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Schweizerisches Bundesblatt.

XXV. Jahrgang. L

Nr. 10.

8. März 1873.

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in der ganzen Schweiz): 4 Franken.

Einrükung sge b ü h r per Zeile 15 Bp. -- Inserate sind franko an die Expedition einzusenden.

Druk und Expedition der Stämpflischen Buchdrukerei in Bern.

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Bundesrathsbeschluss in

.

betreffend Gerichtsstand.

(Vom 20. Januar 1873.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h hat

in Sachen des U l d e r i c o a M a r c a , von Mesocco, Kantons Graubünden, und K o n s o r t e n , betreffend Gerichtsstand; nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartements und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben: I. Im Januar 1844 bildete sich unter der Firma Antonio de Sacco & Cie. eine Kommanditengesellschaft zur Ausbeutung von Wäldern auf der Insel Korsika. Bei dieser Gesellschaft betheiligten sich eine Anzahl von Einwohnern des Misoxerthales, sowie mehrere Tessiner und einige Italiener.

Das Unternehmen wurde anfanglich von Hrn. Antonio de Sacca geleitet. Am 2. Mai 1846 wurde jedoch die Leitung einem Direktorium (Commissione dirigente) übertragen, in welches auch der Rekursbcklagte, Hr. Advokat Rocco Bonzanigo von Bellinzona, gewählt wurde. Kurze Zeit später wurden der gleiche Herr Bonzanigo und Herr Landammann Antonio Tognola von Grono, als Sachwalter und Geschäftsführer der Gesellschaft, nach Korsika gesendet, Bundesblatt. Jahrg. XXV. Bd. L

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zu welchem Zweke ihnen in der Versammlung der Gesellschafter vom 19. September 1846 unbedingte Vollmacht ertheilt wurde.

II. Am 17. Oktober 1846 trat noch Hr. Advokat CarloPogliaa von Olivone (Tessin) in dieses Geschäft ein, indem er au diesem Tage mit den Herren Antonio de Sacco, Antonio Tognola und Hocco Bonzanigo in Ajaccio einen Vertragabschloss,, worin die Kontrahentensich vereinigten, das Holzgeschäft in Korsika in GemeinschaftzuI betreiben, und Hr.Pogliaa die Leitung der Gesellschaft de Sacco & (Hie.

gegen gewisse Prozente aus dem Ertrage ·übernahm.

Mit einer zweiten Uebereinkunft, datirt vom 6. Mai 1847, verzichtete jedoch Hr. Poglia auf alle, aus dem erwähnten Vertrage von 1846 ihm erwachsenen Vortheile, wogegen ihm die Bezahlung einer Aversalsumme von Fr. 15,000, sowie von 2 Prozenten der Einnahmen aus den Holzverkäufen zugesichert wurde. Ferner wurde in dergleichen Urkunde festgesezt, dass die von Poglia an das Unternehmen verwendeten Baarvorschüsse ihm zurükbezahlt werden müssen, und dass ihm für den zur Uebergabe der Verwaltung nöthigen Zeitaufwand eine Entschädigung zu leisten sei. Diese zweite Urkunde ist von den Herren Gius. Rossi und Defendente Molo, von .dem leztern im Auftrage des Direktoriums der Gesellschaft de Sacco & Cie., unterzeichnet und von einer Anzahl Theilnehmer der genannten Gesellschaft ratifizirt worden.

HI. Später hat sich die Gesellschaft Antonio de Sacco & Cie.

aufgelöst, indem mit Urtheil des Gerichtes von Ajaccio vom 10. Mai 1852 der Konkurs über die Firma eröffnet worden ist.

IV. Gestützt auf die in Ziffer II erwähnten Urkunden behauptet nun Hr. Foglia, an der ehemaligen Gesellschaft de Sacco & Cie. ein Guthaben von Fr. 118,504 zu besizen. Er forderte desshalb im Jahre 1866, und zwar zunächst im Kanton Tessin, den Hrn. Bonzanigo, als ehemaliges Gesellschaftsmitglied, auf, diese Forderung zu bezahlen, und erhob sodann im Jahre 1068 vor den Gerichten in Genua einen Frozess gegen Hrn. Bonzanigo, indem er die italienischen Gerichte hiefür kompetent hielt, weil der Vertrag vom 6. Mai 1847 in Genua abgeschlossen worden. Hr. Bonzanigo bestritt die Kompetenz der italienischen Gerichte und erhob am 7. Oktober 1869 vor dein Gerichte von Bellinzona eine Provokationsklage gegen Poglia, dahin gehend, dass dieser anzuhalten sei, innert einer festzusezenden Frist saine
Ansprache gegen ihn im Kanton Tessin geltend zu machen.

