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Schweizerisches Bundesblatt.

30. Jahrgang. L

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Nr. 12.

16. März 1878.

Minderheitsbericht *) der

Kommission des Nationalraths, betreffend die Gesezgebung über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen. · (Vom 19. Februar 1878.) "

Tit.!

Es ist bekanntlich ein ziemlich allgemein angenommener Grundsaz, daß die Texte der Geseze sowohl diejenigen verpflichten, welche sie gemacht haben, wie diejenigen, für welche sie gemacht sind. Nun gibt es aber zweierlei Methoden, die gesezlichen Texte zu interpretiren. Die eine, welche vorzüglich von denjenigen praktizirt wird, welche gewohnt sind, bei contentiöser Verhandlung einen Richter von der Richtigkeit der Auslegung, die sie vertreten, zu überzeugen ; sie besteht darin , zu eruiren, welche Vorstellung die gesezgebende Versammlung, die ein Gesez formulirt hat, mit den Worten, die sie wählte, verbinden wollte. Die andere Methode besteht darin, einfach den Wortlaut eines Gesezes zu Grunde zu legen, wie er dem Volke, das das Gesez angenommen hat, vorlag, und den Wortlaut, zu verstehen, wie ihn die allgemeine Vorstellung, der einfache Verstand, verstehen kann und versteht.

Der Herr Berichterstatter der Mehrheit hat Ihnen ein Beispiel der erstem Methode gegeben, ich werde meinerseits die zweite befolgen. Wie er Sie durch Protokolle, Motionen, angenommene und *) Von Herrn Philippin ist eine schriftliche Bearbeitung seines Mehrheitsberichts in Aussicht gestellt.

Bundesblatt. 30. Jahrg. Bd. 1.

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356 verworfene Anträge. Amendements u. dgl. hindurchführte, so werde ich dagegen mich ganz einfach an die gesezlichen Texte halten, und so lang die Ausführungen des Herrn Berichterstatters waren> so kurz werden die meinigen sein.

Ich schlage Ihnen vor, auf die uns vorliegende Frage einfach mit dem W o r t l a u t des Art. 3 des Bundesgesezes vom 19. Juli 1872 über eidg. Wahlen und Abstimmungen zu antworten. Und ich glaube, daß damit Alles gesagt sei, w e n n nur b e i g e f ü g t w i r d , d e r B u n d e s r a t h h a b e d a r ü b e r z u w a c h e n , daß.

dieser Artikel a u c h im K a n t o n Genf seine V o l l z i e h u n g , f i n d e . Denn es scheint mir derselbe vollkommen klar und unzweideutig.

Wesentlich das Gleiche sagt der Bundesrath in seiner Botschaft vom 27. November v. J., worin er sich über diese Materie ausspricht. Was er jezt dazu sagt, das ist mir nicht bekannt, und ich bin daher so frei, die damalige Meinung des h. Bundesrathes Ihnen heute als die meinige vorzulegen, denn ich .finde, daß seitdem die Sachlage sich nicht wesentlich geändert habe und daß deßhalb schon, was damals wahr und richtig gewesen, es noch heute sein wird.

Man hält dem entgegen, gerade der Art. 3 des Bundesgesezes, sei ja undeutlich, der Interpretation bedürftig, und recht verstanden bedeute er etwas ganz Anderes, als was das gemeine Verständniß in seinem Wortlaut finden wolle.

Was ist der Wohnort, fragt man, der Wohnsiz, von welchem Art. 43 der Bundesverfassung spricht und welchen Art. 3 des.

Gesezes von 1872 als den Ort, wo ein S e h w e i z e r b ü r g e r als O r t s b ü r g e r , N i e d e r g e l a s s e n e r oder A u f e n t h a l t e r w o h n t , definirt hat ? Ist es der Wohnsizkanton , die Wohngemeinde, das Wohnhaus, das Stokwerk, in dem einer wohnt? Darüber existire keine gesezliche Erklärung.

Nun ist mir aber absolut unerfindbar, wie unter diesem gesezlich so definirten Wohnort etwas Anderes verstanden werden könnte als gerade die W o h n g e m e i n d e , diejenige territoriale Circumscription, in welcher nach der kantonalen und eidgenössischen Gesezgebung die gesezliche Regulirungfdes Wohnsizes stattzufinden hat.

