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Schweizerisches Bundesblatt

30. Jahrgang. II.

Nr. 20.

1. Mai 1878.

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in der ganzen Schweiz): 4 Franken.

ü h r per Zeile 15 Rp. -- Inserate sind franko an die Expedition einzusenden.

Druk Expedition der in Bern.

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Bericht des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung Geschäftsführung im Jahr 1877.

über seine

Geschäftskreis des Justiz- und Polizeidepartements.

A. Justizverwaltung.

I. Gesezgebung.

1. Das Bundesgesez b e t r e f f e n d die p o l i t i s c h e n R e c h t e de r N i e d e r g e l a s s e n e n und A u f e n t h a l t e r und den Verlust der politischen R e c h t e der S c h w e i z e r b ü r g e r , dessen Berathung der Ständerath im Dezember 1876 verschoben hatte, kam am 28. März 1877 zum definitiven Abschluß. Das ganze Gesez, wie es an diesem Tage aus den Berathungen der eidgenössischen Räthe hervorgegangen, ist im Bundesblatt 1877, Band II, Seite 894, abgedrukt. Da schon vor Ablauf der Frist (31. August) mehr als die nöthige Zahl von 30,000 stimmfähigen Schweizerbürgern im Sinne von Art. 89 der Bundesverfassung das Begehren stellten, daß dieses Gesez dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden soll, so sezten wir am 24. August diese Abstimmung auf den 21. Oktober an, d. h. auf den gleichen Tag, an welchem das Volk auch über das Bundesgesez betreffend die Arbeit in den Fabriken und über dasjenige betreffend den Militärpflichtersa abzustimmen hatte (Bundesblatt 1877, Band III, Seite 574 und 593). lieber die bezüglichen Anordnungen und Bundesblatt. 30. Jahrg. Bd. II.

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über das Resultat dieser Abstimmung haben wir mit Botschaft vom 5. Dezember 1877 der Bundesversammlung Bericht erstattet. Es ergibt sich hieraus, daß das Gesez betreffend die politischen Rechte der Niedergelassenen etc. mit einer Mehrheit von 81,673 Stimmen (nämlich von 213,230 gegen 131,557) v e r w o r f e n w o r d e n ist.

Die weitern bezüglichen Aktenstüke sind gedrukt im Bundesblatt 1876, IV, 26; 1877, H, 751; 1877, IV, 646. - Atntl. S. n. F.

Band IH, 154 und 282.

2. Der G e s e z e s e n t w u r f betreffend die c i v i l r e c h t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e d e r schweizerischen N i e d e r g e lassenen und A u f e n t h a l t e r ist zwar vom Ständerathe im Laufe der Sommersession (17. Juni) durchberathen, vom Nationalrathe dagegen am 19. Juni verschoben worden. Er erschien zwar wieder auf den Traktanden der Wintersession, allein der Nationalrath verschob dessen Berathung am 17.. Dezember auf unbestimmte Zeit und" der Ständerath trat am 19. Dezember diesem Beschlüsse bei. Bis jezt ist nichts weiteres gedrukt, als im Bundesblatt 1876, IV, 39, und 1877, IV, 842, Ziff. 5,'und 1878, I, Beilage zu Nr. 2, S. 7, zu finden ist.

3. Der E n t w u r f zu e i n e m B ù n d e s g e s è z e über Schuldb e t r e i b u n g und K o n k u r s ist im Sinne der bezüglichen Notiz im lezten Geschäftsberichte nicht weiter behandelt worden. Inzwischen wurde, um die verschiedenen Systeme vollständig übersehen zu können, neben den vorhandenen zwei Entwürfen, wovon der eine auf dem Prinzip der Betreibung zum Konkurse, der andere auf dem System der Betreibung zur Pfändung beruht, die Ausarbeitung noch eines dritten Entwurfes angeordnet, der auf dem Boden des in den Kantonen der Ostschweiz eingeführten Schazungssystemes stehen soll.

4. Dagegen wurde die Beratbung des E n t w u r f e s zu e i n e m schweizerischen Obligationenrecht mit Einschluß des H a n d e l s - u n d . W e c h s e l r e c h tes wesentlich gefördert.

Nachdem, wie bereits in unserm lezten Geschäftsberichte vorgemerkt, die erste Lesung in zwei Sizungen des Jahres 1876 durchgeführt und der Gesezesentwurf in seinen Grundzügen aufgestellt worden ist, wurde derselbe in beiden Sprachen gedrukt und möglichst unter das fachmännische Publikum verbreitet. Der Aufforderung zur Eingabe von kritischen Ausstellungen und Abänderungsanträgen wurde namentlich aus der deutschen Schweiz in ziemlichem Umfange entsprochen. Unter den Eingaben befinden sich einzelne

465 eingehende und gründliche Arbeiten. Da die Ausgabe des französischen Textes einerseits hinsichtlich der erforderlichen Präzision und Korrektheit im sprachlichen Ausdruke und anderseits mit Rüksicht auf die Uebereinstimmung mit dem deutschen Texte auf erhebliche Schwierigkeiten stieß, und deßhalb einigermaßen verzögert wurde, erstrekte unser Justizdepartement den Eingabetermin für die französische Schweiz bis Ende 1877. Die erweiterte Gelegenheit, sich vernehmen zu lassen, wurde jedoch nur spärlich benuzt.

Im September versammelte sich die Kommission zur zweiten (Detail-) Berathung des' Entwurfes, und gewann durch den Beizug der Herren Prof. Dr. Bluntschli in Heidelberg, Ri vier in Brüssel und von Wyß in Basel einen vortrefflichen Zuwachs juristischen Wissens und Erfahrung.

Der allgemeine Theil des Obligationenrechtes, welcher seines grundsäzlichen Inhaltes wegen und weil viele Kontroversen zu lösen sind, besondere Schwierigkeiten bietet, wurde von der Kommission zu Ende berathen, und sodann auf Grundlage ihrer Beschlüsse durch eine Redaktoren - Unterkommission vollständig umgearbeitet. Dabei wurde auch besonders darauf gesehen, daß der deutsche und französische Text gleichzeitig verarbeitet werden, und der leztere mit dem erstem volle Ebenbürtigkeit erlange.

Die zweite Lesung des Spezialtheiles und die Schlüßberathung wird in zwei Sizungsabtheilungen im Laufe des Jahres 1878 stattfinden, und es darf in sichere Aussicht genommen werden, daß die Vorlage des ganzen Gesezbuches an die eidgenössischen Räthe auf die Junisizung des nächsten Jahres erfolgen kann.

5. Am 17. März 1876 haben die eidgenössischen Räthe folgendes Postulat beschlossen : ,,Der Bundesrath wird eingeladen, das Bundesgesez über den Geschäftsverkehr zwischen dem Nationalrath und dem Ständerath etc. vom 22. Dezember 1849 einer Revision zu unterstellen und einen bezüglichen Gesezesentwurf der Bundesversammlung vorzulegen.a fBundesbl. 1876, I, 844.) Nach näherer Prüfung dieser Frage haben wir uns veranlaßt gesehen, von der Revision des erwähnten Gesezes einstweilen abzusehen, und lediglich einige Z u s a z a r t i k e l zu den G e s c h ä f t s r e g l e m e n t e n des N a t i o n a i r a t h e s vom 9. Juli 1850 und des S t ä n d e r a t h e s vom 7. Dezember 1849, soweit sie die bevorstehende Berathung der Bundcsgeseze über
das Civilrecht (Art. 64 der Bundesverfassung) als wünschbar erscheinen ließ, und sowohl jene Modifikation des Postulates, sowie den Inhalt dieses Entwurfes mit unserer Botschaft an die Bundesversammlung vom 4. Juni 1877 zu begründen.

(Bundesbl. 1877, III, 134.) Die eidgenössischen Räthe haben diese

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Zusazartike zu ihren Reglementen in übereinstimmender Redaktion angenommen und zwar der Ständerath am 21. Brachmonat 1877 und der Nationalrath am 22. des gleichen Monats. (Off. Samml.

n. F. m, 109 und 111).

6. lieber die mit Postulat vom 1. Juli 1875 und Beschluß des Nationalrathes vom 8. Dezember 1875 angeregten Fragen betreffend E r g ä n z u n g des B u n d e s g e s e z e s vom 19. J u l i 187-2 ü b e r e i d g e n ö s s i s c h e W a h l e n u n d A b s t i m m u n g e n und des B u n d e s g e s e z e s vom 17. J u n i 1874 b e t r e f f e n d V o l k s a b s t i m m u n g e n ü b e r B u n d e s g e s e z e u n d Bundesb e s c h l ü s s e (Amtl. Samml. n. F. I, S. 588; Bundesbl. 1876, I, S. 18) haben wir mit Botschaft vom 27. November 1877 einläßlichen Bericht erstattet und zugleich den Entwurf zu einem bezüglichen Bundesbeschlusse vorgelegt (Bundesbl. 1877, IV, 413).

Es ist jedoch diese Angelegenheit im Laufe des Berichtsjahres nicht erledigt worden. (Bundesbl. 1878, I, Beilage zu Nr. 2, S. 7 und S. 355.)

7. Ueber die am 22. Brachmonat 1877 von der Bundesversammlung angenommenen zwei Postulate, betreffend F o r t s e z u n g d e r S a m m l u n g der s t a a t s r e c h t l i c h e n E n t s c h e i d e bis zum Zeitpunkte des Inkrafttretens der Bundesverfassung von 1874 u n d d i e j ä h r l i c h e V e r ö f f e n t l i c h u n g u n s e r e r E n t s c h e i d e seit diesem Zeitpunkte (Amtl. Samml. n. F. III, 114), haben wir unterm 29. Januar 1878 Bericht erstattet (Bundesblatt 1878 , 1, 161). Die Erledigimg fällt daher in den Bericht pro 1878.

8. Die Verhandlungen betreffend den B a u p l a z für d a s G e r i c h t s g e b ä u d e d e s B u n d e s g e r i c h t s i n Lausanne haben ihren Abschluß dadurch gefunden, daß von den sämmtlichen früher in Betracht gezogenen Lokalitäten abgesehen und eine Parzelle des M o n t b e n o n von 1200 Quadratmetern d e f i n i t i v als B a u p l a z bezeichnet und sowohl von dem Bundesgerichte als von uns angenommen wurde, nachdem vorher eine Lokalinspektion durch die Vorsteher der eidg. Departemente des Innern und der Justiz und Polizei, unter Zuzug von Delegationen des Bundesgerichts, des Staatsrathes des Kantons Waadt und der Munizipalität der Stadt Lausanne stattgefunden und die Ueberzeugung allseitig sich befestigt hatte, daß dieser Plaz
vollkommen passend und zu dem fraglichen Zweke selbst geeigneter und schöner sei, als die früher im Vorschlage gewesenen Lokalitäten.

Dagegen wurde dem wiederholten Wunsche der Stadt Lausanne nach einer theilweisen Revision des Bauprogrammes entsprochen und

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unter Zustimmung des Bundesgerichts eine etwelche Modifikation desselben zugelassen. In dieser Weise wurde bis in die Mitte des Jahres auch das B a u p r o g r a m m definitiv festgestellt, so daß zur Feststellung des Bauplanes vorgegangen werden konnte.

Die Stadt Lausanne eröffnete mm für die Eingabe von Projekten eine öffentliche Konkurrenz, bestellte ein Schiedsgericht und sezte eine Summe von Fr. 6000 aus zur Prämirung der besten Arbeiten.

Es wurde bis Ende des Jahres die große Zahl von 82 Projekten eingegeben, welche vom 7. bis 10. Januar der Prüfung der Experten unterworfen und auch öffentlich ausgestellt waren. Nach dem Gutachten der Experten entsprach indeß keines dieser Projekte den gestellten Anforderungen und Bedürfnissen, so daß nun wieder ein besonderer Plan bearbeitet werden muß.

II. Garantie von Kantonsvcrfassungen.

1. Bei Anlaß der Gewährleistung der V e r f a s s u n g des K a n t o n s S c h w y z vom 11. Brachmonat 1876 sind bekanntlich die §§ 41, 43 und 44, welche eine bestimmte Theilung der Mitglieder der Regierung, des Kantonsgerichts, der Abgeordneten in den Ständerath und anderer kantonaler Beamten zwischen Außerund Inner-Schwyz aufgestellt hatten, von der Garantie ausgenommen worden. Nachdem der Kantonsrath von Schwyz auf unsere bezügliche Einladung bei einer nachträglichen Revision diesen Paragraphen eine entsprechende Aenderung gegeben , wurden sie bei der Volksabstimmung vom 23. September 1877 angenommen und abermals zur Gewährleistung vorgelegt, die jedoch in das Jahr 1878 fällt, (Bundesbl. 1876, 111, 369. und 1877, I, 69. 521.

Off. S. n. F. HI, 66. 326.)

2 . D i e V e r f a s s u n g d e s K a n t o n s A a r g a u wurde mit Rüksicht auf frühere Revisionen neu geordnet, eine Reihe von Artikeln wurde mit der neuen Bundesverfassung in Uebereinstimmung gebracht, ohne förmlich revidirt zu werden, und nur drei Artikel wurden einer Revision unterstellt und bei der Volksabstimmung angenommen. Gestüzt auf die in unserer Botschaft vom 17. Januar 1877 entwikelten Gründe wurden diesem Verfahren gegenüber folgende Grundsäze aufgestellt: 1) Den revidirten Artikeln 34, 36 und 86 der neuen Ausgabe der Staatsverfassung für den Kanton Aargau wird die Gewährleistung ertheilt.

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2) Von der durch das Dekret des Großen Rathes des Kantons . Aargau vom 14. November 1876 angeordneten Bereinigung einer Anzahl weiterer Verfassungsartikel wird an den Protokollen der beiden eidgenössischen Räthe iu gutheißendem Sinne Vormerkung genommen.

3) Ist in eine nochmalige Prüfung und Genehmigung der übrigen Theile der aargauischen Verfassung nicht weiter einzutreten.

In Uebereinstimmung hiermit hat die Bundesversammlung den revidif ten Art. 34, 36 und 86 die Gewährleistung ertheilt. (Bundesblatt 1877. I, 121. Off. 8. n. F. III, -64.)

3. Bin V e r f a s s u n g s g e s e z des K a n t o n s Z ü r i c h vom 26. Hornung 1877, wodurch das Recht, im Namen des Kantons Zürich in Bezug auf Bundesgeseze, sowie auf allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur sind, im Sinne von Art. 89 der Bundesverfassung die Vorlage an das Volk behufs der Abstimmung über deren Annahme oder Verwerfung zu verlangen, dem Kantonsrathe übertragen wurde, erhielt in Uebereinstimmung mit unserm Antrage am 13. Brachmonat 1877 die Gewährleistung des Bundes. (Bundesbl. 1877, m, 45. Off. S.

n. F. III, 1000 4. Die neue Verfassung des K a n t o n s U n t e r w a i d e n nid d e m W a l d wurde am 2. April 1877 vom Volke dieses Kantons in einer außerordentlichen Landsgemeinde angenommen, und im Sinne unserer Anträge am 17. Dezember 1877 unter einigen Vorbehalten gewährleistet, mit Ausnahme von Art. 79, wodurch diejenigen Lehrer, denen durch Uebernahme einer Pfründe die Schule überbunden ist, von einer periodischen Erneuerungswahl ausgeschlossen worden wären. Dieser Art. 79 wurde jedoch zur Umänderung zurükgewiesen, indem er mit Art. 27 der Bundesverfassung im Widerspruch stehe, wonach die Primarschule a u s s c h l i e ß l i c h unter s t a a t l i c h e r Leitung stehen soll.

(Bundesbl. 1877, IV, 378. Off. S. n. F. III, 284.)

III, Verhältnisse zu auswärtigen Staaten.

a. V e r t r ä g e und K o n v e n t i o n e n .

1. Es wurde in den Berichten für 1875 und 1876 bereits mitgetheilt, daß am 19. August 1875 mit dem K ö n i g r e i c h der N i e d e r l a n d e ein F r e u n d s c h a f t s - , Nieder-

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l a s s ù n gs- und H a n d e l s v e r t r a g unter Ratifications vorbehält unterzeichnet, aber aus bestimmten Gründen der Bundesversammlung nicht vorgelegt worden sei. Mittlerweile wurde von Seite der Niederlande ein erläuterndes Zusazprotokoll angetragen, welches die hierseitige Genehmigung auch gefunden hat und am 24. April 1877 von den beidseitigen Bevollmächtigten unterzeichnet wurde. Nach den neuesten Mittheilungen des Generalkonsuls der Niederlande ist nun das Gesez betreffend die Genehmigung dieser beiden Aktenstüke von den niederländischen Generalstaaten am 19. Dezember 1877 und 25. Januar 1878 einstimmig angenommen worden. Unter diesen Umständen werden wir die Ratifikation auch von schweizerischer Seite beantragen und hiefür in der nächsten ordentlichen Session der Bundesversammlung eine besondere Botschaft vorlegen.

2. DerN i e d e r l a s s u n g s v e r t r a g m i t dem d e u t s c h e n R e i c h e , welcher mit dem 1. Januar 1877 in Vollziehung getreten ist, hatte bekanntlich zur Folge, daß mit dem gleichen Zeitpunkte eine große Anzahl besonderer Verträge und Uebereinkünfte mit einzelnen deutschen Staaten außer Kraft getreten sind. Die Feststellung derselben im Sinne des bei der Auswechslung des Niederlassungsvertrages festgesezten Protokolles (amtl. Samml. n. F. II, 575), wovon im lezten Berichte Erwähnung geschah, erforderte einläßliche Studien. In Folge dessen wurden auf dem Korrespondenzwege außer Wirksamkeit gesezt : 4 Abkommen betreffend die gegenseitige Verpflegung Hülfsbedürftiger und die Beerdigung Verstorbener; 13 Abkommen betreffend die Befreiung vom Militärdienste und von der Militärsteuer; Art. 8 des Vertrages zwischen der Schweiz und Baden vom 6. Dezember 1856, und 10 Abkommen betreffend die gegenseitige Befreiung der Handelsreisenden von der Patentsteuer.

Die zwei altern Niederlassungsverträge mit Baden und Württemberg.

Das genauere Verzeichniß aller dieser Verträge und Abkommen -wurde sämmtliehen Kantonsregierungen mit Kreisschreiben vom 6. Juli 1877 zur Kenntniß gebracht und in der amtlichen Sammlung n. F., Bd. HI, S. 133, und Bundesbl. 1877, Bd. III, S. 333, veröffentlicht, womit das bezügliche Postulat der eidg. Räthe vom 27. Juni 1876 seine Vollziehung gefunden hat.

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Für die Anwendung von Artikel i dieses Vertrages auf den G e w e r b e b e t r i e b der A u s l ä n d e r im Umherziehen sind die Bestimmungen von Interesse, welche der deutsche Bundesrath am 7. März 1877 aufgestellt hat und die im Centralblatt für das deutsche Reich 1877, S. 142, abgedrukt sind.

3. Der Ausgang des bei England gestellten Auslieferungsbegehrens gegen Alfred Thomas Wilson (siehe Auslieferungsangelegenheiten ) und die bei der Behandlung einiger anderer Fälle gemachten Erfahrungen veranlaßten uns am 22. Dezember 1877, den A u s l i e f e r u n g s v e r t r a g z w i s c h e n der Schweiz u n d G r o ß b r i t a n n i e n vom 31- März / 28. November 1874 (Offiz. Samml. n. F. I, 356) im Sinne von Artikel 17 desselben a u f z u k ü n d e n . Gleichzeitig mit dieser Erklärung eröffneten wir jedoch der Großbritannischen Regierung unsere Bereitwilligkeit zu Unterhandlungen behufs des Abschlusses eines neuen Auslieferungsvertrages. Die Regierung Ihrer Großbritannischen Majestät ließ unterm 11. März 1878 ihr Bedauern aussprechen, daß wir uns genöthigt gesehen haben, den Vertrag von 1874 zu künden,, machte aber gleichzeitig die Mittheilung, daß sie ihren Ministerresidenten bei der Schweiz zu den Unterhandlungen über einen neuen Vertrag bevollmächtigt habe. Nach dem erwähnten Artikel 17 des bisherigen Vertrages bleibt derselbe vom Tage der Aufkündigung an noch sechs Monate in Kraft. Da jedoch diese Frist zum Abschlüsse eines neuen Vertrages nicht ausreicht, so wird durch Spezialabkommen eine Verlängerung der Dauer der Gültigkeit des alten Vertrages vereinbart werden müssen.

4. Die Regierung der N i e d e r l a n d e stellte durch ihren Generalkonsul, den Antrag zu einer R e v i s i o n des A u s l i e f e r u n g s v e r t r a g e s mit d e r S c h w e i z vom Jahre 1853. Die Niederländischen Generalstaaten erließen nämlich am 6. April 1875ein neues Gesez zur näheren Feststellung der allgemeinen Bedingungen, unter welchen die; königüch niederländische Regierung mit andern Staaten Auslieferungsverträge abschließen kann, und zwar im Sinne einer größern Ausdehnung der Zahl der Verbrechen und Vergehen, welche die Auslieferung fremder Personen ermöglichen, als dieses unter dem früheren Geseze vom 13. August 1849 der Fall war. Infolge dessen hat das Niederländische Ministerium den Entwurf eines
Auslieferungsvertrages als gleichförmige Grundlage zu den Unterhandlungen über den Abschluß neuer Verträge ausgearbeitet, und darauf gestüzt bereits einige Verträge abgeschlossen. Sie ließ daher auch uns einen solchen Entwurf mittheilen und gleichzeitig eröffnen, daß sie ihren Generalkonsul,

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Herrn J. G-. Suter-Vermeulen, als Bevollmächtigten bezeichnet habe.

Der Vertrag mit Holland läßt auch uns einige Verbesserungen wünschen, weßhalb wir nicht säumten, unsere Bereitwilligkeit zur Eröffnung von Unterhandlungen über einen neuen Vertrag auszusprechen. Als Bevollmächtigten bezeichneten wir den Chef unseres Justiz- und Polizeidepartementes, Herrn Bundesrath Anderwert.

Die Unterhandlungen konnten indeß im Laufe des Berichtsjahres noch nicht beginnen.

5. Die im lezten Geschäftsberichte erwähnten Verhandlungen betreffend den Abschluß einer U e b e r e i n k u n f t . f ü r den T r a n s i t v o n ' I n d i v i d u e n d u r c h B e l g i e n , Deutschl a n d und L u x e m b u r g , welche von England, Belgien, Holland und Luxemburg an die Schweiz, oder umgekehrt von der Schweiz an Luxemburg, Belgien, England und Holland gemäß den bestehenden Staatsverträgen ausgeliefert werden sollen, sind im Laufe des Jahres 1877 zwar gefördert, aber noch nicht zum Abschlüsse gebracht worden. Die belgische Regierung nahm Anstand, die Uebereinkunft auch auf Individuen auszudehnen, welche Belgien transitiren müssen, weil die Bewilligung des Transites durch den Artikel 4 des belgischen Gesezes vom 15. März 1874 geordnet sei, dessen Inhalt auch in den Verträgen mit der Schweiz, Deutschland und mit den Niederlanden Aufnahme gefunden habe und dahin gehe, daß zur Begründung eines Transitbegehrens die gleichen gerichtlichen Akten (actes de procédure) vorgelegt werden müssen, wie sie für die Bewilligung der Auslieferung nöthig seien. Ueberdieß sei erforderlich, daß es sich um eine im Auslieferungsvertrage selbst vorgesehene Anklage handle, und daß sie weder politischer Natur nach verjährt sei. Die belgische Regierung sei daher an gesezliche Vorschriften gebunden und könne von denselben nicht abgehen; sie sei indeß bereit, an den Unterhandlungen zum Abschlüsse der fraglichen Uebereinkunft mit Bezug auf solche Personen, welche von Belgien an die Schweiz ausgeliefert werden, Theil zu nehmen.

