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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung zum Begnadigungsgesuche des wegen Übertretung der Vorschriften über Viehseuchenpolizei bestraften Pietro Lardi in Le Prese di Poschiavo.

(Vom 5. Juni 1902.)

Tit.

Lardi wurde durch Beschluß des Kleinen Rates des Kantons Graubünden wegen Übertretung von Vorschriften über die Viehseuchenpolizei zu einer Buße von Fr. 200 verurteilt und stellt nunmehr bei der Bundesversammlung das Gesuch, daß diese Strafe im Wege der Begnadigung gänzlich aufgehoben oder doch wesentlich reduziert werden möchte. Er beruft sich zur Begründung dieses Gesuches auf seine Familienverhältnisse, indem er vorbringt, er und seine Ehefrau seien sehr betagt und infolge von Augenkrankheit beinahe blind. Dieser Umstand hätte es ihnen erschwert, rechtzeitig zu erkennen, daß eine auf dem Markte gekaufte Kuh krank sei. Das Tier sei dann allerdings nach bereits verhängtem Stallbann einmal außerhalb des Stalles zum Zuge verwendet worden, aber ohne Wissen des Petenten von einem geistig stark beschränkten Sohne desselben. Außer diesem Sohne lebe im Haushalte Lardis noch eine vollständig blödsinnige Tochter, die stets überwacht werden müsse. Seine Kinder seien ihm daher nur eine Last, statt eine Stütze, und er lebe von seiner Arbeit auf einem kleinen Stücke Land jedes Jahr .mit zunehmender Verschlechterung seiner Verhältnisse.

616 Auf Veranlassung der Bundesanwaltschaft berichtete die kantonale Behörde in folgender Weise üher die thatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Falles: 1. Pietro Lardi .,Pertìscha in Le Prese ist unterm 14. Januar abhin mit der erwähnten Buße von Fr. 200 belegt worden auf Grund des Art. 36 des Bundesgesetzes über polizeiliche Maßregeln gegen Viehseuchen vom Jahr 1872 und der kantonalen Ausführungsbestimmungen dazu, sowie auf Grund der Art. 28 und 103 der eidgenössischen Vollziehungsverordnung vom 14. Oktober 1887, weil er: a. die eidgenössischen und kantonalen Quarantänevorschriften betreffend aus dem Auslande importiertes Vieh in zweifacher Weise verletzt hat, einmal dadurch, daß er das in Quarantäne stehende Vieh nicht im Stalle, sondern auswärts getränkt hat, sodann dadurch, daß er, ebenfalls während dieser Zeit, ein Rind aus diesem gleichen Stalle zum Zuge nach allen Richtungen verwenden ließ ; b. trotzdem die importierte Kuh 5 bis 6 Tage nach der Einfuhr wenig Appetit zeigte, dieselbe nicht untersuchen ließ und nachdem er dann am 11. Tage nach der Einfuhr derselben, als sein übriger Viehstand schon von der Maul- und Klauenseuche durch diese importierte Kuh infiziert worden war, die Seuche zugegebenermaßen bestimmt vermutete, doch erst am 12. Tage die vorgeschriebene Anzeige erstattete. (Cf. Bußdekret vom 8. Januar 1902 und Einvernahm eprotokoll Poschiavo nebst Beilagen.)

2. Unterm 3. Februar abhin ersuchte P. Lardi den Kleinen Rat um Wiedererwägung des Bußdekretes vom 14. Januar und um Erlaß oder wenigstens Reduktion der Buße, indem er die nämlichen Gründe namhaft machte, die in seinem an den hohen Bundesrat gerichteten Begnadigungsgesuch enthalten sind. Der Kleine Rat konnte sich nicht davon überzeugen, daß genügende Gründe vorhanden wären, die im Verhältnisse zu den mehrfachen, keineswegs leichten Kontraventionen des Petenten milde Strafe zu erlassen oder zu vermindern. Dieses Wiedererwägungsund Begnadigungsgesuch wurde deshalb abgewiesen mit Entscheid vom 7. März 1902. (Cf. Kleinratsdekret vom 7. Mära 1902 samt Beilagen.) P. Lardi hat hierauf die Geldbuße an die Gemeindebehörde zu Händen des Fiskus einbezahlt.

3. Was nun das vorliegende Begnadigungsgesuch des P.

Lardi betrifft, so muß darauf hingewiesen werden, daß der Ge-

617 suchsteiler nicht in schlechten Vermögensverhältnissen sich befindet. Er besitzt ein kleines schuldenfreies Heimwesen, eine kleine Viehhabe und etwas* Kapital, wie sich aus dem beigelegten Steuerzettel, seine Selbstjaxation, ergiebt. Seine Familienverhältnisse sind von ihm und vom Vorstand Poschiavo etwas zu nachteilig geschildert worden. Es ist zwar richtig, daß ein Sohn und eine Tochter nicht geistig normal sind, immerhin sind dieselben arbeitsfähig und werden in der väterlichen Landwirtschaft beschäftigt, wie aus dem Begnadigungsgesuch selbst und aus den übrigen Akten, z. B. aus der Strafanzeige des Bezirkstierarztes hervorgeht. Nach der im Wiedererwägungsgesuch an die Regierung vom Petenten selbst gemachten Angabe hat der vom Vorstand als ,,debole di mente" bezeichnete Sohn Giovanni, geb. 1861, selbständig und ohne väterlichen Befehl ein Rind im Zuge eingespannt und das Fuhrwerk besorgt. Ein anderer Sohn, in den besten Jahren stehend, Basilio, der bisher, laut gemeinderätlicher Erklärung, seine Eltern von Rom aus unterstützt hat, ist zu seinen Eltern zurückgekehrt. Auch die Familienverhältnisse des Petenten sind daher bei weitem nicht derart, daß sie den Erlaß der Strafe rechtfertigen könnten.

Nach eingelangtem amtlichen Zeugnis versteuert Pietro Lardi ein Vermögen von Fr. 7800, bestehend aus unbelasteten Immobilien im Werte von Fr. 6800 und Fr. 1000 Kapitalien.

Lardi ist daher nicht im Falle, zu behaupten, daß ihm mit Rücksicht auf seine Vermögenslage die Bezahlung der Buße von Fr. 200 unmöglich sei. Er hat thatsächlich die ihm auferlegte Buße bereits geleistet und wenn auch daraus nicht ein Verzicht auf das Begnadigungsgesuch gefolgert werden kann, so darf wohl um so eher von Rücksichten bloßen Mitleides abgesehen werden.

Im übrigen war alle Veranlassung vorhanden, die wiederholten groben Übertretungen der seuchenpolizeilichen Vorschriften mit einer nicht zu geringen Buße zu belegen. Lardi kann sich nicht damit ausreden, daß sein Sohn thatsächlich die Übertretung begangen habe, denn er war für die Handlungen desselben verantwortlich, und zwar in um so stärkerem Maße, je woniger der Sohn wegen Geistesschwäche in der Lage war, die Gefahr zu erkennen, welche die Benutzung des kranken Tieres zu Arbeiten im Freien in der kritischen Zeit für anderes Vieh mit sich brachte.

Da endlich das
Gesetz ein Strafmaximum von Fr. 500 kennt, so erscheint die ausgesprochene Buße auch in ihrer Höhe keineswegs übersetzt, und liegt kein Grund vor, dieselbe durch Begnadigung zu reduzieren.

618 Wir stellen daher bei Ihrer hohen Versammlung den Antrag: Es sei das Begnadigungsgesuch des Pietro Lardi abzuweisen.

B e r n , den 5. Juni 1902.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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