Diesem Gesuche wurde mit Urtheil vom 24. Februar 1870 - - bestätigt mit Urtheil der Zivilkammer des Appellationsgerichtes des Kantons Tessin vom 27. September 1870 -- entsprochen, wobei das Gericht rüksichtlich der Kompetenzfrage davon ausgieng, dass die

411 Gesellschaft Antonio de Sacco & Cie. rechtliches Domizil in Bellinzona erwählt habe.

V. Infolge dieses Urtheils klagte Hr. C. Poglia im Dezember 1870 seine Ansprache vor dem Gerichte von Bellinzona ein, und stellte das Rechtsbegehren, dass ,,die ehemalige Gesellschaft de Sacco & Cie. und für diese Hr. Rocco Bonzanigo als solidarisch haftbarer Theilnehmer derselben" zu verurtheilen sei, ihm oben erwähnte Summe zu bezahlen.

Der Prozess kam am 4. Februar 1871 zur Verhandlung, wobei Hr. Bonzanigo zunächst die Einrede erhob, dass er nicht für die Schulden der Gesellschaft de Sacco hafte, und den Antrag stellte, es seien die sämmtlichen Theilnehmer dieser Gesellschaft von Amtes wegen ins Recht zu rufen. Diesem Gesuche entsprechend, verfügte das Gericht, dass die Theilnehmer der Gesellschaft auf die nächste Gerichtssizung vorzuladen seien.

VI. Infolge dieser Verfügung wurden nun auch die Rekurrenten, nämlich die sämmtlichen im Misoxerthale (Graubünden) wohnhaften Beteiligten an dei- fraglichen Gesellschaft, vor das Gericht nach Bellinzona zitirt. Mehrere derselben erhoben mit schriftlicher Eingabe vom 3. März 1871 Protest gegen die Adzitation, einige andere erschienen bei dem betreffenden Vorstände (vom 20. April 1871) und wahrten sich das Recht, die forideklinatorische Einrede geltend zu machen.

Im Termine vom 9. November 1871 erklärten dann die Repräsentanten der Rekurrenten, dass sie die Kompetenz der Gerichte des Kantons Tessin ablehnen und, gestüzt auf den Art. 50 der Bundesverfassung, nur das Gericht von Misox für die Behandlung von Ansprüchen gegen sie als kompetent anerkennen.

VII. Nach Erledigung einer andern, von Hrn. Poglia aufgeworfenen Vorfrage liess Herr Bonzanigo am 10. April 1872 die Representauten der Rekurrenten auf den 15. April 1872 zur Fortsezung der Verhandlung über diese Kompetenzeinrede nach Bellinzona zi-tiren.

Der Prozess musste jedoch am 15. und 19. April, 3. und 22. Mai 1872 wegen verschiedener Inzidenzfälle vertagt werden, so dass die Parteiverhandlung erst am 7. Juni 1872 stattfinden konnte. Bei dieser Verhandlung erklärte Hr. Advokat G. Molo, Anwalt der Rekurrenten, dass er auf der Kompetenzeinrede bestehe, auf eine.Diskussion hierüber sich nicht einlasse, und jedes fernere Erscheinen vor dein Gerichte in Bellinzona ablehne. Herr Bonzanigo trug auf Abweisung dieser Einrede an, und Herr C. Poglia schloss sich dem Antrage des Hrn. Bonzanigo an.

