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Bericht des

Schweiz. Konsuls in Chicago (Hrn. H. Enderis, von Schaffhausen) für das Jahr 1874.

(Vom 1. April 1875, eingegangen am 23. April)

An den hohen Schweiz. Bundesrath.

Das Jahr 1874 war für die Bevölkerung des westlichen Theiles der Vereinigten Staaten kein günstiges. Es begann mit einer allgemeinen Stockung der Geschäfte, welche trotz der vielfach ausgesprochenen Erwartung einer baldigen Wiederkehr des frühern Wohlstandes doch während des ganzen Jahres anhielt. Die Folgen davon waren für den Stand der Arbeiter sehr drückend ; ihre Löhne mußten überall herabgesetzt werden und vergeblich suchten sie sich durch Arbeitseinstellungen dagegen zu wehren. Geschickte Handwerker, die in früheren Jahren 3 bis 4 Dollars per Tag verdienten, mußten sich mit 11/4 bis 2 Dollars, und gewöhnliche Taglöhner, welche ehemals1 1/2i bis 2 Dollars Lohn bekamen, mit 75 Cents bis l Dollar abfinden lassen.

Da es eine große Anzahl Leute gibt, welche das Landleben und die Landarbeiten scheuen, so ist der Strom von Arbeitern nach den großen Städten, deren Zahl eine sehr beschränkte ist, enorm.

Die Konkurrenz drückte die Löhne herunter, denn das Angebot der Arbeit übersteigt die Nachfrage seit mehrern Jahren.

Chicago hat durch seinen räthselhaften Wiederaufbau so viel Staunen erregt und so viel von sich reden gemacht, daß viele

51 Arbeiter, die anderswo eine gute Position hatten, dieselbe auf die leichtsinnigste Weise aufgaben und hieher zogen. Für ihre Unbesonnenheit hatten sie dadurch zu büßen, daß sie den letzten Sparpfennig verzehrten und in manchen Fällen sich das Geld zur Rückreise nach ihrem früheren Aufenthalt oder zur Weiterreise nach anderen Regionen erbetteln mußten.

Es liegt nicht in meiner Aufgabe, über die Krebs- und Gemeinschäden, welche wie ein Alp auf dem ganzen Land und damit auch auf dem von mir in's Auge gefaßten Distrikt, als einem Glied des Gesarnmtkörpers lasten, mich zu ergehen. Genug ist bekannt über die Entdeckung ausgedehnter Betrügereien hoher Beamter, ganzer Verwaltungen und Korporationen. Daß sie nicht dazu angethan waren, das ohnehin erschütterte Vertrauen zurückzurufen, und die Leiden, welche die allgem "ine Goschäftsstockung mit sich im Gefolge hat sowie die Steuern /?; mildern, ist selbstverständlich.

Noch muß ic!i eines anderen Unglücks erwähnen, nämlich der Dürre und der Heuschrecken-Verheerungen, durch welche die westlichen Staaten litten.

Von Minnesota, Jowa, Nebraska und Kansat kamen in Folge dessen haarsträubende Nachrichten von Hungersnoth und Elend, zu denen sich außerdem die Leiden eines noch selten erlebten anhaltenden harten Winters gesellten. Der große, außergewöhnliche Schneefall unterbrach an vielen Orten wochenlang die Kommunikation. Das Thermometer (Fahrenheit) fiel oft auf 25 bis 30 Grad unter Null; ja es kam vor, daß viele Menschen erfroren.

Leider wurden auch manche unserer in jenen Gegenden zahlreich angesiedelten Landsleute von diesen Kalamitäten mitbetroffen.

Für eine kleine Schweizerkolonie in Cheny Kill, Nebraska, wurden zur Zeit Liebesgaben unter den Schweizern in Amerika gesammelt; außerdem fanden allgemeine große Sammlungen für die Nothleidenden statt.

Ferner entbrannte an der Grenze ein Indianerkrieg, der bis jetzt noch nicht gedämpft ist. obwohl die Indianer für ihre Gräuelthaten hart gezüchtigt wurden.

Im übrigen charakterisirt sich das verflossene Jahr noch durch die Bewegung der.Grangers, einer geheimen Gesellschaft der Bauern, um den großen Geschäftsleuten, sonderlich den Eisenbahnen gegenüber, ihren Vortheil zu wahren. Es gelang ihnen irn Kongreß sowohl wie in einzelnen Staaten, vornehmlich in Wisconsin, Jowa und Illinois, Maßregeln durchzusetzen, wodurch die Eisenbahnen zur Herabsetzung ihrer Fahr- und Frachtpreise gezwungen wurden. Die Veranlaßung zu dieser Bewegung. gab, außer den Ausschreitungen

52 der Eisenbahnen, hauptsächlich der niedere Produktenpreis, der von Zeit zu Zeit eintrat und das Gewerbe der Farmer unproduktiv, machte.

