13.075 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Bundesgericht (Erweiterung der Kognition bei Beschwerden in Strafsachen) vom 4. September 2013

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf zur Änderung des Bundesgesetzes über das Bundesgericht ­ Erweiterung der Kognition bei Beschwerden in Strafsachen.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2010 M 10.3138

Erweiterung der Kognition des Bundesgerichtes bei Beschwerden gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichtes (S 10.06.10, Janiak; N 17.12.10)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

4. September 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2012-1642

7109

Übersicht Die am 17. März 2010 von Ständerat Janiak eingereichte Motion «Erweiterung der Kognition des Bundesgerichtes bei Beschwerden gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichtes» (10.3138) beauftragt den Bundesrat, die Kognition des Bundesgerichts bei Beschwerden gegen Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts dahingehend zu erweitern, dass Sachverhaltsfeststellungen uneingeschränkt überprüft werden können. Die Motion wurde am 10. Juni 2010 vom Ständerat und am 17. Dezember 2010 vom Nationalrat angenommen.

Ausgangslage Nach geltendem Recht können Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts mit Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht angefochten werden. Dabei kann das Bundesgericht zwar die Rechtsanwendung überprüfen, ist aber grundsätzlich an den Sachverhalt gebunden, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hat. Nur wenn diese Feststellung offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht, kann das Bundesgericht sie berichtigen. Diese Regelung entspricht nicht jener der Strafprozessordnung (StPO), wonach Urteile erstinstanzlicher Gerichte sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht uneingeschränkt überprüft werden können.

Zudem kommt der Bundesanwaltschaft insoweit eine ungewöhnliche Machtfülle zu, als sie mit dem Entscheid, ein Verfahren an einen Kanton zu delegieren oder selber Anklage vor der Strafkammer des Bundesstrafgerichts zu erheben, auch darüber entscheidet, ob einer beschuldigten Person mehrere Instanzen zur Verfügung stehen oder ob nur eine den Sachverhalt abschliessend feststellt.

Inhalt der Vorlage Das Bundesgericht soll bei Beschwerden gegen Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts in Zukunft die Feststellung des Sachverhalts und Beweiswürdigung der Vorinstanz uneingeschränkt überprüfen können. Die gleiche Regelung gilt für Entscheide über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- und Unfallversicherung. Kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die Vorinstanz den Sachverhalt nicht korrekt festgestellt hat, so wird es den Sachverhalt wohl nur ausnahmsweise selber vervollständigen. In der Regel wird es den Fall zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückweisen. Damit stellt die vorgeschlagene Änderung die von der Justizreform beabsichtigte Entlastung des obersten Gerichts nicht in Frage.

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Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Geltendes Recht

Die Strafkammer des Bundesstrafgerichts beurteilt Straftaten, welche der Bundesgerichtsbarkeit unterstehen (Art. 23 f. der Strafprozessordnung1, StPO; Art. 35 des Strafbehördenorganisationsgesetzes vom 19. März 20102, StBOG). Die Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts können mit Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht angefochten werden. Dabei kann das Bundesgericht die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur prüfen und allenfalls berichtigen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 20053 (BGG) beruht (Art. 97 Abs. 1 und 105 Abs. 2 BGG). Ansonsten ist das Bundesgericht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden. Eine uneingeschränkte Sachverhaltskontrolle ist demnach ausgeschlossen.

Anders ist die Situation bei den kantonalen Strafverfahren. Erstinstanzliche kantonale Urteile können mittels Berufung angefochten werden, wobei diese ein vollkommenes Rechtsmittel darstellt. Die Berufungsinstanz kann das Urteil somit sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht umfassend überprüfen (Art. 398 Abs. 2 StPO). Eine Ausnahme gibt es bezüglich Übertretungen, die ausschliesslich Gegen-stand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens bilden. In diesem Fall kann mit der Berufung nur geltend gemacht werden, das Urteil sei rechtsfehlerhaft oder die Feststellung des Sachverhalts sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung. Neue Behauptungen und Beweise können nicht vorgebracht werden (Art. 398 Abs. 4 StPO). Gegen den letztinstanzlichen kantonalen Entscheid ist die Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht zulässig mit den vorstehend aufgezeigten Einschränkungen hinsichtlich der Sachverhaltsüberprüfung.

Die unterschiedlichen Kognitionen haben nebst den rechtlichen Aspekten in Fällen der Bundesgerichtsbarkeit eine besondere praktische Relevanz, da die Bundesanwaltschaft Strafsachen der Bundesgerichtsbarkeit unter bestimmten Voraussetzungen den kantonalen Behörden zur Untersuchung und Beurteilung übertragen kann (Art. 25 StPO). Diesfalls wird die Angelegenheit durch zwei Instanzen mit voller Kognition beurteilt, während im anderen Fall (keine Delegation im Sinne von Art. 25 StPO) die Beurteilung allein durch eine Instanz mit voller Kognition erfolgt.

