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Bericht des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung über die Beschwerde des P e t e r S e r o d i n o und anderer Tessiner in Genf, betreffend Aufenthaltsgebühren.

(Vom 26. November 1878.)

Tit. !

Mit Beschluß des Ständerathes vom 19. Juni 1878 sind wir eingeladen worden, über eine Beschwerde des P i e r r e S e r o d i n o und mehrerer anderer Tessiner, betreffend die Höbe und die Bezugsart der Aufenthaltsgebühren im Kanton Genf, Bericht zu erstatten, was hiermit geschieht.

Anläßlich eines Spezialfalles und nachdem mehrere Reklamationen von N i e d e r g e l a s s e n e n eingekommen waren, haben wir mit Kreisschreiben vom 6. Dezember 1875 (Bundesbl. 1875, Band IV, S. lull) sämmtlichen Kantonen einen Entsheid zur Kenntnis gebracht, worin wir uns dahin Aussprachen, es sei der ganze Inhalt des Art. 45 der neuen Bundesverfassung sofort mit der leztern in Kraft getreten, und da in dem daselbst vo gesehenen Bundesgeseze nur eine Bestimmung über das Maximum der für die Niederlassungsbewilligung zu entrichrenden K a n z l e i g e b ü h r enthüllen sein dürfe, so sei die im Bundesgesez vom K). Dezember 1849 (Amtliche Sammlung Band I, S. 271) festgesezte vierjährige F r i s t dahingefallen ; hieraus folge, daß die Niederlassungsbewilligung nicht, mehr auf eine gewisse Zeitdauer beschränkt und Bundesblatt. 30. Jahrg. Bd. IV.

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eben so wenig deren Erneuerung gefordert werden dürfe, indem sie, einmal erworben, nicht anders aufhören könne, als durch den freien Willen des Inhabers oder in den durch Art. 45 vorgesehenen.besondern Fällen. Im Weitern fügten wir bei, es verstehe sich von selbst, daß von Seiten der Kantone nicht unter dem Titel einer K o n t r o i g e b ü h r eingeführt oder festgehalten werden dürfe, was nach dem Gesagten nicht mehr statthaft erscheine.

Mit Kreisschreiben vom 31. Januar 1876 (Bundesbl. 1876 Band I, S. 245) brachten wir sämmtlichen Kantonsregierungen einige weitere auf diese Materie bezügliche Entscheide zur Kenntniß, in der Meinung, daß die damit aufgestellten, aus der Natur der Sache entspringenden Grundsäze bis zum Erlaß des bezüglichen Bundesgesezes allgemeine Nachachtung finden werden. Bezüglich der A u f e n t h a l t e r sprachen wir uns in dem leztern Kreisschreiben dahin aus: Wenn auch das Bundesgesez vom 10. Dezember 1849 und die Art. 45 und 47 der Bundesverfassung über die Stellung dieser Klasse von Personen keine Vorschriften enthalten, so verstehe es sich doch von selbst, daß die Aufenthalter nicht höhere Gebühren bezahlen müssen als die Niedergelassenen, zumal die leztern ohnehin viel günstiger gestellt seien, als die Aufenthalter, indem sie das Stimmrecht in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten, den verfassungsmäßigen Schuz der Niederlassung und selbst eine beschränkte Unterstüzungsberechtigung genießen.

Die Regierung des Kantons Genf konnte sich nicht entschließen, weder diese Grundsäze anzuerkennen, noch an die Bundesversammlung zu rekurriren.

Herr Louis Dénéréaz aus dem Kanton Waadt, wohnhaft in Genf, richtete daher am 3. Juli 1876 eine Eingabe an die Bundesversammlung, worin er unter Anderm über den vorliegenden Gegenstand die Einfrage stellte, ob die Kantone befugt seien, von den niedergelassenen Schweizerbürgern für die Erneuerung der Niederlassungsbewilligung a l l j ä h r l i c h eine Gebühr zu beziehen (was in Genf geschieht), oder ob nicht vielmehr diese Taxe nur e i n M a l zu bezahlen sei, so lange der Wohnsiz nicht in eine andere Gemeinde verlegt werde.

