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Botschaft des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung über die Petition der Hrn. M o r d a s i n i und Consorten, betreffend die Wahlart des Grossen Rathes des Kantons Tessin.

(Vom 9. Dezember 1875.)

Unterm 12. April 1875 haben die Herren Advokat August Mordasini von Comologno und sechs andere Bürger des Kantons Tessin eine Eingabe an uns gerichtet, in welcher sie auf die wiederholten, aber stets vergeblichen Versuche, die Verfassung des Kantons Tessin zu revidiren, aufmerksam machen und die Geschichte dieser Versuche, sowie die damit verbunden gewesenen Kämpfe kurz berühren, um zu beweisen, daß das wichtigste Hinderniss, das einer zeitgemäßen Revision im Wege stehe, im Art. 32 der erwähnten Verfassung liege, wonach jeder der 38 Wahlkreise, ob groß oder klein, gleich viel, nämlich drei Mitglieder des Großen Rathes zu wählen habe. Die Petenten suchten nachzuweisen, daß dieses System ungerecht sei und dein Prinzip der Gleichheit aller Bürger, welches in der Republik allein herrschen müsse, nicht entspreche, weil nur unter dem Schuze der Gleichheit die Gesinnung der wahren Mehrheit und dadurch diejenige der Gesammtheit bekannt werden könne. Die Anwendung der erwähnten Verfassungsbestimmung ergebe stets ein falsches Resultat, weil seit 1830 die Bevölkerung einzelner Kreise bedeutend sich verändert habe. Was

1190 damals gerecht erschienen sein möge, sei seither zur Ungerechtigkeit geworden. Daraus entspringen fortwährend Mißstimmung und Streitigkeiten. Der Große Rath des Kantons Tessin habe zwar schon lange eingesehen, daß die Art seiner Wahl mit der Bundesverfassung im Widerspruche stehe. Er habe deßhalb wiederholt Versuche gemacht, die bezügliche Vorschrift von Art. 32 durch die Revision der Verfassung zu ändern. Namentlich sei dieses der Fall gewesen in den Entwürfen zu einer neuen Verfassung des Kantons Tessin von 1865 und 1870. -Das Volk sei auch am 6. Febr.

1870 veranlaßt worden, über die Frage abzustimmen, ob die Mitglieder des Großen Käthes nach dem Verhältniß der Bevölkerung gewählt werden sollen, allein es habe diese Frage verneinend beantwortet. Dennoch habe die Großrathskommission diesen Grundsaz in dem Entwurfe zu der Verfassung festgehalten, weil sie gefunden, daß die jezt bestehende Vorschrift eine zu große Ungerechtigkeit in sich schließe und mit der Bundesverfassung im Widerspruche stehe. Aus den gedrukten Verhandlungen des Großen Käthes ergebe sich, daß auch in diesem die Ueberzeugung vorgewaltet habe, daß die Einführung eines billigern Verfahrens absolut nothwendig sei. Die im Laufe dieser Berathungen ausgebrochenen Zwistigkeiten zwischen Sotto- und Sopra-Cenere (welche bekanntlich die Intervention des Bundes und die Abordnung eidgenössischer Kommissarien nöthig machten) haben den Abschluß der Revision gestört, aber die Munizipalität von Lugano veranlaßt, unterm 10. November 1870 eine Eingabe an den Bundesrath.t beziehungsO o weise an die Bundesversammlung zu richten und unter Ziffer 3 ihrer fünf Begehren das Gesuch zu stellen: ,,Es möge dem Bundesrath gefallen, zu verordnen, daß jede weitere Wahl, sei es eine ergänzende oder allgemeine, von Großrathsabgeordneten vor sich zu gehen habe im Verhältniß zur Bevölkerung, und daß bei jeder allgemeinen Volksabstimmung gezählt werde nach votirenden Bürgern und nicht nach Kreisen.

Im Interesse des innern Friedens habe man jedoch damals die Revisionsarbeiten ruhen lassen und seither sei die Sache beim Alten geblieben.

.^j Die lezten Großrathswahlen vom 21. Februar 1875 haben es jedoch wieder anschaulich gemacht, auf welch' falscher Grundlage diese Wahlen beruhen. Keine andere Kantonsverfassung enthalte eine ähnliche Vorschrift. Nur der
unglükliche Kanton Tessin mache hierin eine Ausnahme. Er sei darum unglüklich zu nennen, weil er, obwohl in der Mehrheit freisinnig, unter dem Vorrechte, welches der Art. 32 den ultramontanen aber verhältnißmäßig weniger zahlreichen Bevölkerungen der Thäler gewähre, einem klerikalen Ueber-

1191 gewichte unterliegen müsse. Zum Beweise hiefür mögen die sechs Kreise Bellinzona, Baierna, Stabio, Giubiasco, Mendrisio und Lugano dienen, welche bei den Wahlen vom 21. Februar 1875 mit 4981 Bürgern 15 Liberale und 3 konservative Repräsentanten gewählt haben, aber von den sechs andern Kreisen Olivone, Quinto, Castro, Rovana, Airolo und Lavizzara mit wenig mehr als 1/3, nämlich mit 1784 Bürgern paralysirt werden, indem von diesen leztern 15 konservative und 3 liberale Repräsentanten gewählt worden seien. Hierin liege eine offenbare Ungerechtigkeit, welche von den Bundesbehörden gelöst werden müsse, weil die Petenten überzeugt seien, daß der aus den Wahlen des 21. Februar hervorgegangene Große Rath in dieser Frage nicht an Abhülfe denke und daß, wenn er auch darauf eintreten wollte, ein darauf abzielender Entwurf zur Revision der Verfassung gerade wegen dieses Punktes bei der Volksabstimmung verworfen würde, indem sehr viele Kreise daran interessirt seien, daß der gegenwärtige Zustand* fortbestehe, wie auch die Abstimmung vom 6. Februar 1870 beweise.

Es sei auch darum nöthig, daß hierin von Seite des Bundes Abhülfe verfügt werde, weil bei einer allfälligen Berichtigung der Kreise, wenn sie nicht jenem staatsrechtlich und verfassungsmäßig allein richtigen Prinzipe entsprechen würde, nothwendig neue Streitigkeiten entstehen müßten und weil es nicht als zuläßig erscheine, daß die G-eseze und die Verfassung fernerhin von einer Volksvertretung berathen werden, welche auf Grundlage eines .Verfahrens gewählt sei, das mit dem Geiste der Demokratie und mit der neuen Bundesverfassung im Widerspruche stehe. Von dem Wunsche geleitet, daß der Kanton Tessin nicht noch Jahre lang nach jenem Akte der Gerechtigkeit und nach jenem Hülfsmittel gegen rükwärtsschreitende Bestrebungen seufzen müsse, stellten die Petenten unter Berufung auf die Art. 4 und 6 der Bundesverfassung das Gesuch: 1) Daß eine Neuwahl des tessinischen Großen Rathes nach dem Verhältniß der Bevölkerung der Kreise angeordnet werden möchte; 2) daß, insofern eine Einladung an den Kanton Tessin zur Anordnung einer Verfassungsrevision erlassen würde, diese Revision durch einen Verfassungsrath zu berathen sei, welcher nach Verhältniß der Bevölkerung, und nicht anders, gewählt werden müßte.

2) Diese Eingabe der Herren Mordasini und Genossen wurde
unterm 21. April 1875 in üblicher Weise dem Staatsrathe des Kantons Tessin zugeschikt, mit der Einladung, uns diejenigen Bemerkungen mitzutheilen, welche er selbst, sowie der Große Rath BundesUatt. Jahrg. XXVII. Bd. IV.