1 2 3

SR 312.0 SR 173.71 SR 173.110

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1.1.2

Arbeiten zum Strafbehördenorganisationsgesetz

Bei den Arbeiten zum StBOG ist die Frage des Rechtsmittels gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts eingehend geprüft worden.4 In der Vernehmlassungsvorlage5 hat der Bundesrat eine neue Bestimmung im BGG vorgeschlagen, welche das Bundesgericht als Berufungsinstanz mit voller Kognition gegen Urteile des Bundesstrafgerichts vorsah. Die Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts6 hält ausdrücklich fest, auch der Bund müsse eine Berufungsinstanz vorsehen. Wenn der Bundesgesetzgeber den Kantonen ein zweistufiges Gerichtsmodell mit einem vollkommenen Rechtsmittel vorschreibt, so tut er dies mit guten Gründen. Gerade bei komplexen Verfahren, wie sie vor allem am Bundesstrafgericht zu bewältigen sind, braucht es einen ausgebauten Rechtsschutz. In der Vernehmlassung stiess dieser Vorschlag aus unterschiedlichen Gründen teilweise auf Ablehnung.7 Der Bundesrat hat sich aufgrund des Vernehmlassungsergebnisses in der Botschaft zum StBOG für die Beibehaltung des Status quo ausgesprochen mit der Begründung, dass die mit dem BGG angestrebte Entlastung des Bundesgerichts gefährdet wäre, weil mit einer systemwidrigen Sachverhaltskontrolle das Bundesgericht innert Kürze erneut überlastet wäre und in der Erfüllung seiner Kernaufgaben beeinträchtigt werden könnte. Gleichzeitig hat der Bundesrat darauf hingewiesen, dass der Status quo die Möglichkeit offen lässt, zu einem späteren Zeitpunkt ein eigenständiges, dreisprachiges Berufungsgericht oder eine Berufungskammer zu schaffen, falls die Fallzahlen bei der Strafkammer des Bundesstrafgerichts weiter steigen sollten und damit die Berufungsinstanz ausgelastet werden könnte.8 Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen zum StBOG wurde die Frage des Rechtsmittels nochmals aufgeworfen und kontrovers diskutiert.9 Der Nationalrat hatte zunächst einen Minderheitsantrag angenommen, der das Bundesgericht als letzte Berufungsinstanz über die Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts vorsah. Erst in der dritten Lesung hat der Nationalrat diese Bestimmung fallengelassen und sich dem Bundesrat und dem Ständerat angeschlossen. Es wurde argumentiert, dass die Frage nach zweistufiger Gerichtsbarkeit nicht das Hauptanliegen des StBOG sei und dass der Zeitpunkt nicht passend sei, um über diesbezügliche Lösungen nachzudenken. Im Hinblick auf eine mögliche
Einigungskonferenz wurde die Variante zur Diskussion gestellt, anstelle einer Berufungsmöglichkeit die Kognition des Bundesgerichts im Beschwerdeverfahren um die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts zu erweitern (vgl. Ziff. 1.1.3).

4 5

6 7

8 9

Ausführliche Bemerkungen dazu unter Ziff. 1.3.4.

Der Vorentwurf und dessen Begleitbericht sind abrufbar unter: www.admin.ch > Politische Geschäfte > Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren > abgeschlossene Verfahren > 2007 > Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement.

BBl 2006 1085, hier 1126 und 1382 Die Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens über den Bericht und den Vorentwurf zu einem Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes vom September 2008 ist abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Themen > Sicherheit > Gesetzgebung > Abgeschlossene Projekte > Vereinheitlichung des Strafprozessrechts.

BBl 2008 8125, hier 8146; ausführlich vgl. Ziff. 1.3.4.

AB 2009 N 2269 ff.; AB 2010 N 124 ff. und 333 ff.; AB 2010 S 8 f. und 161.

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1.1.3

Motion Janiak

Kurz vor der Schlussabstimmung zum Strafbehördenorganisationsgesetz reichte Ständerat Janiak am 17. März 2010 eine Motion (10.3138) mit folgendem Wortlaut ein: «Der Bundesrat wird beauftragt, die Kognition des Bundesgerichts bei Beschwerden gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts dahingehend zu erweitern, dass Sachverhaltsfeststellungen überprüft werden können.

Vorschlag zur Änderung des Bundesgerichtsgesetzes: Art. 97 Abs. 2 Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung oder gegen ein Urteil der Strafkammer des Bundesstrafgerichtes, so kann jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes gerügt werden.

Art. 105 Abs. 3 Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung oder gegen ein Urteil der Strafkammer des Bundesstrafgerichtes, so ist das Bundesgericht nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden.» Der Bundesrat beantragte am 26. Mai 2010 die Annahme der Motion, und entsprechend sind der Ständerat am 10. Juni 2010 und der Nationalrat am 17. Dezember 2010 dem Antrag gefolgt.

1.1.4

Der Vorentwurf

Gestützt auf die Motion Janiak hat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) einen Vorentwurf zur Änderung des BGG samt Begleitbericht ausgearbeitet.

Der Vorentwurf hat den ausformulierten Umsetzungsvorschlag der Motion weitestgehend übernommen, da er in sich stimmig ist und für die aufgezeigte Problematik einen korrekten Lösungsansatz bietet.

Mit Beschluss vom 5. September 2012 hat der Bundesrat das EJPD beauftragt, über den Vorentwurf (inkl. Bericht)10 eine Vernehmlassung durchzuführen. Entsprechend hat das EJPD die Kantone, die in der Bundesversammlung vertretenen Parteien sowie die interessierten Institutionen und Organisationen zur Stellungnahme bis zum 5. Dezember 2012 eingeladen.

10

Der Vorentwurf und dessen Begleitbericht sind abrufbar unter: www.admin.ch > Politische Geschäfte > Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren > abgeschlossene Verfahren > 2011 > Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement.

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1.2

Die beantragte Neuregelung

Der Bundesrat schlägt zur Umsetzung der Motion Janiak «Erweiterung der Kognition des Bundesgerichtes bei Beschwerden gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichtes» eine Neuregelung vor, welche inhaltlich der Vernehmlassungsvorlage entspricht.

Gegenüber der aktuellen Rechtslage hat der Entwurf den Vorteil, dass das Bundesgericht bei der Beurteilung von Beschwerden in Strafsachen gegen Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts den Sachverhalt uneingeschränkt überprüfen kann. Die uneingeschränkte Sachverhaltsüberprüfung ist dem Bundesgericht nicht fremd, da es heute noch in gewissen Bereichen der Militär- und Unfallversicherung über die gleiche Kognition verfügt (Art. 105 Abs. 3 BGG).

Kommt das Bundesgericht im konkreten Fall zum Schluss, dass die Strafkammer des Bundesstrafgerichts den Sachverhalt nicht korrekt festgestellt hat, wird es wohl nur ausnahmsweise selber zur Vervollständigung des Sachverhaltes schreiten und danach reformatorisch entscheiden. In der Regel wird das Bundesgericht die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG), wenn es aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage ist, ein abschliessendes Urteil in der Sache zu sprechen. Damit wird auch die mit der Justizreform geplante Entlastung des Bundesgerichts nicht gefährdet, zumal jährlich nur etwa 11 Beschwerden in Strafsachen gegen Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts beim Bundesgericht erhoben werden.

