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Schweizerische Bundesversammlung,

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 29. September 1902 zur Fortsetzung der ordentlichen Sommersession zusammengetreten.

Neugewählte Mitglieder : Nationalrat.

Herr J o l i a t , Louis, von Courtetelle, in Bern.

" S p e i s e r , Paul, von und in Basel.

,, E g g s p ü h l e r , Franz Xaver, von Klingnau, in Zurzach.

Herr Dr. Iten, Präsident des N a t i o n a l r a t e s , hielt bei der Sessionseröffnung folgende Ansprache: Meine Herren Nationalräte !

Seit der letzten Tagung des Nationalrates sind zwei Kollegen, der eine infolge Demission, der andere, Herr Landammann K e e l, durch Tod aus der Mitte des Rates geschieden.

Herr Keel gehörte dem Nationalrat seit 1876 an, in einer ununterbrochenen Reihe von 26 Jahren. Er war Präsident desselben im Jahre 1896/97.

Heute, da Keels von patriotischem Geiste erfülltes Wirken abgeschlossen hinter uns liegt, erinnern wir uns so recht der großen Mission, die der St. Galler Staatsmann in der eidgenössischen Politik erfüllte.

Ein eifriger Kämpfer für die katholische Sache, ist Keel, nachdem einmal die Kulturkampfperiode hinter uns lag, recht eigentlich die vermittelnde Persönlichkeit zwischen seiner Partei und den Bestrebungen der freisinnigen Mehrheitspartei geworden.

Zu dieser Rolle des Vermittlers befähigten ihn nicht bloß seine fortschrittliche Gesinnung, sein makelloser, integerer Charakter, vor dem auch der politische Gegner wahre Hochachtung empfinden mußte, sondern ebensosehr seine Überzeugung, daß eine gedeihliche Lösung der großen volkswirtschaftlichen Aufgaben nur auf

424 dem Boden des Bundes möglich und zu einem guten Abschluß geführt werden könne.

Dieser seiner Überzeugung gab er fest und entschlossen Ausdruck nicht bloß anläßlich der Volksabstimmung über die Zweifrankeninitiative, sondern auch bei der Eisenbahnverstaatlichung,, bei der Bankfrage und der Rechtsvereinheitlichung.

Seinem Heimatkanton St. Gallen leistete der Verstorbene als Mitglied der Regierung jahrzehntelang die ausgezeichnetsten Dienste. Mit Liebe und Verehrung hingen seine Mitbürger an ihrem Landammann, dessen biederes Wesen allen sympathisch sein mußte, die je mit dem wackern Manne in Berührung gestanden hatten.

Leider war es Herrn Keel in den letzten Jahren seines Lebens nicht mehr beschieden, seine große Wirksamkeit, die er in den Tagen der Vollkraft in so hervorragender Weise betätigt, dem Lande auch fernerhin zu widmen. Für das öffentliche Leben war Keel mit dem Tage, da er in Bern einen Schlaganfall erlitten, ein stiller Mann geworden und die Hoffnung, daß er je einmal das neue Heim des eidgenössischen Parlaments werde betreten können, schwand mehr und mehr dahin. Ein schöner Tod, der versöhnend stimmt, hat den trefflichen Magistraten vor einer Zukunft, die nur Siechtum gewesen, gnädig bewahrt.

Ein wackerer Eidgenoß ist mit Keel dahingegangen. An seiner Bahre trauern nicht bloß seine Gesinnungsgenossen, denen er allezeit ein umsichtiger Führer gewesen ; mit seiner politischen Wirksamkeit als Staatsmann hat sich Keel den Kranz der Anerkennung des gesamten Vaterlandes verdient. Ich lade Sie ein, zu Ehren des Verstorbenen, sich von Ihren Sitzen erheben zu wollen.

Meine Herren Nationalräte!

Gestatten Sie Ihrem Vorsitzenden, nach den Worten der Trauer noch solche der Freude an Sie zu richten.

Im verflossenen August haben die Differenzen, welche zwischen Italien und der Schweiz bestanden, ihre endgültige, befriedigende Lösung gefunden. Als im Frühling dieses Jahres nach vorhergegangenem Notenwechsel der Abbruch der diplomatischen Beziehungen gegenüber Italien erfolgte, da stand das eidgenössische Parlament und das ganze Schweizervolk wie ein Mann ohne Unterschied der Partei, zu unserer obersten Landesbehörde. Waren die pietätslosen und völlig ungerechtfertigten Auslassungen, welche

425 in einem Schweizerblatte gegenüber Italien und dessen Staatsoberhaupt erschienen waren, tief zu beklagen, so durfte und konnte der Bundesrat nicht anders handeln, als wie ihm die Landesgesetze, deren Respektierung er beschworen, dies vorgeschrieben haben. Wenn der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu ernsten Verwicklungen nicht geführt hat, und wenn insbesondere der freundnachbarliche Verkehr zwischen der Schweiz und Italien während der Konfliktsdauer keinen nennenswerten Unterbruch erlitten hat, so wollen wir an dieser Stelle nicht unterlassen, neben der entgegenkommenden Haltung der beiden Völker auch der freundlichen Vermittlung einer benachbarten Großmacht dankbar zu gedenken.

Hiermit erkläre ich die Herbstsession für eröffnet.

Im S t ä n d e r a t eröffnete Herr v. Arx die Session mit folgenden Worten: Meine Herren Ständeräte !

Sie sind, in Ausführung eines von den eidgenössischen Räten im Juni abhin gefaßten Beschlusses, vom Bundesrate zu einer mit heute beginnenden Fortsetzung der ordentlichen Sommersession eingeladen worden. Ich heiße Sie zur Eröffnung derselben herzlich willkommen.