In Folge einer bezüglichen Einladung des Nationalrathes vom 4. Juli 1876 erstatteten wir über den ganzen Inhalt dieser Eingabe am 24. November 1876 (Bundesbl. 1876, Band IV, S. 641) einen einläßlichen Bericht,
auf den wir hiemit verweisen, indem er als Bestandtheil des gegenwärtigen Berichtes betrachtet werden muß.

Die Bundesversammlung erledigte die Eingabe Dénéréaz mit Beschluß vom 17. März 1877 (Bundesbl. 1877, Band I, S. 570)

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und sprach sich über die erwähnte Frage dahin aus, daß es nicht in der Aufgabe der Bundesversammlung liegen könne, auf allgemein gehaltene Einfragen über Sinn und Tragweite von Bestimmungen der Bundesverfassung und der Bundesgeseze Antwort zu ertheilen, und daß abgesehen von diesem formalen Abweisungsgrunde der Petition auch sachliche Gründe entgegenstehen, w e i l dem auf die Gebühren für N i e d e r l a s s u n g s b e w i l l i g u n g e n bezüglichen Gesuche durch mehrfache Entscheidungen des Bundesrathes, welche durch K r e i s s c h r e i b e n dieser B e h ö r d e zur a l l g e m e i n e n K e n n t n i ß g e b r a c h t und von k e i n e r Sei t e angef o c h t e n w o r d e n ,i b e r e i t s R e c h n u n gO gO e t r a g3 e n w o r d e n sei, u n d z w a r i m S i n n e d e s G e s u c h s t e l l e r s .

Es handelt sich auch gegenwärtig lediglich wieder um die Anwendung der erwähnten zwei Kreisschreiben im Kanton Genf.

Herr Dénéréaz machte schon unterm 9. Februar und 28. März 1878 darauf aufmerksam, daß die dort aufgestellten Grundsäze von der Regierung und dem Großen Rathe des Kantons Genf mißachtet werden, indem man fortfahre, die Deposition der Lëgitimafionspapiere und die jährliehe Bezahlung der Gebühr für die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, deren Erträgniß im Budget pro 1878 unter dem Titel ,,Produit des Permis de séjour" auf Fr. 80,000 geschäzt sei, während per Jahr höchstens 10,000 Personen ankommen, urn einen mehr oder weniger lange dauernden Aufenthalt in Genf zu nehmen.

Der Staatsrath des Kantons Genf antwortete hierauf unterm 15. April 1878, daß die Reklamation des Hrn. Dénéréaz abgewiesen werden müsse, da Niemand über eine Schädigung klage, und das Budget, wenn es auch jedes Jahr in Gesezesform dekretirt werde, nichts Definitives enthalte, sondern bloße Voraussezungen. Uebrigens werde die Frage studirt, ob nicht angesichts der Verwerfung des Bundesgesezes über die politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter dem Großen Rathe für die Maisession ein Gesez vorgelegt werden soll, behufs Modifikation der bestehenden kantonalen Gesezgebung, wobei neben den Rechten und Interessen des Kantons, welcher mehr als 40,000 nicht schweizerische Fremde zähle, die eine genügende polizeiliche Kontrole erfordern, auch auf die den Schweizern anderer Kantone zu gewährenden
Erleichterungen Rüksicht zu nehmen wäre.

Unter diesen Umständen glaubten wir die gesezgeberischen Arbeiten des Kantons Genf abwarten zu sollen, und haben in diesem Sinne auch spätere Eingaben des Hrn. Dénóréaz vom 17. Mai und 4. Juni 1878 behandelt.