Das Ministerium des Großherzogthums Luxemburg dagegen erklärte sich sogleich bereit, einem solchen Abkommen, soweit es die Gesezgebung des Großherzogthums irgend erlaube, beizutreten, machte aber darauf aufmerksam, daß der Artikel 3 des dortigen Gesezes vom 13. März 1870 der Regierung nur dann gestatte, die Auslieferung auf dem
Wege des Transites über das Gebiet des Großherzogthums zu bewilligen, wenn die Auslieferung eines Individuums von einem fremden Staate an einen andern fremden Staat

472 stattfinde, welche beide Staaten Ablieferungsverträge mit dem Großherzogthum abgeschlossen haben, und das Verbrechen in diesen Verträgen vorgesehen sei. Da jedoch zwischen dem Großherzogthum Luxemburg und England kein Auslieferungsvertrag bestehe, so wäre es der großherzoglichen Regierung nicht möglich, auf das Abkommen einzutreten, soweit es Personen beträfe, die von der Schweiz an England ausgeliefert würden und für welche der Transit L von England nachzusuchen wäre.

*b Unter diesen Umständen beschränkten wir unsern Vorschlag auf solche Personen, deren Auslieferung von Belgien und Luxemburg an die Schweiz und von der Schweiz an Luxemburg und Belgien bewilligt wird und die durch die deutschen und luxemburgtgtihen Staaten trausitiren müssen. Auf dieser Grundlage werden nun die bezüglichen Unterhandlungen in Berlin zwischen einem Delegirten des Reichskanzlérâmtès und den dort akkreditirten Repräsentanten der andern betheiligten Staaten fortgesezt und zum Abschlüsse gebracht werden.

6. Z w i s c h e n d e r S c h w e i z u n d d e m G r o ß h e r z o g t h u m B a d e n ist im-Jahre 1869 jene Uebereinkunft betreffend die wechselseitige Uebergabe der Gefangenen abgeschlossen worden, welche im Bundesblatt 1869, Bd. III, S. 696, abgedrukt ist.

Bei Anlaß der Vollziehung der Auslieferung einiger Individuen nach Deutschland machte das Polizeidepartement des Kantons Baselstadt die Ansicht geltend, daß diese Uebereinkunft unter diejenigen frühern zwischen der Schweiz und einzelnen Staaten des Deutschen Reiches abgeschlossenen Auslieferungsverträge zu rechnen sei, welche durch Art. 16 des Auslieferungsvertrages zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche vom 24. Januar 1874 ihre Gültigkeit verloren haben. Das großherzoglich-badische Ministerium konnte sich jedoch dieser Auffassung nicht anschließen und gab uns durch Vermittlung der Gesandtschaft des Deutschen Reiches von dieser Differenz Kenntniß. Wir mußten die Ansicht, daß die fragliche Uebereinkunft von 1869 weder durch den Auslieferangs-, noch durch den Niederlassungsvertrag mit dem Deutschen Reiche aufgehoben sei, als richtig anerkennen, weil keine Bestimmung dieser Verträge auf dieselbe sich bezieht, indem sie das Verfahren bei dem Transporte und bei der Ablieferung von Gefangenen zwischen den beidseitigen Behörden ordnet und nicht nur die
Fälle der Ablieferung von Gefangenen, deren Auslieferung nach den Grundsäzen des Auslieferungsvertrages festgestellt ist, umfaßt, sondern auch die Ablieferung anderer, namentlich die Abschiebung polizeilicher Gefangener, so daß eine solche Ordnung im Interesse der Kantone selbst angestrebt werden müßte, wenn sie nicht schon bestünde. (14. Mai 1877.)

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7. Die Vereinbarung mit Italien über einen modus vivendi, betreffend die Besorgung des Polizeidienstes auf der i n t e r n a t i o n a l e n S t a t i o n C h i a s s o , wovon im lezten Geschäftsberichte unter der Rubrik ,,Fremdenpolizeia gesprochen wurde, ist im Laufe des Berichtsjahres noch nicht zum Abschlüsse gekommen, indem die beidseitigen Delegirten erst gegen Ende des Jahres zusammentreten konnten.

b) A n w e n d u n g von S t a a t s ver trägen und verschiedene B e z i e h u n g e n i n t e r n a t i o n a l e r Na für.

· 1. Eine b a d i s c h e F a m i l i e wurde in Anwendung von Art. 7 und 10 des Niederlassungsvertrages-mit dem Deutschen Reiche aus dem Kauton Luzern a u s g e w i e s e n , weil dieselbe der öffentlichen Wohlthätigkeit anheim gefallen war, ohne Unterstüzung nicht leben konnte, und weil die heimathlichen Behörden die Sendung von Unterstüzungen ablehnten. Da im Uebrigen gehörige gültige Heimatpapiere vorlagen, so wurde behufs der Vollziehung der Ausweisung die Instruktion gegeben, es solle der Ausweisungsbeschluß dem Transportbefehl und dem Heimatausweise zur Kenntnißnahme der Grenzbehörde und der Heimatgemeinde beigefügt werden.

2. Die Einfrage einer Kantonsregierung, ob die L a n d e s v e r w e i s u n g , welche durch Art. 44' der Bundesverfassung gegenüber den K a n t o n s b ü r g e r n und m analoger Anwendung des Art. 60 der Bundesverfassung auch gegenüber den A n g e h ö r i g e n a n d e r e r K a n t o n e als Strafe nicht mehr ausgesprochen werden darf (Amt!. Samml. der bundesgerichtlichen Entscheide I, S. 75 und 261}, auch mit Bezug auf A n g e h ö r i g e von v e r g e g e n r e c h t e t e n S t a a t e n ausgeschlossen sei, wurde dahin beantwortet, daß das Recht zur Heirnweisung von Fremden wegen Uebertretung der Geseze und Verordnungen über die Armen- und Sittenpolizei selbstverständlich jedem Staate zustehe und daher überall vorbehalten sei.

3. Die Einfrage einer Kantonsregierung, 1) ob g ü l t i g e Reisepasse der A n g e h ö r i g e n D e u t s c h l a n d s den zu ihrer Niederlassung in der Schweiz nach Art. 2 des Niederlassungsvertrages vom Jahr 1876 erforderlichen ,,Heimatschein vertreten können, somit solchen Reisepässen die Bedeutung von Heimatscheinen beigemessen werde; 2) welche Behörden in Deutschland befugt seien, die in der bundesräthlichen
Botschaft betreffend jenen Niederlassungsvertrag (B. Bl.

1876,11, 883) genannten Urkunden zum Ausweise der deutschen Bundes- und Staatsangehörigkeit auszustellen, wurde wie folgt beantwortet:

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Die erste Frage erledige sich ganz einfach durch den Inhalt der Reisepässe. Wenn in denselben die Angehörigkeit des Trägers außer Zweifel gestellt, und der Paß selbst von einer Behörde des Heimatstaates ausgestellt worden sei, so würde der Bundesrath keinen Anstand nehmen, einen solchen Paß als ,,Heimatschein"1 im Sinne von Art. 2 des Niederlassungsvertrages mit dem Deutschen Reiche zu behandeln.

Was die zweite Frage betreffe, so finde der Bundesrath es nicht erforderlich, eine diesfällige Einfrage bei den einzelnen Staaten des Deutschen Reiches zu machen. Es komme doch wesentlich nur darauf an, daß die U r k u n d e acht sei, und es würde zu weit führen, noch den Ausweis zu verlangen, daß der Aussteller compétent gewesen, zumal nach der jöaigen Gesezgebung des Deutschen Reiches (Gesez über Erwerbung und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870, Schweiz. B. Bl. 1870, HI, 176, welches in Folge der Reichsverfassung von 1871 Reichsgesez geworden) und gemäß Lemma 2 voü Art. 7 des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche die Deutschen gegenwärtig nicht mehr heimatlos werden, also der Schweiz nicht zur Last fallen können.

4. Auf die Einfrage, ob der A r t. l 0 des N i e d e r l a s s u n g s v e r t r a g e s mit dem D e u t s c h e n Reiche vom Jahr 1876 nur auf K r a n k e oder auch auf A r m e im N o t h f a l l e Bezug habe, wurde geantwortet, daß der Niederlassungsvertrag mit dem Deutschen Reiche in dieser Beziehung nichts Neues eingeführt habe, indem der Art. 10 ganz übereinstimmend laute mit den frühern Uebereinkommen mit Preussen vom 7./13. Januar 1862 (Amtl. Samml. VII, 114), mit Bayern vom l. September 1862 (A. S. VII, 344), und mit Baden vom 24. Mai/12. Juni 1865 (A. S. VIII, 420). Es sei daher anzunehmen, daß die frühere Praxis mit diesen Staaten die richtige Wegleitung für die Anwendung von Art. 10 des neuen Vertrages bieten werde. " 5. In einem Spezialfalle hat das preussische auswärtige Amt die Gewährung der nöthigen U n t e r s t ü z u n g an eine der öffentlichen Armenpflege des betreffenden Kantons anheimgefallene Preußin und deren Kinder durch deh heimatlichen Armen-Verband nur für den Pali der R ü k k e h r der Familie n a c h Preussen zugesagt.

6) Im Jahre 1861 starb in Richmond, Virginia, S a l o n i on H a u e n s t e i n von
Unter-Eridingen, Kantons Aargau, ohne ein Testament zu hinterlassen, unverheirathet und ohne direkte Nachkommen. Seine Verlassenschaft bestand in einiger Baarschaft und

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in einem mit etlichen Häusern überbauten ziemlich großen Grundeigenthum.

Erst im Juni 1863 wurde dieser Todesfall bekannt, worauf seine Geschwister im Kanton Aargau ihre Erbrechte geltend machten.

Es gelang auch im Verlaufe der seitherigen Verhandlungen, die Identität des Erblassers und die Eigenschaft der Prätendenten, als Geschwister und somit als rechtmäßige Erben desselben, festzustellen.

Inzwischen hatte ein Schwindler die Kriegszeiten benuzt, um sich in den Besiz der Erbschaftsobjekte zu sezen. Gegen Ende der 1860er Jahre \vurde dieser Betrug entdekt und der Betrüger bestraft. Jezt aber trat der Staat Virginia auf, um die Erbschaft als herrenloses Gut ihm anheimgefallen zu reklamiren. Er siegte auch wirklich vor den Gerichten, und nachdem er in den Besiz der Erbschaft gelangt war, ließ er den Grundbesiz verkaufen. Alles dieses geschah, ohne daß die Behörden des Staates Virginia sich veranlaßt gesehen hätten, den schweizerischen Behörden irgend welche Mittheilung von dem Sachverhalte zu machen, obschon der Verstorbene in Richmond bekannt und allgemein ,,le Swissa genannt worden war. Erst gegen Ende des Jahres 1870 konnte der,schweizerische Generalkonsul in Washington mit Hilfe der französischen, österreichischen und schwedischen Konsulate in Richmond und nach eigener Untersuchung an Ort und Stelle die Thatsacheu ermitteln.

In Folge dessen traten die Erben Hauenstein gegen den Fiskus des Staates Virginia mit der Klage auf Aushingabe der Erbsehaft auf; allein sie wurden mit ihren Ansprüchen vor allen Instanzen des Staates Virginia abgewiesen.

Das Urtheil des Appellationsgerichtes datirt vom 25. Januar 1877 und stüzt sich im Wesentlichen darauf, daß der auf dieses Verhältniß bezügliche Art. 5 des allgemeinen Vertrages von 1855 für den Staat Virginia nicht verbindlich sei, weil nach der Gesezgebung dieses Staates kein Ausländer, der im Auslande wohne, Grundbesiz im Staate Virginia durch Erbschaft erwerben könne, und weil der genannte Art. 5 nur für jene Staaten verbindlich sei, welche innert einer gesezlichen Frist den Verkauf und die Uebertragung von Grundeigenthum in diesem Staate oder den Wegzug des daraus erzielten Erlöses e r l a u b e n ; eine solche Frist bestehe aber im Staate Virginia nicht, und die Centralregierung habe diesen Staat durch den Vertrag mit der Schweiz nicht verpflichten
können, ein bezügliches Gesez zu erlassen.

Nun ist daran zu erinnern, daß zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten schon im Jahr 1847 (alte offizielle Sammlung, Band III, Seite 329) ein Vertrag über Aufhebung des Heimfallrechtes und Anerkennung der Freizügigkeit von Erbschaften ab-

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geschlossen und daß im Jahr 1855 ein neuer Vertrag zu Stande gekommen ist (neue offizielle Sammlung, Band V, Seite 201), welcher den Zwek hatte, nicht nur bloß den erstem zu ersezen, sondern ihä auszudehnen, zii ergänzen und namentlich auch die Frage des Erwerbes von Grundeigenthum' durch Bürger des andern Staates auf dem Wege des". Erbganges in einer dein natürlichen Rechte der Menschen entsprechenden Weise zu ordnen.

Das Raisonnement des Appellationsgerichtes von Virginia hätte die merkwürdige Folge, daß die Erben Hauenstein den Grundbesiz ihres Bruders in Richmond ,,hätten erben können, wenn der Vertrag, von 1847 noch in ,Kr$ft .wäre, weil hier eine Frist von wenigstens drei Jahren, aufgestellt war, um das Grundeigenthum zu veräußern und den Erlös. Auszuführen. Im Jahr 1855 herrschte aber natürlich der Gedanke vor, es werde keinem Staat mehr einfallen, den Grundbesiz an sich reißen zu wollen, und überall da, wo keine Frist für den Verkauf durch den auswärts wohnenden Erben, bestehe, die absolute Freizügigkeit als natürliches Recht anerkannt werden. Indem vorausgesezt wurde, es werden die einzelnen Staaten von dieser'Höhe'ihrer Gesezgebung nicht mehr in mittelalterliche Engherzigkeit zurüksinken, unterließ man es im Jahr 1855, nochmals eine Frist für die Ausübung eines Rechtes aufzustellen", das sich nach Vernunft 'und Recht eigentlich von selbst versteht.

Es handelt sich aber im Spezialfalle vor Allem aus um die Frage, ob der Art. .V-des, allgemeinen Vertrages zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Nordamerika vom Jahr 1855 auch für den Staat Virginia rechtsverbindlich sei, und da von dem Entscheide dieser Frage, im Grunde die Existenz des ganzen Vertrages abhängt und die Schweiz als Ganzes hiebei betheiligt ist, so erachteten wir es als in unserer Pflicht liegend, das äußerste Mittel zu ergreifen, um die Allgcmeinverbindlichkeit des Vertrages zur Anerkennung zu bringen. Wir ergriffen daher das hier allein zulässige Rechtsmittel, indem wir bei dem obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten ein Kassationsbegehren gegen das Urtheil des Appellationsgerichtes des-Staates Virginia eingeben ließen, um zur Anerkennung zu bringen, daß der ganze Vertrag von 1855 auch für den leztern Staat verbindlich sei. Der Entscheid dieser Frage wird indeß längere Zeit anstehen.

7. Die Frage der G
ü l t i g k e i t einer im Jahr 1858 in der katholischen Kirche zu Alexandrien in E g y p t e n vollzogenen E h e eines Tessiners wurde bejaht, indem die äußere Form und der Inhalt des vorliegenden Ehescheines deutlich zeigen, daß diese Ehe nach katholischem Ritus in der am Orte der Eingehung

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gültigen Form vollzogen worden sei, und die Art. VII und X des auch für Egypten verbindlichen türkischen Hatti-Humaioun vom 13. Februar 1856 jedem Kultus vollständige Freiheit der Ausübung seiner Gebräuche zusichere, und § 26 des Civilgesezbuches von dem gleichen Datum wörtlich bestimme was folgt: ..,11 matrimonio fra i musulmani vien celebrato davanti l'Imam, che lo inscrive in un registro, e due testimonii che possano farne fede; fra i C r i s t i a n i d a v a n t i i l o r o s a c e r d o t i , fra gli Ebrei davanti i Rabbini".

31. Juli 1877.

8. Alle Fremden, welche in r u s s i s c h e D i e n s t e treten (Geistliche, Schullehrer, Ingenieurs etc.), w er d e ri r us s i s eh e U n t e r t h a n e n . Der schweizerische Generalkonsul in St. Petersburg warf deßhalb die Frage auf, ob solche Personen, wenn sie momentan Rußland verlassen, jedoch die Absicht haben, wieder zurükzukehren, in der Zwischenzeit, obschoh immer russische Unterthanen, als Schweizer sich geriren und als solche Pässe zum Austritte aus Rußland, sowie zur Rükkehr dahin erhalten können.

Es wurde ihm geantwortet, der Bundesrath könne bezüglich der Ausstellung von Pässen keine andere Instruktion und auch keine andere Vollmacht geben, als diejenige, welche der Art. 43 des Réglementes für die schweizerischen Konsularbeamten vom 26. Mai 1875 enthalte. Was die Stellung der Doppelbürger betreffe, so schreibe der Art. 5 des Bundesgesezes betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 3. Juli 1876, in Kraft seit 1. Januar 1877, lediglich vor, daß solche Personen dem Staate gegenüber, dessen Nationalität sie neben der schweizerischen noch besizen, so lange nicht auf ihre schweizerische Nationalität sich berufen können, als sie in diesem Staate wohnen. Es stehe also nichts entgegen, daß sie außerhalb der Grenzen dieses zweiten Staates als Schweizer sich geriren und somit auch als Schweizer sich legitimiren dürfen (7. Mai 1877).

Mit Bezug auf die zum Eintritt in Rußland nöthigen P a ß v i s a wird auf das Bundesblatt 1877, I, 246, verwiesen.

9. Im Jahr 1872 fand in London ein i n t e r n a t i o n a l e r K o n g r e ß f ü r V e r b e s s e r u n g d e s S t r a f - u n d G ef ä n g n i ß w e s e n s statt, bei welchem der Bundesrath durch Herrn Dr. Guillaume, Direktor der Strafanstalt in Neuenburg,
sich vertreten ließ. Bevor der Kongreß auseinander ging, bestellte er einen internationalen Ausschuß, als dessen Sekretär Hr. Guillaume gewählt wurde. Dieser Ausschuß bereitete das Programm zu einem zweiten Kongresse vor, der in der zweiten Hälfte des Monats August 1878 unter den Auspizien der schwedischen Regierung in

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Stokholm zusammentreten wird. In Folge dessen erließ der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten in Stokholm auch an die Schweiz die Einladung zum Besuche dieses Kongresses durch einen oder mehrere Abgeordnete. Mit Rüksicht auf die erwähnten Vorgänge verdankten wir diese Einladung und erklärten uns bereit, die Schweiz auf dem erwähnten Kongreß vertreten zu lassen, in Erwartung der spätem Kenntnißgabe des Zeitpunktes seines Zusammentrittes.

10. Dem in dem lezten Geschäftsberichte erwähnten Wunsche d e s f r a n z ö s i s c h e n M i n i s t e r s d e r J u s t i z u m Mittheilung der G e s e z e des B u n d e s und d e r K a n t o n e und der dazu gehörigen Berichte und Kommentare, soweit sie gedrukt sind, sowie einiger selbstständiger Werke wissenschaftlicher oder praktischer Natur über schweizerisches Staats- und Privatrecht, ist von unserm Justiz- und Polizeidepartement entsprochen worden, und es hat das genannte Ministerium im Austausche eine vollständige Sammlung des ,,Bulletin des lois de la République française" von 1789 an bis auf die Gegenwart, einige Sammlungen der Codes und verschiedene wissenschaftliche Werke übersendet. Dieser Austausch soll nun periodisch fortgesezt werden.

11.Die R e g u l i r u n g der M i l i t ä r p f l i c h t der Söhne von Franzosen, die sich in der Schweiz h a b e n n a t u r a l i s i ren l a s s e n , welche wir im lezten Geschäftsberichte in Aussicht stellten, hat leider im Laufe des Berichtsjahres nicht zum Abschlüsse gebracht werden können, indem der Wechsel des französischen Ministeriums und die innern politischen Kämpfe Frankreichs die Behandlung dieser Angelegenheit zurükdrängten. Inzwischen haben wir das Projekt zu einem bezüglichen Modus vivendi der französischen Regierung rnitgetheilt, und hatten die Befriedigung, zu vernehmen, daß dasselbe im Allgemeinen eine günstige Aufnahme gefunden hat. Wir ermangelten nicht, wiederholt daran zu erinnern, und werden uns auch fernerhin die möglichst baldige Regulirung der sehr zweifelhaften Position einer ziemlichen Anzahl betheiligter Bürger angelegen sein lassen.

12. Auch im Laufe des Jahres 1877 langten mehrere Eingaben ein zum Z w e k e der B e f r e i u n g d e r P e t e n t e n vom M i l i t ä r d i e n s t e itn A u s l a u d e .

7 Petenten waren Söhne von naturalisirten Franzosen. Es wurden jedoch
nur zwei derselben von den Rekrutirungslisten in Savoyen gestrichen, weil ihre V ä t e r schon v o r der Annexirung dieses Gebietes an Frankreich in Genf naturalisirt und somit niemals Franzosen geworden waren. Alle andern sind zu einer Zeit ge-

479 boren, da ihre Väter noch Franzosen waren. Es finden also auf diese lediglich die in frühern Geschäftsberichten wiederholt dargestellten Grundsäze ihre Anwendung.

3 Petenten waren in Frankreich geborne Söhne von Schweizern, die ihrerseits selbst auch in Frankreich geboren sind. Da sie nach Vorschrift des französischen Gesezes vom 16. Dezember 1874 (Bundesbl. 1875, I, 40 ff.) den Nachweis beizubringen hatten, daß sie in ihrer ursprünglichen Heimat noch als Bürger anerkannt seien, aber die Mittheilung ihrer Civilstandsakte seiner Zeit unterlassen worden war, so mußte ihre Herkunft näher festgestellt werden, was in einem Falle namentlich eine weitläufige Untersuchung veranlaßte, indem es sich um den Urenkel eines in die Napoleonische Armee eingetretenen Schweizers handelte.

In einem weitern Falle ähnlicher Art ergab es sich, daß der Enkel eines Graubündners von dem erwähnten französischen Geseze vom 16. Dezember 1874 Gebrauch machte und Franzose wurde, ohne daß er in gehöriger Form auf das Bürgerrecht im Kanton Graubünden verzichtet hatte. Als er von dieser ursprünglichen Heimat aus für die Bezahlung der Militärpflichtersazsteuer angehalten wurde, ließ er durch die französische Gesandtschaft dagegen reklamiren, weil er Franzose sei. Es wurde jedoch geantwortet, daß der Erwerb einer zweiten Nationalität nicht stillschweigend den Verlust der schweizerischen Nationalität zur Folge habe, sondern daß hiefür ein ausdrüklicher Verzicht nach Vorschrift des Gesezes nöthig sei. So lange dieses nicht geschehen und nicht mit Frankreich über die Stellung von Personen, die von beiden Staaten als militärpflichtig reklamirt werden, eine prinzipielle Vereinbarung im Sinne der seit einiger Zeit schwebenden Unterhandlung erzielt sei, seien die schweizerischen Kantone berechtigt, von ihren Mitbürgern in Frankreich die Beobachtung ihrer Geseze zu fordern.

Die 4 Reklamationen von naturalisirten E l s ä s s e r n und 3 andere von S c h w e i z e r n in I t a l i e n bieten kein besonderes Interesse. Bezüglich der für sie maßgebenden Grundsäze kann auf die in frühern Geschäftsberichten enthaltenen Mittheilungen verwiesen werden.

Bundesblatt. 30. Jahrg. Bd. II.

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IT. Rekurswesen. Anwendung der Bundesverfassung und Bundesgeseze.

1. S t a t i s t i k .

1. Im Jahre 1877 waren mit Einschluß der aus dem Vorjahr pendent gebliebenen Fälle 65 Rekurse zu behandeln, wovon 61 erledigt wurden und 4 als pendent auf das Jahr 1878 übergingen.

In 37 der erledigten Rekurse traten wir jedoch materiell nicht ein, theils weil wir für den Entscheid nicht kompetent waren, theils weil da, wo die Kompetenz des Bundesrathes materiell wirklich begründet erschien, der kantonale Instanzenzug noch nicht erschöpft war.

Die übrigen 24 erledigten Rekurse betrafen dem Gegenstande nach: 2 Erneuerung der Niederlassungsbewilligung; 4 die Verweigerung oder der Entzug der Niederlassung; 4 die Verweigerung von Ausweisschriften in der Heimat und die Rükhaltung von solchen am lezten Wohnort; 2 die Beeinträchtigung der Gewerbefreiheit ; 8 das Stimmrecht und Wahlen; 2 die Verlezung der Glaubens- und Gewissensfreiheit; 2 die Verweigerung der Eheverkündung.