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Vin. Mit Urtheil vom 13. Juni 1872 wies das Gericht von Bellinzona die Kompetenzeinrede der Rekurrenten ab und verfällte diese in die Kosten. Dieses Urtheil ist, wie folgt, motivirt: Das Gericht habe bei der Erledigung der von Hrn. Foglia aufgeworfenen Vorfrage mit Urtheil vom 2. Dezember 1871 zugleich auch erkannt, dass über die von (Jen adzitirten Misoxern erhobene Einrede noch nicht abgesprochen werden könne, indem die hierauf bezüglichen Parteiverhandlungen nicht als geschlossen zu erachten und die Akten noch nicht vollständig seien. In diesem Entscheide sei die Aufforderung an die Parteien enthalten, das noch Mangelnde, im Sinne von Art. 70 des Zivilprozessgesezes und von Art. 2, Litt, e des Gesezes vom 19. Dezember 1852, betreffend den Geschäftsgang des Appellationsgerichtes, zu ergänzen. Gestüzt auf den gleichen Entscheid seien am 10. April 1872 die Zitation der Rekurrenten zur Fortsezung der Verhandlung über die fragliche Einrede, und sodann die Dekrete vom 15. und 19. April, 3. und 22. Mai erfolgt, durch welche jeweilen die Wiederzitation der Parteien angeordnet worden und welche in Rechtskraft erwachsen seien. Hiernach seien die Parteien verpflichtet gewesen, im Termine vom 7. Juni die Kompetenzfrage einlässlich zu diskutiren. Dieser Pflicht seien jedoch die Excipienten nicht nachgekommen, somit haben sie die Folgen au sich selbst zu tragen. Blosse Proteste seien nicht genügend und nicht zulässig. Bei dem gegenwärtigen Stande der Sache müsse das Gericht in Analogie von Art. 90 des Zivilprozessgesezes auf Grundlage der einzig von Hrn. Bonzanigo produzirten Akten entscheiden, Nun werde schon in der Provokationsklage desselben behauptet, dass die Firma de Sacco & Cie. den Siz in Bellinzona habe ; ferner ergebe sich aus den produzirten Circularen, dass die gleichen Personen, die jezt den Gerichtsstand von Bellinzona bestreiten, die Theilnehmer der genannten Gesellschaft zur Verhandlung über die Geschäfte derselben nach Bellinzona einberufen haben, und endlich sei das Urtheil vom 24. Februar 1870 über die Provokationsklage des Hrn. Bonzanigo in Rechtskraft erwachsen. Hiernach sei das Gericht von Bellinzona zum Entscheide auch der vorwürfigen Einrede kompetent. Gegen diese Gründe sei von den Excipienten kein Einwand erhoben worden.

Dieselben seien auch auf die Vorladung des Hrn. Bonzanigo in
den verschiedenen Terminen vor Gericht erschienen und haben ihre Proteste und Verwahrungen zu Protokoll gegeben. Hiedurch haben sie sich als Partei gestellt und die Kompetenz des Gerichtes anerkannt.

Zudem sei von ihnen beim, Vorstande vom 1. September 1871 die Adzitation der Witwe Tognola, als einer im Adzitationsdekrete vom 4. Februar gleichen Jahres übergangenen Interessirten, verlangt worden. Hiemit haben sie in den Gang des Prozesses eingegriffen, und

413 es stehe die nachträglich erhobene Kompetenzeinrede mit dieser Thatsache im Widerspruche. Sodann sei Hr. Bonzanigo als Solidarschuldner für die sämmtlichen Theilnehmer der fraglichen Gesellschaft belangt worden ; mit der Hauptsache kommen aber auch allé Nebensachen vor dem gleichen Gerichte zur Behandlung, ansonst die grössten Inkonvenienzen zu Tagn treten müssten. Endlich könne, da hier ein Gesellschaftsdomizil vorliege, gemäss Art. 56 des lehnt werden, zumal die Prävention für diesen Gerichtsstand spreche, indem vor demselben die Klage bereits eröffnet und eine Menge von Zwischenfragen erledigt worden seien. Der Art. 50 der Bundcsverfassung sei auf den vorwürfigen Fall nicht anwendbar.

IX. Mit Eingabe vom 23. Juli 1872 rekurrirte nun Hr. Advokat Dr. R. Togni in Grono, im Namen der in dein fraglichen Prozesse von Hrn. R. Bonzanigo ins Recht gerufenen Einwohner des Misoxerthales, an den Bundesrath und stellte das Gesuch, es möchte erkannt werden, dass die Gerichte des Kantons Tessin gegenüber den Rekurrenten nicht zuständig seien, und es möchte infolge dessen das Urtheil des Gerichtes Bellinzona vom 13. Juni 1872 aufgehoben werden.