Darüber hinaus wird mit der vorgeschlagenen Änderung eine Ungleichbehandlung mindestens teilweise beseitigt, die dadurch entsteht, dass die Bundesanwaltschaft Fälle an die Kantone delegieren kann und folglich zwei Instanzen den Sachverhalt uneingeschränkt prüfen, während bei einer Anklage vor der Strafkammer des Bundesstrafgerichts nur diese Instanz eine solche Prüfung vornimmt.

1.3

Begründung und Bewertung der vorgeschlagenen Lösung

1.3.1

Ergebnis der Vernehmlassung

Im Rahmen der Vernehmlassung haben sich 49 Vernehmlassungsteilnehmer und -teilnehmerinnen (Teilnehmende) zu Wort gemeldet. Die Vorlage wird von 36 Teilnehmenden gutgeheissen. Abgelehnt wird die Vorlage von 9 Teilnehmenden.

Im Wesentlichen wird gegen die vorgeschlagene Gesetzesänderung vorgebracht, dass eine Sachverhaltskontrolle in Straffällen durch das Bundesgericht dem wichtigsten Ziel der Justizreform, das Bundesgericht zu entlasten, widerspreche. Die Sachverhaltskontrolle durch das Bundesgericht stehe in Widerspruch zu seiner Rolle als oberstes Gericht, das als besondere Aufgabe für die Rechtseinheit und die Rechtsfortentwicklung in der Schweiz zu sorgen habe.

Die Vorlage führe nicht zu einer Verbesserung des Rechtsschutzes. Es sei anzunehmen, dass das Bundesgericht auch bei Erweiterung der Kognition Sachverhaltsüberprüfungen nur mit grosser Zurückhaltung vornehmen werde. Es komme zudem zu keiner vollen Sachverhaltsüberprüfung, weil es nicht zu einer mündlichen Gerichtsverhandlung und einem Beweisverfahren komme. Die vorgeschlagene Regelung verlängere die Verfahren.

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Um einen besseren Rechtsschutz zu erreichen, müsse ein eidgenössisches Berufungsgericht bzw. eine separate Berufungskammer beim Bundesstrafgericht geschaffen werden. Nur ein solches Gericht gewähre den gleichen Rechtsschutz wie in den kantonalen Verfahren. Dieser Vorschlag wird teilweise aber auch abgelehnt.

Namentlich werden gegen eine Berufungsinstanz im gleichen Gerichtsgebäude wie die Strafkammer Bedenken bezüglich der richterlichen Unabhängigkeit ins Feld geführt. Es bestehe die Gefahr der Beeinflussung, insbesondere im Bemühen, überneutral zu sein. Zudem müssten viele neue Stellen geschaffen werden und die Fallzahlen seien zu gering, um eine Berufungsinstanz in drei Sprachen führen zu können. Insofern wäre auch die Schaffung einer Berufungsinstanz an einem anderen Ort keine gangbare Lösung. In beiden Fällen müssten daher nebenamtliche Richterinnen und Richter eingesetzt werden, was hohe Kosten und keinen Qualitätsvorteil zur Folge hätte.

Das Bundesstrafgericht nehme seine Aufgabe als erstinstanzliches Gericht besonders sorgfältig wahr. Es sei ein Spezialgericht und könne daher nicht mit einem erstinstanzlichen, kantonalen Strafgericht verglichen werden. Angebracht sei der Vergleich mit einem Handelsgericht, gegen dessen Urteile auch kein kantonales Rechtsmittel zur Verfügung stehe. Der Status quo sei beizubehalten.11

1.3.2

Stellungnahme des Bundesgerichts

Das durch die Vorlage direkt betroffene Bundesgericht hat sich am 4. Juni 2012 zum Vernehmlassungsentwurf und erläuternden Bericht geäussert. Am 22. November 2012 hat es im Rahmen der Vernehmlassung nochmals zur Vorlage Stellung genommen, wobei hauptsächlich auf die Stellungnahme vom 4. Juni 2012 verwiesen wurde. Das Bundesgericht lehnt die beabsichtigte Erweiterung der Kognition in Strafsachen ab. Nachfolgend werden die wesentlichen Argumente des Bundesgerichts aus der Stellungnahme vom 4. Juni 2012 wiedergegeben: Positionierung der Vorlage im Rechtsmittelsystem nach StPO und BGG Der wesentliche Unterschied zwischen der Beschwerde nach BGG und der Berufung nach StPO liegt in der Kognition bei Tatfragen und im Urteilsverfahren. Im Rahmen der Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht werden Beweiswürdigung und Sachverhalt aufgrund der Akten auf Willkür hin überprüft (Art. 105 BGG). Zu einer mündlichen Gerichtsverhandlung ­ die von einer öffentlichen Urteilsberatung der Richter und Richterinnen zu unterscheiden ist ­ kommt es nicht; das Bundesgericht führt nicht selbst ein Beweisverfahren durch. Im Rahmen einer Berufung hingegen wird der Sachverhalt frei überprüft. Das Verfahren ist dementsprechend aufwendiger: Die Parteien können insbesondere Beweisanträge wie die Einvernahme von Zeuginnen und Zeugen oder sachverständigen Personen stellen, die das Berufungsgericht nur mit schriftlich begründetem Zwischenentscheid ablehnen kann; abgelehnte Anträge können an der Hauptverhandlung erneut gestellt werden; Beweise müssen grundsätzlich vom ganzen Gericht abgenommen werden; in der Sache entscheidet das Berufungsgericht nach einer mündlichen Parteiverhandlung (Art. 398 Abs. 3 Bst. b, 405, 389, 331 Abs. 3, 332 Abs. 3 StPO).

11

Vgl. zum Ganzen: Vernehmlassungsbericht S. 7­10.

7115

Die vorgeschlagene Gesetzesänderung liegt zwischen diesen beiden Lösungen, indem die Kognition des Bundesgerichts im Rahmen der Beschwerde in Strafsachen erweitert wird. Neu soll bei Beschwerden gegen die Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden können. Das Bundesgericht wäre nicht mehr an die Sachverhaltsfeststellung der gerichtlichen Vorinstanz gebunden. Auch mit dieser Erweiterung der Kognition hätte das Bundesgericht allerdings nicht die volle Überprüfungsmöglichkeit eines Berufungsgerichts. Es könnte selbst keine Beweise abnehmen. In vielen Fällen müsste daher das vorinstanzliche Urteil aufgehoben und zur Beweisabnahme sowie erneuten Beurteilung zurückgewiesen werden. Dies verlängert das Verfahren.

