage, ob or nicht in Verletzung dienstlicher Pflichten verabsäumt habe, die ihm zu rechtzeitigem Anhalten des Bahnzuges zur Verfügung stehenden mechanischen Mittel in Anwendung zu bringen, insbesondere die sogenannte Westinghousebremse, die von der Lokomotive aus regulierbar mit den übrigen Fahrzeugen in Verbindung stand und die, wenn sie rechtzeitig auf die Bremsklötze eingewirkt hätte, unzweifelhaft auf nützliche Distanz den Zug zum Stehen gebracht hätte.

Meteger behauptete in der Untersuchung und vor Gericht, er habe rechtzeitig vor Station Aarau die Luftbremsen in Funktion zu setzen versucht, indessen ohne Wirkung, und es sei ihm, nachdem er letzteres bemerkt, trotz Anwendung von Contredarnpf nicht mehr möglich gewesen, das Überfahren der Station zu vorhüten. Daher entstand die Frage, ob nicht infolge irgend eines mechanischen Fehlers oder sonstiger momentaner Untüchtigkeit, die als Haupthemm Vorrichtung dienende Luftbremso im kritischen Momente den Dienst versagt habe. Hierüber wurden während des gerichtlichen Verfahrens weitläufige Untersuchungen angestellt und insbesondere eingehende Expertise durch Sachverständige erhoben. Diese Experten kommen im Schlußwort ihres ausführlich motivierten Gutachtens zu folgendem Schlnsse (pag. 5 des obergerichtlichen Urteiles): ,,Die unmittelbare Ursache des Überfahrens des Bahnhofes Aarau durch den Nordostbahn-Schnellzug Nr. 26 am 4. Juni 1899 liegt darin, daß Lokomotivführer Metzger den Dampf viel zu spät abstellte und infolgedessen auch die ihm zur Verfügungstehenden Bremsmittel zu spät zur Anwendung brachte, um seinen Zug rechtzeitig, d. h. vor dem Aufstellungsorte der beiden Centralbahnlokomotiven anhalten zu können. a Die beiden Gerichtsinstanzen stimmten diesen Schlußfolgerungen bei und gelangten auch auf Grund der Ausführungen der Experten, entgegen den Einreden der Verteidigung, zu der Annahme, d a ß d i e B r e m s e r i c h t i g f u n k t i o n i e r t e , a b e r v o n M e t z g e r v i e l z u s p ä t i n B e w e g un g g e s e t z t w u r d e (pag. 10 des obergcrichtlichen Urteiles).

6. Durch die rechtskräftige richterliche Entscheidung ist für die Begnadigungsinstanz endgültig festgestellt, daß Heinrich Metzger in Verletzung dienstlicher Pflichten auf fahrlässige Weise den Zusammenstoß des von ihm geführten Schnellzuges mit den auf dem Geleise still stehenden S. C. B. Lokomotiven und dadurch Tod