Es blieben 20 Beschwerden übrig, die materiell zu erledigen waren (1876 26); 11 derselben wurden begründet erklärt, 9 dagegen abgewiesen. Daneben waren noch in 5 Fällen, die durch Nichteintreten erledigt wurden, förmliche und motivirte Entscheide nöthig. Die wesentlichsten dieser Beschlüsse werden ihrem Hauptinhalte nach in dem folgenden speziellen Theile mitgetheilt.

Die Bundesversammlung hatte sich im Jahre 1877 mit 6 Beschwerden und Rekursen zu befassen (1876 9). In 2 derselben wurden die Beschlüsse des Bundesrathes bestätigt, l wurde zurükgezogen und die übrigen 3 Rekurse blieben pendent.

481

2. F o r m e l l e s V e r f a h r e n .

2. Das von der Regierung des Kantons Genf wiederholt gestellte Begehren, daß Beschwerden von Ausländern und insbesondere von Franzosen, welche gegen Kantonsregierungen gestüzt auf Staatsverträge angehoben werden wollen, nicht direkt angenommen, sondern daß die Beschwerdeführer an die Gesandtschaften ihrer Staaten, also auf den diplomatischen Weg verwiesen werden sollten, wurde in folgendem Sinne als durchaus unstatthaft beantwortet.

Zunächst mache die Bundesverfassung keinen Unterschied zwischen Schweizerbürgern und Ausländern mit Bezug auf das Beschwerderecht gegen die Verfügungen kantonaler Behörden. In Art. 113 der Bundesverfassung seien ganz allgemein Beschwerden von ,, P r i v a t e n 1 1 wegen Verlezung von Staatsverträgen' vorgesehen, gleichviel ob sie an das Bundesgericht,gehen, oder als Administrativstreitigkeiten betrachtet werden.

Ganz übereinstimmend hiemit werde in Art. 59 im Eingang und in litt, b des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 von Beschwerden von ,, P r i v a t e n " wegen Verlezen von Staats vertragen mit dem Auslande geredet, wovon zwar in Ziffer 10 des gleichen Art. 59 solche Beschwerden, die aus Bestimmungen der Staatsverträge betreffend die Niederlassung herrühren, den Administrativbehörden des Bundes zugewiesen, aber mit Bezug auf die formelle Einleitung derselben nicht abweichend behandelt seien.

Dazu komme ferner, daß in der Praxis sowohl unter der Bundesverfassung von 1848, als auch unter derjenigen von 1874 fortwährend und ohne Unterschied in diesem Sinne verfahren worden sei.

Endlich widerstreite es jeder gesunden politischen Organisation, daß ausländische Beschwerdeführer an ihre heimatlichen Regierungen oder Gesandtschaften verwiesen und daß die leztern auf diesem Wege absichtlich zur Intervention in die innern Angelegenheiten des Landes aufgemuntert werden, während man sonst überall und insbesondere auch in Genf von jeher hiegegen empfindlich gewesen sei. Der Bundesrath könne daher durchaus nicht zugeben, daß in Angelegenheiten , wo es sich um die innere Rechtsordnung handle, den auswärtigen Regierungen oder Gesandtschaften gestattet werden dürfe, zwischen ihn und die Kantonsregierungen zu treten, bevor er selbst Gelegenheit gehabt habe, den Gegenstand der Beschwerde zu prüfen und darüber sich auszusprechen. (9. November 1877.)

482 3. Niederlassungs- und A u f e n t h a l t sV e r h ä l t n i s s e .

a. Prüfung kantonaler Geseze.

(Art. 43 der Bundesverfassung.)

3. Es wurde im Laufe des Jahres 1877 nur das G e s e z ü b e r das Gern e i n d e w e s e n des K a n t o n s Zug vom 20. November 1876 zur Prüfung vorgelegt. Es gab dasselbe Anlaß zu folgenden Ausstellungen : a. Die Ziffern 2 und 3 von § 3 dieses Gesezes haben zur Folge, daß die Aufenthalter in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten vom Stimmrechte ausgeschlossen sind. Wir fanden nun, daß dieses gänzliche Uebergehen der Aufenthalter der Bundesverfassung nicht entspreche, da sie im Sinne von Art. 47 der leztern bereits politische und bürgerliche Rechte besizen, wenn auch der Umfang derselben, so lange das in diesem Artikel vorgesehene Bundesgesez nicht in Kraft getreten, noch nicht bekannt sei. Die Regierung des Kantons Zug gab jedoch die Zusicherung, daß sofort nach dem Inkrafttrelen eines bezüglichen Bundesgesezes die von demselben abweichenden Vorschriften des Gemeindegesezes werden aufgehoben werden. Mit Rüksicht auf. den Mangel einer positiven Bundesvorsehrift begnügten wir uns, von dieser Erklärung Vormerk zu nehmen.

b. In § 130 ist die Niederlassung und der Entzug derselben behandelt, indem der Hauptinhalt von Art. 45 der Bundesverfassung aufgenommen wurde, jedoch mit Weglassung von Lemma 5 und 6 dieses Artikels. Lemma 6 hatte zwar seinem wesentlichen Inhalte nach an andern Stellen des Gesezes Berüksichtigung gefunden. Die Weglassung des Lemma 5 konnte aber um so weniger gesfatlet werden, als nach § 135 des zu prüfenden Gesezes die Beschlüsse der Gemeinderäthe wegen Verweigerung und Entzug der Niederlassung nur durch Rekurs an die Regierung hätten gelangen können, während nach der bestimmten Vorschrift von Lemma 5 des Art. 45 der Bundesverfassung j e d e A u s w e i s u n g w e g e n V e r a r m u n g v o n Seite d e r R e g i e r u n g d e s N i e d e r l a s s u n g s k a n t o n s genehmigt und der h e i m a t l i c h e n R e g i e r u n g zum Voraus a n g e z e i g t w e r d e n m u ß . Es wurde daher die Aufnahme dieser Vorschrift der Bundesverfassung in Art. 130 verlangt und in einer neuen Ausgabe des Zugerischen Gesezes vollzogen.

c. Der Schlußsaz des gleichen § 130 lautete dahin : ,, Bei der Gestattung der Niederlassung an Kantonsangehörige darf
die Bedingung aufgestellt und festgehalten werden, daß dieselben arbeitsfähig und an ihrem bisherigen Wohnorte im Heimatkanton nicht bereits in dauernder Weise der öffentlichen Wohlthätigkeit zur Last

483 gefallen seien. tt Diese Bestimmung mußte gestrichen werden, weil 'mit § 77 der Kantonsverfassung im Widerspruche stehend, wonach der Kanton Zug im Armenwesen dem b ü r g e r l i c h e n Prinzipe folgt, und weil dadurch eine unzuläßige Beschränkung der Niederlassungfreiheit, welche durch die neue Bundesverfassung den Kantonsangehörigen im gleichen Umfange gewährleistet ist, wie den Angehörigen anderer Kantone, aufgestellt worden wäre. Auch stand jene Bestimmung mit Lemma 4 von Art. 45 der Bundesverfassung im Widerspruch, welches nur auf solche Kautone Anwendung finden darf, in welchen die ö r t l i c h e Armenpflege als allgemeiner Grundsaz anerkannt ist.

d. Die Vorschrift in § 134, wonach die Wegweisung von den Gerichten als Strafe, oder von den höhern Verwaltungsbehörden als Polizeimaßregel verfügt werden kann, und § 46, Ziff. 2, wodurch den Gemeinderäthen eingeräumt wurde, liederliche und unsittliche Personen nach Anleitung der Geseze in ihre Heimatgemeinde zurükzuweisen, erschienen mit Rüksicht auf die Allgemeinheit der Redaktion, welche ihre Anwendung auch auf Niedergelassene möglich gemacht hätte, nicht als zulässig. Es wurde daher die Bedingung aufgestellt, daß diese Vorschriften nur im Sinne von Art. 45 der Bundesverfassung, d. h. nur gegen Aufenthalter, angewendet werden dürfen.

e. § 133 schrieb vor, daß der Niedergelassene außer dem Heimatschein hinreichende Ausweise über seine Civilstandsverhältnisse und, wenn er im militärpflichtigen Alter stehe, über Erfüllung seiner Militärpflicht (Art. 230 der eidg. Militärorganisation) beizubringen habe, und im Anfange von § 134 war bestimmt, daß die Niederlassung verweigert werden könne, wenn eines dieser Erfordernisse mangle. Wir fanden jedoch , daß diese Bestimmung unstatthaft sei, weil der Erwerb der Niederlassung an keine andern und jedenfalls nicht strengem Bedingungen geknüpft werden dürfe, als die Bundesverfassung in Art. 45 vorschreibe. Der Ausweis über die Civilstandsverhältnisse und über die Erfüllung der Militärpflicht möge durch andere polizeiliche Maßregeln (Ungehorsamstrafen etc.) erzwungen werden. Die verzögerte Beibringung dieser Ausweise dürfe aber nicht die Verweigerung der Niederlassung zur Folge haben. Es mußte daher die Bedingung beigefügt werden, daß die §§ 133 und 134 nur im Sinn..; der Bundesverfassung angewendet werden
dürfen. (Vergleiche auch Bundesbl. 1877, II, S. 519, Ziff. 1.)

f. § 145 lautet: ,,Personen, welche ein vagantes Leben führen -- Heimatlose, Bettler, Ausreißer -- sind sofort über die

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Grenze zu führen und es ist ihnen das Wiederbetreten des Kantons bei Strafe zu verbieten.'0 Mit Rüksicht auf den Umstand, daß die Bundesverfassung keine auf diese Materie bezügliche Vorschrift enthält, mußten wir uns darauf beschränken, zu konstatiren, daß das im erwähnten § 145 aufgestellte Verfahren im Widerspruche stehe mit den Art. Ì3 und 19 des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit, wonach berufslos umherziehende Vaganten und Bettler nicht einem andern Kanton zugeschoben werden dürfen, sondern in ihre H e i m a t transportât werden müssen. Es verstehe sich somit von selbst, daß es auch nicht erlaubt sei, Heimatlose bloß über die Kantonsgrenze zu schieben, vielmehr müsse vor Allem aus deren Heimat ermittelt werden, um dann auch mit ihnen nach Vorschrift des erwähnten Bundesgesezes verfahren zu können.

b. Erwerb und Verlust der Niederlassung und des Aufenthalts.

4. Die Beschwerde einer in Genf wohnhaften Französin gegen ihre Ausweisung aus diesem Kanton wurde, gestüzt auf Art. 5 des Niederlasäungsvertrages mit Frankreich vom Jahr 1864, als unbegründet abgewiesen, da durch die Berichte der Polizeibehörde festgestellt worden, daß die Rekurrentin den Gesezen und Verordnungen über die Sittenpolizei zuwider gelebt habe (26. Okt. 1877).

5. Der Gemeinderath von Willisau forderte von zwei S p a n i e r n , die behufs des Betriebes einer Wirthschaft sich dort niederlassen wollten, die Depositen einer Kaution von Fr. 2400, und die Regierung des Kantons Luzern bestätigte, gestüzt auf das kantonale Gesez über die Niederlassung, diese Forderung, obwohl das spanische Konsulat förmlich erklärte, daß die Schweizer in Spanien sich frei niederlassen können und dort aufgenommen seien wie die Spanier selbst.

Der Bundesrath äußerte sich gegenüber der Regierung von Luzern wie folgt: das veraltete System der Kautionen sei schon mit Rüksicht auf diese Erklärung des spanischen Konsulates nicht haltbar, da nichts bekannt geworden, was ihr widersprechen würde, und über die Staatsangehörigkeit der fraglichen Personen genügende und sichernde Nachweise vorliegen. Das neuere Völkerrecht habe auch allgemein den Grundsaz anerkannt, daß dem Aufenthalte der Angehörigen eines befreundeten Staates im Inlande keine solchen Hindernisse in den Weg gelegt werden dürfen. Es müsse gerade von der Republik die freie Zirkulation der Individuen möglichst vertheidigt und gewahrt werden. Der Bundesrath dürfe daher wohl hoffen, daß die Regierung diese Bestrebungen unterstüzen

485 werde. Nachdem die Eidgenossenschaft Spanien durch förmlichen Staatsvertrag die Zusicherung gegeben habe, daß seine Angehörigen mit Bezug auf Handel und Verkehr gleich den Angehörigen der meist begünstigten Nationen behandelt werden sollen (Amtl. Samml. X, 283), sei es nicht statthaft, den Aufenhalt der Spanier in einer Weise zu beschränken, daß ihnen die Ausübung der aus jenem Vertrage entspringenden Rechte erheblich erschwert und unter Umständen sogar unmöglich gemacht werde. (Bundesrath vom 26. April 1877 in Sachen Franc. Monner.)

6. David Hadorn von Forst, Kts. Bern, nahm im Jahr 1870 mit Frau und Kindern den Wohnsiz in Muri, ebenfalls Kantons Bern. Er gab sich jedoch mit seiner Frau bald einem herumziehenden Lebenswandel hin, während seine Kinder in Muri von der Armenpflege erhalten werden mußten. Hadorn starb 1872 im Kantonsspital zu Bern, worauf seine zwei jüngeren Kinder auf den Notharmenetat von Muri gestellt, die zwei älteren dagegen aus dem Armenvermögen dieser Gemeinde unterstüzt wurden.

Die Mutter verheirathete sich später wieder ebenfalls mit einem Berner. In Folge dessen verfügte der Armeninspektor des Amtes Bern die Streichung der beiden Jüngern Kinder aus dem Notharmenetat von Muri, weil nun ihr Stiefvater, der seinen Wohnsiz in Oberwichtrach hatte, für sie zu sorgen habe. Allein leztere Gemeinde erhob Einsprache gegen die Uebersiedlung fraglicher Kinder, und die Regierung des Kantons Bern entschied, gestüzt auf § 16, Lemma 2 des Niederlassungsgesezes dieses Kantons, dahin, daß sie auch fernerhin den polizeilichen Wohnsiz in Muri beibehalten.

Hierin erblikte der G e m e i n d e r a t h von M u r i eine Verlezung von Art. 45 der Bundesverfassung. Aus dem Umstände, daß die Kinder Hadorn durch das kompetente Organ -aus dem Notharmenetat von Muri gestrichen worden, ergebe sich, daß sie an ihrem lezten Wohnsiz nicht i n d a u e r n d e r W e i s e der öffentlichen Wohlthätigkeit zur Last fallen sollen. Die Bedingung in Lemma 4 von Art. 45 der Bundesverfassung für die Verweigerung der Niederlassung treffe also nicht zu. Sie haben daher Anspruch auf freies Niederlassungsrecht, und es bestimme sich demgemäß ihr gesezlicher Wohnsiz nach demjenigen des Familienhauptes in Oberwichtrach.

Der Bundesrath trat jedoch mit Beschluß vom 20. Februar 1877 auf diese Beschwerde nicht ein. Gründe : 1) Das bernische Gesez über Aufenthalt und Niederlassung der Kantonsbürger vom 17. Mai 1869 stellt in § 8 den Grundsaz auf,

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daß der Wohnsiz des Familienhauptes (des Vaters oder der Mutter), vorbehaltlich die Bestimmung von § 16, auch derjenige der einzelnen Familienglieder sei, so lange sie unter seiner Gewalt stehen, und bestimmt in litt, e des gleichen § 8 des Nähern, daß im Falle der Wiederverehelichung der Mutter ihre minderjährigen, ehelichen und unehelichen, Kinder den Wohnsiz des Ehemannes erlangen.

§ 16 schreibt dann aber vor, daß keine auf einem Notharmenetat stehende Person einer andern Gemeinde nur Versorgung zugebracht oder zugewiesen werden dürfe, und daß bei Streichung einer minderjährigen Person vom Notharmenetat die Bestimmungen von § 8 nicht Anwendung finden, sondern daß dieselbe ihren bisherigen Wohnsiz behalte.

2) Gemäß dieser leztern Vorschrift behalten die zwei Jüngern Kinder Hadorn, welche in Muii auf dem Notharmenetat standen, den gesezlichen Wohnsiz in dieser Gemeinde bei, obwohl ihr Stiefvater die Niederlassung in Oberwichtrach hat. Sie müssen daher, im Falle der letztere sie nicht zu unterhalten vermag, von Muri armenrechtlich unterstüzt werden. Dagegen haben laut dem Berichte der Regierung von Bern die beiden andern Kinder, die in Muri nicht auf dem Notharmenetat standen, sondern dort lediglich aus dem Armengut der Gemeinde unterstüzt werden mußten, in Folge der Wiederverehelichung ihrer Mutter mit dieser den gesezlichen Wohnsiz in Muri verloren und denjenigen ihres Stiefvaters in Oberwichtrach erworben.

3) Was nun die zwei Jüngern Kinder betrifft, so handelt es sich gar nicht um eine Frage des Erwerbes oder der Verweigerung dei* Niederlassung ; auch sind diese Kinder, weil minderjährig, nicht befähigt, für sich persönlich eine eigene Niederlassung zu haben.

Vielmehr handelt es sich blos darum, welche der beiden genannten Gemeindea mit Bezug auf sie unterstüzungspflichtig sei. Diese Frage entscheidet sich aber lediglich nach den kantonalen Vorschriften über das Armenwesen, in welches den Bundesbehörden keine Einmischung zusteht.

7. Der Artikel 391 des Qrner Landbuches schreibt vor, daß Niemand auf den A l p e n E n n e t m ä r c h t (U r n erb öd en) und zu Niedersurenen länger als bis Weihnachten haushäblich sich aufhalten dürfe. Die Widerhandelnden sollen nach dem gleichen Artikel durch die Amtsleute abgeholt und zur Strafe gezogen werden.

Dieser Artikel ist zwar im Jahre 1872 von der
Bezirksgemeine von Uri aufgehoben, allein im Mai 1877, auf den Antrag der Gemeinderäthe von Spiringen und Unterschächen, wieder in Kraft erklärt worden, angeblich um der Forderung des Art. 27 der

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Bundesverfassung, betreffend den Primarunterricht der Kinder der auf dem Urnerboden wohnenden Familien besser genügen zu können.

Im Laufe der Zeit hatte sich nämlich eine ziemliche Anzahl von Urnerbürgern auf der genannten Alp angesiedelt, indem sie kleine Häuser, mit Stallungen, Speichern etc. bauten und während des ganzen Jahres daselbst wohnten. In Folge der Wiederherstellung von Art. 391 des Landbuches sollten aber diese Familien in das Thal hinabziehen und ihre Wohnungen während der Winterszeit verlassen. Sie suchten daher bei dem Bundesrathe um Schuz nach, indem sie geltend machten, daß der Art. 391 des Landbuches mit Art. 45 der Bundesverfassung im Widerspruche stehe. Der Grund und Boden, worauf ihre Häuser stehen, sei ihnen oder ihren Vorbesizern von der Bezirksgemeinde gegen Bezahlung oder als Schenkung theils zu Eigenthum, theils miethweise bewilligt worden.

Sie können daher nicht gegen ihren Willen daraus vertrieben werden. Dem neuesten Beschluß der Bezirksgemeinde .liege lediglich dei' Eigennuz der reicheren Genossen zu Grunde, die befürchten, daß die auf dem Urnerboden wohnenden Korporationsgenossen die Weide früher benuzen könnten als sie.

Der Bezirksrath von Uri behauptete dagegen, der Betrieb der Allmenden sei durch besondere Korporationsverordnungen geordnet.

Allein es seien damit keine Rechte oder Privilegien für Bürger O O oder Einwohner des Bezirkes Uri auf Grund und Boden der Alp Urnerboden geschaffen worden. Diese Alp sei in ihrem ganzen Umfange Korporationseigenthum und es seien nur spezielle Bewilligungen zum Zweke des zeitweisen Alptriebes ertheilt worden ; der Grund und Boden .sei aber immer Korporationsgut geblieben.

Eine solche Konzession zur Benutzung der Allmend gebe jedoch kein Recht zu freier Niederlassung im Sinne von Art. 45 der Bundesverfassung. Dieß folge insbesondere aus den Bedingungen, welche nach bestehender Verordnung mit der Bewilligung zur Errichtung einer Baute verbunden seien. Hiernach sei ein auf dem Korporationseigenthum erstelltes Gebäude durchaus kein freies Eigenthum. Solche Bauten seien nur zum Zweke der Alpenwirthschaft konzedirt worden, und ihre Benuznng sei daher dem Art. 391 des Landbuches unterstellt. Die Korporationsgenossenschaft des Bezirkes Uri sei kompetent, über die Benuzung der ihr eigentümlich zugehörigen Alpen maßgebende Vorschriften
aufzustellen. Nach Art. 3 und 43 der Bundesverfassung sei eine Einmischung der Bundesbehörden in dieses Verhältniß unstatthaft.

Der Bundesrath erledigte diese Beschwerde unterm 23. Oktober 1877 im Sinne der folgenden Erwägungen:

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1) Die Frage, ob die Rekurrenten auf dem Urnerboden (Ennetmärcht) während der Winterszeit mit ihren Haushaltungen wohnen dürfen, stellt sich in erster Linie als eine p r i v a t r e c h t l i c h e dar, indem auf der einen Seite die Rekurrenten entweder auf eigenthümlichen Besiz an ihren Häusern und Wohnungen sich stüzen und dafür Kaufbriefe, Eintragungen in den öffentlichen Grundbüchern etc. anrufen, oder wenigstens unbeschränkte (mieth- oder pachtweise übertragene) Wohnunggrechte in Anspruch nehmen, während andererseits die Bezirkskorporation behauptet, daß den Rekurrenten nur das beschränkte Recht eingeräumt worden sei, auf der A l l m end (Al p w e i d e der Korporation) z u m Z w e k e der S o m m e r u n g des V i e h e s und zum Aufenthalte während des Sommers Häuser und Hütten zu erstellen. Diese privatrechtliche Frage kann daher nur durch den zuständigen Zivilrichter entschieden werden.

2) Dagegen sind die Rekurrenten in ihrem Besize so lange zu schüzen, als nicht eine richterliche Verfügung gegen sie vorliegt, und es ist daher ihre Wegweisung von dem Urnerboden während der Winterszeit nicht statthaft. Die in dem Beschlüsse der Bezirkskorporation vom 10. Mai angeführte und dem Art. 27 der Bundesverfassung entnommene Begründung ihres Entscheides ist nicht stichhaltig, indem dieser Artikel nicht die Tragweite haben kann, spezielle Grundrechte der Schweizerbürger, wie dasjenige der freien Niederlassung an j e d e m O r t e (Art. 45 der Bundesverfassung), aufzuheben oder zu schmälern, zumal den urnerischen Schulbehörden andere und ausreichende Zwangsmittel zu Gebote stehen, den regelmassigen Schulbesuch der schulpflichtigen Kinder auf dem Urnerboden zur Winterszeit zu sichern.

c. R ü k h a l t u n g von Legitimationspapieren.

° 8. Die Eheleute Ferdinand L e u b i n und Elisabeth geb.

Staufinger von Schupfart, Kantons Aargau, waren in Basel niedergelassen und hatten einen gemeinschaftlichen Heimatschein deponirt.

Nachdem sie aus Basel weggezogen, nahmen sie getrennt Wohnsiz.

Frau Leubin reklamirte nun den Heimatschein von Basel, allein es wurde ihr nicht entsprochen, weil der Ehemann Leubin dort wegen Polizei vergehen zu zwei Wochen Gefänarniß verurtheilt und der o ~ Heimatschein in Folge seiner Flucht polizeilich sequestrirt worden sei. Die Verweigerung der Aushingabe sei unter diesen
Umständen auch gegenüber der Frau gerechtfertigt. Leztere beschwerte sich hierüber, allein mit Rüksicht auf die erwähnten Thatsachen waren wir nicht in der Lage, die Behörden von Basel zur Herausgabe

489

des Heimatscheines anzuhalten, indem die Strafjustiz Sache der Kantone sei und deren Anwendung gegen Verdächtige, resp. die Vollziehung der Strafen gegen Verurtheilte durch die Bundesbehörden nicht erschwert oder unmöglich gemacht werden dürfe.

Wir fügten bei, es bleibe nichts Anderes übrig, als daß Frau Leubin an ihren heimatlichen Gemeinderath sich wende, und unter Berufung auf die vorliegenden Thatsachen die Ausstellung eines neuen Heimatscheines auf ihren eigenen Namen bewirke, wozu die aargauischen Behörden sich ohne Zweifel bereit finden werden, nachdem ihnen bekannt geworden, daß der erste Heimatschein in polizeilichen Händen zu Basel liege und somit kein Mißbrauch damit getrieben werden könne. (2. Oktober.)