Ablehnung der Vorlage Das Bundesgericht lehnt den Entwurf ab. Eine Sachverhaltskontrolle durch das Bundesgericht widerspricht den Zielen der Totalrevision der Bundesrechtspflege und der Rolle des Bundesgerichts als oberstem Gericht diametral. Das Bundesgericht ist in seiner Rechtsprechungstätigkeit auf seine besondere Aufgabe ausgerichtet, die Rechtseinheit und die geordnete Rechtsfortbildung in der Schweiz sicherzustellen. Die Rolle als Sachverhaltsgericht passt nicht dazu. Sie läuft der Grundidee der Justizreform zuwider, die Aufgaben des Bundesgerichts auf solche einer höchsten Instanz zu beschränken. Durch den Ausbau von Vorinstanzen sollte erreicht werden, dass sich das Bundesgericht «auf eine Prüfung der Rechtsfragen beschränken kann». Dies entsprach auch der Auffassung des Bundesrates. Ausdrücklich steht hierzu in der Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege: «Die Feststellung und die volle Überprüfung des Sachverhalts ist nicht Aufgabe des obersten Gerichts».12 Ebenso hielt der Bundesrat in der Botschaft zum StBOG fest, das Bundesgericht sei mit dem BGG neu organisiert worden mit dem Ziel, das Gericht durch eine stärkere Fokussierung auf seine Aufgabe als oberste rechtsprechende Behörde des Bundes zu entlasten.13 Der Bundesrat schlug deshalb im Einvernehmen mit dem Bundesgericht in Bezug auf den Weiterzug von Strafurteilen des Bundesstrafgerichts die Beibehaltung des Status quo vor. Dabei wies er darauf hin, dass die Möglichkeit offenstehe, später ein eigenständiges Berufungsgericht
oder eine bei einem anderen Gericht administrativ angesiedelte Berufungskammer zu schaffen.14 Eine Erweiterung der Kognition des Bundesgerichts zur Prüfung des Sachverhalts wurde dagegen zu Recht nicht in Erwägung gezogen.

Verbesserung des Rechtsschutzsystems Das Bundesgericht verschliesst sich einer Verbesserung des Rechtsschutzsystems selbstverständlich nicht. Es ist aber der Ansicht, dass isolierte Einzelfalllösungen zu vermeiden sind; vielmehr ist das Rechtsschutzsystem als Ganzes in sich geschlossen auszugestalten. Der Gesetzgeber hat mit dem Ausnahmekatalog von Artikel 83 BGG weit grössere Rechtsschutzlücken in Kauf genommen als in Bezug auf die Sachverhaltsüberprüfung der Strafurteile des Bundesstrafgerichts. Diese Rechtsschutzlücken müssten vorab bzw. gleichzeitig wie die Prüfung des Sachverhalts von Bundesstrafurteilen in einem ausgewogenen Gesamtpaket von Entlastungen und Belastungen für das Bundesgericht geschlossen werden. Das geeignete Gefäss hierfür ist die gegen12 13 14

BBl 2001 4202, hier 4225 BBl 2008 8125, hier 8145 BBl 2008 8125, hier 8146

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wärtig laufende Evaluation der Wirksamkeit der Totalrevision der Bundesrechtspflege durch das Bundesamt für Justiz. In diesem Rahmen können für die Strafurteile des Bundesstrafgerichts auch andere Lösungen geprüft werden. Die Motion Janiak ist aus der Sicht des Bundesgerichts letztlich nur eine halbe Lösung. Sie ist auch eine unbefriedigende Lösung, weil sie die Verfahren verlängern wird. Richtig wäre, in der Bundesstrafgerichtsbarkeit wie in den Kantonen eine Berufung nach Artikel 398 ff. StPO an eine Vorinstanz des Bundesgerichts einzuführen mit anschliessender Beschwerde in Strafsachen nach Artikel 78 ff. BGG an das Bundesgericht. Immerhin mutet der Bund auch den kleinsten Kantonen ein zweistufiges Justizsystem vor dem Bundesgericht zu. Das Gleiche muss auch für den Bund zumutbar sein, wenn er gewisse Teile der erstinstanzlichen Gerichtsbarkeit mit dem Argument der grösseren Effizienz den Kantonen wegnimmt und an sich zieht.

Mehrarbeit für das Bundesgericht In den Vernehmlassungsunterlagen wird gesagt, die Prüfung des Sachverhalts der Strafurteile des Bundesstrafgerichts gefährde die Entlastung des Bundesgerichts nicht, zumal nur etwa elf Beschwerden in Strafsachen erhoben würden, wobei ein Beschwerdefall mehrere Personen (und damit auch mehrere Beschwerden) umfassen könne (vgl. S. 5 des erläuternden Berichts). Diese Aussage beruht nach Auffassung des Bundesgerichts auf einer Fehleinschätzung. Es ist ein wesentlicher und nicht zu unterschätzender Unterschied, ob das Bundesgericht nur die grundsätzlich verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz im angefochtenen Urteil auf Willkür hin überprüfen muss oder ob es ganze Aktenberge ­ die Hunderte von Bundesordnern umfassen können ­ frei daraufhin prüfen muss, ob der Sachverhalt richtig festgestellt worden ist. Das Bundesstrafgericht setzt in der Strafkammer für rund 25 Fälle im Jahr 10 Richterinnen und Richter mit insgesamt 7,7 Stellen ein. Darin zeigt sich, wie aufwendig die Sachverhaltsermittlung ist. Hinzu kommt, dass bei einer Erweiterung der Kognition mit einer höheren Anfechtungsquote beim Bundesgericht zu rechnen ist. Das Bundesgericht könnte eine solche Aufgabenerweiterung keinesfalls mit den heutigen Mitteln auffangen.