Der Preis des Weizens stand während der letzten vier Monate des Jahres 1874 niedriger als eine lange Reihe von Jahren zuvor.

In Chicago variirte er zwischen 85--90 Cents, gerade so viel als es ungefähr kostet, einen Bushel (60 Pfund) zu produziren. Für jede Meile weiter westlich von Chicago stand der Preis um den Betrag der Transportkosten niedriger. So gab es viele Orte in Jowa, Minnesota und Nebraska, wo der Weizen nicht mehr als 60 Cents einbrachte. Daß also die Transportkosten und deren Regulirung die absorbirende Tagesfrage sind, ist nicht zu. wundern.

Diese traurigen Verhältnisse aller Art konnten nicht ermangeln, der Einwanderung bedeutenden Einhalt zu thun ; ja nicht nur das, sondern sie gaben sogar zur Rückwanderung vieler Amerikamüden nach Europa Veranlaßung, eine ganz neue Erscheinung, deren Tragweite noch nicht abzusehen ist. Schweizer Einwanderer speziell gelangten im verflossenen Jahr wenige nach Chicago; dieselben bestanden meistens aus jungen sogenannten Kaufleuten, denen, um ihr Leben zu fristen, nichts anderes übrig blieb, als sich aufs Land zu begeben und zum Spaten und zur Axt zu greifen, denn so lange Tausende hier eingebürgerte, mit allen Verhältnissen und mit der englischen Sprache vertraute Arbeiter zur Verfügung stehen, ist es für Fremde rein unmöglich, anzukommen.

Die verschiedenen Wohlthätigkeitsgesellschaften in Chicago waren unter diesen drückenden Zeitverhältnissen sehr in Anspruch genommen. Eine kleine Uebersicht über deren Wesen und Wirken dürfte nicht außer Platz sein.

Von Stadt oder Staats wegen gibt es hier nur ein öffentliches Hülfsinstitut, nämlich die County-Agentur, mit einem Armenhaus (nebst Irrenabtheilung) , einem Spital und einem B l altern spi tal.

Dieselben entsprechen ihrem Umfang und ganzen Wesen nach den stets wachsenden Anforderungen und Bedürfnissen nicht im Entferntesten. Einzelne ziehen den Tod dem Aufenthalt in diesen Anstalten vor. Das Spital hiÄt 300 und das Armenhaus circa 500 Betten. Im Jahr 1874 beherbergte letzteres 1627 Personen, darunter 48 Schweizer. Außerdem unterstützt genannte Agentur Wittwen mit Kinder und arme Familien, wo Krankheit oder besondere Noth herrscht, durch Zuschüsse an Lebensrnitteln,
Brennmaterial und Schuhwerk. Bei dem Ungeheuern Andrang und dem massenhaften Elend, das sich in einer Stadt von 500,000 Einwohnern anhäuft, kann dieses natürlich nur im beschränktesten Maßstab

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geschehen. Geld wird nicht verabreicht, dagegen wurden 6424 Dollars für Beförderung von 751 Armen, die weiter reisen wollten, verausgabt und 508 Personen auf öffentliche Kosten beerdigt. 9864 Familien, darunter 80 Schweizer Familien, wurden auf kürzere oder längere Dauer unterstützt. Die Ansuchen beliefen sich auf 14,861.

Der Werth der verabreichten Rationen belief sich auf 151,984 Dollars, welche, wie alle andern Administrationskosten, · durch Steuern auf das bewegliche Eigenthum wie auch auf den Grundbesitz gedeckt werden.

Der Mangel öffentlicher Hülfsanstalten rief eine große Anzahl von Privatunterstützungsanstalten aller Art in's Leben, welche ihre Existenz dem Opfersinn der Bürger verdanken. Unter diesen nimmt die Chicago Relief and Aid Society den ersten Rang ein. Dieselbe hatte von den beim großen Brande 1871 eingelaufenen Liebesgaben bedeutende Mittel übrig, um den Nachwehen dieser Kalamität, die sich heutigen Tages noch fühlbar machen, begegnen zu können. Als am 14. Juli 1874 Chicago von einem großen Brand, der zwar in keiner Beziehung mit demjenigen von 1871 verglichen werden kann, heimgesucht wurde, fand sich diese Maßregel besonders gerechtfertigt. Diese Gesellschaft hilft Armen mit Brennmaterialien, Kleidern und Geld. Ferner hält sie zwei Logirhäuser, wo Obdachlose ein momentanes Unterkommen und Mahlzeiten erhalten. Im Jahre 1874 wurden 16,494 Erwachsene und 23,6l 2 Kinder, im Ganzen 40,096 Personen unterstützt, darunter befanden sich 23 Erwachsene und 45 Kinder schweizerischer Nationalität. Die Ausgaben der Gesellschaft, incl. der Vevwaltungskosten, beliefen sich auf 383,678 Dollars. An Baarbestand verblieben am 1. Januar 1875 in der Kasse 347,198 Dollars.