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1192 darüber zu machen im Falle sein möchten. Der Leztere überwies diese Angelegenheit einer Kommission und genehmigte am 27. Mai ·deren Antrag, dahingehend, daß er die Begehren der Petenten zurükweise, worauf das Bureau des Großen Rathes mit Schreiben vom 5. Juni uns den Bericht genannter Kommission als Begründung jenes Beschlusses direct mittheilte. Wir glaubten jedoch diese Umgehung des Staatsrathes remediren zu sollen, indem wir diesem auch noch Gelegenheit gaben, seine Bemerkungen uns vorzulegen. Der wesentliche Inhalt dieser weitern Aktenstüke geht dahin : a. Das Bureau des Großen Rathes beruft sich zur Begründung der Abweisung des Begehrens der Petenten auf den Kommissionsbericht, sieht sich aber veranlaßt, seinerseits zu bemerken , daß wofern der vorliegende Rekurs eine günstige Aufnahme fände, die ausgesuchteste Heuchelei und die schwärzeste Bosheit zur Geltung kommen «würden, vermöge deren das Volk in seinem guten Glauben durch die obersten Behörden selbst bei der Ausübung seiner eigenen verfassungsmäßigen Rechte betrogen wäre ,,il quale ricorso ove venisse accolto non farebbe che premiare la ipocrisia più raffinata et la più dolosa malizia -- mercé della quali il P o p o l o sarebbe stato ingannato in piena buona fede neir esercizio dei proprj diritti costituzionali dalle medesime Supreme Autorità Cantonali."1 Im Weitern fügt das Bureau noch bei, daß die angegriffenen Bestimmungen der Tessiner Verfassung mit Art. 4 der gegenwärtigen Bundesverfassung nicht unvereinbar seien, was auch unter beinahe gleichen Verhältnissen am 19. Juli 1858 vom Nationalrathe anerkannt worden, indem er erklärt habe, daß die Reguliruug der Wahlbezirke, der Wahlart und die Ausmittelung und Feststellung der Volkszahl der Kantonalsouveränetät vorbehalten bleiben müsse. (Ullmer I, Nr. 581. Erwägung 3.)

Die Kommission des Großen Rathes begründet ihre Ansicht wie folgt : Die Art. 4 und 6 der jezigcn Bundesverfassung seien gleichlautend wie die Art. 4 und 6 der Bundesverfassung von 1848.

Wenn der Art. 32 der tessinischen Verfassung mit diesen Artikeln im Widerspruche wäre, so würden die Bundesbehörden dessen Anwendung nicht so lange geduldet haben. Die Bundesversammlunghabe vielmehr die Partialrevision von 1855, wobei auch ein Theil des gleichen Art. 32 aufgehoben worden, gewährleistet, ohne eine Bemerkung zu machen,
daß der übrige Theil nicht statthaft sei.

Ferner habe der Bundesrath im Jahr 1863 den Staatsrath eingeladen, dafür zu sorgen, daß die Art. 16, 27, 28, 29, 30, 31 und 32, soweit sie die Ausübung des Stimmrechtes und die Fähigkeit zu gewissen Aemtern gewählt zu werden, von dem Besize von liegen-

1193 schaftliehern Vermögen abhängig gemacht haben, nicht mehr zur Anwendung kommen, weil ein Census mit der Bundesverfassung nicht vereinbar sei. Der Staatsrath habe dieser Einladung mit Dekret von 14. September gl. Js. entsprochen. Auch bei diesemAnlaß würde der Bundesrath keinen Anstand genommen haben, ein gleiches Begehren bezüglich der Wahlart der Abgeordneten in den Großen Rath zu stellen , wenn er es gerechtfertigt erachtet hätte. Es habe bis jezt Niemand, weder Behörden noch Privatpersonen, gegen die fragliche Vorschrift Beschwerde erhoben. Die lezten Neuwahlen haben wieder nach Maßgabe der schon lange bestehenden Gesezgebung und selbst unter dem Schuze des Bundes stattgefunden, sie müssen daher während der verfassungsmäßigen Dauer anerkannt werden, es wäre denn, daß eine neue Verfassung etwas Anderes verfügen würde. Allerdings haben während vielen Jahren mehrfache Versuche zu einer Revision der Verfassung stattgefunden, allein sie seien hier bedeutungslos, da sie keinen Erfolg gehabt haben.

Wenn die Potenten blos verlangt hätten, daß die nächsten allgemeinen Wahlen nach dem Verhältniß der Bevölkerung stattfinden müssen, so glaube die Kommission, daß der Große Rath nicht gezögert hätte, zu erklären, er werde darauf Bedacht nehmen, durch eine Berichtigung der Wahlkreise oder durch ein anderes geeignetes Mittel jenen Grundsaz künftig zur Anwendung zu bringen.

Was das zweite Begehren der Rekurrenten betreffe, so würde die Genehmigung desselben eine Verlezung der Kantonalsouveränetät und eine Mißachtung der Kompetenz der kantonalen Behörden in sich schließen. Der Bund könne wohl verlangen, daß die Kantone ihre Verfassungen mit der Bundesverfassung in Einklang bringen. Aber es sei Sache der Kantone, zu bestimmen, durch welche Behörde diese Revision vorgenommen werden müsse. Die Bundesverfassung enthalte keinen Artikel, welcher das von den Rekurrenten angetragene Verfahren rechtfertigen würde.

b. Der Staatsrath des Kantons Tessin konstatirt in seinem Berichte vom 31. Juli/5. August 1875, daß gegenwärtig im ganzen Kanton die Einführung der Wahlen in den Großen Rath nach Verhältniß der Bevölkerung als gerecht und nothwendig anerkannt werde. Wenn dieses erste Begehren der Rekurrenten, zur Zeit als sie ihren Rekurs eingereicht haben, als gewagt hätte bezeichnet werden können, so erseheine es jezt
als gerechtfertigt, da der Große Rath inzwischen die Verfassungsrevision wieder an die Hand genommen, allein in der Mai-Sizung die Anerkennung jenes Grundsazes abgelehnt habe und zwar lediglich ,,aus Gründen der Opportunität tt , wie aus dem Berichte der Mehrheit der großräthlichen Kommission zu ersehen sei und noch deutlicher von dem Abge-

1194 ordneten Respini in einer Erklärung, die er im Namen sämmtlicher liberal-konservativen Mitglieder des Großen Rathes zu Protokoll gegeben habe, ausgesprochen worden sei. Diese Gründe der Opportunität seien aber bloße Parteirüksichten, welche die Mehrheit des Großen Rathes veranlaßen, den bevölkertem Ortschaften ihr Recht vorzuenthalten. Es frage sich, wann denn die Gründe der Opportunität aufhören werden und weßhalb nicht gerade bei Anlaß der gegenwärtigen Revision die schon seit vielen Jahren im Namen der Gleichheit aller Bürger verlangte Aenderung vorgenommen werden sollte. Die Ruhe und Ordnung des Kantons erfordern, daß die Vorrechte einzelner Kreise aufgehoben werden; andernfalls würden gefährliche Erschütterungen zu befürchten sein. Die jezige Mehrheit des Großen Rathes suche die Einführung der verhältnißmäßigen Wahlen nur darum zu hintertreiben, weil dieses System ihrer Herrschaft gefährlich werden könnte. Dies sei auch der Grund, weßhalb sie in der Sizung des Großen Rathes vom 26. Mai d. Js. sich geweigert habe, über dieses wichtige Begehren mit Namensaufruf abzustimmen, was von der liberalen Seite energisch verlangt worden sei.

Es sei unrichtig, daß mit der günstigen Aufnahme des Rekurses die ausgesuchteste Heuchelei belohnt würde, vielmehr würde ein Grundsaz des Bundesverfassung zur Anerkennung kommen und eine ganz unbillige Bestimmung der Verfassung des Kantons Tessin gestrichen. Schon seit ungefähr 20 Jahren spreche man von einer Revision dieser Verfassung und jedes Mal sei die Frage der proportioneilen Wahlen zur Sprache gekommen und in die Entwürfe aufgenommen worden. Man könne daher nicht von einer Täuschung reden, wenn heute einzelne Personen ihre Stimme erheben, um mit Hülfe der Bundesbehörden ein Recht zu erlangen, das vom Großen Rath nicht erhältlich gewesen. Gerade jezt sei es an der .Zeit, damit jenes Recht bei der jezigen Revision Anerkennung finde.

Indem der Staatsrathe noch bemerkte, daß die von den Rekurrenten angeführten Zahlen mit den amtlichen Protokollen übereinstimmen, fügte er noch bei, daß er dem Rekurse prinzipiell sich anschließe, ohne über die Postulate der Rekm-renten sich auszusprechen.

