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Bundesblatt

74. Jahrgang.

Bern, den 4. Januar 1922.

Band I.

Erscheint wöchentlich. Preis 20 Franken im Jahr, 10 Franken im Saltjahr, zuzüglich ,,Nachnahme- und Postbestellungsgebühr.

Einrückungsgebühr: 50 Rappen die Petitzeile oder deren Raum. -- Inserate franko an die Buchdruckerei Stämpfli * de. in Bern.

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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde der Société Coopérative Suisse de Consommation in Genf gegen den Entscheid des Bundesrates vom 30. September 1921 betreffend Unterstellung unter die obligatorische Unfallversicherung.

(Vom 29. Dezember 1921.)

I.

A. Unterm 17. März 1920 verfügte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt in Luzern die Unterstellung des von der Eekurrentin, der Société Coopérative Suisse de Consommation in Genf betriebenen Handels mit Brennmaterialien unter die obligatorische Unfallversicherung. Diese Verfügung wurde damit begründet, dass die Rekurrentin in diesem Zweige ihres Geschäftsbetriebes Bandsägen verwende und daher dessen Unterstellung unter die obligatorische Versicherung gemäss Art. 17, Ziff. 6, der Verordnung I über die Unfallversicherung vom 25. März 1916 gegeben sei, wonach in Ausführung von Art. 60bis Ziff. l, lit. c, KUG die Versicherung auf Sägereien anwendbar erklärt wird. Mit Entscheid vom 22. November 1920 hiess indessen das Bundesamt für Sozialversicherung einen von der Eekurrentin gegen diese Verfügung der Anstalt eingelegten Eekurs gut, von der Erwägung ausgehend, dass der Holzhandel nur einen nebensächlichen Teil des gesamten Geschäftsbetriebes der Eekurrentin bilde und aus diesem Grunde die Anwendung von Art. 17, Ziff. 6 VO I nicht als gerechtfertigt erscheine. In der Folge stellten jedoch die Organe der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt fest, dass die Eekurrentin zur Ausübung des erwähnten Brennmaterialhandels einen durch Geleiseanschluss mit den Bundesbahnen verbundenen Werk- und Lagerplatz benütze; sie ersuchte daher unter Berufung auf Art. 31 der Verordnung I das Bundesamt Bundesblatt. 74. Jahrg. Bd. I.

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für Sozialversicherung, eine zu erlassende neue Verfügung zu genehmigen, kraft deren die Unterstellung gestützt auf Art. 17, Ziff. l, der Verordnung I ausgesprochen werden sollte. Nach dieser Bestimmung wird nämlich die Versicherung anwendbar erklärt auf die industriellen und Handelsunternehmungen, für deren Anlagen, Arbeitsund Lagerplätze oder Magazine der Geleiseanschluss an eine konzessionierte Eisenbahn- oder Schiffahrtsunternehmung benützt wird.

Das Bundesamt erteilte die erbetene Genehmigung, und es wurde daher am 22. Juli 1921 der Eekurrentin seitens der Unfallversicherungsanstalt eine Verfügung eröffnet, dahin lautend, dass das Holzlager beim Bahnhof Sécheron und noch verschiedene andere -- in dieser Verfügung näher bezeichnete -- Geschäftszweige der obligatorischen Versicherung unterstünden. Die Bekurrentin erhob daraufhin rechtzeitig Beschwerde beim Bundesamt für Sozialversicherung mit dem Antrag, der Entscheid vom 22. November sei zu bestätigen. Das Bundesamt für Sozialversicherung glaubte indessen, die Beschwerde nicht selbst beurteilen zu sollen, weil es in diesem Falle über die Bechtmässigkeit einer von ihm genehmigten Verfügung hätte entscheiden müssen; es überwies daher die Sache von Amtes wegen dem Bundesrate zur Erledigung. Mit Entscheid vom 30. September 1921 hat der Bundesrat die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. In den Motiven wird ausgeführt, dass die einmal getroffene Verfügung über die Unterstellung oder Nichtunterstellung eines Betriebes unter die obligatorische Versicherung nur so lange unabänderlich sein könne, als die Tatsachen, auf welche die Verfügung sich stützte, keine Änderung erlitten hätten bzw. nicht neue Tatsachen festgestellt worden seien, die, wenn sie früher bekannt gewesen wären, eine andere Entscheidung der Unterstellungsfrage zur Eolge gehabt haben würden. Das letztere sei hier der Fall; denn die für die Unterstellung ausschlaggebende Tatsache, nämlich die Existenz eines Lagerplatzes mit Geleiseanschluss, sei erst nach Erlass des Unterstellungsbescheides des Bundesamtes für Sozialversicherung vom 22. November 1920 zur Kenntnis der zuständigen Behörden gelangt.