Zur Unterstüzung machte Hr. Togni geltend: Es sei unrichtig, dass die Rekurrenten vor dein Gericht auf die Adzitation der Witwe Tognola angetragen haben. Dieser Antrag sei von Hrn. Bonzanigo gestellt worden, was schon aus dem betreffenden Entscheide vom lì. September 1871 hervorgehe, lautend: ,,dem von Bonzanigo gestellten Gesuche um Adzitation der Witwe Tognola ist entsprochen." Von einer stillschweigenden Anerkennung des tessinischen Gerichtsstandes könne keine Rede sein, da die Rekurrenten bei allen Vorständen gegen die Kompetenz des Gerichtes protestirt haben.

Der Entscheid vom 2. Dezember 1871 beziehe sich auf eine ihnen völlig fremde Zwischenfrage. Es habe nämlich Hr. Poglia, nachdem die Rekurrenten am 9. November 1871 ihre Kompetenzeinrede erhoben, verlangt, dass Hr. Bonzanigo dessen ungeachtet zur einlässlichen Antwort auf die Klage angehalten werde. Mit dem erwähnten ö O Urtheile sei diese Frage erstinstanzlich und sodann mit Urtheil der Zivilkammer des Appellationsgerichtes vom 15. März 1872 leztinstanzlich erledigt worden. Bei dieser Frage haben aber die Rekurrenten gar keinen Antheil genommen ; man könne sich also ihnen gegenüber nicht auf die res
judicata berufen. Uebrigens seien die betreffenden Urtheile ihnen nicht mitgetheilt worden.

Auf die Prävention könne mau sich ebenfalls nicht berufen diese spreche im Gegentheil für den graubündischen Gerichtsstand

414 Im-Jahre 1867 haben nämlich Rocco Bonzanigo und sein Bruder Pietro die Erben des Hrn. Antonio de Sacco, gewesenen Direktors der fraglichen Gesellschaft, vor das Gericht der Moesa geladen, um nach Massgabe des Gesellschaftsvertrages ein Schiedsgericht zur Prüfung und Regelung einer Forderung gegenüber der Direktion und den Gesellschaftern zu bestellen. Das Schiedsgericht sei auch wirklich infolge eines vor dem Gerichte abgeschlossenen Kompromisses vom 15. April 1868 bestellt worden; Weiteres sei indessen seither vor diesem Schiedsgerichte nicht geschehen. An dieses vereinbarte Gericht sei Hr. Bonzanigo mit ssiner Klage gegen die Gesellschafter gebunden.

Es sei unrichtig, dass die Gesellschaft de Sacco & Cie. den Siz in Bellinzona gehabt habe. Diese habe sich 1844 in Grono (Graubünden) konstituirt. Am 2. Mai 1846 sei - dann ein neuer Gesalisch afts v ertrag, und zwar in Roveredo (also ebenfalls im Kanton Graubünden) abgeschlossen worden. Die von der Gesellschaft ausgegebenen Aktien seien von Gro no datirt. Es sei sonach anzu nehmen, dass der Siz der Gesellschaft im Kanton Graubünden festgesezt worden. Weder in den ursprünglichen Statuten vom Jahre 1844, noch in dem erwähnten Vertrage vom Mai 184G sei von einem Siz der Gesellschaft in Bellinzona die Rede. In dieser Stadt seien zwar einzelne Versammlungen der Aktionäre abgehalten worden, jedoch nur selten anlässlich der dortigen Jahrmärkte. Die Versammlungen haben, wie in Bellinzona, so auch in Grono und Roveredostattgefunden.

Das Gericht von Bellinzona ' habe mit Unrecht die. tessinische Gesezgebung gegen.die Rekurrenten zur Anwendung gebracht. Die Gerichte seien nur da befugt, die Frage ihrer Zuständigkeit nach den eigenen kantonalen Gesezen zu beurtheilen, wo die Prozossparteien Einwohner des Kantons seien, in welchem das betreffende Gericht Jurisdiktion habe. Wo aber der Gerichtsstand gegen Angehörige eines andern Kantons festgestellt werden müsse, da könne das Gericht nicht die Gesezgebung seines Kantons anwenden. (Beschluß des Bundesrathes vom 10. Oktober 1849).