3. Bei der Prüfung dieser Angelegenheit drängte sich uns zunächst die Frage auf, ob das Bundesgericht oder die politischen Buadesbehörden zum Entscheide kompetent seien. Wir
glaubten uns für die leztere Alternative aussprechen und von der Ueberweisung an das Bundesgericht abstrahiren zu sollen. Die Gründe, ·welche uns hiebei geleitet haben, sind kurz folgende:

1195 Nach Art. 113, Ziff. 3 der Bundesverfassung und nach Art. 59 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 sind Beschwerden von Privaten über Verlezung derjenigen Rechte, welche ihnen durch die Bundesverfassung oder durch die Verfassung ihres Kantons gewährleistet sind, durch das Bundesgericht zu beurtheilen. Es liegt aber hier nicht die V e r l e z u n g eines solchen Rechtes in Frage. Auch beschweren sich die Petenten nicht darüber, daß speziell ihre eigenen verfassungsmäßigen Rechte oder diejenigen bestimmter anderer Personen beeinträchtigt worden seien. Ebenso waltet kein Streit darüber, daß der Art. 32 der Verfassung des Kantons Tessin verschieden angewendet worden sei. Vielmehr geht der Angriff direkt gegen die Existenz des Art. 32 selbst, indem behauptet wird, daß derselbe im Widerspruche stehe mit der Bundesverfassung und daher aufgehoben werden müsse. Es liegt somit eine Frage vor, welche mit der Garantie einer Kantonsverfassung durch den Bund in engster Verbindung steht und daher gemäß Art. 85, Ziff. 7 ia den Geschäftskreis der Bundesversammlung fällt.

Dazu kommt, daß die aufgeworfene Frage aus politischen Kämpfen entsprungen und nun selbst gewissermaßen politischer Natur geworden ist, insofern sie schon wiederholt die Ursache politischer Agitation im Kanton Tessin wurde und gerade gegenwärtig nicht aus Gründen des Rechts, sondern lediglich aus Gründen der politischen Opportunität im Streite liegt. Nach Art. 85, Ziff. 8 und Art. 102, Ziff. 2, 3 und 10 der Bundesverfassung stehen jedoch diejenigen Maßregeln, welche die Garantie der Kanton al Verfassungen zum Zweke haben und zur Handhabung der Ruhe und Ordnung im Innern nöthig erscheinen, den politischen Bundesbehörden zu.

Es konnte sich daher nur fragen, ob wir diese Angelegenheit, wie es im gewöhnlichen Geschäftsgange der Fall ist, zunächst von uns aus entscheiden und sodann einen Rekurs an die Bundesversammlung gewärtigen, oder direkt Ihnen zum Entscheide überweisen sollen. Indem wir den leztern Weg einschlagen und zu diesem Ende den eidgenössischen Räthen gegenwärtigen Bericht vorlegen, geschieht es nicht in dem Sinne, daß wir unsere Kompetenz ablehnen wollten, sondern lediglich aus dem Grunde, weil die eidgenössischen Räthe schon ein Mal mit der gleichen Frage sich beschäftigt haben, deren
Erledigung, wie wir glauben, nicht länger verschoben werden kann und welche ihrem wesentlichen Inhalte nach gewissermaßen jezt noch bei den eidgenössischen Räthen anhängig ist.

1196 Es ist nämlich im Eingange dieses Berichtes aus der Eingabe, der Beschwerdeführer erwähnt worden, daß die Munizipalität der Stadt Lugano schon unterm 10. November 1870 das Begehren gestellt habe, daß von Bundes wegen verfügt werden möchte, es haben künftig alle Wahlen von Abgeordneten in den Großen Rath nach dem Verhältniß der Bevölkerung stattzufinden und jede allgemeine Volksabstimmung sei nach der Mehrheit der votirenden Bürger und nicht nach Kreisen zu entscheiden.

Dieses Begehren bildete einen Bestandteil derjenigen Beschwerden, welche die Stadt Lugano und einige andere Gemeinden des südlichen Tessins an uns zu Händen der Bundesversammlung gerichtet haben, um gegen die Instruktionen zu reklamiren, welche wir den eidgenössischen Kommissären mitgegeben hatten, deren Abordnung in Folge der im Sommer 1870 ausgebrochenen Zwistigkeiten nöthig geworden war. Wir haben über den Verlauf dieser Zwistigkeiten, wobei sogar die Trennung des Kantons in zwei Theile zur Sprache kam, sowie über das erwähnte Begehren jener Gemeinden mit Botschaften vom 2. und 10. Dezember 1870 an die Bundesversammlung Bericht erstattet. Wir müssen uns hier darauf beschränken, auf den Inhalt jener Botschaften, sowie auch auf die Berichte der Mehrheit und Minderheit der ständeräthlichen Kommission vom 17. Dezember 1870 zu verweisen. (Bundesblatt 1870, Bd. III, S. 768 und 1027; 1871, Bd. I, S. 25 und 28.) Die Frage, welche uns heute wieder beschäftigt, wurde auch damals besprochen, aber nicht entschieden. Die Bundesversammlung beschränkte sich darauf, in ihrem Beschlüsse vom 24. Dezember 1870 (Bundesblatt 1871, Bd. l, S. 10) zu erklären, daß eine Trennung des Kantons Tessiti nicht zugegeben werden könne und uns zu beauftragen, zum Behufe einer dauernden Pazifikation dieses Kantons einen neuen Yermittlungsversuch anzubahnen und über dessen Resultat Bericht und Antrag zu hinterbringen. Der Schluß dieses Dekretes lautet wörtlich wie folgt: ,,Inzwischen b l e i b t d i e E n t s c h e i d u n g ü b e r d i e a n h ä n g i g e n R e k u r s e gegen die B e s c h l ü s s e des Großen R a t h e s , s o w i e die V o l k s a b s t i m m u n g ü b e r d e n V e r fassungsentwurfaufgeschoben.a Die weitern Verhandlungen, welche im Jahr 1871 stattfanden und worüber wir in unserm Berichte über die Geschäftsführung dieses Jahres Auskunft
gaben (Bundesblatt 1872, Bd. II, S. 90), hatten eine allmälige Aussöhnung der Parteien zur Folge. Die Revision der Verfassung aber blieb auf sich beruhen und so kamen auch die Begehren der Gemeinden aus Sotto-Cenere nicht zur Erledigung.

1197 In Folge dessen mußte die Gesammterneuerung des Großen Käthes, welche am 21. Februar abbin stattfand, nach dem alten Modus vorgenommen werden. Sobald jedoch der neue Große Rath konstituirt war, kam auch die Verfassungsrevision wieder auf die Tagesordnung und mit ihr trat auch wieder das Postulat der proportionellen Wahlen in den Vordergrund. Der Große Rath verwarf jedoch abermals das Prinzip der Mehrheit, obschon er eine .theil weise Revision und einen bezüglichen Entwurf in erster Berathung genehmigte.

Wir sind nun zu der Ueberzeugung gekommen, daß die uns abermals vorgelegte Frage endlich zu einer definitiven Lösung kommen müsse und finden, daß die neue Eingabe, weil in naturgemäßem Zusammenhang mit den frühern Verhandlungen stehend, als Fortsezung der am 24. Dezember 1870 aufgeschobenen Rekurse betrachtet und direkt von der Bundesversammlung behandelt werden sollte. Der Umstand, daß nicht gerade wieder die gleichen Potenten aufgetreten sind, kann nicht entgegenstehen, da in Fragen des öffentlichen Rechtes solche bloß formelle Momente nicht in Betracht kommen.

Wenn jedoch die Bundesversammlung finden würde, daß in erster Linie wir entscheiden sollten, unter Vorbehalt des Rekurses, der jedenfalls nicht ausbleiben würde, so sind wir ohne Weiteres dazu bereit. Für diesen Fall wollen wir aber nicht ermangeln, uns jezt schon dahin auszusprechen, daß unser Entscheid im Sinne der Anerkennung des Prinzipes der Mehrheit der Bürger ausfallen würde, und daß wir in Folge dessen die damit im Widerspruch stehenden Bestimmungen der Verfassung des Kantons Tessin außer Kraft erklären würden.

Wir stellen indeß in erster Linie den Antrag, daß die Bundesversammlung selbst diesen Entscheid gebe, damit diese Frage endlich diejenige Lösung finde, welche sie nach Maßgabe des heutigen Bundesrechtes finden muß.