1.3.3

Alternativvorschläge des Bundesgerichts

Aufgrund seiner ablehnenden Haltung (vgl. Ziff. 1.3.2) schlägt das Bundesgericht im Einvernehmen mit dem Bundesstrafgericht zwei alternative Lösungen vor, mit welchen die in der StPO vorgesehene Berufung auch auf Bundesebene eingeführt würde. Von den beiden Lösungsvorschlägen bevorzugen das Bundesgericht und das Bundesstrafgericht die erste Variante: Einbettung eines Berufungsgerichts in das Bundesstrafgericht Eine organisatorisch ins Strafgericht eingebettete Berufungsinstanz ist bei internationalen Strafgerichten üblich. So kennt der internationale Strafgerichtshof in Den Haag eine eigene Berufungsabteilung, die sich aus einer Präsidentin und vier weiteren Richtern und Richterinnen zusammensetzt, die ihr Amt ausschliesslich in dieser Abteilung ausüben. Ebenso hat der internationale Strafgerichtshof für Ruanda eine eigene Berufungskammer. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kennt eine eigene Berufungsinstanz mit 17 Richtern und Richterinnen. Zudem haben auch verschiedene Kantone die erste und zweite Instanz im gleichen Haus.

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Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts ist schon heute Beschwerdeinstanz gegen Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts, die weder ein Urteil sind noch verfahrensleitenden Charakter haben (Art. 393 Abs. 1 Bst. b StPO i.V.m.

Art. 37 Abs. 1 StBOG). Seit dem Inkrafttreten der StPO am 1. Januar 2011 sind bei der Beschwerdekammer 24 Beschwerden gegen Entscheide der Strafkammer eingegangen. Die Rechtsmittelzuständigkeit der Beschwerdekammer für Berufungen gegen Urteile der Strafkammer stellt somit verfahrensrechtlich kein Novum dar, sondern ergänzt die schon bestehenden Zuständigkeiten der Beschwerdekammer.

Ein Zusammenlegen von Beschwerdeinstanz und Berufungsgericht in einem Rechtsmittelgericht ist zulässig (Art. 20 Abs. 2 StPO). Wer als Mitglied der Beschwerdeinstanz tätig geworden ist, kann nicht im gleichen Fall auch im Berufungsgericht mitwirken (Art. 21 Abs. 2 StPO). Diese Einschränkung stellt kein Problem dar, falls die Anzahl Richter und Richterinnen in einem zusammengelegten Rechtsmittelgericht genug hoch ist. Das Parlament müsste die Richter und Richterinnen in die erste oder in die zweite Instanz wählen.

Das Rechtsmittelgericht kann mit wenig Kosten realisiert werden, da das heutige Bundesstrafgericht in ein erstinstanzliches Strafgericht und ein Rechtsmittelgericht (Beschwerden und Berufungen) aufzugliedern ist. Die genaue Anzahl Richter und Richterinnen sowie der Gerichtsschreiber und Gerichtsschreiberinnen müsste noch evaluiert werden, da von Synergien auszugehen ist.

Einbettung eines Berufungsgerichts in das Bundesverwaltungsgericht Nebst dem von den betroffenen Gerichten bevorzugten Lösungsvorschlag kann das Berufungsgericht nach dem Vorbild des Bundespatentgerichts als selbstständiges Gericht administrativ beim Bundesverwaltungsgericht angesiedelt werden. Bei der heutigen Geschäftslast wären zwei hauptamtliche Berufungsrichter und -richterinnen zu wählen (1,5 bis 2 Stellen). Im Übrigen könnte der Spruchkörper mit nebenamtlichen Richtern und Richterinnen besetzt werden, die aus dem Kreis der Bundesverwaltungrichter und -richterinnen und kantonaler Oberrichter und -richterinnen gewählt würden.

1.3.4

Gründe für eine Umsetzung der Motion Janiak

Ziel der Justizreform Mit der Totalrevision der Bundesrechtspflege wurden Organisation und Verfahren des Bundesgerichts, seine Vorinstanzen sowie die Rechtsmittel, die an das oberste Gericht führen, umfassend neu geregelt. Ziel der Vorlage war eine wirksame und nachhaltige Entlastung des stark überlasteten Bundesgerichts und damit die Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit, aber auch die Verbesserung des Rechtsschutzes in gewissen Bereichen sowie die Vereinfachung der Verfahren und Rechtswege. So wurde mit der Schaffung eines Bundesstrafgerichts das Bundesgericht von aufwendigen Direktprozessen entlastet. Das Bundesstrafgericht beurteilt als erste Instanz Straffälle, die der Gerichtsbarkeit des Bundes unterliegen, und hat zudem die Aufgaben der damaligen Anklagekammer des Bundesgerichts übernommen.15

15

BBl 2001 4202, hier 4208

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Bei der Justizreform ging es nicht allein um die Entlastung des Bundesgerichts, sondern auch um die Verstärkung des Rechtsschutzes ­ auch auf höchster Ebene.

Unter diesem Aspekt widerspricht die Umsetzung der Motion Janiak der Justizreform nicht.

Rolle des Bundesgerichts Die Aufgabe des Bundesgerichts als oberste rechtsprechende Behörde sollte ursprünglich auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt werden. Die Feststellung des Sachverhalts und dessen Überprüfung muss Sache der Vorinstanzen sein. Deshalb stellt Artikel 97 Absatz 1 BGG den Grundsatz auf, dass die Feststellung des Sachverhalts nicht erneut mittels einer Beschwerde in Frage gestellt werden kann. Das Bundesgericht ist an den Sachverhalt gebunden, wie ihn die Vorinstanz ermittelt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG).

Das Verbot, die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz in Frage zu stellen, ist aber nicht absolut. Der Gesetzgeber hat bereits in der Vergangenheit Ausnahmen gemacht: Namentlich hat er dem Bundesgericht die uneingeschränkte Sachverhaltskontrolle im Bereich der Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- und Unfallversicherungen übertragen (Art. 97 Abs. 2 und 105 Abs. 3 BGG), wobei diese Ausnahmen nach dem Vorschlag des Bundesrates entfallen sollen (vgl. Ziff. 3). Letztlich obliegt es dem Gesetzgeber zu entscheiden, ob er eine weitere Ausnahme für die Bundesgerichtsbarkeit vorsehen will. Durch die Annahme der Motion hat das Parlament dem Bundesrat einen klaren Gesetzgebungsauftrag erteilt.

Evaluation der Bundesrechtspflege Die Evaluation der Bundesrechtspflege wurde Anfang 2013 abgeschlossen und der Schlussbericht des Bundesrates, der sich zu den Ergebnissen der Evaluation und zu einem allfälligen Handlungsbedarf äussern wird, dürfte im Herbst 2013 vorliegen.

