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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Behandlung der ausländischen Deserteure und Refraktäre.

Vom 2l. April 1922.

Während des Krieges hat-die Schweiz ausländischen Deserteuren und Refraktären weitestgehendes Gastrecht gewährt; sie wurden besondern fremdenpolizeilichen Bestimmungen unterworfen, nach denen der Bund von den Kantonen ihre Tolerierung verlangte ; für aus dieser Duldung entstehende unvermeidbare Nachteile übernahm der Bund Garantie. Diese die Deserteure und Refraktäre begünstigende Ausnahmebehandlung hatte ihren Grund in den zum Teil über mässig harten Strafen, denen diese Leute i u ihrer Heimat ausgesetzt gewesen wären, und in der Tatsache, dass die Schweiz vollständig von kriegführenden Staaten eingeschlossen war. Unter der Herrschaft dieses Sonderrechts, zuletzt verkörpert im Bundesratsbescbluss vom 29. Oktober 1918 betreffend -die fremden Deserteure und Refraktäre, versammelte sich ein sehr erhebliches Kontingent solcher Dienstverweigerer in der Schweiz, und es war stets klar, dass das ihnen bewilligte Gastrecht für viele nur ein vorübergehendes sein konnte, dies um so mehr, als die Schweiz zur gleichen Zeit genötigt war, den übrigen Ausländern den bleibenden Aufenthalt zu erschweren. Der Abbau ·des Deserteur- und Refraktärkontingentes musste kommen mit der Liquidation des Krieges. Gänzliche oder teilweise Amnestien in vielen kriegführenden Ländern gaben die Möglichkeit des Ab·schubes oder Abzuges von Deserteuren und Refraktären ; die bisherige Notwendigkeit der Duldung wurde zu einer zahlenmässig immer mehr zurückgehenden Ausnahme. Der Bundesrat hat dem Rechnung getragen mit seinem Beschluss vom 28. Juni 1921 betreffend die Aufhebung des Bundesratsbeschlusses vom 29. Oktober 1918 (siehe auch Neutralitätsbericht XVII, Bundesblatt 1921, Band IV, Seite 818), indem er die bisherige Regel des Duldungszwanges gegenüber den Kantonen zu einer vom eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement fallweise zu verfügenden Ausnahme machte ; für diese Ausnahmen wurde die Bundes.garantie, als Korrelat des Duldungszwanges, beibehalten. Deserteure und Refraktäre, denen diese ,,Zwangstoleranz" nicht zugebilligt wird, fallen unter das allgemeine Ausländerrecht (Verordnung vom 29. November 1921 über die Kontrolle der Ausländer, besonders deren Art. 26). Beim Entscheid über die Zwangstoleranz werden im Einzelfalle in Betracht gezogen : voraussieht-

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liehe Strafe bei Rückkehr in den Heimatstaat, Dauer der Anwesenheit in der Schweiz (kriegszugewanderte oder Vorkriegsdeserteure und Refraktäre), Familien-verhältnisse, Kinderzahl,, früheres Schweizerbürgerrecht der Mutter oder Ehefrau, Leumund, Strafregister usf.

Um die Liquidation des Deserteur- und Refraktärkontingentes zu Ende zu führen, hat der Bundesrat am 27. März 1922 einen Beschluss betreffend die Haftung des Bundes für fremde Deserteure und Refraktäre gefasst. Nach diesem erlischt die gemäss dem Bundesratsbeschluss vom 29. Oktober 1918 begründete Bundesgarantie mit dem 30. September 1922, so dass also die Kantone ab 1. Oktober 1922 die Haftung des Bundes nur noch für diejenigen Fälle in Anspruch nehmen können, welche sie nach dem Bundesratsbeschluss vom 28. Juni 1921 zur Behandlung gebracht haben und für welche das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement Zwangstoleranz verfügt hat. Dadurch wird der Bund in die Lage versetzt, ab 'J. Oktober 1922 genau zu wissen, welche Deserteure und Refraktäre unter dem Sonderrecht des Bundesratsbeschlusses vom 28. Juni 1921 stehen.

Ihre Zahl wird das Tausend kaum wesentlich überschreiten und sich sozusagen ausschliesslich aus Franzosen und Italienern zusammensetzen. Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement wird in der Folge fortlaufend diejenigen Fälle ausscheiden, wo infolge von Amnestie, Einbürgerung, Ableben, Missbrauch des Gastrechtes oder sonstiger Änderung der Verhältnisse die Zwangstoleranz gegenstandslos oder entziehbar wird. Vollständige Liquidation dieses Kontingentes wird allerdings auch damit nicht erreicht werden ; es wird zu allen Zeiten Deserteure und Refraktäre geben, deren Wegweisung eine nicht zu verantwortende Härte bedeuten würde.

Wir beantragen, nach Art. 2, Abs. 3, des Bundesbeschlusses vom 19. Oktober 1921 betreffend die Aufhebung der ausserordentlichen Vollmachten des Bundesrates*) zu beschliessen, dass der Bundesratsbeschluss vom 27. März 1922 betreffend die Haftung des Bundes für fremde Deserteure und Refraktäre **) weiter in Kraft bleiben solle.

B e r n , den 21. April 1922.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Dr. Haab.

Der Bundeskanzler :

Steiger.

*) Siehe Gesetzsammlung, Bd. XXXVII, S. 741.

**) Siehe Gesetzsammlung, Bd. XXXVIII, S. 316.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Behandlung der ausländischen Deserteure und Refraktäre. Vom 21. April 1922.

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26.04.1922

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