Zur Begründung unserer Ansicht mögen folgende faktische und rechtliche Erörterungen dienen : 1) Zunächst mag es nicht überflüssig sein, daran zu erinnern, daß die tessinische Verfassung die älteste ist, welche gegenwärtig in der Schweiz besteht. Sie stammt aus einer Zeit, da die Rechtsgleichheit der Bürger noch in keinem Kanton zur vollkommenen Anerkennung gelangt und namentlich das Stimm- und Wahlrecht noch mit mannigfachen Beschränkungen umgeben war. Nicht einmal die politischen Errungenschaften, welche den schweizerischen Bevölkerungen in Folge der Regeneration im Anfange der 1830er

1198 Jahre zu Theil wurden, kamen im Kanton Tessin zum Durchbruch, denn die Verfassung dieses Kantons datirt noch aus einer frühem Zeit. Sie trägt nämlich das Datum vom 23. Juni 1830 und ist ausdrüklich nur als eine Modifikation der frühern Verfassung vom 17. Dezember 1814 bezeichnet. Der Art. l des Einführungsdekretes des Großen Rathes vom 13. Juli 1830 lautet wörtlich: ,, D i e V e r f a s s u n g vom 1 7. D e z e m b e r 1814, wie sie vom Großen Rathe auf Antrag des Staatsrathes am 23. Juni 1830 modifizirt wurde, ist das G r u n d g e s e z des S t a a t e s . " (La Costituzione del il Dicembre 1814, modificata dal Gran Consiglio sulla proposizione del Consiglio di Stato il giorno 23 di Giugno 1830 è legge fondamentale dello Stato.) Am 19. Juli 1831 erhielt diese Verfassung .die Gewährleistung der eidgenössischen Tagsazung.

2) Die Vorschrift dieser Verfassung, welche uns gegenwärtigbeschäftigt, befindet sich, wie schon oben erwähnt, in Art. 32 derselben. Dieser Artikel enthielt ursprünglich folgende Bestimmungen: ,,Jeder Kreis ernennt unter den Aktivbürgern des näm,,lichen Kreises drei Abgeordnete zum Großen Rathe.a Zwei Mitglieder mußten 30 Jahre, das dritte Mitglied mußte 25 Altersjahre zurükgelegt haben. Ferner mußten sie im Kanton Grün d eigen th u m besizen im Werthe von mindestens viertausend Franken, oder ein Einkommen von Grundbesiz haben, das diesem Vermögen entspricht.

Dieser Art. 32 erlitt jedoch folgende Modifikationen:a. Bei der theilweisen Revision vom 1. März 1855 wurden die Worte ,, u n t e r d e n A k t i v b ü r g e r n d e s n ä m l i c h e n K rei s es- 1 gestrichen und das Alter zur Wählbarkeit in den Großen Rath, in die Bezirksgerichte, Friedensgerichte und Gemeinderäthe wurde auf das vollendete 25. Jahr herabgesezt.

b. Durch Dekret des Staatsrathes des Kantons Tessin vom 14. September 1863 wurde das Erforderniß des Besizes eines gewissen Vermögens für die Wählbarkeit in" den Großen Rath suspendirt. Es geschah dieses in Folge einer Einladung des Bundesrathes vom 31. Juli 1863 behufs Vollziehung des von der Bundesversammlung am 25. gleichen Monats bei Anlaß der Gewährleistung der Luzerner Verfassung aufgestellten Grundsazes, daß die Forderung des Besizes eines gewissen Vormögens für die Fähigkeit zur Bekleidung gewisser Aemter und für die Stimmfähigkeit mit Art. 4 der Bundesverfassung im Widerspruche stehe. (A. 0. S. Bd. VII, S. 573; Bundesbl. 1863, Bd. III, S. 328.)

1199 Nach diesen Modifikationen ist von § l des Art. 32 nur noch folgende Bestimmung in Kraft: ,, J e d e r K r e i s e r n e n n t 3 A b g e o r d n e t e zum Großen Rath.« 3) Es fragt sich nun, ob nicht auch dieser Saz mit der Bundesverfassung im Widerspruche stehe und daher als aufgehoben erklärt 'werden müsse.

Was den erten Theil dieser Frage betrifft, so folgt schon aus den gegebenen geschichtlichen Notizen über die Entstehung der jezigen Verfassung des Kantons Tessin, daß diese aus einer Zeit datirt, in welcher das allgemeine Wahlrecht noch keineswegs überall durchgeführt, vielmehr noch oft an örtliche und persönliche Vorzüge geknüpft wurde. Dieses geschah auch im Juni 1830 im Kanton Tessin, wie aus dem oben mitgetheilten Inhalt von Art. 32 und noch aus andern bezüglichen Artikeln ersichtlich ist. Der Art. 32 ist nun allerdings nicht mehr in Anwendung, soweit er direkt ein Privilegium des Besizes aufgestellt hat. Allein er gewährt noch ein anderes Privilegium, indem er den einzelnen Stimmen in weniger bevölkerten Kreisen einen höhern Werth einräumt, als in Kreisen mit größerer Bevölkerung.

Nach der eidg. Volkszählung von 1870 zählte der Kanton Tessin 119,619 Einwohner. Damit alle Einwohner in gleicher Weise im Großen Rath repräsentirt wären, müßte jeder der 38 Wahlkreise, in welche der Kanton nach Art. 14 der Verfassung eingetheilt ist, 3148 Einwohner zählen. Es stehen aber nicht weniger als 20 Kreise unter dieser Mittelzahl. Es ist also schon nach dieser Berechnung die Mehrzahl der Kreise bevorzugt, woraus sich, nebenbei bemerkt, auch die Beharrlichkeit erklärt, womit die begünstigten Kreise an der ihnen gewährten Begünstigung festhalten.

Dieses Vorrecht tritt aber noch greller zu Tage, wenn die Bevölkerung einzelner Kreise unter sich verglichen wird.

Die sechsam m e i s t e n bevölkerten Kreise zählen Einwohner : Lugano 6,024 Giubiasco . . . . 5,063 Bellinzona . . . . 4,848 Riviera 4,405 Baierna . . . . 4,350 Locamo . . . . 3,222

1200 Die sechs am w e n i g s t e n bevölkerten Kreise dagegen zählen blos Einwohner: Lavizzara . . . . 1,169 Castro . . . , . 1,871 Olivone 2,009 Airolo 2,021 Quinto 2,093 Breno 2,141 Nach dieser der offiziellen Zählung von 1870 enthobenen Uebersicht (Aas Verhältniß hat sich seither wahrscheinlich in den Städte-Kreisen noch ungünstiger gestaltet) hat eine Stimme im Kreise Lavizzara beinahe 6 Mal mehr Werth, als eine Stimme im Kreise Lugano und im Kreise Breno 3 Mal mehr, als im Kreise Lugano etc. Ueberhaupt befinden sich die sechs erstem Kreise im Nachtheil gegenüber allen andern Kreisen. Diese Thatsache beweist aber hinlänglich, daß die in Frage sthehende Vorschrift von Art. 32 der tessinischen Verfassung im Widerspruche steht mit dem in Art. 4 der Bundesverfassung garantirten Grundsaze der Rechtsgleicheit und mit ' der im gleichen Artikel enthaltenen Vorschrift, daß es in der Schweiz keine Vorrechte des Ortes odor der Personen geben dürfe.

Es besteht aber auch noch ein weiterer Widerspruch mit Art. 6 der Bundesverfassung, welcher von den Kantonsverfassungen fordert, daß sie das allgemeine Stimmrecht, d. h. das Prinzip der Mehrheit der Bürger absolut als maßgebend anerkennen. Die Bundesverfassung kennt nicht eine Mehrheit der Kreise oder der Gemeinden, sondern nur eine Mehrheit der Bürger und diese müssen ihr Stimmrecht nach republikanischen oder demokratischen Formen ausüben können, d. h. individuell und direkt, nicht durch die Vermittlung eines Kreisverbandes.

Der Große Rath des Kantons Téssin geht indeß von der Ansicht aus, daß jene Vorschrift des Art. 32 nicht im Widerspruche stehe mit der Bundesververfassung und beruft sich hiebei zur Unterstüzung dieser Ansicht auf verschiedene Vorgänge, welche an diesem Plaze näher geprüft werden mögen : a. Der Nationalrath habe unter fast gleichen Verhältnissen am 18. Juli 1858 den Grundsaz anerkannt, daß die Regulirung der Wahlbezirke, der Wahlart und die Ausmittlung und Feststellung der Volkszahl der Kantonalsouveränetät vorbehalten bleiben müsse. Es ist allerdings richtig, daß dieses Räsonnement ein Erwägungsgrund der Mehrheit der nationalräthlichen Kommission bildete zur Begründung des Antrages, daß auf das Begehren von

1201 71 Mitgliedern des Großen Käthes des Kantons St. Gallen um Aufhebung von Art. 46 der Verfassung dieses Kantons vom 1. März 1831, wonach der Stadt St. Gallen aus Billigkeit 15 statt 9 Großrathsmitglieder zugeschieden worden waren, nicht einzutreten sei.