Wie könnte es auch andersjf sein ? Wo hat denn der O r t s b ü r g e r als s o l c h e r seinen r e c h t l i c h e n Wohnsiz anders als in seiner Heimat gern ein de? WTenn
er in einer andern Gemeinde sizt, so sizt er da nicht als Ortsbürger, sondern als Niedergelassener oder Aufenthalter. Und wo hat der N i e d e r g e l a s s e n e seinen rechtlichen Wohnsiz für Wahlen und Abstimmungen? Nicht in einem Kanton, sondern in einer G e m e i n d e .

357 Nach Art. 45 der Bundesverfassung garantirt der Bund dem Schweizer die Niederlassung und alle damit verbundenen politischen Rechte nicht mehr, wie nach der früheren Verfassung, von Kanton zu Kanton, sondern von G e m e i n d e zu G e m e i n d e . Das ist die folgenschwere Veränderung, welche die neue Bundesverfassung in das Niederlassungswesen eingeführt hat und welche ihren Einfluß notwendigerweise auch auf das Stimmrecht erstrekt. Wenn neben der a l t e n Bundesverfassung eine Auslegung des Gesezes von 1872, wie sie die Gegner machen, noch möglich gewesen wäre, so ist sie es neben Art. 45 der n e u e n Bundesverfassung nicht mehr. Der Schweizerbürger ist nach der neuen Rechtsanschauung nicht mehr Niedergelassener in einem Kanton, sondern in einer Gemeinde, und der Bund hat dessen Rechte als Niedergelassener nicht mehr bloß im Kanton, sondern in der Gemeinde zu wahren.

Was endlich den Aufenthalter betrifft, so ist dessen Stellung zwar noch nicht genauer deflnirt, allein so viel ist gewiß, daß sein Recht nicht weiter geht als das des Niedergelassenen, und daß er anderseits nicht als identisch zu betrachten ist mit dem bloßen Passanten, denn von diesem unterscheidet ihn das Gesez von 1872.

Und gerade in dieser Unterscheidung liegt wieder die Bestätigung, daß unter dem Wohnort auch für ihn nichts Anderes verstanden ist, als gerade die Gemeinde, in welcher er seinen Wohnsiz genommen, drei Tage wenigstens, vor der Abstimmung, gesezlich fixirt hat.

Der Art. 5 des Gesezes vom 19. Juli 1872 sagt: Jeder in e i n e r G e m e i n d e wohnende Schweizerbürger (sei er Ortsbürger, Kantonsbürger oder Auswärtiger) ist von Amtes wegen in das Stimmregister einzutragen.

Der Begriff der Wohngemeinde ist daher nichts der eidg. Gesezgebung Unbekanntes und wofür wäre denn die gemeindeweise Aufnahme der Stimmregister vorgeschrieben, wenn die Stimmabgabe anders als gemeindeweise stattzufinden hätte? Die Stimmregister dienen eben zur K o n t r o l e der b e r e c h t i g t e n S t i m m a b g a b e , gerade darin liegt ihre Hauptbedeutung.

Nun argumentirt man dagegen allerdings mit dem Art. 12 des Gesezes von 1874 ü b e r die R e f e r e n d u m s a b s t i m m u n g e n , welcher sagt: In j e d e r G e m e i n d e , b e z i e h u n g s w e i s e in j e d e m K r e i s e , ist ein Protokoll über die Abstimmung
aufzunehmen etc.

Daraus will man nun folgern, daß den Kantonen gestattet sei, für eidg. Abstimmungen auch andere Abstimmungskreise als die Gemeinden aufzustellen, beziehungsweise daß Art. 3 des Gesezes

358 von 1872 den Sinn nicht haben könne, die gemeindeweise Abstimmung obligatorisch zu machen.