Da die von Poglia angestrengte Klage persönlicher Natur sei, so könne Hr. Bonzanigo die Rekurrenten nicht vor die tessinischen Gerichte ins Recht rufen; vielmehr seien diese nach Art. 50 und 53 der Bundesverfassung vor dem Richter ihres Wohnsizes zu belangen. Ueberdies sei die
Klage nicht gegen die. Gesellschaft de Saceo & Cis. gerichtet, sondern gegen Hm. Bonzanigo persönlich.

Wollte indessen auch angenommen werden, dass die Klage des Hrn.

Poglia gegen die Gesellschaft gehe, so sei auch in diesem Falle

415 nicht das Gericht von Bcllinzona hiefür das zuständige, sondern eher dasjenige von Roveredo, als Forum des Abschlusses des Gesellschaftsvertrages, oder das Gericht von Ajaccio, als Forum des Konkurses.

Endlich können die Theilnehmer einer Kommanditengesellschaft, da «wischen ihnen keine solidarische Haftpflicht bestehe, nicht zu einer Streitgenossenschaft gezwungen werden.

X. In seiner Antwort vom 14. November 1872 machte Hr.

Advokat Rocco Bonzanigo folgende Gesichtspunkte geltend: Die Gesellschaft de Sacco & Cie. habe eine Stellvertretung im Inlande nöthig gehabt. Aus diesem Grunde sei im Gesellschaftsvertrage vom 2. Mai 1846 ein Direktorium vorgesehen worden, deßen Wahl bei einer in Bellinzona abgehaltenen Versammlung der Gesellschafter getroffen worden sei. Dieses Direktorium habe sich regelmässig in Bellinzona versammelt, und das ganze Unternehmen sei überhaupt von dort aus geleitet worden und habe dort seinen Mittelpunkt gehabt. Auch die Versammlungen der Gesellschafter seien seit 1846 regelmässig in Bellinzona abgehalten worden. Bellinzona sei also thatsächlich als Siz der Gesellschaft anerkannt worden. Das Gegentheil gehe aus den von den Rekurrenten vorgelegten Akten nicht hervor.

Die Klage des Hrn. Poglia habe Ansprüche zum Gegenstande, welche er gegen die ehemalige Gesellschaft erheben zu können glaube. Sie gehe also inhaltlich gegen diese. Sie sei auch formall gegen diese gerichtet, wie sich aus den Klagbegehren ergebe, und wenn die Bezahlung von Hrn. Bonzanigo, als angeblich solidarisch haftbarer Theilnehmer, gefordert werde, so könne durch diese irrige Qualifikation die wahre Prozesslage nicht geändert werden.

Die Theilnehmer einer Gesellschaft können bei Klagen gegen dieselbe nicht auf ihren persönlichen Gerichtsstand Anspruch machen, vielmehr seien sie, als Mitglieder einer juristischen Person, an das Domizil dieser juristischen Person gebunden. Da Hr. Bonzanigo im.

Namen der Gesellschaft belangt worden sei.) so habe er also auch.

O die übrigen Gesellschafter nach Bellinzona ins Recht rufen können.

(Art. 120, Ziff. 8 des tessinischen Zivilprozeßgesezes.) Die Berufung auf den Art. 50 der Bundesverfassung falle also dahin, da die Rekurrenten nicht als Privatpersonen belangt werden.

Könnte das für die Gesellschaft belangte Mitglied nicht auch die übrigen Gesellschafter ins
Recht rufen, so hätte es die spätere Regressklage gegen diese so oft und an so viel Orten zu erheben, als Domizile von Gesellschaftsmitgliedern vorhanden wären. Dies wäre aber im Widersprüche mit aller Rechtsordnung.