Der Nationalrath hat auch in der That diese Erwägung anfänglich genehmigt. Allein der Ständerath beschloß, jede Begründung wegzulassen und der Nationalrath stimmte nachher dem Ständerath bei. Der definitive Beschluß der Bundesversammlung enthält daher keinerlei Motive. (A. 0. S. Bd. VI, S. 110.) Indeß wollen wir auf diesen Umstand kein wesentliches Gewicht legen. So viel ist immerhin richtig, daß die Bundesversammlung im Jahr 1858 in dem Umstände, daß kantonale Verfassungen gewissen Städten, oder großem Ortschaften eine höhere Repräsentation in den gesezgebenden Behörden gewährten, als ihnen nach dem Verhältniß der Bevölkerung zugekommen wäre, keinen Widerspruch mit Art. 4 der Bundesverfassung gefunden hat.

Allein es ist nicht zu übersehen, daß damals gleiche Ausnahmsverhältnisse auch in andern Kantonen noch bestanden haben, und daß überhaupt bei der Durchführung der Grundsäze der Bundesverfassung von 1848 in rüksichtsvoller Weise gegenüber den Kantonen verfahren werden mußte. Es sind dannzumal noch Verhältnisse geduldet worden, bezüglich welcher eine spätere Legislative anerkannte, daß sie im Widerspruche stehen mit Art. 4 der Bundesverfassung. Gerade der Wählercensus, von dem oben schon die Rede war, ist ein solches Beispiel. Der Berichterstatter der Kommission des Ständerathes über die Beschwerde der St. Gallischen Großräthe ermangelte nicht, in seinem Berichte auf den Bestand des Wählercensus in den Kantonen Luzern und Tessin hinzuweisen, und diese Thatsache als Argument zu gebrauchen zum Beweise dafür, daß auch in andern Kantonen außer dem Kanton St. Gallen noch Unebenheiten bestehen, welche von dem Einen als Weisheit, von einem Andern als Vorrecht bezeichnet werden. Und denn o c h w u r d e i m J a h r 1863 d e r W ä h l e r c e n s u s v o n d e r B u n d e s v e r s a m m l u n g als im Widerspruche stehend mit A r t . 4 der B u n d e s v e r f a s s u n g e r k l ä r t , ein Entscheid, der ohne Zweifel besser den Anschauungen entspricht, die man heute in der Republik mit dem Begriffe der Rechtsgleichheit verbindet, als das umgekehrte
Verhältniß. Es ist aber bei Beurtheiluag der vorliegenden Frage lediglich das gegenwärtige Rechtsbewußtsein maßgebend. Wie nun im Jahr 1858 die Existenz eines Wählercensus als Argument für die Zuläßigkeit eines Wählervorrechtes angeführt werden konnte, so kann heute auch der Entscheid der Bundesversammlung, daß der Erstere mit der Bundesverfassung im.

1202 Widerspruche stehe, als Argument angerufen werden für die verfassungsmäßige Unstatthaftigkeit des Leztern.

Zum Beweise dafür, daß die Aufhebung der Wählervorrechte den heutigen Anschauungen entspricht und daher, ganz abgesehen davon, welche Ansichten früher über diesen Punkt gewaltet haben mögen, jezt als Prinzip des schweizerischen Staatsrechtes anerkannt werden muß, mag übrigens die Thatsache dienen, daß solche Vorrechte gegenwärtig in keinem andern Kantone mehr bestehen. E& anerkennen gegenwärtig sämmtliche Kantonsverl'assungen (mit einziger Ausnahme derjenigen von Tessin) den Grundsaz der proportionellen Vertretung. Einzelne Kantonsverfassungen gewähren jeder Gemeinde für alle Fälle die Wahl eines Repräsentanten, aber sie sichern auch allen Gemeinden die gleiche Vermehrung der Zahl der Repräsentanten zu, sobald ihre Bevölkerung eine gewisse Verhältnißzahl überschreitet. Allein dieses System hat keine Aehnlichkeit mit dem im Kanton Tessin bestehenden System. Jenes g e w ä h r t der kleinsten Gemeinde einen Repräsentanten, auch wenn sie nach der Verhältnißzahl keinen Anspruch dazu hätte. Das tessinische System dagegen e n t z i e h t den größern Gemeinden oder Kreisen diejenige Zahl der Repräsentanten, worauf sie ein Recht haben. Es ist daher an der Zeit, daß ihnen dieses Recht verschafft werde.

Der von dem Großrathsbüreau des Kantons Tessin angerufene Grundsaz, daß die Regulirung der Wahlbezirke, der Wahlart und die Ausmittlung und Feststellung der Volkszahl Sache der Kantone bleibe, hat dennoch seine Berechtigung, nur muß er in richtigem Sinne angewendet werden. Jedenfalls darf unter der Feststellung der Volkszahl nichts anderes verstanden werden, als die Verhältnißzahl zur Berechnung der Repräsentanten.

b. Der Umstand, daß die Gewährleistung der theilweiscn Revision der tessinischen Verfassung im Jahr 1855 erfolgt ist, ohne daß bezüglich der Wahlart des Großen Rathes ein Vorbehalt gemacht wurde, ist ganz unerheblich. Diese Frage war damals nicht zu prüfen und die Revisionspunkte boten keinen Grund, um Vorbehalte zu machen. Die Gewährleistung m u ß t e ertheilt werden, da nicht bloß die Mehrheit der Kreise dafür sich ausgesprochen hatte (31 hatten angenommen, 6 verworfen und l kam zu keinem Resultat), sondern auch die Mehrheit des Volkes (von 9412 Stimmenden votirteff 7731 mit Ja und
1681 mit Nein). Es versteht sich übrigens von selbst, daß der Bund bei diesem Anlaß nur den Inhalt der vorgelegten Artikel gewährleistet hat und daß aus dem Stillschweigen bezüglich des weitern Inhaltes der Verfassung des Kanlons Tessin nicht auf eine erneuerte Anerkennung desselben geschlossen werden darf. Ueberhaupt hat die Gewährleistung einer

1203 Kantonsverfassung nicht den Sinn, daß die einzelnen Bestimmungen für immer anerkannt bleiben, auch wenn sie mit der Entwiklung der Bundesverfassung nicht Schritt halten, sondern mit dieser in Widerspruch kommen sollten (Art. 2 der Uebergangsbestimmüngen zu der Bundesverfassung).

c. In gleicher Weise muß auch die Einrede zurükgewiesen werden, welche aus der Thatsache abgeleitet werden will, daß im Jahr 1863 in Anwendung des Bundesbeschlusses betreffend die Garantie der Verfassung des Kantons Luzern sieben Artikel der Verfassung des Kantons Tessiti (worunter auch der Art. 32), soweit sie einen Wählercensus aufstellten, haben suspendirt werden müssen, ohne daß damals auch die Suspension des andern Theiles von Art. 32, welcher sich auf die Wahlart des Großen Ratlies bezieht, verlangt worden ist. Der' Bundesrath hatte damals keine VeranO lassung weiter zu gehen, als der Bundesbeschluß es forderte.

4. Durch diese Erörterungen glauben wir bewiesen zu haben, daß in Art. 32 der tessinischen Verfassung ein Wahlvorrecht liege, das nicht bloß mit den allgemeinsten Grundsäzen des neuern Bundesstaatsrechts, sondern insbesondere auch mit den positiven Vorschriften von Art. 4 und 6 der Bundesverfassung im Widerspruche stehe. Es muß daher der erste Theil der unter Ziffer 3 aufgeworfenen Frage bejahend beantwortet werden. Unter dieser Voraussezung versteht es sich von selbst, daß auch der zweite Theil zu bejahen, d. h. daß jenes Wahlvorrecht als aufgehoben zu erklären ist, da nach Art. 2 der Uebergangsbestimmungen zu der neuen Bundesverfassung alle Vorschriften kantonaler Verfassungen, welche mit der neuen Bundesverfassung im Widerspruche stehen, mit der Annahme der leztern außer Kraft treten mußten, Hier tritt nun der vom Bureau des Großen Rathes des Kantons Tessin erhobene Einwurf entgegen, daß in der oft erwähnten Vorschrift von Art. 32 kein Widerspruch mit der Bundesverfassung liegen könne, weil die Art. 4 und 6 der jezigen Bundesverfassung wörtlich gleichlautend seien mit den Art. 4 und 6 der Bundesverfassung von 1848 und ebenso der Art. 2 der neuen Bundesverfassung , soweit er hier in Betracht komme, übereinstimmend laute mit Lemma 2 von Art. 4 der alten Bundesverfassung und dennoch der Fortbestand von Art. 32 der tessinischen Verfassung bis jezt von allen Seiten anerkannt worden sei.