B. Gegen diesen, ihr am 5. Oktober zugestellten Entscheid ergreift die Société Coopérative Suisse de Consommation in Genf am 5. Dezember die staatsrechtliche Beschwerde an die Bundesversammlung;
sie beantragt Gutheissung der Beschwerde und Aufhebung des Entscheides des Bundesrates vom 30. September 1921.

In formeller Beziehung beruft sich die Beschwerde auf die Art. 192,190 und 178 OG; in materieller Beziehung wird geltend gemacht, der angefochtene Entscheid sei willkürlich und verstosse daher gegen Art. 4 der Bundesverfassung.

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In rechtlicher Beziehung beehren wir uns, folgendes auszuführen: 1. Von einer staatsrechtlichen Beschwerde an die Bundesversammlung gegen Entscheide des Bundesrates in dem Verfahren betreffend die Unterstellung eines Betriebes unter die obligatorische Unfallversicherung kann nicht die Eede sein. Jede staatsrechtliche Beschwerde gemäss Art. 175 ff. OG, gleichviel, ob sie an das Bundesgericht oder an Bundesrat und Bundesversammlung gerichtet ist, setzt voraus, dass in der Sache ein Entscheid einer kantonalen Behörde ergangen ist (Art. 178, Ziff. l, 190 OG). Dies trifft jedoch im Unterstellungsverfahren nicht zu und kann nicht zutreffen, weil an diesem Verfahren überhaupt nur eidgenössische Instanzen (Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Bundesamt für Sozialversicherung, Bundesrat) beteiligt sind. Abgesehen davon ist die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV beim Bundesgerichte und nicht beim Bvmdesrate bzw. der Bundesversammlung einzulegen.

Dies erhellt daraus, dass die Bestimmungen der Bundesverfassung, deren Verletzung durch Beschwerde an die Bundesversammlung gerügt werden kann, in Art. 189 OG abschliessend aufgezählt werden, woraus zu folgern ist, dass zur Beurteilung - von staatsrechtlichen Rekursen wegen Nichtbeachtung der in diesem Artikel nicht erwähnten Verfassungsartikel das Bundesgericht zuständig ist. Dies wird übrigens in Art. 175 OG ausdrücklich ausgesprochen, indem danach dem Bundesgericht die Erledigung von Beschwerden betreffend Verletzung verfassungsmässiger Bechte der Bürger zugewiesen wird unter Vorbehalt der in Art. 189 bezeichneten staatsrechtlichen Streitigkeiten.

2. Indessen ist zu prüfen, ob nicht gleichwohl in Anwendung anderer Bestimmungen, als der Art. 175 ff. OG, auf die Beschwerde eingetreten werden kann ; denn die unrichtige Bezeichnung der Beschwerde als «staatsrechtliche Beschwerde» soll den Eechten der Eekurrentin nicht schaden. Dies ist jedoch zu verneinen. Eine Weiterziehung von nicht im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren ausgefällten Entscheiden des Bundesrates an die Bundesversammlung wegen Verletzung der Bundesverfassung ist nicht zulässig. Ein solches Besehwerderecht ergibt sich weder aus der Bundesverfassung, noch aus der Bundesgesetzgebung, und es kann dessen Existenz auch nicht aus allgemeinen Grundsätzen gefolgert werden. So
hat denn auch die Bundesversammlung mit Beschluss vom 5. Oktober 1905 den von -C. Spani bei ihr eingelegten Rekurs, in welchem die Verletzung der Bundesverfassung durch eine ausserhalb des staatsrechtlichen Beschwerdeverfahrens getroffene Verfügung des Bundesrates

geltend gemacht worden war, als unzulässig von der Hand gewiesen (vgl. Burckhardt, Kommentar zur Bundesverfassung, 2. Aufl., S. 745).

Es kann sich daher nur noch fragen, ob allenfalls gemäss den Bestimmungen des B G über die Kranken- und Unfallversicherung vom 13. Juni 1911 oder des Ergänzungsgesetzes zu dem "erwähnten Bundesgesetze vom 18. Juni 1915 eine Weiterziehung der Unterstellungsverfügungen des Bundesrates an die Bundesversammlung möglich ist.

Auch dies trifft indessen nicht zu; vielmehr schliesst Art. 60""' KUG (in der ihm durch Art. 16 des BG vom 18. Juni 1915 gegebenen Fassung) die "Weiterziehung ausdrücklich aus; denn Art. 60tl>r, Abs. 2, bestimmt : «Der Bundesrat wird das Verfahren und den Instanzenweg festsetzen, nach denen über die Zugehörigkeit zur obligatorischen Versicherung entschieden wird; er entscheidet selbst in letzter Instanz».

Gestützt auf diese Ausführungen beehren wir uns, Ihnen zu beantragen, es sei auf die Beschwerde der Société Coopérative Suisse de Consommation in Genf wegen Unzuständigkeit nicht einzutreten.

Genehmigen Sie die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung.

Bern, den 29. Dezember 1921.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t : Schul thess.

Der Bundeskanzler:

Steiger.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

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04.01.1922

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