9. Dagegen gab unser Justiz- und Polizeidepartement über die Anfrage, ob eine bernische Gemeinde berechtigt sei, Legitimationspapiere zurükzuhalten, so lange die Person, auf deren Namen sie lauten, eine rükständige Einlage in die Krankenkasse nicht bezahlt habe, seiue Meinung dahin ab, daß im Hinblik auf die hier maßgebenden Entscheide der Bundesversammlung über den Rekurs Weber (Bundesbl. 1875, II, 667) und über den Rekurs der Regierung des Kantons Aargau in Sachen Schmid (Bundesbl. 1876, I, S. 115, 740 und 969), die Rükhaltung von Ausweisschriften auch wegen schuldigen Beiträgen an Krankenkassen und ähnlichen Forderungen als unzulässig erscheinen müsse. (4. Juni 1877.)

d. A u f e n t h a l t s b e w i l l i g u n g .

10. In die Beschwerde gegen die j ä h r l i c h e E r n e u e r u n g d e r A u f e n t h a l t s b e w i l l i g u n g wurde nicht eingetreten, weil durch die Bundesverfassung nur die N i e d e r l a s s u n g geordnet, bezüglich der Aufenthalter daher bis zum Erlaß des Bundesgesezes die kantonale Gesezgebung maßgebend sei. (7. Februar 1-877.)

Es wird übrigens diese Frage in Folge einer Weiterziehung unsers Entscheides vom 2. Oktober 1877 in Sachen F r i e d r i c h S c h w a n d e r von Langnau, Kantons Bern, wohnhaft in Brünisried, Kantons Freiburg, und Genossen, der Bundesversammlung zum Entscheide vor^ele^t werden.

4. G e w e r b e f r e i h e i t.

11. D i e D i r e k t i o n d e r B a n k i n Z ü r i c h rekurrirte gegen die Verfassungsmäßigkeit eines am 15. April 1877 vom

490 zürcherischen Volke angenommenen Gesezes betreffend die Ausgabe von Banknoten und verlangte, daß dasselbe, weil mit Artikel 31 und 39 der Bundesverfassung, sowie mit § 21 der Verfassung des Kantons Zürich im Widerspruche stehend, aufgehoben werden möchte. Sie machte zu diesem Ende zwei Rekurse anhängig, den einen bei dem Bundesgerichte gegen die Verlegung der Kantonsverfassung und den andern bei dem Bundesrathe gegen die Verlezung der Bundesverfassung. Damit wurde das Zwischengesuch verbunden, daß der Bundesrath die Vollziehung des erwähnten Gesezes, welches mit Neujahr 1878 in Kraft treten sollte, für so lange sistiren möchte, bis die vorliegende Frage, sei es durch den definitiven Entscheid des Rekurses, oder sei es durch ein neues Bundesgesez über das Banknotenwesen ihren Abschluß gefunden habe.

Was die Behandlung dieses Zwischengesuches betrifft, so fanden wir, daß nur diejenige Behörde zu dessen Behandlung kompetent sei, welcher auch die Kompetenz über die Hauptsache zustehe.

In dieser leztern Beziehung sprachen wir uns sodann am 17. August 1877 für die alleinige Kompetenz der administrativen Bundesbehörden aus und zwar gestüzt auf folgende Gesichtspunkte : 1) Durch Artikel 59, Ziffer 3, des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 sind Beschwerden, welche sich auf Artikel 31 der Bundesverfassung 'betreffend die Handels- und Gewerbefreiheit beziehen, als Administrativstreitigkeiten erklärt und zur Erledigung dem Bundesrathe, beziehungsweise der Bundesversammlung, zugewiesen. Der Umstand, daß gemäß dem gleichen Artikel 59, litt.' a, des erwähnten Bundesgesezes die Frage über Verlezung solcher Rechte, welche durch die Verfassung eines Kantons gewährleistet sind, in die Kompetenz des Bundesgerichtes fallen, ändert hieran nichts, weil diese allgemeine Vorschrift durch die Spezialbestimmung in Ziffer 3 beschränkt ist.

2) Durch Ziffer 8 von Arttikel 59 des Bundesgesezes über die Organisation der ' Bundesrechtspflege sind-Beschwerden über die Anwendung des in Artikel 39 der Bundesverfassung vorgesehenen Bundesgesezes betreffend die Ausgabe und die Einlösung von Banknoten ebenfalls in die Kompetenz der administrativen Bundesbehörden gelegt. Es besteht nun allerdings zur Zeit noch kein solches Bundesgesez, aber in Artikel 39, Lemma 2, der Bundesverfassung ein Grundsaz, welcher jedenfalls durch das kommende Bundesgesez nicht geändert werden darf und jezt schon als bestimmte und klare Vorschrift Vollziehung linden

491

muß, dahin lautend, daß der Bund keinerlei Monopol für die Ausgabe von Banknoten aufstellen und ebenso keine Rechtsverbindlichkeit für die Annahme derselben aussprechen dürfe. Es kann daher im Sinne von Artikel 2 der Uebergangsbestimmungen zu der neuen Bundesverfassung keinem Zweifel unterliegen, daß diese Bestimmung mit der Annahme der Bundesverfassung in Kraft getreten und jezt schon durch den Bundesrath in Vollziehung zu sezen ist.

Das Bundesgericht erklärte, daß es mit unserer Anschauung vollkommen einig gehe und demnach die Beurtheilung der bei ihm anhängig gemachten Beschwerde bis zur Erledigung des bei uns anhängig gemachten Rekurses verschiebe, sowie auch vom Erlaß «iner provisorischen Verfügung behufs Sistirung des angefochtenen zürcherischen Gesezes absehen werde.

In Folge dessen und nach dem üblichen Schriftenwechsel fanden wir am 3. Dezember 1877, es stehe das erwähnte Gesez des Kantons Zürich im Widerspruche mit Art. 31 und 39 der Bundesverfassung, und erklärten dasselbe als aufgehoben.

Bekanntlich ist dieser Entscheid von der Regierung des Kantons Zürich an die Bundesversammlung gezogen worden, welche am 14. Februar 1878 in Bestätigung unseres Beschlusses diesen Rekurs abgewiesen hat. Die bezüglichen Aktenstüke sind gedrukt im Bundesblatt 1877, Bd. IV, S. 770, und 1878, Bd. I, S. 170.

12. Ein ähnlicher Rekurs wie der vorstehende wurde von der B a n k k o m m i s s i o n d e r B a n k i n St. G a l l e n u n d von d e m V e r w a l t u n g s r a t h e d e r T o g g e n b u r g er B a n k in Lichtensteig anhängig gemacht, indem sie die Aufhebung des Gesezes des Kantons St. Gallen, betreffend die Besteuerung der Banknotenemission von Privatbanken im Kanton St. Gallen, welches am 6. Juni 1877 erlassen und am 27. Juli 1877 in Kraft erklärt worden war, verlangten, weil: a. dieses Gesez in verfassungswidriger Weise entstanden und zur Promulgation gelangt sei, und b. dasselbe seinem Inhalte nach dem durch die Bundesverfassung garantirten Grundsaze der Gewerbefreiheit widerspreche.

Beide Bankverwaltungen gaben ebenfalls denselben Rekurs gleichzeitig dem Bundesgerichte ein, und wir überließen diesem die Priorität, damit es zunächst gemäß Art. 59, litt, a, des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege darüber entscheide, ob das fragliche Gesez in verfassungsmäßiger Weise entstanden sei. Das Bundesgericht erklärte sich hiemit einverstanden, und faßte am 10. November 1877 denjenigen Entscheid, welcher

492

in der amtlichen Sammlung des Schweiz. Bundesgerichtes Bd. III., S. 693 abgedrukt, ist. Es wurde der Rekurs gegen die Verfassungsmäßigkeit des erwähnten Gesezes begründet erklärt und daher der Beschluß des St. Galler Regierungsrathes vom 27. Juli 1877. durch welchen dasselbe in Kraft erklärt worden, aufgehoben.

Unterm 25. Februar 1. J. erneuerten die beiden Bankverwaltungen in St. Gallen und Lichtensteig den Rekurs bei uns, indem das St. Gallische Gesez vom 6. Juni 1877 am 30. November gì. J. neuerdings publizirt und nach unbenuztem Ablauf der Einsprachefrist am 4. Januar 1878 von der Regierung als am 31. Dezember 1877 in Kraft erwachsen erklärt worden war.

13. Da diese Frage mit Rüksicht auf die suspendirte bezügliche Bundesgesezgebung von einer gewissen Wichtigkeit sein dürfte, erwähnen wir noch, daß im März laufenden Jahres auch d e rV e r w a l t u n g s r a t h d e r B a n k f ü r G r a u b ü n d e n einen Rekurs gegen das Gesez des Kantons Graubünden, betreffend die Ausgabe von Banknoten, vom 21. Dezember 1877 eingereicht hat.

5. G l a u b e n s -

und Gewissensfreiheit.

14. Der Franzose T h. Si r dey in Genf schloß am 1. November 1874 (Allerheiligen) mit dem Direktor der Dynamitfabrik von Isleten, Kantons Uri, einen Vertrag, womit ihm die Lieferung von Dynamit während mehreren Jahren zu bestimmten Preisen zugesichert und das ausschließliche Recht zum Verkaufe desselben in einigen Kantonen eingeräumt wurde. Dieser Vertrag kam während einiger Zeit zur Vollziehung, allein die gegen Ende des Jahres 1874 zusammengetretene Generalversammlung der Gesellschaft genehmigte ihn nicht, weßhalb Sirdey bei den Gerichten des Kantons Uri gegen die Dynamitgesellschaft von Isleten auf Erfüllung des Vertrages und auf Bezahlung einer Entschädigung klagte. Die beklagte Gesellschaft erhob die Einrede, daß ihr Direktor nicht bevollmächtigt gewesen sei, den Vertrag in einer für sie verbindlichen Weise abzuschließen. Uebrigens sei derselbe nichtig,' weil der Art. 175 des Urner'schen Landbuches verlezt worden sei. Die erste Instanz bejahte die Klagbegehren; das Kantonsgericht von Uri dagegen wies sie ab, weil der Direktor die Gesellschaft nicht habe verpflichten können und weil nicht bewiesen sei, daß die Gesellschaft den Vertrag stillschweigend anerkannt habe. In Erwägung 4 wurde sodann wörtlich gesagt: ,,daß überhin Art. 175 des Landbuches jede Art Handel und Vertrag bei deren Ungültigkeit an Sonn- und Feiertagen verbietet".

493 Hr. Sirdey führte Beschwerde bei dem Bundesrathe und stellte das Gesuch, daß das Urtheil des Kantonsgerichtes von Uri aufgehoben werden möchte, weil der Art. 175 des Urner Landbuches an sich, ganz besonders aber die Auslegung, welche ihm in diesem Urtheile gegeben worden, im Widerspruch stehe mit der durch Art. 31 der Bundesverfassung gewährleisteten Freiheit des Handels und der Gewerbe, sowie mit der im Art. 49 der Bundesverfassung gewährleisteten Glaubens- und Gewissensfreiheit, und mit dem dort aufgestellten Grundsaze, daß die Ausübung bürgerlicher oder politischer Rechte durch keinerlei Vorschriften oder Bedingungen kirchlicher oder religiöser Natur beschränkt werdea dürfe. Diesen leztern Grundsaz habe der Bundesrath bereits in seinem Entscheid über den Rekurs der Dorfkorporation von Buochs vom 6. Oktober 1875 (ßundesblatt 1876, Band H, Seite 272) in gleichem Sinne angewendet.

Das Kantonsgericht von Uri glaubte dagegen, daß die erwähnten Vorschriften der Bundesverfassung durch das Motiv 4 des Urtheils keine unzulässige Beschränkung erleiden, indem die Kantone auch jezt noch berechtigt seien, zur Heiligung und Ruhe der Sonnund Feiertage die nöthigen polizeilichen Verfügungen zu treffen.

Uebrigens sei der Art. 175 des Landbuches für das Urtheil nicht entscheidend gewesen, vielmehr bilden die vorangehenden Erwägungen die Hauptgrundlage des Entscheides; auch ohne das lezte Motiv wäre das Urtheil nicht anders ausgefallen.

Der Bundesrath hob mit Beschluß vom 8. Januar 1877 das Urtheil des Kantonsgerichtes auf unter folgender Begründung: 1) Durch Art. 59, Ziffer 3 und 6 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874 sind Beschwerden betreffend Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 31 der Bundesverfassung), sowie betreffend Glaubens- und Gewissensfreiheit und die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen (Art. 49, 50 und 51 der Bundesverfassung) als Administrativstreitigkeiten erklärt, welche nach Maßgabe von Art. 85, Ziff. 12, und Art. 102, Ziff. 2 der Bundesverfassung dem Bundesrathe, beziehungsweise der Bundesversammlung, zum Entscheide zugewiesen sind. Der Bundesrath erscheint daher im Spezialfalle zum Entscheide darüber kompetent, ob das Urtheil des Kantonsgerichtes Uri vom 9. und 10. August 1876, soweit darin der Art. 175 des Urner Landbuches zur Anwendung
gebracht wurde, im Widerspruch stehe mit den Art. 31 und 49 der Bundesverfassung.

2) Dieser Art. 175 des Landbuches von Uri, unter dem Titel ,,Verträge, Käufe um Güter und Vieha, lautet wie folgt :

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,,Kein Vertrag noch Beding, so einem Landesgesez oder oberkeitlichen Verordnung zuwiderläuft, oder dieselbe entkräftet, solle gelten: sondern solche Verträge oder Bedinge sind ungültig und kraftlos.

,,Auch sind alle mit Minderjährigen und Bevogteten ohne Willen der Eltern oder Vormünder geschlossenen Käufe und Verträge ungültig. Es ist auch alles Kaufen und Markten an Sonnund Feiertagen, an denen die Arbeit nicht erlaubt ist, bei fi. ÌO Buße verboten und sollen die an solchen Tagen geschlossenen Käufe und Märkte ungültig sein."3) Wenn der Urnerische Richter obige Bestimmung des Landbuches ganz, allgemein auf den Abschluß von Rechtsgeschäften anwendet, ohne daß die Form und die äußern Verumständiguugen, unter denen der Abschluß stattfindet, zur Sonntagspolizei in Beziehung stehen, und darauf gestüzt die Nichtigkeit eines Vertrages ausspricht, so geli t er allerdings über die zur Unterstüzung und Handhabung der äußern Sonntagsruhe nöthigen staatlichen Verordnungen hinaus und beschränkt, im Widerspruche mit Art. 49, Absaz 4 der Bundesverfassung, die Ausübung eines bürgerlichen Rechts (Vertragsfreiheit handlungsfähiger Personen) durch eine Vorschrift, die lediglich einer kirchlichen oder religiösen Idee entnommen ist.

4) Nach vorstehender Erwägung ist nicht mehr nülhig, in die Untersuchung der weitern Frage einzutreten, ob das Urlheil des Kantonsgerichtes Uri vom 9. und 10. August 1876 das in Art. 31 der Bundesverfassung garantirte Prinzip der Handels- und Gewerbefreiheit verlezt oder nicht.

5) In dem kantonsgerichtlichen Urtheile sind allerdings für die Abweisung der Klage des Rekurrenten Sirdey noch weitere Motive aufgeführt, allein es ist demselben nicht mit Sicherheit zu entnehmen, ob der Richter auch ohne das in obiger Erwägung 4 als inkonstitutionell dargestellte Motiv zum gleichen Schlüsse gelangt wäre.

15. H e r m a n n B ü h l er in Altishofen, Kantons Luzeru, wurde bei dem Statthalteramte Willisau angeklagt, weil er in seiner Bierbrauerei Sonntags habe arbeiten lassen. Er beschwerte sich bei der Regierung des Kantons Luzern und stellte das Gesuch, daß ihm bewilligt werden möchte, an Sonn- und Feiertagen seinen Beruf, ohne Störungen der Kultushandlungen in der Kirche und ohne Aufsehen, auszuüben. Die Regierung lehnte jedoch, unter Berufung auf § 141 des luzernerischen Polizeistrafgesezbuches, dieses Gesuch ab, weil. Petent die Dringlichkeit der von ihm vorzunehmenden Arbeiten nicht nachgewiesen habe.

495 Der Rekurs des Herrn Bühler an den Bundesrath wurde am 14. August 1877 ebenfalls abgewiesen. Gründe: 1) Der § 141 des Polizeistrafgesezes des Kantons Luzern, wonach alle Arbeiten in Werkstätten und auf dem Lande an Sonnund hohen Festtagen ohne vorhandene Dringlichkeit verboten sind, hat bloß die Sicherung der äußern Sonntagsruhe zum Zweke. Eine derartige Maßregel verlezt die individuelle Glaubensfreiheit des Einzelnen nicht ; ihr liegt ebensogut eine soziale Bedeutung zu Grunde, wie denn auch die Bundesgesezgebung die Vorschrift aufnahm , daß die Angestellten der Eisenbahnen und anderer vom Bunde konzedirten oder von ihm selbst betriebenen Transportanstalten an gewissen Feiertagen nicht zum Dienste angehalten werden können.

2) Immerhin ist von der Erklärung der Regierung des Kantons Luzern Akt zu nehmen, daß die Arbeiten an Sonn- und Festtagen bei vorhandener und glaubhaft gemachter Dringlichkeit gestattet werden, und abzuwarten, ob der Rekurrent wegen Arbeiten an einem Sonn- oder Festtage überhaupt bestraft werde. Dies ist bisdahin nicht geschehen. Er verlangte von der Regierung von Luzern lediglich eine unbedingte Arbeitserlaubniß, welche ihm angesichts von § 141 des Polizeistrafgesezes nicht gegeben werden konnte.

6. S t i m m r e c h t und W a h l a n g e l e g e n h e i t en.

16. Die Regierung des Kantons Aargau kassirte die W a h l des G e m e i n d e s c h r e i b e r s von Arni-Islisberg, weil der Gewählte blos 21 Jahre alt sei, während der Art. 4 der Verfassung ein Alter von 24 Jahren fordere. Der Gemeinderath beschwerte sich über diesen Entscheid. Wir fanden jedoch, daß wir nicht kompetent seien, darauf einzutreten, weil keiner der in Art. 59 des Bundesgesezes über die Organisation der Buudesrechtspflege den Administrativbehörden des Bundes vorbehaltenen Fälle hier vorliege, indem Ziff. 9 dieses Artikels auf k a n t o n a l e Wahlen sich beziehe und hier weniger die G ü l t i g k e i t einer Wahl, als vielmehr die p a s sive W a h l f ä h i g k e i t eines Bürgers in Frage liege. Wenn der Gcmeiudorath glaube, daß der Entscheid der Regierung des Kantons Aargau mit der Kantonsverfassung im Widerspruche stehe, so wäre nach dem gleichen Art. 59, litt, a das Bundesgericht kompetent, hierüber zu entscheiden. (12. März 1877.)

17. Eine ähnliche Beschwerde bezog sich auf die K a s s a t
i o n d e r W a h l e i n e s G e m e i n d e a m m a n n s durch die Regierung des Kantons Aargau, weil der Gewählte eine Wirthschaft betreibe, Bimdesblatt. 30. Jahrg. Bd. II.

34

496 während das Gesez über die Gemeindeorganisation vom 26. November 1841 vorschreibe, daß der Gemeindeammann weder selbst eine Wirthschaft ausüben, noch in einem Hause wohnen dürfe, in welchem eine Wirthschaft betrieben werde. Der Rekurrent glaubte, daß diese Vorschrift mit Art. 4 und Art. 31 der Bundesverfassung, sowie mit Art. 4 der Kantonsverfassung im Widerspruche stehe, und daß der Widerspruch mit der Bundesverfassung von dem Bundesrath> derjenige mit der Kantonsverfassung dagegen von dem Bundesgerichte zu prüfen und zu entscheiden sei.

Wir lehnten aus den im vorhergehenden Falle erwähnten Gründen unsere Kompetenz ab, und verwiesen den Rekurrenten in gleichem Sinne an das Bundesgericht. Zu dem gleichen Resultate führte uns auch die Erwägung, daß der Art. 31 der Bundesverfassung hier gar nicht in Betracht falle, weil es sich weder um die Entziehung, noch um die Beschränkung des Rechtes zum Wirthschaftsbetriebe handle. (14. März.)

18. Herr Großrath N i k i a u s Frei und eine Anzahl anderer Einwohner des Gerichtskreises Willisau, Kantons Luzern, beschwerten sich, weil die Regierung dieses Kantons die von ihnen verlangte Kassation mehrerer im Juni und Juli 1877 in diesem Gerichtskreise stattgefundener Richterwahlen abgelehnt habe, obgleich bei den Abstimmungen die Kantonsverfassung verlezt worden sei.

Wir lehnten jedoch am 5. Oktober 1877 unsere Intervention ab, weil nach konstanter Praxis die in Art. 59, Ziff. 9 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege vorgesehenen Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen erst dann bei dem Bundesrathe angehoben werden können, wenn die zuständigen kantonalen Behörden entschieden haben, während dieses hier nicht der Fall sei, indem nach § 51 der Luzerner Verfassung gegen die Entscheide der Regierung, welche sie in Anwendung von § 109 des Organisationsgesezes über Verwaltungsstreitigkeiten in Bezug auf Fragen betreffend die Stimmund Wahlfähigkeit eines Bürgers und betreffend die Gültigkeit von Wahl Verhandlungen erlassen habe, ü b e r a l l da, wo F r a g e n n ber V e r l e z u n g der V e r f a s s u n g in B e t r a c h t k o m m e n , die Beschwerdeführung an den Großen Rath vorbehalten sei.

19. Auf eine Beschwerde ähnlicher Art von Seite des G e m e i n d e rat h es S t a b b i o , Kantons Tessin, gegen
den Entscheid des Großen Rathes, womit die am 5. November 1876 und 11. Januar 1877 stattgefundenen Erneucrungswahlen von Mitgliedern des Gemeindernthes aufgehoben worden waren, ist dagegen aus dem andern Grunde nicht eingetreten worden, weil dabei nicht verfassungs-

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mäßig gewährleistete Rechte, sondern bloße Verlezungen kantonaler Geseze in Frage kamen und der Entscheid über die richtige Anwendung der Geseze ausschließlich den kantonalen Behörden zustehe. (19. Dezember 1877.)

20. Am 7. Januar 1877 fanden im Kanton Zug die Erneuerungswahlen des Kantons- und des Regierungsrathes, sowie der Friedensrichter statt. In der G e m e i n d e B a a r wurden an diesem Tage acht Kandidaten für den Kantonsrath und der Friedensrichter, sowie dessen Suppléant als gewählt erklärt. Die konservative Partei erhob jedoch Einsprache, in Folge welcher die Regierung verfügte, daß für die weitern Wahlen zehn Falliten, als nicht stimmberechtigt, vom Stimmregister zu streichen seien. Die Nachwahlen fanden am 4. Februar 1877 statt, wobei das Bureau die noch restirenden 7 Wahlen in den Kantonsrath als zu Stande gekommen erklärte. Es erfolgten indeß auch gegen diese Wahlen Einsprachen, weil die zehn Falliten und noch einige andere nicht stimmberechtigte Personen im Stimmregister nicht gestrichen worden seien.

Der Kantonsrath kassirte die Wahlen vom 4. Februar, weil das Resultat derselben in Folge unrichtiger Führung des Stimmregisters als ungewiß und zweifelhaft erscheine. Bezüglich der Wahlen vom 7. Januar erklärte er, daß 14 Personen an der Zahl der Votanten abgezogen werden müssen, indem diese gemäß § 25 der Kantonsverfassung nicht stimmberechtigt seien, und zwar 8 als Konkursiten (3 Zürcher, 4 Luzerner und l Aargauer), 3 Zürcher und Sehwyzer wegen Almosengenössigkeit, l Luzerner wegen zu kurzer Dauer seiner Niederlassung, l Sehwyzer wegen Mangel eigener Niederlassung und ein Bürger von Baar, weil er in einer andern Gemeinde wohnhaft sèi. Nach Abrechnung dieser 14 Stimmen erklärte der Kantonsrath, daß die Wahlen von drei Kantonsräthen und diejenige des Ersazmannes des Friedensrichters nicht zu Stande gekommen seien.