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und Verletzung von Menschen und Materialsehaden verschuldet, liât. Über die Frage, ob nicht die Aufstellung der Maschinen im Durchfahrtsgeleise ein Fehler der Betriebsleitung der .Bahngesellschaft gewesen sei, der Metzger ganz oder teilweise entschuldigen könne, spricht sich das Obergericht (Urteil pag. 11/12) in zutreffender Weise dahin aus : .^Übergehend zur Abwägung des Verschuldens des Beklagten, so muß dasselbe als ein schweres taxiert werden, wenn man, wie hier annehmen muß, daß Führer Metzger die elementarsten Funktionen eines Maschinenführers verabsäumt hat, indem er es unterließ, den Dampf rechtzeitig abzustellen und rechtzeitig zu bremsen. Der Umstand, daß der Zusammenstoß nicht erfolgt wäre, wenn die S. C. B. Lokomotiven nicht auf dem Ausfahrtsgeleisr des Ölteiier Zuges, sondern auf einem Nebengeleise aufgestellt gewesen wären, kann den Beklagten nicht einmal teilweise entlasten. Er hatte in Aarau anzuhalten. Es war dies sogar die Endstation seiner Linie. Er wußte, innerhalb welcher Zone er anzuhalten hatte. Was darüber hinaus lag, stand auch nicht eventuell zu seiner Verfügung. Zudem k a n n t e er ja nicht nur den Aarau er Bahnhof zur Genüge, sondern auch den Aufstellungsort der S. C. B. Lokomotiven. Endlieh sah er am Abend des 4. Juni die roten Schlußlaternen derselben schon vom Bahnübergang in der Gaiß aus. Sein Verschulden ist deshalb kein geringeres, als wenn er in diesem Tempo in einen Kopfbahnhof eingefahren und auf diese Weise angerannt wäre. Jedenfalls kann von einem schuldhaften Verhalten der Bahnverwaltung, beziehungsweise ihrer Organe, bezüglich dieser Maschinenaufstellurig keine Rede sein.11 Weiter wird über die Ursachen des Zusammenstoßes und seiner verheerenden Wirkungen gleichen Ortes noch bemerkt : .flAuch die Tlmtsache, daß das Zugspersonal es unterließ, von den Plattformen aus die Leitungshahnen (Luftleitungshahnen) zu öffnen, entschuldigt den Lokomotivführer Metzger, dem das Anhalten des Zuges in erster Linie oblag, keineswegs. Wohl aber darf hier ausgesprochen werden, daß das strafrechtliche Verschulden des Metzger nicht nach dem vollen Erfolge seiner Unterlassung zu bemessen ist. Es ist nämlich mit Sicherheit anzunehmen, daß die geringere Pulferhöhe des Paris-Lyon-Méditerranéc-Wagens das Aidsteigen des Packwagens auf denselben und somit auch dessen Zertrümmerung wesentlich begünstigt hat. Auch die Experten nehmen dies an und es scheint hierfür auch der weitere Umstand zu sprechen, daß schon der dritte

890 Wagen im Zug mit verhältnismäßig leichten Beschädigungen davon kam."1 7. Das Begnadigungsgesuch bemängelt nun in erster Linie die Schlüssigkeit des Expertengutachtens und das Verfahren der Untersuchungsbehörde. Die Begnadigungsinstanz ist nicht in der Lage, auf dieso Ausführungen einzutreten. Im weitern wird (auf pag. 5 ff. der Eingabe) zu zeigen versucht, daß die ausgefällte Strafe eine überaus harte sei, daß es sich rechtfertige, dieselbe dem Petenten, der fünf Wochen im Untersuchungsvcrhaft zugebracht habe, zu erlassen. Der Verteidiger glaubt sagen zu können, daß die beiden Urteile der persönlichen Stellung des Gesuchstellers im Blomente des Unglücksfalles viel zu wenig Rechnung getragen haben und begründet dies wie folgt (pag. 4/6 des Begnadigungsgesuches) : ,,Es spricht doch die Erwägung, daß ein Lokomotivführer durch die geringste Sorglosigkeit und Pflichtvernachlässigung sich selbst am allermeisten der präsentesten Lebensgefahr aussetzt, allein schon gegen die Annahme eines schuldbaren Verhaltens.

Er selbst hat ja das allergrößte persönliche Interesse daran, daß der von ihm geführte Zug ungefährdet seinen Weg geht.

,,Ferner ist nicht genügend berücksichtigt worden, daß die dem Lokomotivführer zugemuteten Entschließungen, die angesichts der größten Gefahr und Verantwortlichkeit zu treffen sind, in der allerkürzesten, kaum meßbaren Zeit gefaßt werden müssen.

Sollte es verwunderlich sein, daß solche Entschließungen inhaltlich nicht immer korrekt sind ? Heißt es nicht vielmehr, die Gesetze alles menschlichen Handelns verkennen, wenn man einem Lokomotivführer zumutet, unter diesen erschwerendsten Umständen absolut fehlerlos zu arbeiten? Nachdem Metzger einmal entdeckte, daß die Bremse nicht richtig funktioniere, eiue Möglichkeit, welche das Bezirksgericht zugiebt, war er nach der Natur der Sache in der größten Aufregung und im heftigsten Schrecken und wenn er nun in dieser Situation auch nicht so korrekt gehandelt haben sollte, wie wenn er sich selbst allea bei ruhigem Blute und in der Studierstube hätte überlegen können, könnte man ihn deshalb nun wirklich eines Deliktes anschuldigen?