Dieses Raisonnement
ist jedoch unbegründet. Im Staatsrechte gibt es keine Verjährung; die mit der Bundesverfassung im Widerspruche stehende Vorschrift einer Kantonsverfassung kommt dadurch, daß sie längere Zeit unangefochten angewendet werden kann, nicht in Einklang mit der Bundesverfassung. Auch waren die Bundes-

1204 behörden niemals verpflichtet, die Kantonsverfassungen zu durchsuchen, um auszumitteln, welche Säze mit der Bundesverfassung im.

Widerspruche stehen möchten. Die kantonalen Behörden haben es in der Regel vorgezogen, von sich aus die Initiative zu ergreifen, um vorhandene Widersprüche auszugleichen, ohne die Intervention der Bundesbehörden abzuwarten.

Gegenwärtig liegt nun aber eine Beschwerde vor mit einem bestimmten, auf die Aufhebung der oft erwähnten Vorschrift von Art. 32 der Verfassung des Kantons Tessiti gerichteten, Rechtsbegehren ; es versteht sich daher von selbst, daß entweder ein bejahender oder ein verneinender Entscheid gegeben werden muß.

Allerdings haben die Bundesbehörden bis jezt sich enthalten, in quasi theoretischer Weise die Prüfung kantonaler Verfassungsvorschriften rüksichtlich ihrer Uebereinstimmung mit der Bundesverfassung vorzunehmen. Sie haben sich in der Regel darauf beschränkt, diese Prüfung eintreten zu lassen, wenn es sich um die Gewährleistung einer solchen Verfassung oder eines Theiles derselben handelte.

Noch im Jahre 1870 wurde dieser Standpunkt auch gegenüber dem Kanton Tessin festgehalten.

Wir haben oben erwähnt, daß aus Anlaß der damaligen Verfassungskämpfe im Kanton Tessin mehrere Gemeinden bei den Bundesbehörden das Gesuch gestellt haben, es möge anerkannt werden, daß die Wahlen in den Großen Rath nur nach dem Verhältnisse der Bevölkerung stattfinden dürfen und daß bei jeder allgemeinen Volksabstimmung gezählt werde nach den votirenden Bürgern und nicht nach Kreisen.

In dieser Beziehung begnügten wir uns in unserer Botschaft an die Bundesversammlung vom 2. Dezember 1870 mit der Andeutung, daß dieser Punkt bei Vorlage der neuen Verfassung allerdings einer genauem Prüfung bedürftig sei. (Bundesblatt 1870, Band III, Seite 768.)

Die Mehrheit der ständeräthlichen Kommission sprach sich dagegen in ihrem Berichte vom 17. Dezember 1870 bestimmter aus, wie folgt: ,,Eine fernere Frage, auf die wir aus Veranlassung der von den südlichen Bezirken eingereichten Beschwerde einzutreten haben, besteht darin, ob die Bundesversammlung sich bereits jezt in dem Sinne aussprechen solle, daß die Bestimmung des vom Großen Rathe angenommenen Verfassungsentwurfes, nach welcher j e d e r der 38 Wahlkreise gleich viele A b g e o r d n e t e zu w ä h l e n h a t , bundesrechtlich unzuläßig sei. Bis jezt sind der-

1205 artige Entscheidungen über einzelne Bestimmungen kantonaler Verfassungen immer erst dann gefaßt worden, wenn leztere vom Volke angenommen waren und dem Bunde zur Genehmigung vorgelegt wurden. Es scheint uns um so weniger ein genügender Grund zu einer Abweichung von dieser Uebung vorzuliegen, als eine Verfassung, die vom Volke noch nicht angenommen ist, ihrem materiellen Inhalte nach der Prüfung der Bundesbehörden noch nicht unterliegt. Auf das ebenfalls von den südlichen Bezirken gestellte.

Begehren, daß schon vor der Annahme einer neuen Verfassung im Kanton Tessin von den Bundesbehörden der Grundsaz ausgesprochen werde, daß alle Wahlen nach der Volkszahl vorzunehmen seien, kann aus dem Grunde nicht eingetreten werden, weil selbstverständlich die bestehende Verfassung so lange in Kraft verbleibt, bis sie auf gesezlichem Wege abgeändert ist. Dagegen kann sich die Kommission allerdings bereits jezt mit Bestimmtheit dahn auss p r e c h e n , d a ß d i e r e v i d i r t e V e r f a s s u n g desKant o n s Tessin n a c h Art. 6 der B u n d e s v e r f a s s u n g nur dann vom Bunde genehmigt werden kann, w e n n sie vom V o l k e , d. h. von der M e h r h e i t der A k t i v b ü r g e r , also nicht bloß von der Mehrheit d e r K r e i s e , a n g e n o m m e n w o r d e n ist. a Um die hier entwikelten Ansichten richtig zu würdigen, muß man nicht vergessen, daß damals die Repräsentanten der petitionirenden Gemeinden des südlichen Tessin's den Großen Rath verlassen und ihre Demission genommen hatten und daß die Kreise des Sotto-Ceneri sich weigerten, ihre Neuwahlen auf Grundlage des alten Repräsentationssystems zu treffen. Die Bundesbehörden suchten deshalb mehr auf die Pazifikation des Kantons Tessin hinzuwirken, als eine einzelne Frage zu entscheiden, welche die Gemüther eben so sehr erhizt hatte, als diejenige über den Hauptort.

Uebrigens sehen wir uns genöthigt, zu den Raisonnements der Mehrheit der ständeräthliehen Kommission einige Bemerkungen beizufügen, um dieselben auf ihren richtigen Werth zurükzuführen.

Es ist allerdings richtig, daß die Prüfung des materiellen Inhalts einer neuen Kantonsverfassung erst dann durch die Bundesbehörden einzutreten hat, nachdem sie von dem Volke angenommen worden ist. Die Mehrheit der ständerätlichen Kommission geht aber weiter, wenn sie dahin sich ausspricht,
daß auf das Begehren der südlichen Bezirke darum nicht eingetreten werden könne, ,,weil die bestehende Verfassung s o l a n g e i n K r a f t v e r b l e i b e , b i s s i e a u f g e s e z l i c h e m Wege a b g e ä n d e r t worden/' Wir können diesen Standpunkt nicht als richtig anerkennen und fürchten

1206 C

sehr, daß gerade dieser Saz bei der gegenwärtig im Wurfe liegenden Partialrevision im Kanton Tessin mißverstanden wurde.

Es ist nämlich allerdings richtig, daß eine Kantons Verfassung als G a n z e s nur durch den betreffenden Kanton abgeändert werden kann ; allein es versteht sich von selbst, daß einzelne Bestimmungen einer solchen Verfassung von den Bundesbehörden außer Kraft gesezt werden können, so bald diese Behörden offiziell oder auf dem Wege der Beschwerde davon sich überzeugt haben, daß sie mit der Bundesverfassung im Widerspruche stehen. Der Art. 2 der Uebergangsbestimmungen zu der Bundesverfassung hätte ja gar keinen Zwek und würde gar keine Vollziehung finden, wenn alle Widersprüche der kantonalen Verfassungen so lange in Kraft verbleiben könnten, bis sie auf gesezlichem Wege, d. h. auf dem Wege der Revision, abgeändert worden wären. Vielmehr folgt jene Kompetenz der Bundesbehörden aus den Art. 2, 3 und 85, Ziff. 8 der Bundesverfassung von 1874 und aus Art. 2 der Uebergangsbestimmungen zu der leztern. Man darf sogar die Behauptung aufstellen, daß die Bundesbehörden die P f l i c h t haben, eine mit der Bundesverfassung im Widerspruche stehende Vorschrift einer Kantonsverfassung außer Kraft zu erklären, gerade weil sie berufen sind, die Bundesverfassung zu handhaben und weil der Bund in Art. 5 der Bundesverfassung die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger unter seine Garantie genommen hat.

In der That ließen sich aus der Praxis verschiedene Beispiele aufweisen, in welchen die Bundesbehörden von dieser Kompetenz Oebrauch gemacht haben. Als im Jahr 1863 die Bundesversammlung den Grundsaz aufgestellt hatte, daß ein Wahlcensus unstatthaft sei, wurde nicht erst eine Revision der Verfassungen in den Kantonen Aargau und Tessin veranlaßt, um die Streichung der jenem ·Grandsaz widersprechenden Vorschriften zu bewirken, sondern der Bundesrath lud die Regierungen dieser beiden Kantone ein, diese Vorschriften ihrer Verfassungen außer Wirksamkeit zu sezen und gelegentlich zu beseitigen. (Bundesblatt 1863, Band III, Seite 327.)