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So stand diese Angelegenheit, als Pierre S e r o d i n o von Rosso, Kantons Tessin, und neun andere Tessiner, wohnhaft in Genf, die uns zum Berichte übervviesene, vom 13. Juni 1878 datirte Eingabe an die Bundesversammlung richteten. Es ist diese Eingabe ganz gleichen Inhaltes wie die Reklamationen des Herrn Dénéréaz und auch von der gleichen Hand geschrieben. Auch die neuen Petenten verlangen, daß der Kanton Genf angehalten werde, unsere Kreisschreiben vom 6. Dezember 1875 und 31. Januar 1876 zu beobachten; drei derselben fordern überdies Rükbezahlung der zu viel bezahlten Beträge und sieben andere wünschen, daß der Staatsrath die seit 1. Januar .1876 von ihnen bezogenen Niederlassungsgebühren an den Kantonsspital von Genf auszahle. Zur Begründung wiederholen die Petenten die schon früher geltend gemachten Argumente und erweitern sie lediglich durch die Beiufuiig auf Lemma 6 von Art. 45 der Bundesverfassung, um zu verlangen, daß sie behandelt werden wie die Genfer, welche im Kanton Genf keinerlei Legitimationspapiere in einer andern Gemeinde abgeben und daher auch keine Gebühren bezahlen müssen. Zur Unterstü/.ung dieser Ansicht zitiren sie auch Lemma l von Art. 45, wo lediglich vorgeschrieben sei, daß der Schweizer, um an einem andern Orte der Schweiz sich niederlassen zu können, eine Ausweisschrift bes i z e n müsse ; er sei also nicht verpflichtet, sie a b z u g e b e n und noch weniger, jährliche Gebühren zu bezahlen. Der Umstand, daß die Gesezgebung des Kantons Genf mit Rüksicht auf den Aufenthalt nur e i n e Klasse von Personen kenne und daß das in Art. 47 der Bundesverfassueg vorgesehene Bundesgesez, wonach die Schweizer in Niedergelassene und Aufenthalter ausgeschieden werden müssen, noch nicht zu Stande gekommen sei, berechtige die Genfer Behörden nicht, die dort sich aufhaltenden Schwei/er von den Rechten auszuschließen, welche ihnen die Bundesverfassung und die Entscheide des Bundesrathes gewähren und die in allen andern Kantonen auch anerkannt werden.

Aus dem von Pierre Serodino vorgelegten ,,Permis de séjour, soit d'établissement"· ergibt sich, daß derselbe am 3. Juli 1873 ,,pour habiter la commune de Genève tt bis 1. März 1874 Fr. 3. 25, am 15. Juni 1874 bis 1. März 1875 Fr. 3 und am 12. März 1878 für vier Jahre, nämlich bis 1. März 1879, Fr. 12 bezahlt hat. Die andern neun Petenten
erklären sich bereit, ihre Büchlein ebenfalls, vorzulegen.

Aus dem über den jezigen Stand der Sache erhobenen Berichte des Staatsrathes des Kantons Genf vom 29. Juli a. c. ergibt es sich, daß das in Aussicht gestellte Gesez noch nicht erlassen, daß aber dem Justiz- und Polizeidepartement der Auftrag gegeben worden

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ist, den Entwurf zu einem solchen auszuarbeiten, um die Gesezgebung des Kantons Genf mit der Bundesverfassung in Einklang zu bringen, immerhin unter Wahrung der kantonalen Interessen, und zwar speziell rüksichtlich der Polizei. Betreffend die finanzielle Seite dagegen glaubte der Staatsrath seine eigene Ansicht über die Tragweite des Wortes ,,Kanzleigebühr" vorbehalten zu sollen. Hinsichtlich der jährlichen Erneuerung der AufenthaUsbewilligung beharrt der Staatsrath auf dem stets vertheidigten Standpunkte, daß diese Maßregel für Genf als Grenzkanton nothwendig sei. Uebrigens gehöre dieser Punkt zu den allgemeinen organischen Maßregeln, welche nur durch das in zwei Artikeln der Bundesverfassung vorgesehene Bundesgesez aufgestellt werden können, und so lange dieses nicht geschehen, bleiben die alten Geseze in Kraft. Von der Rükzahlung bezogener Gebühren könne keine Rede sein ; der Bezug sei gesezlich, und wenn auch das neue Gesez die Erneuerung aufheben würde, so könnte doch dasselbe keine rükwirkende Kraft ausüben. Indeß habe die Bezahlung f r e i w i l l i g stattgefunden; s e i t u n s e r n K r e i s s c h r e i b e n sei d i e j ä h r l i c h e Gebühr rechtlich nicht mehr gefordert worden.