,,Der Mensch ist kein automatisch sich bethätigonder Apparat, es liegt in seiner Natur, daß er ab und zu fehlt, und überall, selbst bei gewissenhaftester Aufmerksamkeit kommen Vorsehen vor und müssen zufolge der Natur des Menschen Versehen vorkommen. Soll nun ein Lokomotivführer, dem ein solches unver-

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meidbares Versehen passiert, dafür bestraft werden können?

Gewiß nicht. Darin geht das Urteil entschieden zu weit, indem es ein derartiges Versehen zur strafbaren Fahrlässigkeit anrechnet.

,,Ganz abgesehen davon ist aber zu sagen, daß ein allfällig begangener Fehler mit der bereits erstandenen Untersuchungshaft von fünf Wochen ausreichend gesühnt ist. Im Falle des Stationsvorstandes Gribi hat die Bundesversammlung die Strafe auf einen Monat reduziert, trotzdem dort die Verhältnisse für den Angeklagten wesentlich ungünstiger lagen als für Metzger, denn Gribi selbst war nicht in persönlicher Lebensgefahr, seine Entschließung war nicht in Teilen von Sekunden zu treffen, er vergaß, ein vorgeschriebenes Signal, dessen Abgabe dem Stationsbeamten zur Gewohnheit wird, zu erteilen, und trotz des großem ideellen und materiellen Schadens hielt die Begnadigungsinstanz dafür, die verhängte Strafe von zwei Monaten sei zu hoch.

,,Es darf auch darauf hingewiesen werden, daß Metzger während der zweieinhalbjährigen Dauer seines Prozesses ungeheuer viel gelitten hat. Er ist ein gebrochener Mann, den das Bewußtsein, den verunglückten Zug geführt zu haben, tief gebeugt hat.a 8. Bei Würdigung des Begnadigungsgesuches muß vor allem der Versuch zurückgewiesen werden, das Eisenbahnunglück in Aarau mit demjenigen in Zollikofen hinsichtlich der ursächlichen Momente auf gleiche Linie zu stellen. Beim letzteren ergab sich, wie der Bericht des Bundesrates vom 14. Dezember 1893 ausführt (Bundesblatt 1893, Band V, Seite 711 -- 712), unzweifelhaft, daß die Katastrophe nicht die Folge des diens liehen Vergehens einer einzelnen Person gewesen, sondern daß sie dem Zusammenwirken einer Anzahl ungünstiger Faktoren, sowie fehlerhaften und unzureichenden Anordnungen, kleinern und großem Nachlässigkeiten in der Dienstabwicklung seitens höherer und niederer Organe der Bahnverwaltung zuzuschreiben war.

Beim Unfall von Aarau aber handelte es sich um Unterlassung bahndienstlicher Verrichtungen, die einzig und allein dem Lokomotivführer Metzger oblagen und, soweit nicht die Zugskomposition in Frage steht, um seine alleinige Verantwortlichkeit in Bezug auf Funktionen verhältnismäßig einfacher Art. Metzger tvar nicht wie Stationsvorstand Gribi im kritischen Momente durch vorangegangene Arbeit abgespannt und mit Extraarbeiten überhäuft. Er kannte vielmehr aus mannigfachen Präcedenzfällen

892 die ihn bei der Einfahrt in den Bahnhof Aarau erwartende Situation und die ihm obliegenden Verrichtungen genau. Die Umstände, die für milde Behandlung und schließlich für totale!