Leider hat der unerbittliche Tod seit unserer letzten Tagung wiederum eine bedauerliche Lücke in unsere Reihen gerissen.

Am verflossenen 12. August starb zu St. Fiden (Kanton St. Gallen) Herr Landammann Joh. Jos. K e e l, Mitglied des Nationalistes.

Herr Keel, Bürger von Rebstein und Rorschach, wurde am 15. März 1837 in St. Fiden geboren und erreichte somit ein Alter von etwas über 65 Jahren. Nach vorzüglichen juristischen Studien in München, Heidelberg und Berlin trat derselbe zunächst als Departementssekretär, später als Kriegskommissär in den st. gallischen Staatsdienst ein. Frühzeitig schon wurde die öffentliche Aufmerksamkeit auf den stillen, aber nur um so fleißigeren und begabteren jungen Mann gelenkt, und bereits im Jahre 1871 ernannte ihn der Große Rat seines Heimatkantons zum Mitglied des Regierungsrates. Während vollen 31 Jahren hat Herr Keel diesem Kollegium angehört und nach ungeteiltem Urteil dem Finanzdepartement mit Auszeichnung vorgestanden. Ohne Übertreibung durfte ihm ein Kollege aus dem Regierungsrate am

426 offenen Grabe nachrühmen : Dem Dahingeschiedenen sei als Finanzchef ein solider Haushalt in erster Linie Richtschnur und Gebot gewesen ; aber für alle nützlichen Aufgaben war er auch wieder da, vorsichtig abwägend, aber dann auch mächtig helfend und freudig gebend, eintretend für alles, was gut war, schön und edel.

Ende der 70er Jahre trat Landammann Keel in den Nationalrat ein, in welchem er, dank seinen als Regierungsrat eines der größten Kantone gesammelten reichen Erfahrungen, dank der objektiven Beurteilung, mit welcher er an alle Staatsgeschäfte herantrat, und nicht zum mindesten auch wegen seines leiden- ( .

schaftslosen und versöhnlichen Auftretens, bald zu den einflußreichsten Mitgliedern gehörte. Seine parlamentarische Tätigkeit erstreckte sich auf fast alle wichtigen Fragen, welche in den letzten zwei Dezennien an die eidgenössischen Räte herantraten, und er war auch Mitglied und sehr oft Berichterstatter wichtiger Kommissionen. Vor allem aus interessierte ihn das Studium und die Lösung allgemein wirtschaftlicher Probleme. Mit aufrichtiger Überzeugung bekannte er sich denn auch als Anhänger einer zentralen Notenbank und als einer der eifrigsten Vorkämpfer für die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Er ist mit dem ganzen Gewicht seiner Person für die Verwirklichung dieser Postulate eingetreten. Der Nationalrat lohnte ihm seine treue MitarbeiterSchaft durch die Wahl zum Präsidenten.

Landammann Keel bekleidete auch die Stelle eines Verwaltungsrates der schweizerischen Bundesbahnen und war Mitglied des ständigen Verwaltungsausschusses. Leider war ihm nicht mehr vergönnt, sich an den Sitzungen dieser beiden Behörden zu beteiligen. Vor zirka zwei Jahren befiel ihn eine schwere Krankheit, von welcher der Dahingeschiedene selbst allmählich wieder zu genesen hoffte, welcher er aber nach langen und mit Geduld ertragenen Leiden nun doch erlegen ist.

Mit Landammann Keel ist ein Mann von uns geschieden, welchen wir bei den Geschäften des Landes noch lange und , schmerzlich missen werden, ein Mann von vornehmer Gesinnung, von goldlauterem Charakter und gediegenem Wissen, ein Mann von unermüdlicher Arbeitslust und Arbeitskraft, mit einem Worte : der besten einer unter den Eidgenossen !

Meine Herren Ständeräte !

Ich ersuche Sie, das Andenken dieses ausgezeichneten Bürgers zu ehren, indem Sie sich von Ihren Sitzen erheben.

427 Bevor wir zur Behandlung unserer Geschäfte übergehen, kann ich es nicht unterlassen, von dieser Stelle aus der allgemeinen Befriedigung Ausdruck zu geben, welche wir und mit uns das ganze Schweizervolk darüber empfinden, daß die bedauerlichen Mißhelligkeiten zwischen unserem Lande und dem südlichen Nachbar Italien seit unserer letzten Tagung in Minne beigelegt worden sind.

Wenn damit das alte freundschaftliche Verhältnis in den Beziehungen der beiden Staaten zueinander wieder hergestellt worden ist, so haben wir dieses erfreuliche Ereignis neben der höchst verdankenswerten Vermittlung einer uns befreundeten Macht nicht zum mindesten der Ruhe und der Selbstbeherrschung, mit welcher der obschwebende Streitfall gegenseitig erörtert worden ist, sowie dem allerwärts sich zeigenden guten Willen, den Span sobald als möglich aus der Welt zu schaffen, zu verdanken.

Unser Land schätzte sich denn auch glücklich, gleichsam zur Bekräftigung des wieder hergestellten guten Einvernehmens, den jungen S3'tnpathischen König von Italien anläßlich seiner Durchreise nach Deutschland als Gast offiziell zu empfangen und in ihm den Souverän einer Nation zu begrüßen, mit welcher uns so viele wirtschaftliche Beziehungen verbinden und welche wir als Erbin einer alten herrlichen Kultur und als Trägerin so vieler weitherziger und großmütiger Ideen achten und schätzen.

Möge die in allen Teilen so gut verlaufene Zusammenkunft von Göschenen für die Zukunft ein Pfand sein aufrichtiger Freundschaft uud gegenseitiger Verträglichkeit.

-SSO*5.-

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