Gegen diese Beschlüsse rekurrirlen sowohl der E i n w o h n e r r a t h von B a a r , als auch 12 jener Bürger, welche als nicht stimmberechtigt erklärt worden waren, an den Bundesrath. In ihrer Vernehmlassung beschränkte sich die Regierung des Kantons Zug darauf, die Legitimation des Einwohnerrathes von Baar und im Weitern die Kompetenz des Bundesrathes zu bestreiten und die Ansicht zu begründen, daß nach Art. 45 der Kantonsverfassung dem Kantonsrath der endgültige Entscheid über die Vollmachten seiner Mitglieder zukomme. Sie beantragte daher die Abweisung des Rekurses.

498 Der Bundesrath entschied am 24. August 1877 im Sinne folgender Erwägungen: A. b e t r e f f e n d d i e K o m p e t e n z f r a g e .

1) Nach Art. 59, Ziff. 5 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege sind alle Streitfragen, welche aus den in Art. 43 der Bundesverfassung aufgezählten Rechten der Niedergelassenen entspringen, als Administrativstreitigkeiten erklärt und in die Kompetenz des Bundesrathes, beziehungsweise der Bundesversammlung gelegt.

2) Zu den in Art. 43 der Bundesverfassung aufgezählten Rechten der Niedergelassenen gehört auch das ihnen zugesicherte Stimmrecht in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten nach einer Niederlassung von drei Monaten. Nachdem aber der Kantonsrath von Zug mehreren Schweizerbürgern, welche in Baar niedergelassen sind, aus verschiedenen Gründen dieses Stimmrecht abgesprochen hat, so fällt der Entscheid über die bezügliche Beschwerde in die Kompetenz des Bundesrathes. (Siehe auch die übereinstimmende Ansicht des Bundesgerichtes in Sachen Nessi: B. Bl. 1876, Bd. II, S. 259, Nr. 3.)

3) Aehnlich verhält es sich bezüglich der Beschwerde über die Gültigkeit einiger gemäß Art. 41 der Verfassung des Kantons Zug in der Gemeinde Baar stattgefundener Wahlen in den Kantousrath.

Nachdem die oberste Behörde des Kantons Zug hierüber entschieden hat, ist gegen diesen Entscheid gemäß Ziff. 9 von Art. 59 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege ein Rekurs an den Bundesrath ohne Zweifel statthaft, und es ist dieser demnach kompetent, über eine solche Beschwerde Beschluß zu fassen. Der Gesezgeber war auch mit dieser Ansicht vollkommen einverstanden, indem er in der erwähnten Ziffer 9 wörtlich den Vorschlag des Bundesrathes zu dem Bundesgeseze über die Organisation der Bundesrechtspflege genehmigte, und somit der hiezu gehörigen Begründung des Bundesrathes beistimmte, wonach ,,die Rekurse, welche sich auf kantonale Wahlen und Abstimmungen beziehen, weil diese einen eminent politischen Charakter haben", als Administrativstreitigkeiten erklärt werden sollten. (Siehe Entwurf des Bundesrathes Art. 53, Ziff. 8 und dazu gehörige Botschaft: B. Bl. 1874, Bd. I, S. 1079 und 1096.)

4) Im Spezialfalle spricht weiter für die Kompetenz des Bundesrathes auch noch die Konuexität der Frage des Stimmrechts der zwölf in Baar niedergelassenen Schweizerbürger mit der Frage der

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Gültigkeit der vom Zugerischen Kantonsrathe aufgehobenen Großrathswahlen, indem die leztern durch das Stimmrecht der erstem bedingt sind. Zudem ist in dem ganz ähnlichen Rekurse in Sachen Nessi die Kompetenz des Bundesrathes zum Entscheide über derartige Fragen ungeachtet des erhobenen "Widerspruches auch von der Bundesversammlung anerkannt worden (B. Bl. 1876, Bd. I, 8. 953 und III, 191).

B. b e t r e f f e n d die L e g i t i m a t i o n Beschwerdeführer.

der

5) Es sind unzweifelhaft alle Stimmberechtigten der Gemeinde Baar bei der Frage, ob die in dieser Gemeinde am 7. Januar und 4. Februar stattgefundenen Wahlen gültig seien oder nicht, direkt betheiligt, somit auch berechtigt, gegen bezügliche Beschlüsse diejenigen Rechtsmittel zu ergreifen, welche die Verfassung und Geseze zulassen, wie denn auch gerade die Gesezgebung des Kantons Zug innerhalb einer bestimmten Frist Jedermann gestattet, auf den Wahlakt bezügliche Reklamationen zu erheben. Es ist daher nicht einzusehen, weßhalb der E i n w o h n e r g e m e i n d e r a t h das jedem einzelnen Bürger zustehende Recht nicht ebenfalls ausüben könnte, sei es für die einzelnen Mitglieder der Behörde, oder sei es als Behörde im Namen der Mehrheit der Gemeindebürger.

6) Was das Beschwerderecht der zwölf Niedergelassenen in Baar betrifft, so anerkennt die Regierung von Zug, daß dieselben im Allgemeinen hiezu legitimirt seien. Es folgt diese Legitimation auch aus dem Umstände, daß ihre eigene Stimmberechtigung bestritten, und daß ein sonst gültiger Wahlakt aus dem Grunde dieser Bestreitung kassirt worden ist.

C. M a t e r i e l l e P r ü f u n g des S t i m m r e c h t s der Ausgeschlossenen.

7) Was zunächst die Frage betrifft, ob die Wirkung des K o n k u r s e s auf das Stimmrecht des Konkursiten nach der Gesezgebung seines Wohnortes, oder nach derjenigen des Konkursortes zu beurtheilen sei, so kann nur das leztere als richtig angenommen werden, weil a. der Entzug des Aktivbürgerrechtes wegen Konkurses als Straffolge eines Deliktes aufgefaßt wird, und sowohl das Vorhandensein, wie auch das Maß der Verschuldung nur durch die

500 Behörden am Orte des Konkurses ermittelt werden können und nach Maßgabe ihrer Gesezgebung geahndet werden müssen ; b. auch die Aufhebung des Konkurses, sowie die allfällig frühere Wiedereinsezung in das Aktivbürgerrecht, durch die Behörde des Konkursortes vollzogen werden müssen; c. in dem Wortlaute von § 25, litt, e der Zugerischeu Verfassung ,,die Falliten bis n a c h e r f o l g t e r R e h a b i l i t a t i o n a , sowie in § 27, der für die Eintragung in das Stimmregister die Beibringung eines Stimmfähigkeitszeugnisses des Gemeinderathes der Heimatgerneinde vorschreibt, diese Gesichtspunkte ebenfalls ihre Anerkennung gefunden haben; d. aus der gegentheiligen Auffassung mannigfache Verwirrungen entstehen müßten, indem ein. Konkursit in seiner Heimat und in einzelnen andern Kantonen gleichzeitig stimmberechtigt sein könnte, in andern dagegen nicht.

8) In Anwendung dieser Grundsäze muß unbedingt anerkannt werden, daß die Zürcher Falliten Salomon Weber, Karl Camenzind und Heinrich Hotz stimmberechtigt seien, indem nach § 18 der Verfassung des Kantons Zürich und § 161 des dortigen Gesezes betreffend das Konkursverfahren, die Einstellung im Aktivbürgerrecht wegen Konkurses nur durch gerichtlichen Entscheid auf die Dauer von l bis 10 Jahren eintritt, und gegen Camenzind und Hotz eine solche Einstellung nicht ausgesprochen ist, und weil Weber nach Ziff. 3 der Uebergangsbestimmungen zu der Zürcherischen Verfassung gegenwärtig durch den Ablauf von mehr als zehn Jahren seit seinem Konkurse das Stimmrecht wieder erworben hat.

9) Bezüglich der Falliten aus dem Kanton Luzern ist der § 27, litt, e, der Verfassung dieses Kantons maßgebend, wonach von der Stimmfähigkeit ausgeschlossen sind: ,,Die Falliten oder solche, die zum Nachtheile ihrer Gläubiger gerichtlich akkordirt haben, sowie diejenigen, welchen ohne Abschluß eines Akkordes die Falliterklärung ist nachgelassen worden, und diejenigen, auf welchen, ohne daß ein Konkurs herbeigeführt wurde, Zahlungsabschläge und Unzahlbarkeitsurkunden haften. -- Alle diese sind ausgeschlossen bis zum Ausweise der Befriedigung ihrer Gläubiger, und die Falliten überhin bis zu ihrer Rehabilitation.tt Hienach und zu Folge der vorliegenden amtlichen Bescheinigungen sind Alois Böllenrücher, Thomas Bosch und Franz Joseph Schmid nicht stimmberechtigt, wohl aber Joseph Fellmann.

501

10) Betreffend Joseph Waltisbühl ist nach dem G-esagten Art.35, ütt. a der Verfassung des Kantons Aargau maßgebend, wonach die Vergeltstagten, so lange sie nicht rehabilitirt sind, von dem Stinimrechte ausgeschlossen bleiben. Da Waltisbühl erst am 5. Februar 1877 rehabilitirt wurde, so war er bei den Wahlen vom 7. Januar und 4. Februar 1877 nicht stimmberechtigt.

11) Was den Ausschließungsgrund wegen A l m o s e n g e n ö s s i g k e i t betrifft, so sind Rudolph Camenzind, Heinrich Hofstetter und Job. Val. Brunner ungerechtfertigt vom Stimmrecht ausgeschlossen worden, weil keiner derselben von seiner Heimatgemeinde persönlich Unterstüzung genießt und daher auch keiner almoseng e n ö s s i g ist. Ueberdem findet der Nachsaz zu litt, d von § 25 der Zugerischen Verfassung auf sie Anwendung, indem das Bedürfniß zur Unterstüzung einzelner ihrer Familienglieder, z. B. wegen Geisteskrankheit, als unverschuldet zu taxiren ist.

12) Was die Ausschließung vom Stimmrechte wegen u n g e n ü g e n d e r Z e i t d a u e r d e r N i e d e r l a s s u n g betrifft, s o ist hergestellt, daß Moritz Dula schon einige Zeit vor dem 9. Oktober 1876 in der Gemeinde Baar gewohnt hat. Diese Thatsache genügt aber vollkommen zum Nachweise, daß derselbe schon am 7. Januar 1877 in Baar stimmberechtigt gewesen sei, da die Verfassung des Kantons Zug nicht eine dreimonatliche Niederlassung fordert, sondern in § 25, Absaz 4, bloß verlangt, daß der Stimmberechtigte wenigstens 3 Monate lang unmittelbar vor der fraglichen kantonalen Wahl oder Abstimmung in der Gemeinde g e w o h n t habe, und in Fällen, wo eine Kantonsverfassung die Niedergelassenen und Aufenthalter günstiger behandelt, als die Bundesverfassung, die erstere der leztern vorgehen muß, indem die Bundesverfassung nur das Minimum der von den Kantonen zu gewährenden Rechte aufstellt.

Franz Feßler muß ebenfalls unbedingt als stimmfähig anerkannt werden, indem rnajorenne ehrenfähige Söhne e i n e s N i e d e r g e l a s s e n e n , so lange sie in gemeinschaftlicher Haushaltung des Vaters leben, in politischer Beziehung dem Vater gleich zu behandeln sind, wie dieses in dem Entscheide des Bundesrathes vom 30. September 1875 in Sachen der Söhne der Niedergelassenen in Romont ausführlich begründet ist. (Bundesblatt 1876, Band IL, Seite 269.)

13) Die Ausschließung des Stephan
Sattler vom Stimmrecht in der Gemeinde Baar erscheint als gerechtfertigt, da nach § 25 Lemma 4 der Verfassung des Kantons Zug ein Stimmberechtigter, welcher aus einer Gemeinde des Kantons in eine andere übersiedelt,

502 wenn bei dem Eintreten einer kantonalen Wahl seit seiner lieberSiedlung noch nicht 3 Monate verflossen sind, sein Stimmrecht für diese Wahl an dem früheren Wohnorte ausüben kann, Stephan Sattler aber laut Zeugniß der Gemeinderathskanzlei Steinhausen am 24. September 1876 seine Schriften auf dem Polizeiamte dieser Gemeinde deponirt hat und daher vom 24. Dezember an vermöge seines Aufenthaltes in Steinhausen stimmberechtigt war.

Gestüzt auf diese Erörterungen wurden die Beschlüsse des Kantonsrathes von Zug vom 26. März und 23. April 1877, soweit dadurch den in obigen Erwägungen als stimmberechtigt anerkannten Personen das Stimmrecht entzogen worden war, aufgehoben und damit die Einladung an den Kantonsrath verbunden, auf Grundlage des obigen Beschlusses in nochmalige Prüfung der Kantonsraths- und Friedensrichterwahlen von Baar einzutreten.

In Folge dessen faßte der Kantonsrath von Zug am 24. Okt.

1877 einen Entscheid, welcher den Einwohnerrath von Baar zu einem neuen Rekurse an uns veranlaßte. Der Entscheid über diesen zweiten Rekurs fällt jedoch in das Jahr 1878.

21. Auch gegen die Gültigkeit der Kantonsrathswahlen in C h a m , welche am 13. Mai 1877 stattfanden, nachdem die erste Abstimmung vom 7. Januar kassirt worden war, wurde Einsprache erhoben, weil im Widerspruch mit § 25, Lemma 3 der Zuger Verfassung mehrere Bürger von Cham zur Abstimmung zugelassen worden seien, welche nicht 3 Monate vorher dort gewohnt haben, sondern nur wenige Tage früher expreß wegen der Wahl von auswärts heim gekommen seien und bald nachher sich wieder entfernt haben.

Die Kommission des Kantonsrathes ermittelte, daß in der That a c h t Wahlmänner nicht während dreier Monate in Cham seßhaft gewesen und daß fünf derselben schon in ihren früheren Wohngemeinden an der Wahl der Kantonsräthe Theil genommen haben. Der Kantonsrath anerkannte indeß gleichwohl auf Grund der bisherigen Interpretation von § 25 der Verfassung die Gültigkeit der Abstimmung.

Gegen diesen Entscheid führten die Herren S t u b e r und R i t t e r in Cham Beschwerde, weil er eine Verlezung des § 25 der Kantons- und der Art. 4 und 60 der Bundesverfassung enthalte, indem die kantonalen Niedergelassenen das gleiche Recht, das den kantonalen Aufenthaltern gewährt werden wolle, beanspruchen und in der Heimatgemeinde stimmen könnten, wenn sie 4 Tage vor der Wahl in dieselbe zuriikkämen und ihre Papiere deponirten.

503 Ein solches doppeltes Stinimrecht sei unstatthaft. -- Auch erscheine das Stimmrecht der Zugerschen Bürger, welche als Aufenthalter auswärts wohnen, in ihrer Heimatgemeinde nicht zulässig, bevor sie wieder 3 Monate in derselben gewohnt haben.

Die Regierung von Zug rechtfertigte den Beschluß des Kantonsrathes wie folgt: Nach Vorschrift von § 25 der Kantonsverfassung werde das Stimmrecht in kantonalen Angelegenheiten auschließlich in den Versammlungen der E i n w o h n e r g e m e i n d e n ausgeübt, an welchen gemäß § 76 der gleichen Verfassung stimmen können : alle stimmberechtigten Gemeindebürger, welche nicht anderswo n i e d e r g e l a s s e n seien, und alle seit 3 Monaten (§ 25) im Sinne des § 27 in das Stimmregister eingetragenen angesessenen Schweizerbürger. Hienach seien die Gemeindebürger, welche anderswo blos als A u f e n t h a l t e r wohnen, in der H e i m a t g e m e i u d e stimmberechtigt. Im Einklänge damit knüpfe auch das zur Ausführung dieses § 76 erlassene Gesez betreffend das Gemeindewesen in § 3, Ziff. 2 das Stimmrecht der Ortsbürger nicht an einen vorgängigen Aufenthalt von 3 Monaten, sondern es genüge, wenn sie 3 Tage vor der Versammlung in die Heimatgemeinde zurükkehren und ihre Schriften abgeben. Dieses Verfahren sei seit dem Inkrafttreten der neuen Kantonsverfassung stets geübt und vom Kantonsrathe anerkannt worden.

Der Bundesrath erklärte jedoch am 11. September 1877 den Rekurs für begründet mit folgender Motivirung: 1) In Art. 59 Abs. 2 und Ziff. 9 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege sind Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen als Administrativstreitigkeiten erklärt, deren Erledigung nach Maßgabe der Art. 85, Ziff. 12 und Art. 102, Ziff. 2 der Bundesverfassung dem Bundesrath e, beziehungsweise der Bundesversammlung zusteht. Es kann hienach über die Kompetenz des Bundesraths zum Entscheide der vorliegenden Beschwerde ein begründeter Zweifel nicht «-alten, wie denn auch von keiner Seite Einsprache dagegen erhoben wurde.

2) Der Bundesrath hat jedoch nach Analogie von litt, a des gleichen Art. 59 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege nur zu prüfen, ob eine Verlezung derjenigen Rechte vorliege, welche einzelnen Bürgern entweder durch die Bundesverfassung und die in Ausführung derselben
erlassenen Bundesgeze, oder durch die Verfassung des betreffenden Kantons gewährleistet sind.

3) Da jedoch die Bundesverfassung über das Stimmrecht der Aufenthalter in kantonalen Angelegenheiten keine Bestimmungen

504 enthält und das in Art. 47 derselben vorgesehene Bundesgesez über die politischen und bürgerlichen Rechte der schweizerischen Aufenthalter noch nicht in Kraft besteht, so sind für den Entscheid der vorliegenden Beschwerde lediglich die Bestimmungen der Verfassung des Kantons Zug maßgebend.

4) Die Verfassung des Kantons Zug enthält in § 25 die hier maßgebenden Vorschriften, daß das politische Stimmrecht bei k a n t o n a l e n Wahlen a u s s c h l i e ß l i c h in der Wohngemeinde ausgeübt werde, und daß ein Stimmberechtigter, um in der Wohngemeinde stimmen zu können, wenigstens drei Monate lang unm i t t e l b a r vor der fraglichen Wahl ,,in der G e m e i n d e gew o h n t u haben müsse. In Uebereinsümmung hiermit ist sodann in Lemma 5 des gleichen § 25 vorgeschrieben, daß ein Stimmberechtigter , welcher aus einer Gemeinde des Kantons in eine andere übergesiedelt ist, das Stimmrecht an dem frühern W o h n o r t e ausüben könne, wenn bei dem Eintreten einer kantonalen Wahl oder Abstimmung seit seiner Uebersiedlung noch nicht drei Monate verflossen sind.

5) Nach diesen ganz klar und expreß für k a n t o n a l e Wahlen und Abstimmungen gegebenen Vorschriften sind alle jene Schweizerbürger, welche am Tage der kantonalen Wahl oder Abstimmung noch nicht drei Monate in einer zugerischen Gemeinde gewohnt haben, an diesem Wohnorte nicht stimmberechtigt.

6) Die §§ 25 und 76 der zugerischen Verfassung dürfen bei dem Entscheide über die Frage, wer bei kantonalen Wahlen und Abstimmungen stimmberechtigt sei, in keiner Weise kumulirt werden , weil nur der § 25 ganz speziell auf dieses Verhältniß sich bezieht, der § 76 dagegen lediglich das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten ordnet, und der umstand , daß die Wahlen der Mitglieder des Kantonsrathes in den Versammlungen der Einwohnergemeinden stattfinden, für das Stimmrecht ganz gleichgültig ist.

7) Nach dem Gesagten versteht es sich von selbst, daß auch die zugerischen Bürger, die außerhalb des Kantons Zug als Aufenthalter wohnen, bei k a n t on a l en Wahlen und Abstimmungen nicht berechtigt sind , das Stimmrecht im Kanton Zug auszuüben. Was dagegen die Frage betrifft, inwiefern sie in Gemeindeangelegenheiten berechtigt seien, in ihrer zugerischen Heimat- oder frühern Wohngemeinde zu stimmen , so ist gegenwärtig hierauf nicht einzutreten.

8) Die Ziffer 2 von § 3 des zugerischen Gesezes betreffend das Gemeindewesen, dahin lautend :

505 ,,In kantonalen Angelegenheiten (bilden die Einwohnergemeinden) alle in der Gemeinde wohnenden Ortsbürger und alle Kantons- und Schweizerbürger nach einem Niederlassungstermin von drei Monaten (Art. 43, Abs 5, der Bundesverfassung)."

steht mit den soeben entwikelten Grundsäzen keineswegs im Widerspruch , da er die Ortsbürger nicht in Gegensaz stellt zu andern Kantons- und Schweizerbürgern , sondern durch das Verbindungswort ,, u n d a deutlich anzeigt, daß auch für die Ortslurger ein Niederlassungstermin von drei Monaten nöthig sei.

Gestüzt auf diese Erwägungen haben wir den Beschluß des Kantonsraths von Zug vorn 18. Juli 1877, soweit durch denselben die Ausübung des Stimmrechts in der Gemeinde Cham bei Anlaß der Kantonsrathswahlen von solchen Bürgern, welche am Tage der Wahl nicht wirklich drei Monate in der Gemeinde gewohnt hatten, als gültig anerkannt wird, aufgehoben.

22. Ein Rekurs ähnlicher Art von Seite der Herren A n g e l o B e r t o l a und L u i g i S v a n a s c i n i , betreffend die Ungültigkeit der Großrathswahlen, welche am 21. Januar 1877 im Kreise Caneggio, Kts. Tessin, stattgefunden haben, ist durch die Weiterziehung unseres Entscheides vom 14. September 1877 an die Bundesversammlung bereits bekannt. Es genügt hier, zu bemerken, daß die Bundesversammlung am 19. Dezember 1877 mit uns angenommen, es liege hier ein entschiedener Fall der Verlezung des Geheimnisses der Stimmabgabe vor, und daher unsern Entscheid bestätigt hat.

(Bundesbl. 1877, Bd. IV, S. 133 und 802, und Beilage zum Bundesblatt Nr. 2 von 1878, S. 10.)

23. Auch der Rekurs des S t a a t s r a t h e s des K a n t o n s T e s s i n gegen unsern Entscheid vom 6. April 1877 in Sachen R i g h i und G r a s s i , betreffend Stimmrecht, ist durch die Verhandlungen vor der Bundesversammlung hinlänglich bekannt.

Es wird daher lediglich auf das Bundesblatt 1877, Band IV, Seite 459, und auf die Beilage zu Nr. 2 des Bundesblattes von 1878 , S. 9, verwiesen.

24. Der bei der Bundesversammlung pendent gebliebene Rekurs d e s G e m e i n d e r a t h e s v o n D ü r n t e n , Kts. Zürich, gegen unsern Entscheid vom 31. Januar 1876, betreffend den Ausweis der Niedergelassenen für ihr Stimmrecht, ist auch im Jahr 1877 nicht zum Entscheide gekommen, sondern hat erst im Februar 1878 seinen formellen Abschluß dadurch gefunden, daß der Natio-

506 nalrath am 28. Juni und 18. Dezember 1876 den Rekurs gegen unsern Entscheid a b g e w i e s e n und am4. Februar 1878 d e f i n i t i v darauf beharrt, während der Ständerath am 14. Dezember 1877 den Rekurs motivirt b e g r ü n d e t erklärt hat und am 11. Februar 1878 ebenfalls d e f i n i t i v auf seinem Beschlüsse beharrte. Infolge dessen bleiben die Akten im Sinne des Art. 6 des Bundesgesezes über den Geschäftsverkehr zwischen den beiden eidg. Räthen vom 22. Dezember 1849 (amtl. Samml. Bd. I, S. 279) bei dem Ständerath, bis die Wiederaufnahme des Gegenstandes in der für die Gesezgebung vorgeschriebenen Weise angeregt wird. Inzwischen bleibt der Beschluß des Bundesrathes vom 31. Januar 1876 in Kraft und vollziehbar, worüber die Regierung von Zürich für sich und zu Händen des Gemeinderathes von Dürnten verständigt wurde. Die bezüglichen Aktenstüke sind gedrukt im Bundesblatt 1876, I, 437 und 975. 1877, I, 586, Ziff. 10; Bd. IV, S. 759 und 842. 18'i8, I, S. 37 und 135, und Beilage zu Nr. 2 , 8. 8 , und Beilage zu Nr. 10, Ziff. 8.

