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Bundesrathsbeschluss betreffend

den Rekurs gegen das Ausweisungsdekret der bernischen Regierung vom 30. Januar 1874.

(Vom 27. März 1875.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r ath, nach Einsicht eines vom 3. September 1874 datirten Rekurses, durch welchen Hr. Fürsprecher M o s c h a r d in Münster, im Namen der ausgewiesenen Geistlichen des bernischen Jura, das Begehren stellt, daß das von der Regierung des Kantons Bern unterm 30. Januar 1874 erlassene Ausweisungsdekret nicht länger wirksam sein dürfe, weil dasselbe mit der gegenwärtigen Bundesverfassung und insbesondere mit den in den Artikeln 44 und 45 derselben gewährleisteten Rechten im Widerspruche stehe; nach Einsicht eines zweiten Rekurses, eingereicht von der katholischen Bevölkerung des bemischen Jura im Monat August 1874, welcher mit 9100 Unterschriften versehen ist und ebenfalls dahin schließt, daß das von der Regierung des Kantons Bern gegen die katholischen Geistlichen erlassene Ausweisungsdekret wieder aufgehoben werde; nach Einsicht der Vernehmlassung der Regierung des Kantons Bern vom 3. Dezember abbin, welche dahin geht, daß diese Rekurse abgewiesen werden, gestüzt darauf, daß Art. 50, Lemma 2 der Bundesverfassung von 1874 den Kantonen vorbehalte, zur Handhabung der öffentlichen Ordnung und des Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften die ge-

516 eigneten Maßnahmen zu treffen, und daß hienach der Beschluß vom 30. Januar 1874 gerechtfertigt erscheine, in Erwägung: 1) daß, abgesehen von der Tragweite, welche den Artikeln 44 und 45 der Bundesverfassung in Zukunft beizulegen ist, die im Art. 44 der frühern und im Art. 50 der jezigen Bundesverfassung erwähnten Verfügungen zu den außerordentlichen Maßnahmen gehören, welche wieder aufzuheben sind, sobald die Veranlaßung dazu zu bestehen aufgehört hat; 2) daß mit dieser Anschauung auch die Regierung des Kantons Bern einverstanden ist, indem sie nicht nur ihre in Frage stehende Verfügung als eine temporäre bezeichnet, sondern auch bereits von sich aus mit der Frage der Aufhebung derselben sich befaßt hat; 3) daß es sich im gegebenen Falle nur noch darum handeln kann, zu welchem Zeitpunkte das Dekret vom 30. Januar 1874 außer Kraft zu sezen sei; 4) daß das Begehren der Rekurrenten, namentlich der Rekurs vom 3. September 1874, von der Ansicht ausgeht, es sei das Dekret vom Momente des Inkrafttretens der neuen Bundesverfassung;o an als nichtigO und unwirksam anzusehen ;i 5) daß dagegen diese Ansicht als eine zu weit gehende bezeichnet und abgewiesen werden muß, weil die im Interesse deiöffentlichen Ordnung unter der alten Bundesverfassung rechtsgültig getroffene Maßnahme auch bei den veränderten Bestimmungen der neuen Bundesverfassung jedenfalls erst dann außer Kraft gesezt werden kann, wenn dies ohne Gefährdung des damit verbundenen Zwekes möglich ist; 6) daß also die Bestimmung des Zeitpunktes und der Art und Weise der Aufhebung des fraglichen Dekretes den Behörden, und zwar sowohl denjenigen des Kantons Bern, als nach Maßgabe der weitern Erwägungen in lezter und entscheidender Instanz, den Bundesbehörden zustehen muß, indem nach Art. 44 der frühern und Art. 50 der jezigen Bundesverfassung dem Bunde wie den Kantonen das Recht zusteht, zur Handhabung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften die geeigneten Maßnahmen zu treffen ; 7) daß somit die Auslegung, welche die Regierung von Bern diesem Artikel gegeben hat, und wonach jeder Kanton auf seinem Gebiete in souveräner Weise von der im Art. 50 der jezigen Bundesverfassung den Kantonen gegebenen Befugniß Gebrauch machen könnte, als unhaltbar anzusehen ist, weil dadurch das Recht des Bundes vollständig beseitigt würde;

517 8) daß der Bund aber vielmehr die volle Befugniß in Anspruch zu nehmen hat, sei es auf dem Gebiete eines einzelnen Kantons, sei es auf demjenigen von mehreren Kantonen, von sich aus und in Gemäßheit des Art. 16 in Verbindung mit Artikel 5 und Art. 102, Ziff. 10 der Bundesverfassung die zur Handhabung der Ordnung oder zur Wiederherstellung derselben geeignet scheinenden Maßregeln zu treffen ; 9) daß diese Befugniß notwendigerweise für den Bund das Recht in sich schließt, die von den Kantonen zur Aufrechthaltung der Ordnung getroffenen Maßregln s e i n e r Prüfung zu unterstellen und dieselben nach e i g e n e r Würdigung der Verhältnisse zu verstärken, abzuändern oder aufzuheben; beschließt: 1. Die Regierung von Bern'ist eingeladen, dem Bundesrathe mit möglichster Beförderung darüber Bericht zu erstalten, ob sie ihrerseits beabsichtige, die durch den Beschluß vom 30. Januar 1874 angeordnete Entfernung von römisch-katholischen Priestern aus den jurassischen Amtsbezirken noch länger fortbestehen zu lassen und, wenn dies der Fall sein sollte, sich einläßlich über die Gründe auszusprechen, welche nach ihrer Ansicht die Fortdauer der fraglichen ausnahmsweisen Maßregel nothwendig machen.

Nach Eingang dieses Berichtes und allfällig weiterer Untersuchung der Verhältnisse wird der Bundesrath von sich aus die angemessenen Verfügungen treffen.

2. Dieser Beschluß ist der Regierung des Kautons Bern und den Rekurrenten in amtlicher Ausfertigung mitzutheilen.

Also beschlossen, B e r n , den 27. März 1875.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Scherer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schiess.

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Bundesrathsbeschluss betreffend den Rekurs gegen das Ausweisungsdekret der bernischen Regierung vom 30. Januar 1874. (Vom 27. März 1875.)

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