416 ' Uebrigens haben die Rekurrenten bei den Verhandlungen über die verschiedenen im Prozesse erhobenen Vertagungsgesuche Antheil genommen. Sie seien bei den Vorstünden erschienen und haben hiedurch die verschiedenen Dekrete des Gerichtes, womit ihre Zitation verfügt worden, anerkannt. Die Zitalion vom 10. April 1872 sei den Repräsentanten der Rekurrenten ,,im Domizil zu Bellinzona" verrichtet worden. Da die Rekurrenten der Zitation gefolgt seien, so haben sie auch dieses Domizil anerkannt. Ferner haben sie dem Gerichte eine übergangene ebenfalls interessirte Person verzeigt, und endlich habe ihr Anwalt im Termine vom 7. Juni 1872 auf eine Diskussion über die Kompetenzfrage sich eingelassen, indem er Präcedenzfälle citirt habe. Durch alle diese Thatsachen haben sie den Gerichtsstand von Bellinzona anerkannt,. Sie hätten also, wenn sie wirklich ein Recht aus dem Art. 50 der Bundesverfassung für sich ableiten könnten, auf dasselbe, förmlich verzichtet.

Auf die Vorgänge aus den Jahren 1867 und 1868 können sie; sich nicht berufen, weil es sich damals uni Anstände zwischen Gesellschaftsmitgliedern gehandelt habe, nicht aber um eine Forderung, welche ein D r i t t e r gegen die Gesellschaft erhebe. Aus dem gleichen Grunde komme der Art. 6 des Gesellschaftsvertrages vom 2. Mai 1846, welcher ein Schiedsgericht nur für die Streitfälle zwischen den Gesellschaftern vorsehe, im Spezialfalle nicht zur Anwendung. Uebrigens habe der Gerichtsstand von Misox mit der Bestellung des Schiedsgerichtes aufgehört, für die damals aufge worfene Frage zuständig zu sein.

Herr Advokat Rocco Bonzanigo schloss mit dem Autrage auf Abweisung der Rekursbeschwerde.

XI. In seiner Antwort vom 13. November 1872 bemerkte.

Herr Carlo Poglia, er habe allerdings im Termine vom 7. Juni 1872 den Anträgen des Hrn. Bonzanigo sich angeschlossen. Allein nachdem er aus den von den Rekurrenten produzirten Akten ersehen, dass die Gesellschaft sich im Misox konstituirt habe und dort auch der Gesellschafts-Vertrag vom Mai 1846 abgeschlossen worden sei, sowie dass weder in den ursprünglichen Konstitutionsurkunde, noch in dem erwähnten Vertrage von 1846 über den Siz der Gesellschaft entschieden worden, so könne er sich dem Hrn. Bonzanigo nicht ferner anschliessen, indem er nunmehr der Ansicht sei, dass der Streit zwischen Bonzanigo und den
Rekurrenten vor dem Gerichte der Moesa auszutragen sei, denn in Handelssachen könne einzig d a s Forum d e s Vertrages a l s zuständig erachtet werden.

haft sein, als dieses Forum im Jahr 1867

von Hrn. Bonzanigo

4l r selbst angerufen und somit im Kanton Graubünden der prorogirte Gerichtsstand sei.

y i In dem Vertrage vom 17. Oktober 1846, den er (Poglia) mit den Herren de Sacco, Tognola und Bonzanigo, als Représentante!} der Gesellschaft de Sacco & Cie., in Ajaccio geschlossen, sei eine o f f e n e Gesellschaft zwischen ihm und der genannten Firma begründet worden. Hätte eine Kommandite geschaffen werden wollen, so hätte dies im Vertrag ausdrüklich gesagt werden müssen.

Hr. Bonzanigo hafte ihm also solidarisch für die Mitkontrahenten.

In diesem Vertrage sei noch ausdrüklich bestimmt, dass die Anstände zwischen den Kontrahenten einem Schiedsgerichte mit Siz.

in Novara zur Erledigung vorzulegen seien. Die Firma de Sacco habe jedoch die übernommenen Verpflichtungen nicht erfüllt; es hätte daher ein Prozess anhängig gemacht werden müssen, dem man jedoch mittelst eines Vergleiches, nämlich mit der Uebereinkunft vom 6.Mai 1847, ausgewichen sei. Dieser Vergleich sei in Genua geschlossen worden; somit haben darauf gegründete Rechte vor dem Handelsgerichte von Genua eingeklagt werden müssen, und Hr. Bonzanigo sei dort mit seiner Kompetenzeinrede abgewiesen worden.