25. Die Beschwerde des g e m e i n n ü z i g e n V e r e i n s von Andermatt gegen den im Kanton Uri bestehenden Modus, wonach die kantonalen Wahlen und Abstimmungen nur an der Landsgemeinde bei Altorf stattfinden , so daß die bis auf 20 und 40 Kilometer entfernt wohnenden Bürger in der Ausübung ihres Stimmrechtes beeinträchtigt seien, was mit den Art. 4, 6 und 43 der Bundesverfassung im Widerspruche stehe, wurde am 12. Oktober 1877 aus folgenden Gründen abgewiesen: 1) Es handelt sich im vorliegenden Falle um eine Frage der politischen Organisation des Kantons Uri. Nun sind die Kantone gemäß Art. 3, 5 und 6 der Bundesverfassung in ihrer politischen Organisation souverän, beziehungsweise hierin nur so weit beschränkt, daß sie keine Bestimmungen treffen dürfen, welche mit den Grundsäzen des Bundesrechtes im Widerspruch ständen. Das Institut der Landsgemeinde ist aber durch die Bundesverfassung nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern in Litt, b von Art. 6 derselben, welche von den kantonalen Verfassungen verlangt, daß sie die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen -- repräsentativen oder d e m o k r a t i s c h e n -- Formen sichern sollen, sogar ausdrüklich anerkannt. Dies ergibt sich klar aus dem Umstände, daß dieser Art. 6 der Bundesverfassung von
1874 ganz gleichlautend ist mit dem Art. 6 derjenigen vom Jahre 1848, zu welcher Zeit in den Kantonen noch keine andern Formen einer demokratischen Organisation bestanden haben, als die Landsgemeinde. Der Bund hat also damals dieses Institut, als ein mit den Grundsäzen des Bundesrechtes im Einklang stehendes, besonders vorgesehen.

507

2) Was den Einwarf betrifft, daß aus dem Institut der Landsgemeinde für die entfernt wohnenden Bürger eine Ungleichheit des Rechts entspringe, so ist allerdings richtig, daß diese mehr Umständlichkeiten haben, um die Landsgemeinde zu besuchen, als die näher oder in Altorf selbst wohnenden Bürger. Diese Ungleichheit liegt aber lediglich in den äußern Verhältnissen, d. h. in den Entfernungen der einzelnen Ortschaften. Es ist undenkbar, daß der Art. 4 der Bundesverfassung im Sinne einer absoluten Gleichheit aller Bürger aufgefaßt werden könnte, weil die Verschiedenheit der thatsächlichen Verhältnisse immer Ungleichheiten erzeugt, deren Beseitigung nicht in der Macht des Staates und seiner G-esezgebung steht. Es ist daher stets nur soviel verlangt worden, daß jeder Bürger unter den gleichen Verhältnissen im Rechte gleich und nicht exzeptionell behandelt werde. Dieser Forderung wird aber im Spezialfalle genügt, weil alle Bürger im Kanton Uri, kommen sie aus dem Ursernthale oder aus der Nähe, an der Landsgemeinde die gleichen politischen Rechte genießen.

26. Verschiedene grelle Unregelmäßigkeiten, welche am 21. Oktober 1877 bei der eidgen. Abstimmung über die Bundesgeseze betreffend die Arbeit in den Fabriken, den Militärpflichtersaz und die politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter in der G e m e i n d e V i l l a r i a z , Kts. Freiburg, vorgekommen sind, aber doch nicht nothwendig die Anwendung, sei es der Art. 319 und 320 des freiburgischen Strafgesezbuches, oder sei es der Art. 47 oder 49 des Bundesstrafrechtes forderten, -- veranlaßten uns zu folgendem Beschlüsse : I. Die Abstimmung vom 21. Oktober abhin in der Gemeinde Villariaz wird als nichtig erklärt und soll bei der Erwahrung des Gesammtresultates nicht in Betracht fallen.

II. Von der Anordnung einer neuen Abstimmung in der Gemeinde Villariaz wird dagegen mit Rüksicht auf die Einflußlosigkeit dieser Gemeinde für das gesammte Resultat Umgang genommen.

III. Der Bundesrath nimmt Vormerk von dem berechtigten Tadel, welcher von der Regierung des Kantons Freiburg gegen den Syndic Jean Joseph Gret ausgesprochen worden ist. (Bundesblatt 1877, IV, 654.)

7. B ü r g e r r e c h t .

27. Die W i t w e E p t i n g geb. W al d m an n in St. Gallen trug vor: Sie sei Bürgerin von Arbon, Kts. Thurgau, gewesen und habe im Jahre 1850 den Apotheker Epting von Calw, Württemberg,

508 geheirathet. Im Jahr 1852 sei die Familie nach Nordamerika ausgewandert, bei welchem Anlaße ihr Ehemann auf das württembergische Staatsbürgerrecht verzichtet habe. Derselbe sei dann gestorben, ohne das Bürgerrecht der Vereinigten Staaten zu erwerben. Vor einigen Jahren sei sie mit ihren 4 Kindern nach der Schweiz zurükgekehrt. Da sie aber, weil heimatlos geworden, keine Legitimationspapiere besize, so wünsche sie, der Bundesrath möchte ihr das ursprüngliche Heimatrecht wieder verschaffen.

Es wurde jedoch der Petentin unterm 9. April 1877 geantwortet, der Bundesrath sei nicht im Falle, sie als eine schwciserische Heimatlose anzuerkennen. Durch ihre Verehelichung mit einem Württemberger sei sie auch Bürgerin des Königreichs Württemberg geworden und habe nach Art. 21 des Gesezes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit des deutschen Reiches vom 1. Juni 1870 (Schweizer. Bundesbl. 1870, III, 176) so lange Anspruch auf dieses Bürgerrecht, als sie nicht Angehörige eines andern Staates geworden sei. Um diese ihre württembergische Angehörigkeit wieder neu aufleben zu machen, müsse sie nach Inhalt jenes Art. 21 ihren einstweiligen Aufenthalt in die ursprüngliche Heimat ihres Mannes verlegen und das dortige Bürgerrecht bei den kompetenten Behörden geltend machen, wozu sie auch durch Art. 7 des seit dem 1. Januar 1877 in Kraft bestehenden Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und dem deutschen Reiche das Recht habe. -- Wenn sie aber vorziehen sollte, mit ihren Kindern ihr ursprüngliches Bürgerrecht in Arbon wieder zu erwerben, so habe sie sich selbst mit den Ortsbehörden zu verständigen und die Vorschriften des Bundesgesezes betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes vom 3. Juli 1876 zu erfüllen.

28.. L o u i s e K ü h n von Neftenbach, Kts. Zürich, wohnhaft in Basel, verehelichte sich daselbst im Jahr 1873 mit Henri Mathe, welcher ursprünglich dem Großherzogthum Baden angehört hat und, um dem Militärdienste zu entgehen, in die Vereinigten Staaten von Nordamerika ausgewandert ist, aber nachdem er im Staate New-York die Naturalisation erworben hatte, nach Basel kam. Er verließ jedoch bald seine Frau und kehrte nach New-York zurük, um gegen Ende 1875 wieder nach Basel zu kommen und zu verlangen, daß seine Frau und ein inzwischen gebornes Kind ihm nach den
Vereinigten Staaten folgen sollen, oder daß seine Frau die Scheidung der Ehe durchführe. Sie zog die Scheidung vor, und nachdem dieGesandtschaft die Erklärung abgegeben, daß nach ihrer Ansicht ein Scheidungsurtheil betreffend die Ehe eines Burgers der Vereinigten Staaten, das am Wohnorte der Eheleute gemäß den hier geltenden Gesezen und von dem kompetenten Gerichte erlassen

509 worden, auch in den Vereinigten Staaten als gültig und rechtskräftig anerkannt würde, nahmen die Gerichte von Basel die bezügliche Klage an die Hand und sprachen die Scheidung aus.

Die geschiedene Frau Mathe geb. Kühn verlangte nun für sich und ihr Kind von der Nordamerikanischen Gesandtschaft einen besondern Paß, indem sie geltend machte, daß sie durch die Ehe mit einem Bürger der Vereinigten Staaten selbst auch Bürgerin dieser Staaten geworden sei und in Folge der Scheidung diese Nationalität nicht verloren habe. Nachdem die Gesandtschaft der Vereinigten Staaten dieses Begehren abgelehnt hatte, glaubten wir im Interesse einer ursprünglichen Schweizerin den gleichen Standpunkt auch auf diplomatischem Wege in Washington geltend machen zu sollen.

Allein das Staatsdepartement bestätigte, gestüzt auf ein einläßliches Gutachten seines Rechtskonsulenten Henry Q'connor, daß die Gesandtschaft bei der Verweigerung eines Passes richtig gehandelt nahe. Dieser Entscheid stüzt sich im Wesentlichen auf folgende Gesichtspunkte : Es sei zwar richtig, daß eine fremde Weibsperson, welche im Auslande einen nordamerikanischen Bürger heirathe, durch die Ehe selbst auch Bürgerin der Vereinigten Staaten werde und dieses Bürgerrecht weder durch den Tod des Mannes, noch in Folge der Scheidung der Ehe verlieren könne. Der am 28. Juli 1868 zum Geseze gewordene 14. Zusaz zu der Arerfassung der Vereinigten Staaten laute aber: ,,Daß alle Personen, die in den Vereinigten Staaten geboren oder naturalisirt worden und in deren G e r i c h t s b a r k e i t w o h n e n , Bürger der Vereinigten Staaten und desjenigen Staates seien, in welchem sie w o h n e n . " Im gleichen Monate des Jahres 1868 habe der Kongreß auch eine andere Akte angenommen, in welcher das Recht zur Auswanderung als ein natürliches und angebornes Recht eines jeden nordamerikanischen Bürgers erklärt worden. Freilieh sei nicht gleichzeitig bestimmt worden, was unter Auswanderung zu verstehen sei. Allein irn August 1873 habe der Staatssekretär Fish ganz richtig dahin sich ausgesprochen, daß die thatsächlichen Verhältnisse des einzelnen Falles hierüber entscheidend seien. Es möge ein Bürger auf unbestimmte Zeit in der Fremde wohnen, sei es aus Gesundheits- oder aus Erziehungs-, Vergnügens- oder Gcschäftsrüksichten, er möge dort ein Handelsoder bürgerliches
Domizil nehmen, so lange er es in gutem Glauben und mit der Absicht thue, später zurükzukehren, und nichts thue.

was mit seinem amerikanischen Bürgerrechte unverträglich sei (die Waffen getragen gegen die Vereinigten Staaten, einem andern Staate die Treue geschworen), werde nicht anzunehmen sein, daß er habe auswandern wollen. Wenn aber Jemand freiwillig der

510 Gerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten, welcher er laut dem erwähnten Zusaz von 1868 unterworfen wäre, sich entziehe, so beweise dieser Umstand wohl am stärksten die Absicht, von dem Rechte Gebrauch machen zu wollen, welches der Kongreß als ein natürliches und angebornes des Volkes erklärt habe. In diesem Falle befinde sich Frau Mathe-Kühn. Sie sei in der Schweiz geboren, habe immer in der Schweiz gewohnt, sei niemals in die Vereinigten Staaten gekommen und sei laut ihrer dem Konsul gegebenen Erklärung fest entschlossen, nie dahin kommen zu wollen.

Unter diesen Umständen liege ganz klar eine f r e i w i l l i g e A u s w a n d e r u n g , ein Verzicht der Frau Mathe auf ihr amerikanisches Bürgerrecht vor, welche Schweizerin sei und bleiben wolle. Wenn die schweizerische Gesezgebung dieses natürliche Verhältniß nicht anerkennen, sondern sie zu einer Heimatlosen erklären sollte, so läge die Ursache lediglich in dieser Gesezgebung, nicht in derjenigen der Vereinigten Staaten. Jedenfalls habe die Petentin keinen Anspruch auf einen amerikanischen Paß. Zudem sei die Ausstellung eines Passes durch das Staatsdepartement nicht obligatorisch und dürfe jedenfalls nur nach Maßgabe des Gesezes geschehen, welches dahin laute: ,,Kein Paß darf für andere Personen als für Bürger der Vereinigten Staaten gewährt, ausgestellt oder legalisirt werden. "· (Revid. Statuten Sekt. 4076.)

Mit Rüksicht auf diesen Bescheid wurde der Frau Mathe eröffnet, daß sie entweder mit ihrem Kinde in die Vereinigten Staaten von Nordamerika übersiedeln oder für ihre Wiederanerkennung in ihrer ursprünglichen Heimat im Kanton Zürich sich verwenden müsse: Der Art. 9 des Bundesgesezes über die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes vom 3. Juli 1876 finde hier keine Anwendung, weil der geschiedene Ehemann der Petentin nie Schweizerbürger, sondern schon zur Zeit seiner Verehelichung Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika gewesen sei, und ein Heimatlosenfall im Sinne von Art. l des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit liege auch nicht vor, weil nicht nachgewiesen sei, daß der Kanton Zürich ihre Wiederaufnahme verweigere (29. März 1878).

29. Der Beschluß der Bundesversammlung vom 21. März 1876, womit wir eingeladen wurden, bei der Regierung des Kautons Aargau auf die endliche E i n b ü r g e r u n g der I s r a e l i t e u des
K a n t o n s A a r g a u und die volle bürgerliche Gleichstellung derselben mit den Kantons- und Schweizerbürgern zu dringen, hat mit Beschluß des Großen Rathes vom 15. Mai 1877 dadurch seine Erledigung gefunden, daß die beiden israelitischen Korporationen Endingen und Lengnau jede zu einer besondern Ortsbürgergemeinde erhoben und jeder bisherige Korporationsgenosse als Ortsbürger

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der betreffenden neuen Bürgergemeinde erklärt worden ist. Mit Bericht vom 25. Mai 1877 haben wir der Bundesversammlung hievoa Kenntniß gegeben , welche sich darauf beschränkte, von der Erledigung ihres oben erwähnten Auftrages Vormerk zu nehmen (Bundesbl. 1875, IV, 1223 ; 1876,1, 822 und 849; II, 757 und 766).

8. A n w e n d u n g von B u n d e s g e s e z e n .

30. DieP o l i z e i d i r e k t i o n des K a n t o n s S c h a f f h a u s e n verlangte in Basel die Vollziehung eines Urtheils des Polizeirichters von Schaffhausen, womit Jakob Hauser wegen Jagdfrevels zu Buße verurtheilt worden war, indem Hauser seinen Aufenthalt nach Basel verlegt und für die restanzliche Buße 10 Tage Gefängniß zu erstehen hatte.

Die Regierung von Basel-Stadt glaubte jedoch, nicht entsprechen zu können, weil blos ein Polizei vergeh en vorliege und wegen solcher weder eine Auslieferung stattfinde, noch in den Konkordaten vom 7. Juni 1810, bestätigt 9. Juli 1818, und vom 27. Juli 1840 (alte oföz. Samml. Bd. I, 306 und Bd. IH, 76) eine Pflicht zur Vollziehung der Urtheile durch einen andern Kanton ausgesprochen sei. Es müsse hiebei sein Bewenden haben, so lange nicht hierüber die Bundesgesezgebung allgemein verbindliche Vorschriften aufgestellt haben werde.

Der Bundesrath lud jedoch unterm 31. Juli 1877 die Regierung des Kantons Basel-Stadt ein, dem Gesuche um Vollziehung des erwähnten Polizeiurtheils zu entsprechen, gestüzt auf folgende Erwägungen : 1) Es handelt sich um die Vollziehung eines kantonalen Polizeiurtheiles, welches in Anwendung von Art. 22 des in Ausführung von Art. 25 der Bundesverfassung erlassenen Bundesgesezes über Jagd und Vogelschuz vom 17. September 1875 ausgefällt wurde (Amtl. Samml. n. F. Bd. II, 39), beziehungsweise um die Vollziehung der gemäß Lemma 2 jenes Art. 22 in Umwandlung der Buße festgestellten Gefängnißstrafe.

2) Bei der Vollziehung eines Bundesgesezes können die frühern Konkordate zwischen den Kantonen nicht maßgebend sein, weil diese auf der unbeschränkten Souveränität der Kantone, die Bundesgeseze dagegen auf der e i g e n . e n S o u v e r ä n i t ä t des B u n d e s beruhen.

3) Die Vollziehung eines solchen Bundesgesezes kann daher nicht von dem freien Willen der Kantone abhängen, vielmehr sind Bundesblatt. 30. Jahrg. Bd. II.

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die in Anwendung von Straf bestini mungen, welche in Bundesgesezcn enthalten sind, durch kantonale Gerichte erlassenen Polizeiurtheile in der ganzen Schweiz vollziehbar, indem sonst ein solches Bundesgesez seine Geltung und Wirkung verlieren und die betreffende Vorschrift der Bundesverfassung ohne Vollziehung bleiben würde, wie denn auch die bisherige Praxis hierüber nicht den mindesten Zweifel übrig läßt. (Kreisschreiben des Bundesrathes vom 31. Juli 1874. Bundesbl. 1874, Bd. II, 606.)

4) Die Frage, welcher Kanton die Kosten zu bezahlen habe, erledigt sich einfach durch die konsequente Anwendung des auch im Bundesstrafrecht anwendbaren Grundsazes, daß derjenige Fiskus (des Bundes oder des Kantons) die Vollziehungskosten zu tragen hat, welcher auch die Buße beziehen würde, wenn sie der Verurtheilte hätte bezahlen können.

31. Der im lezten Geschäftsbericht erwähnte, bei der Bundesversammlung anhängig gewesene Rekurs betreffend die Kompetenz, des Polizeirichters von Saanen, Kantons Bern, zur Anwendung des Bundesgesezes über polizeiliche Maßnahmen gegen Viehseuchen gegen Ger m a i n B r idi und Genossen von Savièse, Kantons Wallis, hat durch den Rükzug der Beschwerde gegen unsern Entscheid (Bundesbl. 1876, III, 625) seine Erledigung gefunden.

9. M i l i t ä r s t e u e r.

32. Ueber die von einem Polizeidepartement in dem kantonalen Fahndungsblatt angeordnete polizeiliche Fahndung gegen Bürger, welche mit der Bezahlung ihrer Militärsteuer im Rükstande waren, äußerte sich unser Justiz- und Polizeidepartement unterm 28. März 1877 dahin, daß eine solche Verhaftung- und Transportirung noch viel weniger zulässig sein dürfte, als die Beschlagnahme der Schriften von Militärpflichtigen, und daher im Widerspruch stehe mit der bundesräthlichen und bundesgerichtlichen Interpretation von Art. 59 der Bundesverfassung (Bundesbl. 1874, II, 579 und 1876, H, 284; amtliche Sammlung der Entscheide des Bundesgerichtes T!d. I, 250 ff.)

3 3 . Nachdem d i e R e g i e r u n g d e s K a n t o n s N e u e n b u r g die Vollziehung unserer Einladung zur Ablieferung der Hälfte der für das Jahr 1876 bezogenen M i l i t ä r p f l i c h t e r s a z s t e u e r abgelehnt und für den Fall, daß wir auf unserm Begehren beharren sollten, einen Rekurs an das Bundesgericht in Aussicht gestellt hatte, erneuerten wir unsere Einladung, sprachen uns aber dahin aus, daß eine Beschwerde nicht an das Bundes-

513 gericht zu richten wäre, sondern an die Bundesversammlung, weil die Vollziehung von Art. 42, litt, e, der Bundesverfassung in Frage liege, also nicht eine civilrechtliche Forderung im Sinne des bürgerlichen Rechtes, sondern die Erfüllung einer öffentlichen Pflicht aus staatsrechtlichem Titel. Der Staatsrath von Neuenburg gab indeß gleichwohl bei dem Bundesgerichte eine Beschwerde ein, deren Behandlung indeß mit Rüksicht auf die Möglichkeit einer Lösung der Frage auf dem Wege des Gesezes verschoben wurde.

10. S t e l l u n g der e i d g e n ö s s i s c h e n B e a m t e n .

34. Die Frage, ob die Beschlagnahme der Besoldungen eidgenössischer Beamten und Angestellten durch Privatgläubiger zulässig sei, wurde in Abgang positiver Vorschriften aus allgemeinen Gesichtspunkten von unserm Justiz- und Polizeidepartement in dem Sinne verneinend beantwortet, daß die Beschlagnahme von Besoldungen, so lange diese nicht in den Privatbesiz der eidgenössischen Beamten oder Angestellten übergegangen, unzulässig sei, beziehungsweise daß bezügliche gerichtliche Verfügungen, auch wenn sie den Vorgesezten, welche die Besoldungen auszuzahlen haben, mitgetheilt worden wären, nicht von rechtlicher Wirksamkeit sein können..

Diese Ansicht wurde wie folgt begründet: Die eidgenössischen Beamten und Angestellten sind vermöge der Form ihrer Wahl und vermöge ihrer Thätigkeit und Pflichlen Organe des Bundes. Das Rechtsverhältniß, in dem sie zum Bunde stehen, gehört vermöge der Bundesverfassung und der organischen Geseze der einzelnen Administrationszweige dem öffentlichen Rechte des Bundes an. Es ist daher auch die Pflicht des Bundes, sie für ihre Thätigkeit zu entschädigen, öffentlich-rechtlicher Natur, und somit jede Quote ihrer Besoldung so lange den privatrechtlichen und civilprozessualischen Vorschriften der Kantone enthoben, als sich die einzelnen Quoten der Besoldung noch in der Bundeskasse befinden. Da nun sämmtliche Spezialkassen der einzelnen Administrationszweige Bestandtheile der Bundeskasse bilden, so findet jener Grundsaz bis in alle Zweige der Administration hinaus seine Anwendung. Die Beschlagnahme von noch nicht ausbezahlten Besoldungen erscheint uns daher als unzulässig.

Zu dem gleichen Resultate würde man ohne Zweifel auch kommen, wenn man die in neuern wissenschaftlichen Abhandlungen über das Beamtenrecht
aufgestellte Ansicht adoptiren wollte, wonach die Pflicht des Staates zur Bezahlung von Besoldungen an Beamte und Angestellte nach Analogie einer Alimentationsverbindlichkeit

514 zu beurtheilen wäre. Es scheint indeß streng genommen dieser Standpunkt für das republikanische Beamtenrecht, welches keine lebenslänglichen Beamtungen kennt, und die Ansicht, als hätte der Staat die Pflicht, seinen Beamten und Angestellten vorab die zu einer standesmäßigen Existenz nöthigen Mittel zu sichern, für unsere Verhältnisse nicht zu passen. Indeß liegt es auch im Interesse des Bundes, daß die eidgenössischen Beamten mit dem Gefühle der Sicherheit auf den Empfang ihres Gehaltes arbeiten können, und von diesem Gesichtspunkte aus ist auch die Analogie mit der Alimentation, welche in den Betreibungsgesezen von der Pfändung oder Sequestration ausgenommen zu sein pflegt, als berechtigt anzuerkennen.

B. Polizeiverwaltung.

I. Auslieferung von Verbrechern und Angeschuldigten.

a. E i n l e i t u n g .

Die Zahl der Auslieferungsangelegenheiten hat sich im Jahr 1877 gegenüber dem Vorjahre etwas vermindert. Von Seite der Schweiz wurden bei auswärtigen Staaten 59 Auslieferungen nachgesucht gegen 66 im Jahr 1876. (Diese Zahl betrug 1875: 67; 1874: 59.) Die Zahl der Auslieferungsbegehren von Seiten auswärtiger Staaten an die Schweiz, welche im Vorjahre 219 betrug, ist auf 211 zurükgegangen. (1875: 254; 1874: 180.) Im Ganzen wurden also 270 Angelegenheiten dieser Art behandelt.

Die von Seite der S c h w e i z bei auswärtigen Staaten verlangten Auslieferungen betrafen : l Mord, l Kindsmord, 1 Raub, 6 Fälschungen, 14 Betrug, 2 betrügliehen Bankerott, 2 Vertrauensmißbrauch, 8 Unterschlagung, 22 einfachen und ausgezeichneten Diebstahl, l Vergehen wider die Sitten, l Meineid.

~ 59

515

Die von a u s w ä r t i g e n S t a a t e n bei der Schweiz verlangten Auslieferungen betrafen : a. D e u t s c h e s R e i c h .

