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Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 25. September 1922, um 15 Uhr, zur Fortsetzung der ordentlichen Sommersession zusammengetreten.

Im N a t i o n a l r a t e hielt Herr Präsident Dr. Klöti folgende Nachrufe auf die verstorbenen Herren Ständerat Sigg und Nationalrat Rellstab : Am 23. Juli starb in Genf Ständerat Jean Sigg.

Der Verstorbene wurde 1865 in Aussersihl als Sohn eines Schaffhausers geboren. Seine eigentliche Heimat war Genf, wo er von früher Jugend bis zu seinem Tode gelebt hat. Im Alter von 17'/2 Jahren trat er in den Primarschuldienst ein, setzte aber in der freien Zeit seine wissenschaftliche Ausbildung fort, indem er an der Universität Genf zunächst Mathematik, dann Sozialwissenschaft studierte.

Schon als junger Primarlehrer wandte sich Sigg dem Sozialismus zu. Er war einer der Gründer und während Jahren der unbestrittene Führer der Genfer Sozialdemokraten, als deren Vertreter er auch im Grossen Rate und im Grossen Stadtrate von Genf sass. Im Jahre 1898 gab Sigg den Lehrerberuf auf, um sich als Arbeitersekretär für die romanische Schweiz ganz in den Dienst der Arbeiterschaft zu stellen. Nach 20jährigem Wirken trat er 1918 von diesem Posten zurück. Er übernahm zunächst die Organisation und Leitung des Genfer Arbeitslosenamtes, von 1921 an betätigte er sich ausschliesslich als Journalist und als Mitarbeiter des Internationalen Arbeitsamtes in Genf.

Von 1911--1918 gehörte Sigg dem Nationalrate an. Er schied 1918 aus, weil er mit seiner Partei in taktischen Fragen nicht mehr einig ging und die von ihm gegründete neue Partei nicht stark genug war, um ihren Führer in den Rat wählen zu können. Sigg blieb jedoch dem Parlamente nicht lange fern, denn im Januar 1921 entsandte ihn der Kanton Genf als Nachfolger Fazys in den Ständerat.

Sigg war ein Mann von reichen Geistesgaben und universellem Wissen, gepaart mit einer ungewöhnlichen Beredsamkeit, deren überzeugendem Einfluss man sich nicht leicht entziehen konnte. Wie in den Parlamenten von Stadt und Kanton Genf, hat er auch im Nationalrate als schlagfertiger und witziger Debatter die Forderungen der Sozialdemokratie bei vielfachen Gelegenheiten

308 wirkungsvoll vertreten. Im Ständerate verfocht er als isolierter Kämpfer nicht minder geschickt seine Ideale, wenn auch, als bereits gebrochener Mann, nicht mehr mit dem feurigen Temperamente, das ihm früher eigen war. Selbst in den hitzigsten Debatten, in denen Sigg kräftige Hiebe auszuteilen verstand, blieb er stets ein ritterlicher Kämpfer, weshalb er sich auch bei den politischen Gegnern grosser Sympathie erfreute. Im persönlichen Verkehr war er ein humorvoller und liebenswürdiger Mensch.

Gehörte auch Sigg in den letzten Jahren nicht mehr der sozialdemokratischen Fraktion an, so vergisst diese die Verdienste Siggs um die Hebung der Arbeiterschaft auf nationalem und internationalem Gebiete keineswegs und sie gedenkt auch dankbar seiner wertvollen parlamentarischen Arbeit.

Es war dem Verstorbenen leider nicht vergönnt, seine glänzenden Fähigkeiten in vollem Masse zu praktischer Verwertung zu bringen. Es lag das zum Teil in äusseren Verhältnissen, zum Teil wohl auch in dem dualistischen Charakter der Persönlichkeit Siggs. Sigg war einerseits ein mutiger und optimistischer Kämpfer und Idealist, anderseits ein kritischer Philosoph. Die Aktivität des Kämpfers und Führers wurde in ihm gehemmt durch die Kritik des Skeptikers. In diesem Versuch der Würdigung der Persönlichkeit Siggs möge nicht eine Schmälerung seines Lebenswerkes erblickt werden, sondern nur der Beweis der hohen Wertschätzung seiner Geistesgaben, an die sich erhöhte Erwartungen knüpften.

Wir haben in Jean Sigg einen hervorragenden Parlamentarier und einen liebenswürdigen Kollegen verloren. Wir werden ihn in bestem Andenken behalten.

In ruhigerer Bahn bewegte sich das Leben des am 24. Juli verstorbenen Nationalrates Emil Rellstab.