Begnadigung Gribis sprachen, wirken daher nicht, jedenfalls nicht in gleichem Grade für Heinrich Metzger. Das Obergerieht des Kantons Aargau bemerkt auf Seite 11 seines Urteiles mit vollem Rechte : ,,Man kann auch nicht sagen, daß es übermenschlich sei, von einem Lokomotivführer so viel Geistesgegenwart zu verlangen.

Wer an so verantwortungsvollem Posten steht, wie dies bei einem Lokomotivführer der Fall ist, muß die ihm erreichbaren Mittel zur richtigen Führung seiner Maschine jederzeit vollständig überblicken und auch jederzeit im stände sein, an Stelle eines versagenden Mittels ein anderes anzuwenden. Gewiß werden mit diesem Grundsatz große Anforderungen an die Geistesgegenwart und auch an die körperliche Leistungsfähigkeit eines einzelnen Mannes gestellt. Aber sie m ü s s e n gestellt werden, wenn der Bahnverkchr ein auch nur halbwegs sicherer sein soll.a 9. Das Bundesgesetz über das Bundesstrafrecht vom Jahre 1853 bedroht in Art, 67 b das Vergehen der fahrlässigen Eiscnbahngefährdung, wenn ein beträchtlicher Schaden entstanden ist, mit Gefängnis bis auf drei Jahre und mit Geldbuße. Als Höchstmaß der letzteren nennt Art. 2 /' des Gesetzes die Summe von Fr. 10,000.

Die über Metzger ausgesprochene Strafe von vier Monaton Gefängnis und Fr. 100 Geldbuße bleibt sonach noch weit eher an der Minimal- als an der Maximalgrenze und sie erscheint mit Rücksicht auf den Grad des Verschuldens des Fehlbaren und die Größe der von ihm herbeigeführten Gefahr und des effektiv entstandenen Schadens keineswegs als zu hoch, trotzdem die Untersuchungshaft von 5 Wochen von der Freiheitsstrafe nicht abgerechnet wurde. Die schweizerischen Gerichte sind allerdings im allgemeinen geneigt, in Fällen vorliegender Art nur geringe Strafen auszusprechen, dagegen bietet die Praxis auch Beispiele anderer Art, denen gegenüber die Beurteilung des Metzger als Kt'hr milde erscheint. So wurde laut Bimdesblatt pro 1898, Band I, Seite 487, im Jahre 1897 der Lokomotivführer eines Schnellzuges, der durch vorschriftswidriges Überfahren einer Station zwei Züge ernstlich gefährdet hatte, durch waadtländische Richter mit 6 Monaten Gefängnis und Fr. 100 Buße, der mitschuldige Heizer mit 15 Tagen Gefängnis und Fr. 100 Buße bestraft, trotzdem kein

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Schaden entstanden war. An diesem Maßstabe gemessen bietet das Urteil gegen Metzger entschieden keinen Anlaß zur Reduktion der Strafe. Was die Kosten anbetrifft, so stände allerdings einem Nachlaß derselben durch Beschluß der Bundesversammlung nichts entgegen, da sie nach Art 156, Lemma 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege im Falle der Unerhältlichkeit dem Kantone aus der Bundeskasse ersetzt werden müssen. Indessen sind sie, mit Inbegriff der Kosten der eisenbahntechnischen Expertise durch ordnungsgemäße und vom Angeklagten selbst angeregte Untersuchungshandlungen entstanden und liegt deshalb kein zureichender Grund vor, von der gesetzlich vorgeschriebenen Belastung des Verurteilten mit dorn Ersatz dieser Kosten Umgang zu nehmen.

Wir stellen daher bei Ihrer hohen Versammlung den A nt r ag:

Es sei das Begnadigungsgesuch des Heinrich Metzger in allen Teilen abzuweisen.

B e r n , den 21. Juni 1902.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Eingier.

-Hgg'E©-^

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Begnadigungsgesuche des wegen fahrlässiger Eisenbahngefährdung verurteilten Heinrich Metzger, gewesenen Lokomotivführers der schweizerischen Nordostbahn, in Seebach bei Zürich. (Vom 21. Juni 1902.)

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25.06.1902

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