Der Zwischenbericht 2010 stellt fest, dass sich einstweilen keine gesetzgeberischen Korrekturen aufdrängen, sondern dass die Schlussergebnisse abgewartet werden sollen.

Bei der Beratung der Vorlage zur Motion Janiak wird sich das Parlament somit auf die Evaluationsergebnisse stützen und in deren Kenntnis über allfällige Kompensationsmassnahmen für die durch die Erweiterung der Kognition zu erwartenden Mehrbelastungen entscheiden können (vgl. Ziff. 3).

Lösungsansätze zur Verbesserung des Rechtsschutzsystems Die StPO verlangt die Schaffung eines
Berufungsgerichts, welches über Berufungen gegen Urteile der erstinstanzlichen Gerichte und über Revisionsgesuche entscheidet.

Das Berufungsgericht ist ein zweitinstanzliches Gericht mit umfassender Prüfungsbefugnis. Diese Funktion übernehmen in den Kantonen die Ober- oder Kantonsgerichte, welche sich ­ anders als eine eidgenössische Berufungsinstanz ­ nicht nur mit Strafrecht befassen, sondern auch mit Zivil- und Verwaltungsrecht sowie dem Schuld- und Betreibungsrecht. Damit erreichen die Kantone mit Bezug auf die Fallzahlen eine Grösse, welche es erlaubt, eigenständige Berufungsgerichte zu schaffen.

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In der Botschaft zum StBOG16 wurde die Frage des Rechtsmittels gegen Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts eingehend geprüft. Untersucht wurden die Errichtung eines neuen eigenständigen Berufungsgerichts, die Ansiedlung einer Berufungskammer beim Bundesstrafgericht in Bellinzona, das Bundesgericht als Berufungsinstanz und die Beibehaltung der bisherigen Rechtsmittelordnung.

16

­

Als erste Variante wurde die Errichtung eines neuen und administrativ selbstständigen Berufungsgerichts an irgendeinem Standort in der Schweiz geprüft. Aus rechtsstaatlicher Sicht weist diese Lösung keine Mängel auf.

Sie ist sowohl mit dem BGG als auch mit der StPO konform und bietet der beschuldigten Person den gleichen Rechtsschutz bei Bundesstrafsachen und kantonalen Verfahren. Ebenso werden Bund und Kantone gleich behandelt.

Die zu erwartenden Fallzahlen würden für die Auslastung eines professionellen Gerichts mit entsprechender Infrastruktur, welches Fälle in drei Sprachen beurteilt, jedoch nicht ausreichen. Dies wäre wirtschaftlich nur dann zu rechtfertigen, wenn höchstens zwei Mitglieder vollamtlich tätig wären; die übrigen Mitglieder könnten nur ein bescheidenes nebenamtliches Pensum ausüben. Das Berufungsgericht würde demnach in den meisten Fällen nur aus einem hauptamtlich tätigen Präsidenten oder einer hauptamtlich tätigen Präsidentin und zwei Mitgliedern aus den Kantonen (mit Vorteil aus den kantonalen Berufungsgerichten) bestehen, die mit sehr unterschiedlichen Rechtspraktiken vertraut sind. Die Schaffung einer einheitlichen Praxis, die wichtigste Aufgabe eines Berufungsgerichts, könnte somit nur schwer sichergestellt werden.

­

Die zweite Variante siedelt das Berufungsgericht beim Bundesstrafgericht in Bellinzona an. Diese Lösung hat den Vorteil, dass beim Bund der gleiche Rechtsschutz geschaffen wird wie in kantonalen Verfahren. Gegen ein erstinstanzliches Urteil ist die Berufung als vollkommenes Rechtsmittel an die Berufunginstanz möglich, gegen deren Urteil die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht ergriffen werden kann. Da gemäss dieser Variante die erste und die zweite Instanz beim Bundesstrafgericht in Bellinzona angesiedelt sind, ist sie jedoch geeignet, Bedenken betreffend die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit zu wecken. Die Berufungsrichter und -richterinnen würden mit ihrem Urteil die Qualität der Arbeit ihrer erstinstanzlich tätigen Richterkollegen und -kolleginnen qualifizieren. Damit bestünde die Gefahr einer Beeinflussung, insbesondere im Bemühen, «überneutral» zu sein. Bei der Aushilfe der Richter und Richterinnen in den verschiedenen Kammern müssten strenge Regeln befolgt werden.

­

Die dritte Variante mit dem Bundesgericht als Berufungsinstanz wurde im Vorentwurf des StBOG vorgeschlagen, weil sie organisatorisch problemlos umsetzbar ist, da auf bestehende Strukturen zurückgegriffen werden kann, und sie mit der StPO im Einklang steht. Das Berufungsgericht stellt regelmässig auf die Beweisaufnahme des erstinstanzlichen Gerichts ab. Nach den Erfahrungen in den Kantonen ist die Beweisergänzung die Ausnahme, und die Berufungsverfahren werden hauptsächlich schriftlich geführt. Diese Lösung steht indessen nicht im Einklang mit dem BGG. Mit dem BGG wurde das Bundesgericht neu organisiert mit dem Ziel, dieses Gericht durch eine stärkere Fokussierung auf seine Aufgabe als oberste rechtsprechende BehörBBl 2008 8125

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de des Bundes zu entlasten. Das BGG beschränkt die Kognition des Bundesgerichts auf Rechtsfragen und in Bezug auf den Sachverhalt im Ergebnis auf eine auf Willkür hinauslaufende Prüfung. Die Funktion als zweitinstanzliches Sachgericht passt nicht zum obersten Gericht.