Rellstab entspross einer uralten Bauernfamilie, die seit 1615 das Bauerngut zum T) Lehmhof a in Wädenswil von Generation an Generation weitergegeben hat. Die Liebe zur Scholle und zur engern und weiteren Heimat lag ihm im Blute und beherrschte sein ganzes Leben.

Er wurde 1853 in seiner Heimatgemeinde Wädenswil geboren, besuchte die Primär- und Sekundärschule Wädenswil und verbrachte sodann zwei Jahre auf einem landwirtschaftlichen Gute in Frankreich, wo er seine beruflichen Kenntnisse erweitern konnte. In die Heimat zurückgekehrt, widmete sich der aufgeweckte junge Mann nicht nur der Bewirtschaftung des väter-

309 liehen Heiinwesens, sondern stellte seine Fähigkeiten auch in den Dienst weiterer Kreise. Er war mehrfach Mitglied des Gemeinderates Wädenswil und sass jahrzentelang im Verwaltungsrate der Bank in Wädenswil.

Am meisten lag ihm die berufliche Ausbildung und die ökonomische Förderung der Landwirte am Herzen. Er war Gründer der Molkerei und der Viehzuchtgenossenschaft Wädenswil, Präsident des kantonalen landwirtschaftlichen Vereins, Gründer der landwirtschaftlichen Winterschule Wädenswil, von 1897 bis 1899 Organisator und Verwalter der neu gegründeten Obst- und Weinba.uschule Wädenswil, sowie ein kompetenter und sehr geschätzter Experte für Viehbeurteilung.

Im Jahre' 1912 wurde Emil Rellstab als Vertrauensmann der Bauern in den Nationalrat gewählt. Während der zehn Jahre, in welchen er dem Rate angehörte, ist der Verstorbene im Plenum des Rates nicht stark hervorgetreten. Er war eine jener Naturen, die bescheiden zurückstehen und deren gute Charaktereigenschaften und berufliche Tüchtigkeit man erst kennen und schätzen lernt, wenn man Gelegenheit gehabt hat, im kleinen Kreise parlamentarischer Kommissionen und im persönlichen Verkehr mit ihnen in nähere Berührung zu kommen. Rellstab war Mitglied und seit drei Jahren Präsident der ständigen Alkoholkommission. Mit grosser Sachkenntnis und seltener Hingabe hat er sich auf diesem schwierigen und wichtigen Spezialgebiete betätigt. Es ist zu bedauern, dass es ihm nicht vergönnt war, bei der gesetzlichen Neuregelung des Alkoholmonopols mit seinem kompetenten Urteil und mit seiner reichen Erfahrung dem Rate und dem Lande zur Verfügung zu stehen.

Wir werden den bescheidenen und liebenswürdigen Kollegen, der ein Leben voll Arbeit, aber auch voll befriedigenden Erfolges abgeschlossen hat, in bestem Andenken behalten.

Im S t ä n d e r a t e ehrte Herr Präsident Dr. Räber die beiden Verstorbenen mit folgenden Worten : Seit der Junisession hat der Tod uns zwei Kollegen entrissen, Herrn Ständerat J e a n Sigg aus Genf und Herrn Nationalrat R e l l s t a b von Wädenswil.

Schon längere Zeit war die Gesundheit von Ständerat Sigg arg erschüttert, wohl nicht zuletzt durch ein tragisches Geschick, das ihn vor zwei Jahren in seiner Familie betroffen und von dem Bundesblatt. 74. Jahrg.

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er sich nie mehr ganz erholt hat. Die frühere kraftstrotzende Gestalt des einstigen eifrigen Nationalturners schwand immer mehr dahin. Wie unser Kollege während der letzten Session seine Abwesenheit mit der Übersiedlung in eine Klinik zur Vornahme einer schweren Operation telegraphisch entschuldigte, da bangten wir um sein Leben. Nicht lange nachher, Sonntag den. 23. Juli, ist Kollege Sigg gestorben.

Bürger des Kantons Schaffhausen, 1865 geboren in Aussersihl, in der frühern Jugend in Paris aufgewachsen, um von dort nach Genf überzusiedeln, wo er seine Studien als Primarlehrer abschloss und im Jahre 1883 auch seine erste Anstellung fand, ist der Verstorbene ein echter Repräsentant jener, die fern der heimatlichen Scholle sich selbst eine neue Heimat schaffen. Er diente mit Liebe der neuen Heimat, ohne die alte ganz zu vergessen. Einer der besten Redner des genferischen Grossen Rates, hatte er anderseits sich den ostschweizerischen Dialekt vollkommen bewahrt.