2 Todschlag, 2 Nothzucht, 2 Körperverlezung, l Erpressung, 1 Falschmünzerei, 8 Fälschung, 4 bezüglichen Bankerott, 20 Betrug, 12 Unterschlagung, 31 einfachen und ausgezeichneten Diebstahl, 2 falsche Versicherung an Eidesstatt und Meineid, l Verleitung zum Meineid, l Doppelehe.

87 b. F r a n k r e i c h .

4 Mord und Mordversuch, l Körperverlezung, 11 Nothzucht und andere Vergehen gegen die Sittlichkeit, 12 Fälschung, 19 betrüglichen Bankerott, l Betrug, l Pfandnnterschlagung, 8 Vertrauensmißbrauch, 18 einfachen und ausgezeichneten Diebstahl.

75 Italien.

7 Mord, 6 Körperverlezung mit nachgefolgtem Tode, l Nothzucht, 1 Erpressung, 10 einfachen und ausgezeichneten Diebstahl, 6 Fälschung, 2 Nachmachnng und Verausgabung falscher Banknoten und Staatsobligationen, 3 betrüglichen Bankerott, 2 Unterschlagung, l Kindsmord, l Bestechung und Betrug, 4Ö~

516

d. O e s t e r r e i e h.

2 Fälschung, 2 Betrug, l Verleumdung.

5 e. B e l g i e n .

l Brandstiftung, l betruglichen Bankerott.

2

f. Gr r o ß b r i t a n n i e n.

l betrüglichen Bankerott.

g. R u ß l a n d .

l bezüglichen Bankerott.

Das weitere Detail ergibt sich aus den folgenden Tabellen :

517

b. S t a t i s t i k A. der von S e i t e der S c h w e i z bei auswärtigen Staaten nachgesuchten Auslieferungen.

Anzahl ZurükUnentVerBeder Indi- willigt. dekt. weigert. gezogen.

viduen.

Kantone.

Zürich . . . .

Bern Luzern . . . .

Glarus . . . .

Basel-Stadt . . .

Basel-Landschaft .

Schaffhausen . .

Appenzell A.-Rh. .

St. Gallen . . .

Graubünden . .

Aargau . . . .

Waadt . . . .

Neuenburg . . .

Genf

13

9

10 2 1 6 1 1 1 3 1 3 7 4 6

8 2 -- 5 1

59

1 __ --

1 _.

--

--1

-- -- --

-- 1

-- 2

-- -- 1

-- -- --

1 -- -- -- -- -- -- --

Pendent.

1

2 -- 1 -- -- 1 1

-- -- -- 1 1

--1 -- --

--

-- -- -- -- 1

41

6

2

3

7

3 20 28 2 1 4 1

2 15 20 1 1 2 --

1 1 4

-- -- 1 1

-- --2 -- -- 1

-- 4 1 -- -- 1 1

59

41

2 4 3 5

-- 2

S t a a t e n , bei denen diese Auslieferungen nachgesucht wurden : Belgien . . .

Deutsches Reich Frankreich .

Großbritannien Niederlande .

Oesterreich Schweden . .

.

.

.

.

-- -- 6

-- -- --

2

-- 3

1

518 B. der v o n S e i t e a u s w ä r t i g e r S t a a t e n bei der Schweiz, nachgesucht Auslieferungen.

Anzahl der Be- Unent- Ver- Zurük- PenIndi- willigt. dekt. weigert. gezogen. dent.

viduen.

Staaten.

Belgien . . .

Deutsches Reich Frankreich .

Großbritannien Italien . . .

Oesterreich . .

Rußland . .

.

.

.

.

.

K a n t o n e , bei denen diese Auslieferungen nachgesucht wurden: Zürich . . . .

Bern Luzern . . . .

Uri Schwyz . . . .

Unterwald . o. d. W.

Grlarus . . . .

Solothurn . . .

Basel-Stadt . . .

Basel-Landschaft .

St. Gallen . . .

Graubünden . .

Aargau . . . .

Thurgau Tessin . . . .

Waadt . . . .

Wallis . . . .

Neuenburg . . .

Genf Schweiz im Allgemeinen . .

2 87 75 1 40 5 1 211

29 8 5 4 1 1 2 4 18 1 7 1 4

64 55 -- 20 3 -- 142

24 4 2 1

2 11 17 -- 15 1 1

-- -- 1 1 --

47

3

4 2 1 3 1 1

--

3 2 65

--2 3 12 1 6 1 4 5 16 7 2 2 50

-- -- 2 -- 1 -- -- -- 5 2 -- -- 13

14 211

-- 142

12 47

5 26 11

1

-- -- -- -- _ -- 1 -- -- -- -- -- 1 -- -- --1 -- 3

6 1 1 3 -- -- 11

-- 2 1 --

5 2 i 1 -- -- 8

1 --

1

3 1 1 -- 1

-- -- -- 1 2 -- -- -- -- -- 1 1 -- -- --

1 11

1 8

-- -- --1 --

:--

--

519

c. F o r m e l l e s V e r f a h r e n .

1. Ueber das Verfahren in den immer häufiger vorkommenden Fällen, d a ß v o n a u s w ä r t i g e n B e h ö r d e n d i r e k t b e i d e n k a n t o n a l e n B e h ö r d e n d i e V e r h a f t u n g eines f l ü c h t i g e n Verbrechers behufs dessen Auslieferung verlangt wird, haben wir uns dahin ausgesprochen, daß die Auslieferung nicht vollzogen werden dürfe, bis ein gehöriges Auslieferungsbegehren vorliege, das nach allen Verträgen auf diplomatischem Wege gestellt werden muß. Daraus folgt, daß eine Auslieferung nur mit Bewilligung der Bundesbehörden vollzogen werden darf, zumal nach Art. 8 und 10 und 102 der Bundesverfassung der Abschluß und die Vollziehung von Staatsverträgen in die Kompetenz des Bundes fällt und der diplomatische Verkehr speziell dem Bundesrathe zusteht. Die Kantone sind daher nicht berechtigt, ein ihnen als Verbrecher signalisirtes und in Folge dessen auf spezielles Ansuchen provisorisch verhaftetes Individuum, das a u f i h r e m G e b i e t e g a r k e i n e s t r a f b a r e H a n d l u n g sich hat zu Schulden k o m m e n lassen, polizeilich der reklamirenden Behörde zuführen zu lassen und auf diesem verstekten Wege eine Auslieferung zu vollziehen. Dieses Verfahren steht auch im Widerspruche mit dem Réglemente, das wir nach Erlaß des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege, wonach unter Umständen auch das Bundesgericht zur Mitwirkung berufen ist, mit dem Bundesgerichte vereinbart haben und das mit Kreisschreiben unsers Justiz- und Polizeidepartements vom 26. Januar 1875 sämmtlichen Kantonen zur Nachachtung mitgetheilt wurde. (Bundesbl. 1875, I, 122.) Wir sahen uns daher genöthigt, bei einigen kantonalen Behörden gegen das bezeichnete Verfahren zu reklamiren, indem dadurch jede Garantie zum Schuze der Rechte und Interessen der betreffenden Personen und für die richtige, a u c h von den a n d e r n S t a a t e n zu b e o b a c h t e n d e Anwendung der Verträge ausgeschlossen wird.

Damit jedoch den Kantonen durch eine allfällig verlängerte Dauer der provisorischen Haft nicht zu große Kosten erwachsen, können die kantonalen Behörden unverzüglich die Uebersendung eines Exemplares des Verhaftbefehles an sie und die sofortige Stellung des Auslieferungsbegehrens auf diplomatischem Wege verlangen, das verhaftete
Individuum darüber verhören, ob es in seine Auslieferung wegen des ihm zur Last gelegten Verbrechens oder Vergehens einwillige und das Protokoll nebst den Akten an uns übersenden. Auf diese Weise werden wir in den meisten Fällen sofort über die Bewilligung der Auslieferung entscheiden können, sobald das Auslieferungsbegehren in unsere Hände kommt,

ohne im Sinne der Vorschriften des erwähnten Réglementes eine vorhergehende Mittheilung an die Kantone machen zu müssen.

2. Auf die A u s s t e l l u n g d e r V e r h a f t s b e f e h l e wird immer noch nicht die nöthige Sorgfalt verwendet. Auch im Berichtsjahre haben wir uns genöthigt gesehen, die Ergänzung mehrerer solcher Schriftstüke durch nähere Angaben der Thatsachen, auf welche die Anklagen sich stüzten, zu verlangen. Abgesehen davon, daß nach Vorschrift aller Auslieferungsverträge die Thatsachen in dem Umfange angegeben werden sollen, daß die Richtigkeit der Qualifikation und die Frage der Verjährung des Verbrechens von den Behörden des angesprochenen Staates geprüft werden können, ist die genaue Redaktion der Verhaftsbefehle namentlich in allen denjenigen Fällen von Wichtigkeit, in denen die Auslieferung nur dann stattfindet, wenn das eingeklagte Verbrechen in beiden Staaten strafbar ist.

Uebrigens sind oft auch die aus dem Auslande kommenden Verhaftsbefehle nicht gehörig ausgestellt und es waren wiederholt Ergänzungen nöthig, besonders in jenen Fällen, die dem bundesgerichtlichen Entscheide unterstellt werden mußten.

3. Die Notwendigkeit besonderer Aufmerksamkeit in der O formellen Behandlung der Auslieferungsangelegenheiten zeigt deiFall des Herrn J u l e s M o n n e y , gewesenen Gasthofbesizers in Clarens, dessen Auslieferung auf Begehreu der Regierung des Kantons Waadt im Jahr 1875 durch uns bei der italienischen Regierung ausgewirkt worden war. Derselbe erhob nämlich bei dem Bundesgericht gegen den Staat Waadt und die schweizerische Eidgenossenschaft eine Klage auf Schadenersaz im Betrage von Fr. 10,000, weil das Auslieferungsbegehren unbegründet gewesen sei, indem die Anklagekammer des Kantons Waadt bald nach seiner Ankunft in Lausanne die Untersuchung wegen Mangels des objektiven Thatbestandes eines Verbrechens niedergeschlagen habe, und weil ihm durch das Verfahren in verschiedenen Richtungen Schaden zugefügt worden sei. Nachdem der Prozeß instruirt war, hat Herr Monney in der Schlußverhandlung die Klage gegen die Eidgenossenschaft zurükgezogen und gegenüber dem Kanton Waadt wurde sie von dem Bundesgerichte als unbegründet abgewiesen. Das Urtheil ist abgedrukt in der amtl. Sammlung der Entscheide des Bundesgerichtes, Band III, S. 821.

4. Es wurde im lezten Geschäftsberichte
auf die ausnahmsweisen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, die in Auslieferungsfällen in E n g l a n d zu überwinden sind. Da wir noch zu wenig Fälle in Behandlung hatten, um in der in Aussicht gestellten An-

521 leitung über das zu beobachtende Verfahren sicher zu gehen, haben wir dieselbe noch verschoben. In den zwei Fällen dieser Art, welche im Laufe des Jahres zu behandeln waren, wurden von unserem Justiz- und Polizeidepartement sofort die nöthigen Direktionen an die kantonalen Behörden über die nothwendigen Formen gegeben, die bei Ausstellung der Verhaftsbefehle, bei Anfertigung der .Zeugenprotokolle und bei den Legalisationen etc. beobachtet werden müssen. In beiden Fällen konnte zwar in dieser Beziehung den Anforderungen des englischen Verfahrens genügt werden, und es ist auch die Auslieferung eines dieser Angeklagten wegen Fälschung von Haudelsschriften ziemlich leicht erhältlich gewesen. Um so mehr Mühe und Kosten verursachte dagegen der andere Fall gegen den Urheber des Diebstahls von Posteffekten am Morgen des 3. September in Zürich, nämlich gegen Alfred Thomas W i l s o n. Die englische Gesezgehung fordert zur Begründung eines Auslieferungsbegehrens die Vorlage des Beweises für die Schuld des Angeklagten in dem Umfange, daß nach den Gesezen dieses Staates dessen Verweisung zur Hauptverhandlung gerechtfertigt erschiene, falls die strafbare Handlung auf großbritaunischem Gebiete begangen worden wäre. Es war deßhalb die förmliche Beweisführung nöthig, daß Wilson der Urheber des Diebstahls in Zürich sei.

Dieser Beweis war mit Rüksicht auf den Umstand, daß man Wilson gar nicht verhören konnte, sehr schwierig und konnte nur mit dem Aufwande großer Kosten geleistet werden. Er ist dann auch so vollständig gelungen, daß Wilson bei der Schlußverhandlung die Thäterschaft nicht mehr zu bestreiten wagte. Dagegen erhob er nun die Einrede, daß er nach Vorschrift von Artikel III des Auslieferungsvertrages, weil er Engländer sei, gar nicht ausgeliefert werden dürfe, und in der That ist es ihm auf diesem Wege gelungen, nicht nur bloß von der Auslieferung, sondern auch von jeder strafrechtlichen Verfolgung sich frei zu machen, und sich so den Ertrag des Diebstahls von beiläufig Fr. 50,000 zu sichern. Es hat zwar der Polizeirichter in seinem erstinstanzlichen Entscheide die Bewilligung der Auslieferung des Wilson ausgesprochen; allein der Leztere erwirkte eine habeas-corpus-Akte, worauf der Lord Oberrichter in der Queens Bench am 2. November die Auslieferung des Wilson vorweigerte, weil der Artikel III des
Staatsvertrages zwischen der Schweiz und Großbritannien die Auslieferung eines eigenen Staatsangehörigen verbiete. Dieser Entscheid stüzte sich im Wesentlichen darauf, daß zwar die Auslieferungsbill von 1870 der Königin- von England das Recht gegeben hätte, den Art. III des Auslieferungsvertrages mit der Schweiz in dem Sinne redigiren zu lassen und zu genehmigen, daß er es der Regieruug möglich gemacht hätte, auch einen Engländer an die Schweiz auszuliefern;

522 allein dieser Art. III sei so bestimmt redigili, daß die Möglichkeit einer solchen Auslieferung positiv ausgeschlossen sei, und in der Kabinetsordre der Königin, wodurch der Vertrag in Vollziehung gesetzt worden, habe derselbe die königliche Genehmigung nicht im Sinne der Bill, sondern nach dem Wortlaute des Vertrages erhalten, so daß nicht die Bill, sondern ausschließlich der Vertrag entscheidend sei. Wir hofften, daß Wilson wenigstens vor die englischen Gerichte gestellt werden könnte, und beauftragten deßhalb unsern Generalkonsul in London, bei der Regierung eine bezügliche Eintrage zu stellen und eine offizielle Antwort zu verlangen. Diese vom 10. November datirte Antwort des Auswärtigen Amtes erledigt sowohl das Auslieferungsbegehren des Bundesrathes vom Standpunkte der englischen Regierung aus, als auch unsere Einfrage, und lautet dahin : Lord Derby bedaure, daß die besondere Vorschrift im Auslieferungsvertrage zwischen der Schweiz und England der Regierung dieses Landes nicht gestatte, von ihrem Rechte, die Auslieferung des Wilson aus Grund seiner englischen Nationalität zu verweigern, abzugehen, und zwar um so mehr, als die Gerichte von England keine Kompetenz haben, das erwähnte Individuum wegen des Diebstahls, dessen es in der Schweiz angeklagt worden, strafrechtlich zu verfolgen. Dieser Ausgang des Prozesses kann zwar Angesichts des klaren Wortlautes von Art. III des Auslieferungsvertrages mit England nicht überraschen. Es hat auch unser Justiz- und Polizeidepartement vom ersten Beginne der Untersuchung an darauf gedrungen, eine Erklärung des Richters zu erhalten, ob Wilson als Engländer anerkannt werde und welche Anwendung in diesem Falle dem Art. III gegeben würde. Allein die Antwort wurde erst am Schlüsse des ganzen Verfahrens gegeben.

Es hat bekanntlich der Ausgang dieses Prozesses allgemein großes Aufsehen erregt und zwar insbesondere die monstruose Erscheinung, daß noch im XIX Jahrhundert ein Engländer wegen des Raubes, den es ihm gelungen ist, in einem andern Staate ungestraft auszuführen, lediglich darum von jeder Strafe frei bleibt, weil er in seine Heimat zurükkommen konnte. Wir glaubten daher, die Schweiz aus einem Staatsvertrage, welcher diese offenbare Ungerechtigkeit ermöglicht, frei machen und diesen Vertrag, wie wir bereits oben erwähnt haben, kündigen zu müssen,
in der Meinung allerdings, daß es in einem neuen Vertrage möglich sein werde, entweder die Uebernahme der Beurtheilung eines Bürgers für die im andern Staate begangenen Verbrechen in der Heimat, oder dann die Auslieferung auch des eigenen Mitbürgers zu sichern.

523 5. Gemäß Art. 58 des Buudesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege ist bekanntlich der Entscheid über die Bewilligung von Auslieferungen an auswärtige Staaten in den Fällen dem Bundesgerichte zugewiesen, in welcheu die Anwendbarkeit des betreffenden Staatsvertrages bestritten wird. Wir glaubten nun die Einrede von A n g e k l a g t e n , daß sie u n s c h u l d i g s e i e n , oder nur unter einer andern Anklage, z. B. wegen des Versuches, statt wegen des vollendeten Verbrechens, verfolgt werden könnten, nicht als eine Einsprache gegen die Anwendbarkeit des betreffenden Staatsvertrages behandeln zu sollen, und erledigten daher solche Fälle von uns aus, ohne sie an das Bundesgericht zu weisen, indem wir die Auslieferung der Angeschuldigten bewilligten, sobald die formellen Vorschriften des Vertrages erfüllt waren, weil nach unserer Ansicht die Frage der Schuld oder des Grades derselben weder von uns, noch von dem Bundesgerichte zu prüfen ist, sondern von dem kompetenten Richter, welchem auch alle Vertheidigungsrnittel vorgebracht werden mögen. Es haben 7 Fälle in dieser Weise ihre Erledigung gefunden.

In 5 Fällen betreffend 6 Personen lagen dagegn wirkliche Einsprachen gegen die Anwendbarkeit der bezüglichen Staatsverträge vor. Sie wurden daher an das Bundesgericht überwiesen, welches in einem Falle die Einsprache als unbegründet erklärte, und in zwei Fällen die Auslieferung ablehnte; im 4. Falle wurde das Auslieferungsbegehren zurükgezogen, während im 5. demselben nur unter der Bedingung entsprochen wurde, daß der reklamirende Staat vorher die Erklärungen von England und Holland beizubringen habe, daß sie keine Einwendungen gegen die weitere Auslieferung der von ihnen an die Schweiz ausgelieferten zwei Individuen zu machen haben. Nachträglich wurde auch dieses Auslieferungsbegehren zurükgezogen.

d. M a t e r i e l l e F r a g e n .

6. Auf Antrag der italienischen Gesandtschaft wurde die Auslieferung des Italieners B o r s a n i , welcher in Varese wegen einfachen Diebstahls im Betrage von Fr. 310 zu einem Jahr Gefäugniß verurtheilt worden war, bewilligt und die ausdrüklich gegebene Z u s i c h e r u n g d e r R e z i p r o z i t ä t f ü r ähnliche Fälle angenommen, da nach dem Auslieferungsvertrag mit Italien die Auslieferung wegen einfachen Diebstahls nur vorgeschrieben ist,
wenn derselbe mindestens Fr. 1000 beträgt.

o 7. Auf Begehren der Regierung des Kantons Waadt stellten wir bei der französischen Regierung das Gesuch um provisorische

524

Verhaftung und Auslieferung des Waadtländers J u l e s Sa u g y wegen Betruges, weil er durch falsche Vorgaben und Erregung trügerischer Hoffnungen eine gewisse Summe zu erschwindeln gewußt habe. Später verzichtete die Regierung von Waadt auf die Auslieferung, weil die Kläger vom Angeklagten befriedigt worden seien. Wir eröffneten hierauf der Regierung von Waadt, daß wir uns von jeder Verantwortlichkeit verwahren, welche den Rükzug des Verhafts- und Auslieferungsbegehrens gegen Saugy zur Folge haben könnte, und daß in Zukunft solche Begehren überhaupt nur dann an eine auswärtige Regierung gestellt werden, wenn der rechtliche Thatbestand eines Vergehens außer Zweifel liege, und niemals zur Verfolgung bloßer Privatinteressen.

8. Mit Bezug auf 7 Personen, welche wegen gemeiner Verbrechen verfolgt worden, und sich gleichzeitig der D e s e r t i o n schuldig gemacht hatten, wurde die Auslieferung nur unter der Bedingung bewilligt, daß sie wegen Desertion nicht bestraft werden dürfen, wovon den Betreffenden jeweilen behufs ihrer Vertheidigung Kenntniß gegeben wurde. Auf die Anregung einer Kantonsregierung, daß, um sich über die Beobachtung dieser Bedingung zu vergewissern , die Mittheilung der Urtheile der ausländischen Gerichte verlangt werden sollte, traten wir nicht ein, weil wir finden, daß hierin ein ungerechtfertigtes Mißtrauen läge, das von den auswärtigen Regierungen und Gerichten, wie nicht minder auch im umgekehrten Falle von den schweizerischen Behörden, mit Recht zuriikgewiesen würde. Es hat dann auch die württernbergische Regierung auf die Auslieferung eines ihrer Angehörigen, welcher neben der Desertion noch anderer gemeiner Verbrechen angeklagt war, lieber vernichtet, als jene Bedingung anzunehmen, weil im Spezialfalle besonderer Werth auf die Bestrafung der Desertion gelegt wurde.

9. Auf unser Gesuch wurden .von Italien 8 Fälle, von Deutschen Staaten 7 und von Frankreich l Fall (19 Angeklagte umfassend) zur B e u r t h e i l u n g und B e s t r a f u n g in der H e i mat für Verbrechen übernommen, deren sie in der Schweiz angeklagt waren.

In diesen Zahlen sind auch die aus dem vorigen Jahre pendent gebliebenen 4 Fälle inbegriffen. Ueber die Erledigung dieser Untersuchungen ist uns bekannt geworden, daß in 2 Fällen die Angeklagten nicht entdekt wurden ; in einem 3. Falle konnte der
Angeklagte aus dem Untersuchungsverhafte entweichen. Dagegen fanden in 5 Fällen Verurtheilungen statt; 3 Untersuchungen wurden wegen verschiedenen strafrechtlichen Gründen aufgehoben, und eine endigte mit Freisprechung. Ueber die Erledigung der lezten 4 Fälle ist noch nichts bekannt geworden.

Umgekehrt waren wir im Falle, 3 Untersuchungen gegen Schweizer zu übernehmen, welche sich im Auslande strafbarer Handlungen schuldig gemacht hatten und ungestraft in die Heimat entweichen konnten. Diese Untersuchungen mußten von den Heimatkantonen übernommen werden; es ist jedoch, wie uns bekannt, bis jezt nur eine derselben durch Urtheil erledigt.

II. Buudesstrafrecht.

a . G e f ä h r d u n g d e s E i s e n b a h n b e t r i e b e s etc.

10. Im Jahr 1877 wurden 54 neue Fälle von G e f ä h r d u n g des E i s e n b a h n b e t r i e b e s den kantonalen Gerichten zur Untersuchung und Beurtheilung überwiesen. 17 Fälle waren aus dem Vorjahre pendent geblieben, so daß im Ganzen 71 Untersuchungen gegen 111 Personen in gerichtlicher Behandlung lagen (1876 48 Untersuchungen gegen 85 Personen}.

Von jenen 71 Untersuchungen wurden 26, worin 27 Personen betheiligt waren, durch Verfügung von Gerichtsbehörden aufgehoben und 34 durch gerichtliches Urtheil erledigt. 42 Personen wurden freigesprochen und 26 in 23 Urtheilen zu größern oder geringern Strafen, zusammen zu 389 Tagen Gefängnißstrafe und Fr. 760 Buße, verurtheilt. Die übrigen 11 Untersuchungen gegen 16 Personen blieben pendent. Gegen (5 Urtheile sahen wir uns veranlaßt, die Appellation an die obere kantonale Instanz zu ergreifen.