Hr. Poglia schloss mit dem Antrage, es möchte Hr. Bonzanigo angehalten werden, auf die Klage einlässlich zu antworten, und es möchte derselbe mit seinen Ansprüchen gegen die Rekurrenten vor deren natürlichen Richter gewiesen werden.

XII. Endlich bemerkte der Staatsrath des Kantons Tessin mit Schreiben vom 20/25. November 1872, dass das Gericht von Bellinzona seinerseits keine Bemerkungen auf den Rekurs eingegeben habe.

In E r w ä g u n g : 1) Was vorerst die Frage betrifft, ob die Rekurrenten dadurch, dass sie an mehreren Verhandlungen über die Vorfrage des Gerichtsstandes Theil genommen, sich dem Forum des Kantons Tessin unterworfen haben, so ist dieselbe zu verneinen. Es kann allerdings ein an sich inkompetentes Gericht durch die freiwillige Anerkennung der Parteien kompetent werden ; allein diese Anerkennung muss entweder eine ausdrükliche sein oder sie muss aus der unverweigerlichen Einlassung in den Prozess hervorgehen.

Dieses ist aber nicht geschehen ; vielmehr haben die Rekurrenten fortwährend gegen die Zuständigkeit des tessinischen Gerichtes protestirt, worin eine Ablehnung und keineswegs eine Anerkennung des Gerichtes liegt.

418 2) Wenn unter dem angegebenen Gesichtspunkt der Gerichtsstand des Kautons Tessin nicht begründet wurde, so fragt es sich femer, ob derselbe durch die Natur der Klage als der zuständige erscheine. Diese Frage muss b 3 jäh t werden, weil eine persönliche Klage vorliegt, welche am Wohnorte der Beklagten angebracht werden muss, wie diess bezüglich des Hrn. Bonzanigo nicht büstritten ist.

3. Was dagegen die Rekurrenten betrifft, so ist zu untersuchen, in welcher Eigenschaft sie vorgeladen werden und wo dies Gesellschaft de Sacco ihr Domizil habe.

In dieser Beziehung wird geltend gemacht, es sei Hr. Bonzanigo nur als solidarisch Verpflichteter allein ins Recht gerufen, und wenn er später gegen andere Mitbeteiligte der bestandenen Gesellschaft Ansprüche erheben wolle, so möge er. dieselben an ihrem Wohnorte suchen. Dieser Einwendung steht aber entgegen, dass ein Dritter die Klage gegen die Gesellschaft de Sacco & Cie. als solche erhebt, und zwar für Ansprüche ans einem Namens der Gesellschaft abgeschlossenen Vertrage, für welchen die genannte Gesellschaft hafte.

Wenn nun die Gesellschaft noch ordentliche Vertretungsorgane hätte, so würde diese Vertretung Namens der Gesellschaft in's Recht gerufen worden sein. Da aber dieses nicht mehr der Fall zu sein scheint, so fasste der Kläger ein Mitglied als Repräsentant der Gesellschaft in's Recht, welches den fraglichen Vertrag mit ihm abgeschlossen hat. Diesa Stellung des Beklagten im Prozess ist bereits auch richterlich anerkannt, die Rekurrenten können daher nicht als blosse Litisdenunziaten angesehen werden, sondern sie repräsentiren zusammen die Gesellschaft, welche sich zwar aufgelöst, aber nicht eins vollständige Liquidation ihrer Geschäfte herbeigeführt hat.

4) Ob die Gesellschaft als Kommanditgesellschaft auf Aktien oder als Kollektivgesellschaft zu behandeln sei, ist Sache der richterlichen Beurtheilung; ebenso auch die Frage, ob und inwieweit die einzelnen Gesellschafter haften. Als Rechtssaz steht aber fest, dass beide Arten von Gesellschaften unter ihrer Firma Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, vor Gericht klagen und beklagt werden können. Dies genügt zu der Schlussfolgerung, dass die Gesellschaft als solche für die Ansprüche Dritter an dieselbe einen Gerichtsstand haben muss, wo sie belangt werden kann.