Sehr früh schloss sich der Verstorbene der sozialistischen Bewegung an, die er mit Feuereifer als einer der äussersten am linken Flügel vertrat. Der Generalstreik von 1902 führte ihn sogar vor das Militärstrafgericht, weil er sich weigerte, dem militärischen Aufgebot Folge zu leisten. Aber auch hier schon hatte er vor Gericht die Erklärung abgegeben, dass er nicht zögern würde, gegen einen äussern Feind des Landes die Waffen zu ergreifen, und im Laufe der Zeit ist gerade dies einer der Punkte geworden, in denen er sich scharf von seinen sozialistischen Genossen unterschieden hat und von ihnen entschieden abgerückt ist.

Von 1898 bis 1921 bekleidete der Verstorbene die Stelle des Arbeitersekretärs der romanischen Schweiz, die er mit grossem, praktischem Geschick versehen hat.

Lange Zeit gehörte Herr Sigg dem genferischen Stadtrate an, dessen Präsidium er zweimal, 1914 und 1922, bekleidete.

Von 1892 bis 1919, mit einer Unterbrechung von zwei Jahren, war er auch Mitglied des Grossen Rates. Mit Georges Favon war Kollege Sigg der Träger der radikal-sozialistischen Allianz gewesen, die lange die Geschicke des Kantons Genf bestimmt hat.

Immer mehr und mehr fiel der Verstorbene bei seinen sozialistischen Genossen in Ungnade. Die Schwärmerei für den Bolschewismus vermochte er nicht mitzumachen, wie er auch nicht auf die Diktatur des Proletariates schwören wollte. Während des Krieges war er fest und entschieden auf nationalem Boden ge-

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standen.

für den her ein worden

Er ist auch einer der wenigen Sozialisten gewesen, die Völkerbund eingestanden sind, wie er dann auch nacheifriger Mitarbeiter des Internationalen Arbeitsamtes geist.

Nur ein kleines Häuflein Getreuer hielt bei ihm aus, das nach menschlicher Berechnung nicht mehr stark genug war, um seinem Führer einen Platz an der Sonne zu sichern. Allein durch eine jener überraschenden Wahlsituationen, wie sie Genf eigen sind, fügte es sich, dass Herr Sigg durch Unterstützung jener, die ihn jahrelang am heftigsten befehdet, unser Kollege im Ständerat geworden ist.

Wir können unserm verstorbenen Kollegen das Zeugnis nicht versagen, dass er in kürzester Zeit die Achtung und die Sympathie seiner Kollegen sich zu erwerben gewusst hat. Besonders in den Kommissionen kam seine fleissige Mitarbeit sehr zu statten. Sehr belesen und sich auf gründliche Studien stützend, hat er namentlich auf dem Gebiete der Arbeiterfragen über ein reiches Wissen verfügt. Und immer hat es angenehm berührt, wie kurz und bestimmt und würdig er seinen von dem seiner Kollegen abweichenden Standpunkt zu vertreten wusste, ohne sie durch langatmige oder für die Galerien berechnete Reden überzeugen zu wollen.

Der Verstorbene hat sich rastlos weiter gebildet. So hat er eine von der Universität preisgekrönte Studie über Leibnitz und den Sozialismus geschrieben. Gerade die wissenschaftliche Vertiefung seiner politischen Tätigkeit hat zweifellos ihn mehr und mehr der gebräuchlichen Schlagworte für die Masse überdrüssig werden lassen, ihn auch skeptischer und kritischer gestimmt, aber ihn gerade dadurch den grossen Massen der Arbeiter entfremdet, die ein hemmungsloses, rücksichtsloses Draufgängertum verlangen.

Von jeher hatte Ständerat Sigg zahlreiche internationale Beziehungen. So wusste er Vandervelde und Jean Jaurès für viel beachtete Vorträge in Genf zu gewinnen. Nicht lange vor seinem Tode war er noch in Frankreich gewesen, um Arbeit in den verwüsteten Gebieten für schweizerische Arbeitslose zu finden, hatte er doch als Vorsteher der genferischen Fürsorgestelle für Arbeitslose auf diesem Gebiete sich reiche Erfahrungen gesammelt.

So ist denn auch an unsern Rat ein Kondolenzschreiben des Bürgermeisters von Nantes eingelaufen, der mit dem Verstorbenen in Schiffahrtsfragen zu verkehren und dessen Wesen schätzen gelernt hatte.