Das nächst wichtigste Privatinstitut dieser Art ist die deutsche Gesellschaft. Während erstere bloß hier Ansäßige und Eingebürgerte unterstützt, befaßt sich letztere hauptsächlich mit neu Eingewanderten, deutscher, schweizerischer und böhmischer Abkunft, die erst kurze Zeit im Lande sind. Diese Gesellschaft bestreitet ihre Ausgaben durch die freiwilligen Beiträge ihrer Mitglieder, sowie durch außerordentliche Kollektionen. -- Die Mitgliederzahl beträgt circa 300 und deren Beiträge belaufen sich auf circa 1800 Dollars.

Zwei Agenten besorgen die Geschäfte. In den Jahren 1873 und 1874 wurden an 17,000 Dollars Extrabeiträge
aufgebracht. Das Grundkapital beträgt 13,000 Dollars. Im Jahre 1874 wurden über 3000 Personen mit Geld unterstützt. Für Arbeit fragten nach 9460, Beschäftigung wurde angewiesen an 2500 Personen. Bei den beschränkten Mitteln muß sich die Gesellschaft hauptsächlich auf indirekte Hülfeleistungen beschränken, als : Beschaffung von Arbeit,

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Auffindung verlornen Gepäckes, Erwirkung von Unterstützungen durch andere Gesellschaften etc. -- Da Chicago einen Centralpunkt für die Einwanderung bildet, aber dessen ungeachtet keine öffentlichen Anstalten zum Schutz der Einwanderer bestehen, so übt die deutsche Gesellschaft, ungeachtet ihrer geringen Kräfte, einen segensreichen Einfluß und füllt eine tief gefühlte Lücke aus.

Die s c h w e i z e r i s c h e W o h l t h ä t i g k e i t s g e s e l l s c b a f t ist ein ähnliches Institut wie die deutsche Gesellschaft, aber speziell für Schweizer bestimmt; ihre Hilfsquellen und ihr Wirkungskreis sind natürlich viel beschränkterer Natur ; nichts desto weniger wirkt auch sie mit großem Erfolg, namentlich in Fällen, wo von anderen Gesellschaften nichts gethan werden kann.

Ein höchst erfreuliches Zeichen im verflossenen Jahr war die wachsende Betheiligung verschiedener Kantone durch Beiträge an die Kasse dieser Gesellschaft. Würden sich sämmtliche Kantone dazu herbeilassen, so könnte dieses Institut mit der Zeit eine hervorragende Stellung von großer Tragweite einnehmen. Der jährliche Rechnungsabschluß dieser Gesellschaft fällt auf den 1. Mai und wird alsdann ein Spezialbericht über dieselbe veröffentlicht und verbreitet werden.

Außer obigen drei genannten Gesellschaften gibt es noch eine ganze Reihe kleiner Unterstützungsvereine aller Art, mit und ohne religiöse Färbung, etwa 40 an der Zahl, die mehr oder ,,wenige]' s pezielle Richtungen einschlagen.

Mit ö f f e n t l i c h e n Spitälern und Waisenhäusern ist es -hier schlecht bestellt. Es bestehen deren keine, außer dem Spital des Armenhauses (County Hospital). Die Privatmildthätigkeit pflegt aber auch dieses Feld. Es bestehen hier 10 solcher Krankeninstitute und 15 Waisenhäuser un:l ähnliche Asyle. Dieso Anstalten werden unterhalten durch Kollektionen unter den Bürgern. Legate, Veranstaltung von Festlichkeiten, Ausstellungen und dergleichen. -- Diese Thatsache gibt gewiß ein glänzendes Zeugniß von dem Wohlthätigkeitssinn der hiesigen Bevölkerung. Es sind dabei nicht inbegriffen die Hunderttausende von Dollars, die hier außerdem für Nothleidende nach auswärts, sowie für den Unterhalt von 230 Kirchen, ebenfalls Privatinstitute, aufgebracht werden. Andererseits ist aber nicht zu verkennen, daß diese milden Beiträge, denen der Bemittelte nicht
ausweichen kann, eine indirekte Taxe bilden, von denen der Europäer keine Vorstellung hat. -- Die direkten Steuern auf das bewegliche wie Grundeigenthum belaufen sich jährlich auf nahezu 2 °/o des zu versteuernden Eigenthums, von Spezialsteuern aller Art, die oft an Konfiskation grenzen,