5) Es bedarf also nur noch der nähern Erörterung, wo dieser Gerichtsstand sei, wobei zunächst feststeht, dass lediglich ein in-

419 Kindisches Forum in Frage kommt. Man beruft sich nun beiderseits auf die Prévention. Der Grundsaz der Prévention eines Gerichtes kann aber nur Geltung beanspruchen im Innern eines Staates; dagegen ist er werthlos im Verhältniss zu einem andern Staate, wenn nicht besondere Verträge vorhanden sind. Dieses ist unter den schweizerischen Kantonen nicht der Fall. Auf den Umstand aber, dass Hr. Bonzanigo anno 1867 seihst das Gericht Moesa angerufen hat, kann nichts ankommen, weil es sich damals um Anstände, zwischen Gesellschaftsmitgliedern, welche vor ein in den Statuten der Gesellschaft vorgesehenes Schiedsgericht hätten gebracht werden müssen, und um die Bildung dieses Schiedsgerichtes handelte, wäh-' rend gegenwärtig eine Forderung in Frage liegt, die ein Dritter gegen die Gesellschaft erhebt, worüber die Statuten schweigen.

6) Auch kennt unser schweizerisches Staatsrecht dab forum contractas nicht; daher ist der Umstand, dass in den Jahren 1844 und 1846 die Gesellschaftsverträge im Kanton Graubündeu geschlossen worden sind, ohne rechtliches Gewicht. Der Art. 50 der Bundesverfassung hebt das forum contractus auf; denn wenn dieses gegen den Willen der Parteien, die in verschiedenen Kantonen der Schweiz wohnen, aufrecht erhalten werden wollte, so würde dadurch der Art. 50 illusorisch gemacht, weil dieser eben will, dass der Schweizerbüra-er voi' seinem natürlichen Richter eesueht werde.

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7) Es hängt also Alles von dem Umstände ab, wo die Gesellschaft de Sacco ihr Domizil gehabt hat. Wenn auch die Statuten aus leicht begreiflichen Gründen von keinem Gesellschaftssiz in der Schweiz sprechen, so muss doch angenommen werden, dass die Gesellschaft irgendwo in unserem Lande belangbar sein müsse.

8) Fasst man alle Thatsachen und Umstände zusammen, so kommt man zu der Annahme, Bellinzona als Siz der Gesellschaft zu erklären. Wenn auch die Gründung und erste Organisation der Gesollschaft auf den Kanton Graubünden hinweist, so ist doch später die Leitung des ganzen Geschäftes von Bellinzona ausgegangen.

Schon die Einzahlung der Aktien hatte zum grössten Theil nicht in Grono, sondern in Bellinzona zu geschehen. In Bellinzoua waren fast alle Aktionär-Versammlungen; dort wurde die geschäftsleitende Verwaltungskommission gewählt und hielt auch dort alle ihre Sizungen; die ein- und ausgehende Korrespondenz wurde von Bellinzoua aus besorgt; dort wurden die Rechnungen uir.l Akten geprüft und genehmigt, Mandate ausgestellt, Verträge ratitizirt, die Berichte der Angestellten und anderer Beauftragter entgegengenommen; auch fand die Aufbewahrung sämmtlicher Akten in Bellinzona statt.

420 Aus allen diesen Gründen kommt man zu der Annahme, dass der Mittelpunkt der Geschäftsthätigkeit der Gesellschaft in Bellinzona war, ebenso ihr Domizil und somit auch der Gerichtsstand; beschlossen: 1. Es sei der Rekurs als unbegründet abgewiesen.

2. Dieser Beschluss sei dem Staatsrathe des Kantons Tessin zuhanden des Gerichtes von Bellinzona und der Rekursbeklagten, Herreu Rocco Bonzanigo, Advokat in Bellinzona, und Carlo Poglia von Olivone, Advokat,-für sich und die übrigen Interessenten, sowie dem Hrn. Advokat Dr. R. Togni in Grono, für sich und zuhanden der Rekurrenten Ulrich a Marca von Mesocco, Kantons Graubünden und Mithaften unter Rükschluss der Akten mitsutheilen.

Also beschlossen, B e r n , den 20. Januar 1873.

Im Namen des schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Ceresole.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:

Schiess.

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Bundesrathsbeschluss in Sachen des Rekurses des Hrn. Ulrich a Marca, von Misox, betreffend Gerichtsstand. (Vom 20. Januar 1873.)

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08.03.1873

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