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Die vierte und letzte Variante sah die Beibehaltung der damaligen und heute noch geltenden Rechtsmittelordnung vor. Sie kann für sich in Anspruch nehmen, mit den Mitteln des Bundes haushälterisch umzugehen. Den Parteien der Bundesgerichtsbarkeit steht nach geltendem Recht auch keine Berufung zur Verfügung, sondern ausschliesslich die Beschwerde in Strafsachen bei der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Strafkammer des Bundesstrafgerichts ein Fachgericht und daher mit Bezug auf die Qualität des Rechtsschutzes nicht mit einem erstinstanzlichen, kantonalen Strafgericht, sondern eher mit einem Handelsgericht vergleichbar ist, gegen dessen Urteile vor der Anfechtung beim Bundesgericht kein weiteres Rechtsmittel zur Verfügung stehen muss (Art. 75 Abs. 2 Bst. b BGG).17

Die vom Bundesgericht eingebrachten Alternativvorschläge entsprechen im Wesentlichen der ersten und zweiten Variante; der vom Bundesgericht bevorzugte Vorschlag ist mit der zweiten Variante identisch. Nach Ansicht des Bundesrates sind jedoch die Fallzahlen zu gering, als dass ein Berufungsgericht in Bellinzona oder in St. Gallen, welches in drei Sprachen urteilt, ausgelastet wäre. Selbst wenn die Befugnisse der Beschwerdeinstanz dem Berufungsgericht übertragen werden (Art. 20 Abs. 2 StPO), ergeben sich daraus infolge der sprachlichen Repräsentation und der Ausstandsproblematik keine wesentlichen Vorteile. Denn wer als Mitglied der Beschwerdeinstanz tätig geworden ist, kann im gleichen Fall nicht als Mitglied des Berufungsgerichts wirken (Art. 21 Abs. 2 StPO). Insbesondere in komplexen Fällen, in welchen sehr oft sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft werden, könnten die gegenwärtig in der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts tätigen 9 Richter und Richterinnen mit 800 Stellenprozenten infolge einer Vorbefassung nur sehr beschränkt eine Tätigkeit im Berufungsgericht ausüben. Folglich müssten regelmässig nebenamtliche Richter und Richterinnen eingesetzt werden mit den bei der ersten Variante aufgezeigten Problemen. Überdies dürfte sich die Besetzung mit nebenamtlichen Richtern und Richterinnen als sehr schwierig erweisen, weil gerade grössere Fälle auch längere Abwesenheiten erforderlich machen und daher mit dem Amt eines Richters oder einer Richterin am Bundesverwaltungsgericht oder an einem Kantonsgericht nicht vereinbar wären. Näherliegend wäre die Einsetzung von ordentlichen Richtern und Richterinnen. Um die erforderliche Besetzung mit drei Richtern und Richterinnen unter Berücksichtigung der drei Amtssprachen zu gewährleisten, müssten nicht nur Synergieeffekte mit der Beschwerdekammer genutzt werden, sondern auch neue Richter und Richterinnen gewählt werden.

Indessen sind die Fallzahlen mit durchschnittlich 11 Fällen pro Jahr zu gering, um 9 Richter und Richterinnen im Berufungsgericht vollzeitlich auszulasten. Mit der Wahl von mehrsprachigen Richtern und Richterinnen und mit Teilpensen könnte zwar dieses Problem teilweise abgefedert werden, wodurch aber die bereits heute teilweise schwierige Rekrutierung nicht einfacher würde. Schliesslich dürften die entsprechenden Kosten für die zusätzlichen Stellen (Richter und Richterinnen, Gerichtsschreiber und Gerichtsschreiberinnen und Kanzleipersonal) sowie für wei17

BBl 2008 8125, hier 8144 ff.

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tere Ressourcen eindeutig höher liegen als bei der vom Bundesrat vorschlagenen Variante. Aus den dargelegten Gründen hat der Nationalrat im Herbst 2012 eine Motion seiner Rechtskommission18 zur Schaffung einer Berufungsinstanz abgelehnt.

Der Bundesrat befürwortete in der Botschaft zum StBOG die Beibehaltung des geltenden Rechts (Variante 4), insbesondere weil es einerseits bereits diverse Ausnahmen vom zweistufigen Gerichtsmodell gibt und andererseits der Status quo die Möglichkeit offen lässt, zu einem späteren Zeitpunkt ein eigenständiges, dreisprachiges Berufungsgericht oder eine Berufungskammer, welche administrativ bei einem anderen Gericht angesiedelt würde, zu schaffen, falls die Fallzahlen bei der Strafkammer des Bundesstrafgerichts weiter steigen und damit die Berufungsinstanz ausgelastet werden könnte. Die Variante 3 lehnte der Bundesrat ab, weil die Gefahr besteht, dass das Bundesgericht mit einer systemwidrigen Sachverhaltskontrolle innert Kürze erneut überlastet sein und in der Erfüllung seiner Kernaufgaben beeinträchtigt werden könnte.

Die nun vorgeschlagene Gesetzesänderung kommt der erwähnten dritten Variante (Bundesgericht als Berufungsinstanz) nahe. Neu kann bei Beschwerden gegen die Entscheide der Strafkammer des Bundesstrafgerichts jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden. Von der dritten Variante unterscheidet sich die Vorlage im Wesentlichen dadurch, dass das Bundesgericht selber nicht zwingend Beweise abnehmen muss und meistens keine öffentliche Verhandlung nötig ist. Zwar werden die Verfahren unter Umständen etwas länger, wenn das vorinstanzliche Urteil aufgehoben und zur Beweisabnahme sowie erneuten Beurteilung zurückgewiesen werden muss, und das Bundesgericht wird zusätzlich belastet. Indessen ist der Aufwand für das Bundesgericht im Vergleich zur dritten Variante wesentlich kleiner, und die mit der Justizreform angestrebte Entlastung wird nicht gefährdet. Hinzu kommt, dass die uneingeschränkte Sachverhaltskontrolle durch das Bundesgericht zwar nicht systemkonform, aber dem höchsten Gericht nicht fremd ist (vgl. Art. 97 Abs. 2 und 105 Abs. 3 BGG). Bei der Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile überwiegt eindeutig der Aspekt des verbesserten Rechtsschutzes.

Mehrarbeit für das Bundesgericht Die neue Aufgabe ist
mit einem gewissen Mehraufwand verbunden. Wie hoch dieser sein wird, lässt sich zurzeit nicht oder nur sehr schwer abschätzen. Der Mehraufwand hängt hauptsächlich vom Umfang und der Anzahl Fälle ab. Aber es ist wesentlich einfacher, einen Sachverhalt und eine Rechtslage zu beurteilen, die bereits Gegenstand einer fundierten Begründung durch eine richterliche Vorinstanz waren.