55 nicht zu sprechen. -- Die öffentliche fundirte Schuld der Stadt Chicago betrug im Jahre 1874 13,384,000 Dollars, die aber durch vorhandene Werthe, als öffentliche Bauten, Schulhäuser, Wasserwerke, Abzugskanäle u. dgl. représentai ist.

Dem amerikanischen Grundsatz ,,hilf dir selbsta getreu, fehlt es auch nicht an gegenseitigen Unterstützungsvereinen, als KrankenTereinen, Logen u. s. w. Es bestehen solcher Gesellschaften etwa 250 an der Zahl, und nicht weniger als 45 Lebensversicherungsgesellschaften. Auch ein schweizerischer Krankenverein, circa 70 Mitglieder stark, unter dem Namen ,,Grütli-Verein"1, existirt in Chicago, sowie ein Gesangverein unter dem Namen ^Schweizer Männerchor", der sich um die Pflege des schweizerischen Vereinslebens schon große Verdienste erworben hat.

Für den Handel Chicagos war das verflossene Jahr, trotz des 1873er Finanzkraches, ein verhältnißmäßig günstiges. Langsam, «,ber um so sicherer fängt die Handelswelt an, von dem Schrecken und den Verlusten der Jahre 1871 und 1873 sich zu erholen. Das .ganze Geschäft lenkt in Folge früherer empfindlicher Lektionen auf eine gesundere, solidere Basis ein.

Dem Kreditsystem, der Ueberspekulation und Ueberproduktion -werden engere Schranken gesetzt und große Sparsamkeit macht sich allerwärts geltend.

Der Geschäftsumsatz für das Jahr 1874 beträgt im Ganzen an 639 Millionen Dollars oder 71/* °/o mehr als 1873. Der Markt in Grundeigentum hatte unter dem Druck der Zeit am meisten zu leiden, mit einem Fallen der Preise von 15 bis 20 °/o.

In Folge eines neulich erlassenen Gesetzes der Legislatur von Illinois, daß fremdes Kapital steuerfrei sei, hebt sich die Nachfrage bereits, indem östliche Kapitalisten Chicago-Grundeigenthums-HypoIheken, die 8 bis 9 °/o Zinsen tragen, für eine der sichersten Geldanlagen halten, was in der That der Fall ist. Es gibt hier große, hervorragende Firmen, die sieh ausschließlich mit Placirung fremden Kapitals beschäftigen. Auf den Werth des Eigenthums werden circa 50 °/o geliehen. Als Bestätigung für den enormen kommerziellen Verkehr von Chicago möge das Bankwesen und der Postverkehr dienen.

Chicago besitzt gegenwärtig 18 Nationalbanken und außerdem etwa 60 größere und unbedeutendere Privatbankhäuser und Sparbanken.

56 Briefe und Postkarten wurden i. J. 1874 ausgegeben 20,315,510..

Im Postverkehr nimmt Chicago in Beziehung auf Zahlstärke .den.

vierten, aber in Gewicht der Postsachen den zweiten Rang ein.

Betreffs der Zahl sind Philadelphia und Boston nur um wenig voraus.

Dagegen hat Chicago St. Louis und Cincinnati im Postverkehr bis aufs Doppelte überflügelt.

Um der Wiederholung solcher Schauerscenen, wie sie der 9. Oktober 1871 und der 14. Juli 1874 brachte, begegnen zu können, wurde im Juli 1873 mit dem Ausgraben eines neuen Wassertunnels begonnen, der in einer Länge von 7 Meilen unter der Stadt nach dem südwestlichen Stadttheil führt, wo neue Wasserwerke errichtet werden. Die ganze Strecke ist jetzt vollendet und die Kontrakte für die neuen Maschinen, die mit den dazu nöthigen.

Bauten eine halbe Million Dollars kosten werden, sind bereits ausgeschrieben. .


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Bericht des Schweiz. Konsuls in Chicago (Hrn. H. Enderis, von Schaffhausen) für das Jahr 1874. (Vom 1. April 1875, eingegangen am 23. April)

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