Ferner ergab es sich bei Anlaß der Einbürgerung der Heimatlosen im Kanton Tessin, daß nach Litt, a von Art. 16 der Verfassung nur derjenige Bürger dieses Kantons das Aktivbürgerrecht ausüben konnte, welcher Bürgergenosse (patrizio) war. Mit Beschluß vom 1. Oktober 1858 erklärte
der Bundesrath auch diese Bestimmung außer Kraft, weil sie im Widerspruche stehe mit der Bundesverfassung. (Bundesblatt 1859, Band I, Seite 411.)

In vorliegendem Falle ist es nun an der Zeit, daß ein gleicher Beschluß gefaßt werde. Die Behörden des Kantons Tessin können nicht von sich aus zu einer entsprechenden Revision kommen. Seit

1207 mehr als 10 Jahren besteht das Bestreben zu einer Totalrevision und jedesmal kam die Einführung der Wahl der Großrathsmitglieder nach Verhältniß der Volkszahl in Vorschlag, aber immer war diese Frage eine der bestrittensten. In welchem Grade die Gemüther sich daran erhizen können, zeigt in überraschender Weise die oben Seite 4 a. referirte Antwort des Bureaus des Großen Rathes von dem man wohl mit Recht eine ruhigere Haltung hätte erwarten dürfen.

Wir haben bereits angedeutet, daß während der Pendenz = der gegenwärtigen Reklamation wieder eine partielle Revision der Verfassung des Kantons Tessin beschlossen wurde, obschon die zahlreichen Abänderungen, welche dieselbe seit 1855 erlitten hat und die Anforderungen der neuen Bundesverfassung eine Totalrevision vollkommen gerechtfertigt hätten, zumal ganz sicher ein Bürger des Kantons Tessin ohne Beihülfe eines Rechtskundigen den gegenwärtigen Wortlaut der Verfassung nicht feststellen kann. Die Mehrheit der Kommission des Großen Rathes begründete aber den Antrag für die partielle Revision mit der Versicherung, daß eine Totalrevision nicht an die Hand genommen werden könnte, ohne das Land wieder in den Kampf zwischen Bürgern und Brüdern zu treiben. Auch sei die Bundesverfassung noch zu neu, als daß deren Sinn und Tragweite in allen Richtungen jezt schon richtig beurtheilt werden könnte Aus einigen bis jezt erlassenen Gesezen und namentlich aus demjenigen über Zivüstand und Ehe sei zu ersehen, daß Diejenigen, welche die natürliche und historische Autonomie der Schweiz zerstört haben, nicht geneigt seien, diesem Grundgeseze weder eine mäßige, noch billige (né restritiva né equa) Anwendung zu verschaffen. Diese Ansicht gewann die Oberhand. Auf einem solchen Standpunkte wird man aber auch nicht zur Anerkennung des proportionalen Wahlrechtes kommen. Der Große Rath lehnte in der That am 26. Mai mit 53 gegen 35 Stimmen die Aufnahme dieses Systems in die theilweise Revision ab, und zwar nicht ohne lebhaften Kampf, so daß die Abstimmung am 25. Mai unterbrochen und auf den folgenden Tag verschoben werden mußte.

Wenn wir nun an der Hand des Gesagten zur Formulirung unseres Antrages übergehen, so haben wir in dieser Beziehung noch Folgendes zu bemerken: Die Petenten haben zwei Begehren gestellt, welche, obgleich verschiedene Ziele verfolgend, einen gemeinsamen
Kern haben, der zur Zeit allein in Würdigung fallen kann. Unter Ziffer l stellen sie das Gesuch, daß eine Neuwahl des tessinischen Großen Rathes nach dem Verhältniß der Bevölkerung; der Kreise angeordnet wer"o^Bundesblatt. Jahrg. XXVTI. Bd. IV.

90

1208 den möchte. Hier müssen wir daran erinnern, daß nach Art. 24 der Verfassung des Kantons Tessin die Mitglieder des Großen Käthes eine Amtsdauer von vier Jahren haben, und daß die lezte verfassungsmäßige Gesammterneuerung des Großen Rathes am 21. Februar 1875 stattgefunden hat. Es kann daher von der Anordnung einer Neuwahl durch die Bundesbehörden keine Rede sein, wenn auch, wie wir glauben, die jezt bestehende Wahlart der Kreise bundesrechtlich nicht mehr statthaft ist, es wäre denn, daß durch die Revision der Verfassung des Kantons Tessin eine Erneuerung des Großen Rathes verfügt würde. Die Feststellung der Amtsdaner durch die kantonalen Verfassungen hat nichts gemein mit dem jezt in Frage liegenden Grundsaz der Wahlart. Wenn eine kantonale Verfassung die Lebenslänglichkeit der gesezgebenden Behörde aufstellen wollte, so wäre ein solcher Gedanke ohne Zweifel mit den Grundsäzen des jezigen Bundesrechtes unvereinbar, aber eine Amtsdauer von vier Jahren ist es affenbar nicht. Es bleibt daher aus dem ersten Rechtsbegehren der Petenten nur die Wahlart zu prüfen übrig.

Das zweite Rechtsbegehren geht dahin, daß, insofern eine Einladung an den Kanton Tessin zur Anordnung einer Verfassuugsrevision erlassen würde, diese Revision durch einen Verfassungsreth zu beratheu sei, welcher nach Verhältniß der Bevölkerung, und nicht anders, gewählt werden müßte. -- Es ist unklar, wie die Petenten auf den Gedanken kommen, daß der Kanton Tessin zur Vornahme einer Verfassungsrevision eingeladen werden könnte, da sie selbst nicht versucht haben, die Nothwendigkeit einer solchen Einladung zu begründen. Wir unsererseits glauben auch, und haben es oben bereits angedeutet, daß, wenn irgendwo, gerade im Kanton Tessin eine Totalrevision der Verfassung stattfinden sollte. Allein wir zweifeln doch, daß die Bundesversammlung hieraus Anlaß nehmen werde, eine Einladung oben erwähnter Art an den Kanton Tessin zu erlassen. Immerhin müßte es demselben freistehen, die Revisionsarbeiten einem Verfassungsrath zu übertragen oder nicht.

Jedenfalls aber wäre bezüglich der Wahlart des Verfassungsrathes nichts mehr zu verfügen, weil die in diesen Tagen vom Großen Rathe des Kantons Tessin genehmigte Revision die Möglichkeit der Aufstellung eines- Verfassungsrathes vorgesehen und bestimmt hat, d a ß derselbe i n g l e i c h e r W e i s
e g e w ä h l t w e r d e n s o l l w i e der G r o ß e Rat h. Es reduzirt sich somit auch das zweite Begehren der Petenten auf den Wahlmodus, d. h. auf die gleiche Frage, welche aus dem ersten Rechts begehren übrig bleibt.

Es ist somit lediglich die Frage zu entscheiden, ob künftig die kantonalen Wahlen im Kanton Tessin (Großrath, Verfassungsrath etc.)

1209 nach .dem Verhältniß der Bevölkerung stattfinden müssen, das heißt ob der mit diesem Prinzip im Widerspruch stehende Art. 32 der tessinischen Verfassung, als im Widerspruch stehend mit der Bundesverfassung, aufgehoben erklärt werden soll oder nicht. Und diese Frage ist nach unserm Dafürhalten von der Bundesversammlung bejahend zu entscheiden.

IVachtrasr.

Der vorstehende Bericht war im Manuskript beendigt, als bekannt wurde, daß der Große Rath des Kantons Tessin, welcher am 15. November zu seiner ordentlichen Wintersizung zusammentrat, die zweite Berathung der im Mai d. Js. beschlossenen theilweisen Verfassungsrevision auf den Traktanden habe.

Dieses Verfassungsdekret enthält wie schon erwähnt eine Bestimmung über das künftige Verfahren bei der Revision der Verfassung und speziell die Vorschrift, daß für den Fall, als das Volk die Aufstellung eines Veifassungsrathes beschließen würde, dieser Verfassungsrath auf die g l e i c h e W e i s e g e w ä h l t w e r d e n müsse, wie der Große Rath.