Allein diese Argumentation ist nicht zutreffend. Denn: 1) spricht der angeführte Art. 12 des Gesezes von 1874 gar nicht von der S t i m m a b g a b e , sondern von der Abfassung der Protokolle, und es läßt sich ja sehr wohl denken und kommt auch vor, daß der Ort der Stimmabgabe und derjenige der Eröffnung der Skrutinien nicht derselbe ist, daß die Stimmurnen der einzelnen Gemeinden erst vor einem Distriktsbüreau eröffnet werden, und hier trifft dann die Gesezbestimmung zu, daß nicht die Abstimmung der einzelnen Gemeinden, sondern das Resultat der zusammengetragenen Gemeindeurnen protokollirt werden muß ; 2) ist wohl unzweifelhaft, daß der Grundsaz der Abstimmung in den Gemeinden eine Abtheilung großer Gemeinden in kleinere Abstimmungskreise nicht ausschließt, weil immerhin der Stimmberechtigte innerhalb seiner Wohngemeinde seine Stimme abgeben und doch protokollarisch die ganze Gemeinde wieder als Einheit erscheinen kann. Umgekehrt aber wird die Vereinigung mehrerer Gemeinden zu einem Abstimmungskreise durch den Begriff der gemeindeweisen Abstimmung ausgeschlossen.

In Verbindung mit dem Art. 45 der Bundesverfassung ist daher der Sinn des Art. 3 des Gesezes vom 19. Juli 1872 klar.

Wenn dieser dem stimmfähigen Schweizer das Recht garantirt, bei eidg. Wahlen und Abstimmungen sein Stimmrecht da auszuüben, wo er als Ortsbürger oder als Niedergelassener oder Aufenthalter wohnt, so kann das nichts Anderes heißen, als: der S c h w e i z e r b ü r g e r h a t d a s Recht, z u v e r l a n g e n , d a ß e r sein e i d g e n ö s s i s c h e s Stirn m r e c h t in s e i n e r W o h n g e m e i n d e a u s üben k ö n n e , und der B u n d hat ihn bei diesem R e c h t e zu s c hü z e n.

Der Ortsbürger hat als Orts b ü r g er seinen rechtlichen Wohnsiz nur in seiner Heimatgemeinde.

Der Niedergelassene, Kantonsbürger oder Nichtkantonsbürger, muß dem O r t s b ü r g e r g l e i c h g e h a l t e n w e r d e n , er ist nach der gegenwärtigen Verfassung Niedergelassener in einer Gemeinde, nicht in einem Kanton oder Distrikt.

Der Aufenthalter steht für eidgenössische Wahlen und Abstimmungen in gleichen Verhältnissen wie der Niedergelassene.

Wo also der Ortsbürger sein Stimmrecht auszuüben bundesgesezlich berechtigt ist, da ist es auch der Niedergelassene und Auf-

359 enthalter, d. h. nicht in seinem Wohnhaus, nicht in einem centralen Kantonalwahltempel, nicht in einem besonders formirteu Wahlkreis, sondern in d e r j e n i g e n t e r r i t o r i a l e n C i r c u i n s c r i p t i o n , in d e r sich d e r r e c h t l i c h e W o h n s i z g e s e z l i c h r e g u l i r t , i n der W o h n g e m e i n d e .

Es ist allerdings richtig, daß das Gesez von 1872 mit Beziehung auf den Wahlmodus vieles der kantonalen Gesezgebung überläßt, daß es sich mit der Gemeindeorganisation der Kantone, mit den Vorschriften über die Konstituirung der Bureaux u. s, w.

nicht befaßt, daß die ganze Wahlanordnung mit Vorbehalt weniger Hauptpunkte den Kantonen überla,ssen bleibt. Allein es sind gewisse Punkte, welche bundesgesezlich regulirt, gewisse Garantien, welche unter den Schuz des Bundes gestellt sind, und d a z u g e r a d e g e h ö r t d a s i n A r t i k e l 3 j e d e m S c h w e i z e r b ü r g e r zuges i c h e r t e R e c h t , an s e i n e m W o h n o r t e , d. h. in seiner Wohngemeinde, sein eidg. S t i m m r e c h t a u s z u ü b e n .

Wenn dieses Recht reklamirt wird, so muß es der Bund schüzen.

Es wird nun behauptet, daß sich in den eidg. Räthen eine J u r i s p r u d e n z gebildet habe, welche die Auffassung, daß unter dem Wohnort die Wohngemeinde zu verstehen sei, verwerfe.