Die Rükzahlung könne daher nicht verlangt werden und wäre materiell unmöglich, da jene Gebühren zwischen dem Staat, den Gemeinden und dem allgemeinen Spital getheilt worden seien.

Diesem Berichte haben wir nur wenige Worte beizufügen.

Mit der Erklärung des Staatsrathes von Genf, daß eine rechtliche Verpflichtung zur jährlichen Bezahlung der Gebühr nicht mehr bestehe, ist die Reklamation der Petenten theilweise gegenstandslos geworden. Freilich scheint der Inhalt des Permis de séjour des Pierre Serodino damit in Widerspruch zu stehen, aber für die Zukunft ist von der Erklärung des Staatsrathes Vormerk zu nehmen, "und es mag dieselbe den im Kanton Genf wohnenden Schweizern anderer Kantone zur Richtschnur dienen. Daß sie bei ihrer Ankunft oder hei dem Wechsel des Wohnsizes ihre Legitimationspapiere der Behörde abgeben und gegen den Bezug der Aufenthaltsbewilligung e i n Mal eine Gebühr bezahlen müssen, versteht sich von selbst. Lemma l von Art. 45 der Bundesverfassung gewährt keineswegs eine unbedingte Freizüzigkeit und Lemma 6 bezieht sich nur auf die allgemeinen Steuern und verordnet die Abschaffung der
Kautionen.

Dagegen befindet sich der Staatsrath des Kantons Genf im Irrthum, wenn er meint, die alten kantonalen Geseze bestehen fort, bis sie durch ein Elundesgesez ersezt seien. Wir haben innerhalb der durch Art. 102 der Bundesverfassung uns eingeräumten Kompetenz über den Sinn und die Tragweite des Art. 45 der Bundes-

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Verfassung durch die oft erwähnten Kreisschreiben unsere Auffassung kundgegeben und es wird dieselbe als maßgebend betrachtet werden müssen, so lange nicht die Bundesversammlung, als oberste Instanz, eine anderweitige Verfügung getroffen hat. Die Regierung von Genf hätte es durchaus in ihrer Hand gehabt, durch Ergreifung des Rekurses eine Entscheidung der Bundesversammlung herbeizuführeu; sie hat es aber, trozdem sie darauf mehrfach und besonders hingewiesen wurde, unterlassen und muß sich nun hievon auch die Konsequenzen gefallen lassen. Daß die mit dem Art. 45 der Bundesverfassung in Widerspruch stehenden kantonalen Geseze und Ordonnanzen ipso jure dahingefallen sind, kann nach den Vorschriften des Art. 2 der Uebergangsbestimmungen zur Bundesverfassung nicht zweifelhaft sein. Es ist nun zu gewärtigen, inwiefern das neue Genfer Gesez den auch von der Bundesversammlung mit Beschluß vom 17. März 1877 genehmigten Inhalt unserer Entscheide in diesem Kanton realisiren werde. Gemäß Schlußsaz von Art. 43 der Bundesverfassung wird dasselbe' unserer Genehmigung unterstellt werden müssen.

Was die Höhe der zuläßigen Gebühren betrifft, so müssen wir der bezüglichen Bemerkung des Staatsrathes von Genf gegenüber daran erinnern, daß wir in unserm Kreisschreiben vom 6. Dezember 1875 bezüglich der Niedergelassenen die im Bundesgesez von 1849 aufgestellte Gebühr von Fr. 6 als ein Mal zu bezahlende Taxe anerkannt und bezüglich der Aufenthalter im Kreisschreiben vom 31. Januar 1876 uns dahin ausgesprochen haben, daß diese leztern nicht ungünstiger als jene behandelt werden dürfen.

Auf die Rükforderung der Petenten kann von den administrativen Bundesbehörden nicht eingetreten werden.

Indem wir hiemit unsern Bericht schließen, benuzen wir diesen Anlaß, Sie, Tit., unserer vollkommensten Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 26. November

1878.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schiess.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung über die Beschwerde des Peter Serodino und anderer Tessiner in Genf, betreffend Aufenthaltsgebühren. (Vom 26.

November 1878.)

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14.12.1878

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