Es ist demnach nicht Sache des Bundesgerichts, den gesamten Sachverhalt wie ein erstinstanzliches Gericht zu erforschen, sondern nur die gerügten Punkte zu prüfen.

Diesbezüglich stellt die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Artikel 105 Absatz 3 BGG relativ hohe Anforderungen an die Begründungspflicht hinsichtlich den Einwendungen gegen die vorinstanzlichen Tatsachenfeststellungen. Die Einplanung zusätzlicher Gerichtsschreiber- oder sogar Richterstellen am Bundesgericht ist daher verfrüht, was jedoch einen bedarfsgerechten Ausbau der bestehenden Ressourcen zu einem späteren Zeitpunkt nicht ausschliesst, dies unter Vorbehalt der Schaffung einer Berufungsinstanz.

18

Motion Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 26. April 2012 (12.3341, «Zweite Berufungsinstanz in Bundesstrafsachen»).

7122

1.4

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Die vorgeschlagene Änderung des Bundesgerichtsgesetzes erfüllt den vom Parlament überwiesenen, unter Ziffer 1.1.3 dargelegten Vorstoss.

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

Art. 97 Abs. 2 und 105 Abs. 3 E-BGG Die Artikel 97 und 105 werden dahingehend ergänzt, dass das Bundesgericht auch bei Beschwerden gegen einen Entscheid einer Strafkammer des Bundesstrafgerichts nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden ist.

In der Übergangsphase stellt sich die Frage, ob gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts, die vor dem Inkrafttreten der Änderung ergangen, aber noch nicht rechtskräftig sind, die neuen Bestimmungen Anwendung finden sollen, oder ob dies nur gegen Urteile möglich sein soll, die nach dem Inkrafttreten ergangen sind.

Massgeblich ist das Datum der Entscheidfällung. Nach der allgemeinen Übergangsregel von Artikel 132 Absatz 1 BGG galt für Verfahren, die vor dem Inkrafttreten des BGG beim Bundesgericht eingeleitet wurden, und für Beschwerdeverfahren gegen Entscheide, die vor diesem Datum ergangen waren, das frühere Recht. Diese Regelung betraf sowohl die Rechtsmittelfristen als auch die Zulässigkeit der Beschwerden, die Kognition des Bundesgerichts und die Kosten.19 Sie entspricht im Übrigen der Regelung, die in der StPO für das Rechtsmittelverfahren getroffen wurde (vgl. Art. 453 f. StPO).

Die allgemeine Übergangsregel von Artikel 132 Absatz 1 BGG ist sinngemäss auf eine Teilrevision des BGG anwendbar. Da im vorliegenden Fall von dieser allgemeinen Übergangsregel nicht abgewichen werden soll, kann auf eine ausdrückliche übergangsrechtliche Sonderregelung verzichtet werden. Angesichts der geringen Anzahl Beschwerdefälle hat die Frage des Übergangsrechts im Übrigen kaum praktische Relevanz.

3

Auswirkungen auf den Bund

In der Vergangenheit wurden pro Jahr durchschnittlich 11 Beschwerden in Strafsachen gegen Urteile der Strafkammer des Bundesstrafgerichts beim Bundesgericht erhoben, wobei ein Beschwerdefall mehrere Personen umfassen kann. Das Bundesgericht wird neu eine Sachverhaltskontrolle vornehmen können, muss aber allfällige neue Beweise nicht selber abnehmen. Das ist Aufgabe der Vorinstanz. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die Mehrbelastung im Rahmen der bestehenden Ressourcen bewältigt werden kann. Sollte dies wider Erwarten nicht möglich sein, ist ein bedarfsgerechter Ausbau der bestehenden Ressourcen zu einem späteren Zeitpunkt nicht ausgeschlossen. Bei einem erheblichen Anstieg der Arbeitslast und bei steigenden Fallzahlen bei der Strafkammer des Bundesstrafgerichts ist jedoch die Schaffung einer Berufungsinstanz erneut vertieft zu prüfen.

19

Vgl. Denise Brühl-Moser / Christoph Errass, Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Auflage, Basel 2011, N 1 zu Art. 132 BGG.

7123

Anzumerken ist, dass der Bundesrat in der Botschaft vom 30. Mai 200820 über die Änderung des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung Entlastungen für das Bundesgericht vorgeschlagen hat, womit dem Anliegen des Bundesgerichts nach Kompensation Rechnung getragen wird. Insbesondere sollen die Artikel 97 Absatz 2 und 105 Absatz 3 BGG aufgehoben werden. Die Aufhebung wurde mit der Harmonisierung der Kognition des Bundesgerichts für alle öffentlich-rechtlichen Beschwerden, einschliesslich derjenigen der Sozialversicherungen, begründet, da bereits im Dezember 2005 bei der Revision der Invalidenversicherung die Kognition des Bundesgerichts für die Leistungen der Invalidenversicherung auf die Rechtsanwendung beschränkt wurde. Die Revision der Unfallversicherung ist noch hängig, da die Vorlage an den Bundesrat zurückgewiesen wurde. Der Bundesrat wird voraussichtlich im Schlussbericht zur Evaluation der Bundesrechtspflege dieses Anliegen nochmals aufnehmen und dem Parlament unterbreiten.

Diese Vorlage lässt keine Auswirkungen auf die Informatik erwarten. Die bestehende Ausrüstung des Bundesgerichts im Bereich der Informatik ist ausreichend.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 25. Januar 201221 zur Legislaturplanung 2011­2015 noch im Bundesbeschluss vom 15. Juni 201222 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt.

Sie wird in Erfüllung des Auftrags der Motion Janiak (10.3138) dem Parlament unterbreitet.

5

Rechtliche Aspekte

Das BGG stützt sich auf Artikel 188 Absatz 2 der Bundesverfassung23, wonach das Gesetz das Verfahren vor dem Bundesgericht bestimmt. Der vorliegende Entwurf ist somit verfassungsmässig.

Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen haben weder Auswirkungen auf die internationalen Verpflichtungen der Schweiz noch auf das internationale Recht.

Der Entwurf enthält keine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen.

20 21 22 23

BBl 2008 5395, hier 5443 BBl 2012 481 BBl 2012 7155 SR 101

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