Was ist aber das für eine Jurisprudenz ? Sie hat sich allemal nur dann geltend gemacht, wenn es sich darum handelte, auch den Kanton Genf der Vorschrift des allgemeinen Gesezes zu unterwerfen, welche in 21 Kantonen mit ganz unerheblichen, von Niemandem angefochtenen Modifikationen befolgt wird -- eine Art Gefälligkeitsjurisprudenz, die ich näher zu charakterisiren füglich unterlassen darf. Dabei bemerke ich, daß man mit Unrecht B e r n als einen Kanton anführt, der ebensogut wie Genf außerhalb meiner Auffassung stehe. Bern stimmt in den Kirchgemeinden ab. Nun sind aber die Kirchgemeinden keine wilkürlichen Circumscriptionen ad hoc, sie sind nichts Anderes als die alten politischen Gemeinden des Landes. Und zudem steht Bern bezüglich der Regulirung des Niederlassungs- und Wohnsizverhältnisses bundesgemäß -- durch die Vorschrift des Artikel 45 der Bundesverfassung -- auf einem ganz; andern Standpunkt als die übrigen Kantone; das allgemeine Kriterium kann daher auf Bern nicht angewendet
werden.

Alles bisher Angeführte ließ sich bereits bei dem Stande der Gesezgebung und Praxis des Kantons Genf sagen, der im November vorigen Jahres der Kommission vorlag.

360 Ist nun d u r c h das s e i t h e r erlassene Genfer-Gesez v o m 2. Februar dieses Jahres dar an etwas a b g e ä n d e r t ?

Ich sage N e i n , denn auch dieses neue Gesez beruht ebensowenig wie das alte auf der durch die Bundesgesezgebung vorgeschriebenen Grundlage, es anerkennt ebensowenig wie das frühere das Recht, welches dem Schweizerbürger durch den Artikel 3 des Bundesgesezes zugesichert ist. Im Gegentheil, es läßt durch den Umstand, daß es einen Theil der Landgemeinden dem Abstimmungskreise der Stadt annexirt, die U n g l e i c h h e i t , welche in der willkürlichen Formation der Abstimmungskreise liegt, noch in schrofferer Weise hervortreten.

Man kann auch nicht sagen, daß, abgesehen von dem Wortlaut, doch dem Effekte nach das neue Gesez dem bundesgesezlich berechtigten Begehren .der Petenteu entsprochen habe, so daß allfällig Rüksichten auf Landesgewohnheit und Vorurtheile eines Theiles der Bevölkerung die Bundesversammlung bewegen könnten, von der strengen Handhabung des Wortlauts des Bundesgesezes abzusehen.

Mein Antrag kann also auch diesem neuen Geseze gegenüber nicht anders lauten, als er im November abhin lautete : H a n d habung der klaren und unzweideutigen Bundesvorschrift auch im Kanton Genf.

B e r n , den 19. Februar 1878.

Segesser.

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Bundesrathsbeschluss betreffend

-Konzession für eine Privattelegraphenleitung.

(Vom 12. März 1878.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a th, nach Einsicht eines Gesuches der Herren M e r k e r und Meining in Baden (Aargau), vom 14. Januar 1878 ; .

nach Einsicht des Berichtes des schweizerischen Post- und Telegraphendepartements vom 9. März 1878; in Anwendung des Art. l des Bundesgesezes betreffend die Organisation der Telegraphenverwaltung, vom 20. Dezember 1854, beschließt: Den Herren M e r k e r und M e i n i n g in Baden wird eine Konzession für eine Telegraphenleitung mit einem Draht in einer Länge von 135 Metern zwischen ihrem Hause in Baden und ihren Fabrikgebäulichkeiten zur Benuzung für Geschäftsmittheilungen mittelst Telephons unter nachstehenden Bedingungen ertheilt: 1. Die Herstellung und der Unterhalt der Leitung mit Allem, was damit zusammenhängt, erfolgt auf alleinige Kosten der Konzessionäre, welche sich überdies mit Korporationen oder Privaten in Betreff der allfälligen Inanspruchnahme ihres Eigenthums zu verständigen haben.

2. Die konzedirte Einrichtung darf die Staats- und Bahntelegraphenanlagen weder in ihrem gegenwärtigen Bestände, noch in ihrer künftigen Entwiklung beeinträchtigen.

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Minderheitsbericht *) der Kommission des Nationalraths, betreffend die Gesezgebung über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen. (Vom 19. Februar 1878.)

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16.03.1878

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