Da nun gerade die Wahlart des Großen Rathes in Frage lag, und durch gegenwärtige Botschaft der Bundesversammlung zum Entscheide unterbreitet werden sollte, so erließen wir am 20. November an den Staatsrath des Kantons Tessin die Einladung, er möchte den Großen Rath darauf aufmerksam machen, daß es nach unserer Ansicht angemessen sein dürfte, die zweite Berathung der theilweisen Revision so lange zu verschieben, bis die Bundesversammlung über die Wahlart der Großrathsmitglieder entschieden haben werde, damit, wenn die Streichung der in Frage stehenden Bestimmung des Art. 32 beschlossen würde, die im Wurfe liegende Revision mit einem bezüglichen neuen Artikel, der dann absolut nothwendig wäre, ergänzt werden könnte.

Der Große Rath wurde schon am 18. November telegraphisch von der Existenz dieses Antrages benachrichtigt; er glaubte jedoch,

1210 nicht darauf eintreten zu sollen, sondern genehmigte am 20. November in zweiter Lesung die theilweise Revision, wie sie aus der Maisizuug hervorgegangen ist. Das Volk des Kantons Tessia wird am 19. Dezember nächstliin darüber abstimmen.

Nachdem jedoch der Staatsrath unser Schreiben vom 20. November dem Großen Rathe vorgelegt hatte, bestellte derselbe eine Kommission, welche nun einstimmig zu dem Antrage kam, es sei die Wahlart des Großen Rathes nach Verhältniß der Bevölkerung einzuführen, Dagegen theilte sie sich in eine Mehrheit und in eine Minderheit bezüglich der Ausführung des Grundsazes. Die Mehrheit umgab ihn mit verschiedenen Vorbehalten, die Minderheit dagegen wollte jenen Grundsaz ohne weiteres auf die bestehenden Kreise anwenden und den Großen Rath wieder neu wählen lassen.

Auch der Große Rath gab nun plözlich den bis anhin behaupteten Standpunkt auf und genehmigte am 27. November den Antrag der Kommissionsmehrheit als neues Verfassungsgesez, lautend wie folgt : Art. 1. Der Große Rath wird nach dem Verhältniß der Bevölkerung gewählt.

Das Gesez wird die Anwendung dieses Grundsazes regliren.

entweder durch Berichtigung der gegenwärtigen Kreise oder auf andere Weise. Jedenfalls aber hat sich das Gesez innert den Grenzen von mindestens 1000 und höchstens 1500 Seelen der rechtmäßigen tessinischen Bevölkerung (il popolazione ticinese di diritto) für jeden zu wählenden Deputirten zu bewegen. Bruchzahlen , die nicht unter der Hälfte stehen, werden voll berechnet.

Das betreffende Gesez kann nur von zehn zu zehn Jahren abgeändert werden.

Uebergangsbestimmungen : Art. 2. Der Grundsaz der Wahl der Repräsentation nach Verhältniß der Bevölkerung, sofern er von der Mehrheit der an den Versammlungen theilnehmenden Bürger angenommen wird, tritt in Kraft bei der periodischen Gesammiterneuerung des gegenwärtigen Großen Rathes im Jahr 1879.

§ 1. Im Falle vorher ein Verfassungsrath gewählt werden muß, tritt jener Grundsaz in Kraft, so bald er durch das Gesez in Ausführung gebracht ist.

§ 2. Die vereinzelten Wahlen im Laufe der Amtsperiode der gegenwärtigen Legislatur finden statt nach Vorschrift der jezigen Verfassung.

1211 rt. 3 enthält Vorschriften betreffend die Abstimmung über Verfassungsgesez.

a der Staatsrath auch diesem zweiten Verfassungsgeseze seine mung nicht ertheilte, so unterliegt dasselbe ebenfalls einer n Berathuns "ö durch den Großen Rath im nächsten Monat

nu

!s scheint, daß der Große Rath von Tessin von der Ansicht g, daß durch dieses Verfassungsdekret die vorliegende Berde wegfallen werde. Indeß glaubten wir diese Vorlage nicht h als gegenstandslos betrachten zu sollen, weil die Petenten das weitere Begehren gestellt haben, daß dem Grundsaz der Itnißmäßigen Wahlen sofort Anwendung verschafft und die ·ahi des Großen Rathes angeordnet werden soll. Auch dürfte »erhaupt von Nuzen sein, wenn die tessinischen Verfassungsnde besprochen würden, indem, abgesehen von Anderai, auch leueste Verfassungsdekret dazu nöthigen müßte, wenn es in der in Redaktion zur Gewährleistung vorgelegt werden wollte.

Es scheint uns nämlich, daß einige Theile dieses Dekretes genehmigt werden könnten.

Zunächst ist die Bestimmung, wonach nur die r e c h t m ä ß i g e t e s s i n i s c h e B e v ö l k e r u n g i n B e r e c h n u n g k o m m e n soll, unstatthaft. Der Sinn dieser an sich unklaren Bezeichnung scheint nach telegraphischen Berichten des Staatsrathes auch den Behörden des Kantons Tessin nicht klar zu sein. In seinem lezten Telegramm nämlich erklärte der Staatsrath, er verstehe darunter, daß für die Wahl der Deputirten die Zahl der in den Bevölkerungslisten der Gemeinden eingeschriebenen tessinischen Angehörigen zur Grundlage genommen werden müsse, ohne Rüksicht darauf, ob sie in der Heimat anwesend oder ob sie abwesend seien. Ein Gesez, welches die Worte ,,popolazione ticinese di diritto"1 definiren würde, bestehe nicht.

Wir glauben jedoch, daß die im Kanton Tessin wohnenden Schweizer anderer Kantone auch das Recht haben, im Großen Rath repräsentirt zu sein, und daß jene Bestimmung im Widerspruch wäre mit Art. 4, 43 und 60 der Bundesverfassung.

Sodann wäre die Vorschrift, wonach das Gesez, welches den ersten Saz von Art. l ausführen soll, nur von zehn zu zehn Jahren abgeändert werden dürfte, mit Art. 6 der Bundesverfassung im Widerspruch und könnte somit auch nicht garantirt werden. Denn das hieße die politischen Rechte beschränken, wenn man sie zehn Jahre lang nicht ausüben dürfte. Ebenso gut wie eine Verfassungs-

1212 revision jeden Moment möglich sein soll, sobald es die Mehrheit der Bürger verlangt, so .muß auch ein Gesez jeden Moment in verfassungsmäßiger Weise revidirt werden können. Die Gegenwart kann die Zukunft nicht in solcher Weise binden, wie es hier versucht wird.

Anderes übergehen wir, um zum Schlüsse zu kommen.

Wir sind nicht mehr im Falle, den bestimmten Antrag zu stellen, daß der Art. 32 der tessinischen Verfassung, soweit et' die Wahlart des Großen Rathes betrifft, aufgehoben werden soll, da nui) beide politische Parteien einverstanden sind, daß diese Aufhebung durch eine entsprechende Revision der Verfassung vom Kanton Tessin selbst ausgehen soll und zu erwarten steht, es werde diese Revision nicht mehr ins Stoken gerathen. Die Verschiedenheit der Ansichten, welche darüber walten, ob das neue System sofort durch Neuwahl des Großen Rathes eingeführt werden soll, oder erst im Jahr 1879, kann uns nach den oben über diesen Funkt gemachten Bemerkungen auch zu keinem Antrag veranlassen.

Der neueste Entwurf zu einem Verfassungsgesez kann ebenfalls noch nicht Gegenstand von Anträgen bilden, weil derselbe noch nicht definitiv festgestellt ist und daher noch vom Großen Rathe des Kantons Tessin selbst mit der Bundesverfassung in Uebereinstimmung gebracht werden kann.

Indeß betrachten wir die hier besprochenen Fragen für wichtig genug, um sie auch der Bundesversammlung zur Kenntniß zu bringen, glauben aber, daß bei dem jezigen Stand der Sache über die Beschwerde der Herren Mordasini und Konsorten kein besonderer Beschluß mehr zu fassen sei.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 9. Dezember 1875.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, D e r B u n d e sp r ä s i d e n t : Scherer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:

Schiess.

CÄX^Ci*

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung über die Petition der Hrn.

Mordasini und Consorten, betreffend die Wahlart des Grossen Rathes des Kantons Tessin.

(Vom 9. Dezember 1875.)

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Bundesblatt

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1875

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4

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57

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24.12.1875

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1189-1212

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