Die höchste der ausgesprochenen Strafen wurde gegen ein Individuum ausgefällt, welches auf einer Station, während die Reisenden aus- und einstiegen, rnuthwillig mit einer Pfeife das Signal zur Abfahrt gab, so daß der 7ug sich in Bewegung sezte, wobei indeß Niemand verlest wurde. Seine Strafe betrug 3 Monate Gefängniß und Fr. 20 Buße. Die geringste Strafe dagegen betrug 2 Tage Gefängniß und Fr. 10 Buße, und wurde gegen einen Bahnbediensteten ausgesprochen, welcher aus Versehen die Signalscheibe zur Einfahrt zu früh geöffnet und dadurch den Zusammenstoß einer leeren Maschine mit einem Rangirzuge ugv. verursacht hatte.

Von den 23 Strafurtheilen sind 18 gegen 19 Personen bereits vollzogen; die Vollziehung der übrigen ist eingeleitet. Die Urtheile aus den Jahren 1875 und 1876 sind alle vollzogen.

6 Verurtheilte reichten bei der Bundesversammlung Begnadigungsgesuche ein. In zwei Fällen wurde insoweit entsprochen, als den Petenten die Gefängnißstrafe erlassen wurde. Die übrigen 4 Ge-

026 suche wurden abgewiesen. Die bezüglichen Berichte des Bundesrathes sind gedrukt im Bundesbl. 1877, Bd. I, S. 534; Bd. III, S. 158, 165 und Bd. IV, S. 81 und 596; die Erledigung ist vorgemerkt am gleichen Orte 1877, Bd. I, S. 585; Bd. III, S. 277 und Bd. IV, S. 728.

11. Neben diesen Fällen wurde auf Grund des Bundesstrafrechtes noch eine Untersuchung erhoben wegen S t ö r u n g des T e l e g r a p h e n v e r k e h r e s . Der bezügliche Prozeß wurde jedoch durch Verfügung der Anklagekammer des betreffenden Kantons niedergeschlagen. Die in dem lezten Geschäftsbericht noch als pendent erwähnte Untersuchung wegen m e h r f a c h e r A u s ü b u n g des Stirn m r e c h t e s bei einer eidgenössischen Wahl endigte im Berichtsjahre damit, daß das Appellationsgericht des Kanton Tessin den Angeschuldigten in eine Buße von Fr. 5 verurtheilte.

12. Cyrill M o n n e y öffnete am 14. Juni Nachmittags eigenmächtig die Barriere bei der Station Massongex, ungeachtet es ihm ausdrüklich verboten worden war. Er konnte nur mit knapper Noth mit seinem Wagen vor dem heran brausenden Eisenbahnzuge vorüberfahren, so daß der kleinste unvorhergesehene Umstand hätte ein Unglük herbeiführen müssen. Gleichwohl wurde dieser Fall lediglich nach Maßgabe des Eisenbahnreglementes des Kantons Wallis behandelt, indem der Präfekt des Bezirkes St. Maurice sich begnügte, dem Monney eine Buße von Fr. 8 aufzulegen. Wir konnten dieses Verfahren nicht als richtig anerkennen, indem Monney entgegen der förmlichen Abmahnung sich selbst und den herankommenden Eisenbahnzug offenbar einer erheblichen Gefahr ausgesezt hat, und der Umstand, daß zufällig kein Schaden entstanden ist, gemäß litt, b von Art. 67 des Bundesstrafgeseze finden Begriff der fahrläßigen Gefährdung des Eisenbahnbetriebes nicht in Betracht kommt. Es konnte daher nicht das Eisenbahnreglement des Kantons Wallis zur Anwendung kommen , sondern es mußte nach Vorschrift von Art. 74 des Bundesgesezes über das Bundesstrafrecht zuerst der Gerichtsstand festgestellt und es konnte dann nur nach Maßgabe von Art. 67, litt, b des gleichen Bundesgesezes geurtheil werden. Nachdem dieses geschehen, wurde Monney gerichtlich noch zu drei Tagen Gefängniß verurtheilt.

13. In Salquenen, Wallis, warf ein Georges C i n a Holzstüke mit Eisendrähten und Steine auf die Eisenbahnlinie. Der Präfekt
des Bezirkes Leuk begnügte -sich, lediglich das Bahnpolizeireglement anzuwenden und dem Cina eine Buße von Fr. 12 aufzulegen. Wir sahen uns auch hier veranlaßt, gemäß Art. 74 des Bundesstrafrechtes eine g e r i c h t l i c h e Untersuchung und Bestrafung zu

527 verlangen, und daß bei der Beurtheilung.kein Walliser Gesez oder Polizeireglement, sondern ausschließlich das Bundesstrafgesez zur Anwendung kommen dürfe. Dieser Fall ist noch nicht beurtheilt.

14. Auf der Station Evioniiaz fand ein Zusammenstoß von zwei Eisenbahnzügen statt, in Folge falscher Weichenstellung, weil der Weichenwärter Emil C o q u o z sich von seinem Posten entfernt hatte. Die Direktion der westschweizerischen Bahnen ahndete diese Pflichtverlezung disziplinarisch mit 14 Tagen Diensteinstellung d'îs Coquoz, ohne den staatlichen Behörden eine Anzeige zu machen.

^ /ir sahen uns veranlaßt, diese Angelegenheit von Amtes wegen
15. Heinrich F r i c k in Borgen wurde beschuldigt, eine terriere beim Eisenbahnübergang hinter dem Dorfe Borgen ausehoben und auf die Straße gelegt zu haben. Im Laufe der Unteruchung kam noch die Anklage wegen Anstiftung zu falschem jeugnisse hinzu, auf welche Art. 14, 19, 62 und 74 des Bundesitrafgesezes angewendet wurde. Das
Bezirksgericht Borgen sprach in von beiden Anklagen frei und übertrug die Kosten der Bundestasse. Bezüglich der erstem Anklage. nahm der Richter an, es ïonne von einer fahrläßigen Gefährdung des Eisenbahnbetriebes ichon darum keine Rede sein, weil ein Schaden nicht entstanden ind in Art. 12 des Bundesstrafgesezes zu diesem Begriffe ausPnndesblatt. 30. Jahrg. Bd. II.

36

528 drüklich eine entstandene Schädigung vorausgesezt sei. Wir appellirten gegen dieses Urtheil und sprachen uns hinsichtlich der weiteren Behandlung der Sache dahin aus: Was die Anklage wegen des Versuches von Anstiftung zu falschem Zeugniß betrifft, so- entzieht sich dieser Theil des Urtheils unserer Cognition, weil diese Anklage unter dem gemeinen Strafrechte des Kantons steht, und durch das zufällige Zusammentreffen mit einer Handlung, welche dem Bundesstrafrecht unterstellt ist, nicht auch unter das leztere gezogen werden kann. Es ist auch die Berufung auf Art. 62 des Bundesstrafgesezes unrichtig, weil derselbe ausdrüklich nur auf falsches Zeugniß oder falsche Anklage ^ v o r einer Bundesb e h ö r d e t t , also z. B. vor einem eidgenössischen Untersuchungsrichter oder vor den Bundesassisen, sich bezieht. Die Kosten, welche auf den leztern Theil der Untersuchung und des Urtheils sich beziehen, sind daher von den Gesammtkosten auszuscheiden und auf die Kantonskasse zu nehmen.

Das Obergericht des Kantons Zürich erklärte den Frick der fahrläßigen Gefährdung des Eisenbahnbetriebes und des Versuches der Anstiftung zu falschem Zeugniß schuldig und verurtheilte ihn zu 14 Tagen Gefängniß und Fr. 100 Buße. Bezüglich des objektiven Thatbestandes sprach sich das Obergericht in der ersten Erwägung seines Urtheils wie folgt aus: Art. 12 des Bundesstrafgesezes bestimmt nicht, daß eine strafbare Fahrläßigkeit nur dann anzunehmen sei, wenn ein Schaden eingetreten ist, was auch kaum zu begreifen wäre; er sagt nur, daß eine durch Fahrläßigkei verursachte Schädigung bloß unter gewissen Voraussezuugen bestraf werden dürfe. Wenn er übrigens auch anders verstanden werden könnte, so würde ihm die spezielle Bestimmung des Art. 67, litt b eod. derogiren, in welchem ausdrüklich schon Der mit Strafe bedroht wird, welcher fahrläßiger Weise eine G e f a h r herbeiführt Dieser objektive Thatbestand liegt hier vor; denn die Entfernung der Barriere in einer Weise, daß sie nicht mit der gewohnten Schnelligkeit vor dem Herankommen eines Zuges geschlossen une auch nicht von Einem allein wieder in Funktion gebracht werden konnte, bildete offenbar eine erhebliche Gefährdung für den Eisen bahnbetrieb, auch abgesehen von den Folgen, welche das Hinüber legen derselben über die Straße unmittelbar vor dem Bahnüber gang für Menschen
und Thiere haben konnte.

b. W e r b u n g .

16. Wir haben im lezten Geschäftsberichte bereits auf die Erscheinung der vermehrten Werbung nach holländisch Indien

(.

529

aufmerksam gemacht. Es ist denn auch im Laufe des Berichtsjahres gelungen, einige Werber zu arretiren und zu bestrafen.

Ein gewisser Leon Ort eis b e r g e r von Plotski bei Warschau hatte seine Thätigkeit als Werber in Lausanne und Genf entwikelt und wurde am erstem Orte zur Haft gebracht. Das Polizeigericht des Bezirkes Lausanne erklärte ihn der Anwerbung für den holländisch-indischen Militärdienst für schuldig und verurtheilte ihn zu l Jahr Gefängniß, 50 Fr, Buße und 5 Jahren Einstellung in den bürgerlichen Rechten.

Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt kam zur Beurtheilung von zwei Fällen. In dem einen wurde Job. Jakob E 11 e r von Langrikenbach, Kantons Thurgau, wegen Werbung zu einmonatlicher Gefängnißstrafe, Fr. 10 Buße und Bezahlung der Kosten verurtheilt. In dem andern lautete das Urtheil gegen Rud. G au t s chi von Reinach, Kantons Aargau, auf 3 Monate Gefängniß, Fr. 50 Buße, 2 Jahre Einstellung im Aktivbürgerrecbt und auf Bezahlung der Kosten.

Eine vierte Untersuchung, welche auf Werbungen im bernischen Jura sich bezog, mußte eingestellt werden, weil der Name des Werbers nicht festgestellt werden konnte.

Der in unserm lezteii Berichte erwähnte Werber Theodor G a n i o z von Sitten hat bekanntlich bei der Bundesversammlung ein Gesuch um Nachlaß der Strafe gestellt, und es wurde ihm auch mit Beschluß vom 16. Juni 1877 die Gefängnißstrafe in Gnaden erlassen. B. Bl. 1877, ffl, 162 und 277.

c. L i q u i d a t i o n der K o s t e n .

17. Der Eisenbahnunfall bei Palézieux, für welchen durch den im lezten Geschäftsberichte enthaltenen Beschluß der Gerichtsstand des Kantons Waadt bestimmt worden war, endigte mit der Freisprache der Angeklagten von Strafe und Kosten. Die Regierung des Kantons Waadt verlangte hierauf den Ersaz der Kosten im Betrage von Fr. 1285. 95 aus der Bundeskasse. Wir lehnten jedoch die Vergütung der Taggelder der Geschwornen, des Staatsanwaltes und der Richter ab, als in Widerspruch stehend mit Art. 15 des Bundesgesezes über die Kosten der Bundesrechtspflege (Off.

Samml. V, 408) und mit der wiederholt auch gegenüber dem Kanton Waadt festgehaltenen Praxis, gestüzt auf folgende Gesichtspunkte: Es verstehe sich von selbst, daß von Seite der Bundesadministration alle Kantone gleich gehalten werden müssen. Dieses wäre

530 aber offenbar nicht der Fall, wenn der Bund jene Kosten dem Kanton Waadt ersezen würde, während alle andern Kantone, in denen ein solcher Fall durch die ständigen Richter, welche fix besoldet werden, beurtheilt werden müßte, keinen Beitrag an diese Besoldung erhielten. Der gleicheGrundsaz sei auch gegenüber andern Kantonen angewendet worden, z. B. gegenüber dem Kanton Neuenburg aus Anlaß des Eisenbahnunfalles bei Colombier. Der Art. 15 des Bundesgesezes über die Kosten der Bundesrechtspflege könne unmöglich in einem andern Sinne verstanden werden, weil der im gleichen Artikel zitirte Art. 74 des Bundesstrafrechtes auf der Voraussezung beruhe, daß die Kantone die bei ihnen bestehende Gerichtsorganisation zur Beurtheihmg der ihnen überwiesenen Straffälle dem Bunde unentgeltlich zur Verfügung zustellen, beziehungsweise, daß die Ausübung der Gerichtsbarkeit in den durch Delegation den Kantonen überwiesenen Fällen eine Pflicht und nicht bloß ein Recht der Kantone bilde.

Zur weitern Begründung dieser Ansicht werde nochmals auf einige Schreiben über den nämlichen Gegenstand aus den Jahren '1872 und 1874 verwiesen. Der Staatsrath habe in den dort erwähnten zwei Fällen den Standpunkt des Butidesralhes als richtig anerkannt, und es liege kein Grund vor, hier anders zu verfahren.

Aus dem Umstände, daß der Staatsrath in seinem Schreiben an den Bundesrath vom 4. August 1876 die Uebernahme der Untersuchung und Beurtheilung dieses Falles an den Vorbehalt geknüpft habe, daß die Kosten von der Eidgenossenschaft getragen werden , vermöge die allein maßgebende g e s e z l i c h e Grundlage und deren gleichmäßige Anwendung gegen alle Kantone nicht zu Gunsten des Kantons Waadt zu ändern. Uebrigens müsse darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Bundesrath den Vorbehalt des Staatsrathes keineswegs stillschweigend hingenommen, sondern in seiner Antwort vom 7. August 1876 darauf hingewiesen habe, daß lediglich der Art. 15 des Bundesgesezes über die Kosten der Bundesrechtspflege vom 24. Dezember 1856 zur Anwendung gebracht werden müsse. Der Bundesrath vertrete auch heute noch lediglich die gleichmäßige Anwendung dieses Bundesgesezes und gewärtige, ob der Staatsrath diese Anwendung, wie es bis anhin in ähnlichen Fällen geschehen sei, auch im Spezialfalle anerkennen oder ob er hierüber den Entscheid der Bundesversammlung provoziren wolle.

Die Regierung des Kantons Waadt glaubte, auf der Forderung der Taggelder für die Geschwornen und Richter etc. be-

531 harren zu sollen und verlangte demgemäß bei Anlaß der oben erwähnten Ueberweisung des Werbers Leon Ortelsberger die vorgängige Zusicherung der eventuellen Zahlung dieser Kosten aus der Buudeskasse. Wir mußten jedoch dieses Begehren ablehnen und machten den Staatsrath des Kantons Waadt darauf aufmerksam, doß er, im Fall er unsere grundsäzliche Entscheidung nicht anerkennen wolle, sein Rekursrecht an die Bundesversammlung benuzen und bei dieser eine bezügliche Beschwerde eingeben möge, was indeß bis jezt nicht geschehen ist.

18. Aus Anlaß von zwei Eisenbahnunfällen wurden die Gerichte darauf aufmerksam gemacht, daß die Kosten den betreffenden Eisenbahngesellschaften aufgelegt werden sollten, im einen Falle, weil eine mangelhafte Anlage der Geleise wiederholte Unfälle verursacht hatte, und im andern Falle, weil ein Bahnhofvorstand die provisorische Stellvertretung eines Weichenwärters durch eine offenbar unfähige Person zugelassen hatte. Im ersteren Falle hat das Gericht unserer Anregung Folge gegeben, und es soll nun seither die nöthige Aenderung des Geleises vollzogen worden sein.

III. Fremdenpolizei.

19. Einige Streitigkeiten von größerm Umfange unter den Arbeitern in G o s c h e n en und Widersezlichkeit einzelner Arbeiter gegen die dort stationirteu 2 Landjäger erwiesen das absolute Bedürfhiß zu einer Vermehrung der dortigen Polizeimannschaft und besserer Organisirung derselben. Wir ermangelten nicht, die Regierung des Kantons Uri wiederholt einzuladen, in diesem Sinne vorzugehen.

20. Die Gesandtschaft des deutschen Reiches unterstüzte die Reklamation des Sattlergesellen Joseph S t a b aus Württemberg, welcher darüber sich beschwerte, daß er im März 1876 in Rolle, als er sich nach Arbeit umgesehen, von einem Landjäger arretirt und, weil des Bettels beschuldigt, mit der Handschelle geschlossen von Rolle bis Lausanne geführt und dann während 14 Tagen von Gefängniß zu Gefängniß transportirt worden sei, bis er endlich in Zürich unter der Bedingung sofortiger Abreise aus der Schweiz entlassen worden. Die Gesandtschaft verlangte für Stab eine Entschädigung von Fr. 200. Die Regierung des Kantons Waadt lehnte dieses Begehren ab und rechtfertigte das Verfahren ihrer Polizeiangestellteu. Wir unsererseits dagegen fanden nach näherer Untersuchung der Verhältnisse das Begehren begründet, bezahlten vorschußweise die verlangte Entschädigung von Fr. 200, und als der

532 Staatsrath des Kantons Waadt deren Rükvergütung verweigerte, erhoben wir gegen ihn eine Klage vor Bundesgericht. Der Prozeß wurde im Laufe des Jahres 1877 instruirt und endigte im Anfange des laufenden Jahres mit der Verurtheilung des Staatsrathes von Waadt. Das Urtheil wird ohne Zweifel in der amtlichen Sammlung der Entscheide des Bundesgerichtes erscheinen, auf welche wir verweisen.

IV. Politische Polizei. Flüchtlinge.

21. In der Nacht vom 26. auf den 27. August 1877 haben in der S t a d t L u g a n o Unordnungen stattgefunden, welche von der Regierung als Angriffe gegen die öffentliche Sicherheit und Ruhe, von den Lokalbehörden jedoch als gewöhnliche Prügeleien erklärt worden sind. Unter Annahme des erstem Standpunktes glaubte die Regierung von Tessin die Stadt Lugano mit drei Kompagnien militärisch besezen zu müssen, wogegen die Stadt Lugano protestirte und Beschwerde führte. Wir ließen unsere Intervention zunächst zum Zweke der möglichst baldigen Aufhebung der Okkupation eintreten. Die Regierung machte indeß diese Verfügung von der vorgängigen Bezahlung der Kosten abhängig. Nachdem jedoch die Munizipalität alle Garantien für Aufrechthaltung der Ruhe übernommen hatte, zog der Staatsralh auf unsere Verwendung am 8.

und 9. September die Truppen zurük; er beharrte aber auf der Forderung zum Ersaz der Kosten und drohte später militärische Exekution an.

Nach Aufhebung der Okkupation hatten wir keinen Grund, uns weiter mit der Statthaftigkeit derselben zu befassen, und was die Kostenfrage betrifft, so fanden wir, daß dieselbe zunächst gemäß dem kantonalen Staatsrecht geordnet werden müsse, wobei dann der Munizipalität Lugano, wenn sie sich gegen die daherige Verfügung der Regierung beklagen zu können glaube, der Rekurs au den Großen Rath offen stehen möge. Auf der andern Seite richteten wir an den Staatsrath die Einladung, die Exekution seines Beschlusses so lange zu suspendiren, bis die Munizipalität Lugano an den Großen Rath rekurrirt oder auf einen solchen Rekurs verzichtet habe. Der Große Rath von Tessin hatte dann wirklich am 3. Dezember abbin einen dießfälligen Rekurs der Stadt Lugano zu behandeln, allein es wurde der Entscheid des Staatsrathes bestätigt und selbst auf militärischem Wege vollziehbar erklärt. Der weitere Verlauf dieser Angelegenheit fällt in das Jahr 1878.

533 22. Bezüglich der p o l n i s c h e n F l ü c h t l i n g e sind keine Veränderungen eingetreten. An üblichen Unterstüzungen für einige kranke und altersschwache Polen sind Fr. 376. 50 ausgelegt worden.

V. Heimatlosenwesen.

23. Der Staatsrath des Kantons T e s s i n , dem wir für sich und zu Händen des Großen Rathes neuerdings möglichste Beförderung der Erledigung der Heimatlosenangelegenheit empfohlen hatten, gab uns zwei einläßliche Berichte. Darnach haben der Große Rath und der Staatsrath, wie auch das Departement des Innern, die Einbürgerung der Heimatlosen eifrigst gefördert, und es waltet nun ein ernster Wille, verbunden mit reger Thätigkeit, diese Angelegenheit bald zum Abschlüsse zu bringen. Um sodann das Resultat definitiv zu sichern, wird die Einführung von Bürgerbüchern durch einen bezüglichen Gesezesentwurf .bei dem Großen Rathe angetragen, eine Maßregel, die gegenüber den bloßen Bevölkerungslisten ohne Zweifel den Vorzug verdient. Sodann wird an einer genauen Liste der in Vollziehung des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit eingebürgerten Personen gearbeitet.

Nach der" uns mitgetheilten Liste hat der Staatsrath im Jahr 1877 29 Dekrete über Einbürgerung von einzelnen Personen oder ganzen Familien erlassen. Die Zahl der Personen , welche diese Dekrete umfassen, kennen wir leider nicht, da sie in der Liste nicht mitgetheilt worden ist, obschon wir wiederholt darauf gedrungen haben.

Das Gleiche gilt von 25 andern Fällen, welche durch Anerkennung der Angehörigkeit in einem auswärtigen Staate erledigt worden sind. 6 weitere Einbürgerungsdekrete des Staatsrathes sind noch nicht definitiv rechtskräftig, indem sie an den Großen Rath rekurrirt wurden. Von den bei dem Großen Rathe pendenten Rekursen hat derselbe 6 durch definitive Entscheide erledigt, und es ist auch von dieser Seite nun eine vermehrte Thätigkeit zu gewärtigen, nachdem die politischen Zustände des Landes sich wesentlich gebessert haben.

Was die Einbürgerung der eigentlichen Heimatlosen betrifft, so berichtet der Staatsrath, daß jezt blos noch fünf bestimmte Familien pendent bleiben, wozu vielleicht noch der eine oder andere neue Fall hinzukommen könne. Die Erledigung dieser Untersuchungen sei durch ihre außerordentlichen Schwierigkeiten und zulezt durch die Krankheit und den Tod des mit der Führung derselben betrauten Beamten verzögert worden. Er stellt indeß auch

534 die endliche Bereinigung dieser Fälle, sowie überhaupt der ganzen Einbürgerungsangelegenheit, in nahe Aussicht.

24. Im Kanton W al lis blieben nach dem Berichte des Staatsrathes bloß noch 46 ihm bekannte heimatlose Personen (nicht 120, wie in unserm letzten Geschäftsberichte erwähnt wurde) einzubürgern.

Diese 46 Köpfe sind durch Beschluß vom 20. Februar 1878 in Anwendung von Art. 11 des kantonalen Gesezes vom 20. Februar 1878 unter 39 Gemeinden vertheilt worden. Der Staatsrath hält es indeß für wahrscheinlich, daß später noch einzelne bisher unbekannte heimatlose Personen zum Vorschein kommen können, und nimmt für die Bereinigung dieser allfällig noch auftauchenden Fälle den Erlaß eines nachträglichen Einbürgerungsbeschlusses in Aussicht.

25. Die aus der Einbürgerung der allgemeinen schweizerischen Heimatlosen noch pendenten Untersuchungen sind im Laufe des Berichtsjahres wieder erheblich gefördert worden, so daß 7 derselben, betreffend 32 Personen, noch im Laufe des Jahres durch förmliche Entscheide erledigt werden konnten. Eine 8. Untersuchung, betreffend 10 Personen, hat dadurch ihre Erledigung gefunden, daß die Eltern, nachdem ihre Abstammung und ihr Familienstand festgestellt war, die Anerkennung ihrer auswärtigen (römischen) Ehe durch das Bundesgericht und damit auch die heimatliche Angehörigkeit der ganzen Familie erlangen konnten. Es haben alle erwähnten Entscheide ihre definitive Vollziehung gefunden, indem sie von den belasteten Kantonen anerkannt wurden. Die zwei vor Bundesgericht pendenten Fälle sind im Laufe des Jahres beurtheilt worden und zwar durch Bestätigung unserer Entscheide, die nun seither auch vollzogen worden sind.

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Bericht des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahr 1877.

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Jahr

1878

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2

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20

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01.05.1878

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463-534

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