312 So ganz verschieden hat sich der Lebenslauf des am 24. Juli verstorbenen Herrn Nationalrat R e 11 s t a b von Wädenswil gestaltet.

Am 7. November 1853 auf seinem väterlichen Gute, das der Familie seit 161.5 gehört, geboren, ist er auch auf demselben gestorben, es wohlbestellt seinen Söhnen hinterlassend.

Mit einer damals für Bauernsöhne noch seltenen Sekundarschulbildung ausgerüstet und nach einem zweijährigen Aufenthalt in Frankreich widmete sich Herr Rellstab auf seinem väterlichen Heimwesen mit voller Hingabe der Landwirtschaft.

Allein der strebsame Mann dachte nicht nur an sich, sondern er wollte die modernen Fortschritte der Landwirtschaft auch andern zugute kommen lassen. So ist er ein eigentlicher Vorkämpfer für das landwirtschaftliche Vereins- und Genossenschaftswesen geworden. Während vielen Jahren ist Herr Rellstab Vorstandsmitglied des landwirtschaftlichen Vereins Wädenswil gewesen.

Seit 1886 gehörte er dem Vorstand des zürcherischen landwirtschaftlichen Kantonalvereins an, und seit 1914 war er dessen Präsident. Er stand in vorderster Reihe bei der Gründung einer eidgenössischen Versuchsanstalt für Obst- und Weinbau und einer schweizerischen Gartenbauschule auf Schloss Wädenswil. Ebenso ergriff er die Initiative für eine landwirtschaftliche Winterschule in Wädenswil. Der Verstorbene gehörte auch zu den Gründern der ersten genossenschaftlichen Grossmosterei, der bahnbrechenden Obst- und Weinbaugenossenschaft Wädenswil. Auch die Gründung der Molkerei Wädenswil ist auf seine Initiative zurückzuführen.

Daneben hatte Herr Rellstab weit über die Grenzen seines Kantons hinaus als vorzüglicher Kenner der Braunviehrasse einen Namen als Preisrichter, und obwohl das Urteil eines solchen Preisrichters bei Viehausstellungen nicht weniger umstritten ist als das der Jury eines Kunstsalons, so hätte ich doch nie gehört, dass die absolute Unparteilichkeit des Verstorbenen angetastet worden wäre.

' Politisch betätigte sich Herr Rellstab ' von 1886 bis 1889 und 1904 bis 1910 als Gemeinderat seiner Heimatgemeinde. Im Herbst 1912 wurde er nach heftigem Kampfe in den Nationalrat gewählt. Hier betätigte er sich insbesondere als Mitglied und Präsident der Alkoholkommission und Alkoholdelegation. Als ausgesprochen landwirtschaftlicher Vertreter war er auch als Gründer der Bauernpartei auf kantonalem und eidgenössischem Gebiete tätig.

313 So steht das Bild des Verstorbenen vor uns als das eines unermüdlichen Arbeiters, eines urehigen Bauern von altem Schrot und Korn, aber weitsichtig genug, um alle modernen Errungenschaften seinem Berufe dienstbar zu machen, sofern sie dessen bodenständige Eigenart nicht antasteten.

Er wird in der engern Heimat fortleben als der aufrichtige, uneigennützige Berater und Helfer seiner Standesgenossen.

Ich bitte Sie, beiden verstorbenen Kollegen ein gutes Andenken zu bewahren und zu deren Ehrung sich von den Sitzen zu erheben.

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Aus den Verhandlungen des Bundesrates.

(Vom 23. September 1922.)

Der zum spanischen Berufskonsul in Bern ernannte Herr Roger de Fuentes B u s t i l l o y Cueto wird in dieser Eigenschaft anerkannt.

Herr Ouang Yong-Pao, ausserordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister von China bei der schweizerischen Eidgenossenschaft, hat am 19. September dem Bundespräsidenten sein Abberufungsschreiben überreicht.

Dem zum schweizerischen Honorarkonsul in Kowno ernannten Herrn Georg Weingart, von Grossaffoltern (Bern), ist von der litauischen Regierung das Exequatur erteilt worden.

Laut Mitteilung der Gesandtschaft von Polen ist das polnische Konsulat in Genf aufgehoben und dieser Konsularkreis dem polnischen Konsulat in Bern zugeteilt worden.

Dem zum Honorarkonsul von Costa Rica in Zürich ernannten Herrn Wilhelm S i m o n wird das Exequatur erteilt.

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04.10.1922

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