13.079 Botschaft zur Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» vom 20. September 2013

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2011

P

11.3276

Einheitskasse in der Krankenversicherung (N 17.6.11, Stahl)

2013

M 12.4123

Rasche Volksabstimmung ohne Gegenvorschlag über die Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse» (N 20.3.13, de Courten; S 5.6.13)

2013

M 12.4157

Rasche Volksabstimmung ohne Gegenvorschlag über die Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse» (N 20.3.13, Humbel; S 5.6.13)

2013

M 12.4164

Rasche Volksabstimmung ohne Gegenvorschlag über die Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse» (N 20.3.13, Cassis; S 5.6.13)

2013

M 12.4207

Rasche Volksabstimmung ohne Gegenvorschlag über die Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse» (N 20.3.13, Hess; S 5.6.13)

2013

M 12.4277

Rasche Volksabstimmung ohne Gegenvorschlag über die Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse» (S 18.3.13, Schwaller; N 13.6.13)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

20. September 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2013-1597

7929

Übersicht Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» will eine öffentliche Einheitskasse des Bundes einrichten, welche die heute tätigen 61 Krankenkassen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ersetzen soll. Dies wäre ein grundlegender Kurswechsel, weg von einem System des Wettbewerbs, hin zu einer Monopollösung und ein Bruch mit einer bewährten Tradition. Der Bundesrat lehnt die Volksinitiative ab und beantragt auch nicht, ihr einen direkten Gegenentwurf oder einen indirekten Gegenvorschlag gegenüberzustellen.

Inhalt der Initiative Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» wurde von links-grünen Kreisen mit Unterstützung der Konsumentenorganisationen der Schweiz lanciert. Im Zentrum der Initiative steht eine einzige Forderung: die Einrichtung einer öffentlichen Einheitskasse durch den Bund, die anstelle der heute tätigen 61 Krankenkassen die obligatorische Krankenpflegeversicherung durchführen soll.

Zu diesem Zweck verlangt die Volksinitiative eine Änderung des geltenden Verfassungsartikels 117 (Abs. 3 und 4) und eine entsprechende Ergänzung der Übergangsbestimmungen (Art. 197 Ziff. 8).

Vorzüge und Mängel der Initiative Mit ihrem Anliegen streben die Initiantinnen und Initianten einen grundlegenden Kurswechsel in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung an. Nach Ansicht des Bundesrates drängt sich ein solcher Kurswechsel nicht auf. Im Gegenteil ist er der Ansicht, dass ein System mit einer Mehrzahl von Versicherern in der sozialen Krankenversicherung klare Vorzüge gegenüber einer Monopolstellung einer einzigen Krankenkasse aufweist. Die Durchführung der Krankenversicherung durch mehrere Krankenversicherer hat in der Schweiz eine lange Tradition und hat sich auch unter dem Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) bewährt. Die Erfahrungen, die seit Einführung des KVG gemacht werden konnten, haben allerdings gezeigt, dass gewisse Anpassungen notwendig sind, damit das System optimal funktioniert.

Mit der vollen Freizügigkeit wird der Bevölkerung der Schweiz eine uneingeschränkte Freiheit bei der Wahl des Versicherers eingeräumt. Die Versicherten können sich entscheiden, ob sie die obligatorische Krankenpflegeversicherung bei ihrem bisherigen Krankenversicherer fortführen oder zu einem anderen Versicherer wechseln wollen. Damit sind
dem System wesentliche Wettbewerbselemente eigen, die auf Seiten der Versicherer die Anreize zu kostendämpfenden Massnahmen fördern. Der Bundesrat will diese Wettbewerbselemente mit dem Ziel fördern, die soziale Krankenversicherung effizienter zu gestalten.

Eine einheitliche nationale Einrichtung, deren Organe namentlich aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes, der Kantone, der Versicherten und der Leistungserbringer gebildet werden, wird angesichts der unterschiedlichen Interessenlagen

7930

unter stark divergierendem politischem Einfluss stehen. Der Bundesrat befürchtet, dass die unterschiedlichen Interessenlagen in der Leitung zu langwierigen Diskussionen führen könnten, die von den Bemühungen zur Kosteneindämmung oder zur Verbesserung des Kosten-Leistungs-Verhältnisses in der Krankenpflegeversicherung ablenken würden. Die mit der Volksinitiative verbundene Schwächung der Wettbewerbselemente im Krankenversicherungssystem dürfte deshalb in der Tendenz sogar zu einem Anstieg der Prämien in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung führen.

Die Übergangsregelung der Volksinitiative setzt eine Frist von nur gerade drei Jahren für einen Gesetzeserlass. In dieser Frist wären die zahlreichen aufgeworfenen Fragen jedoch kaum zu lösen. Namentlich fehlen Lösungsansätze für die Übertragung der Aktiven und Passiven von den bestehenden Krankenversicherern auf die öffentliche Krankenkasse.

Auch wenn offen bleiben muss, wie die Initiative konkret umgesetzt würde, ist der Bundesrat überzeugt, dass die Initiative auch keine kostendämpfende Wirkung mit sich bringen würde. Hierfür sind vielmehr periodische Überprüfungen der Leistungen sowie Preisanpassungen erforderlich. Diese Linie wird durch eine Abfolge gezielter Massnahmen, die zum Teil schon wirksam sind, verfolgt und ist durch markante Schritte in den kommenden Jahren zu erweitern und zu vertiefen.

Nach Meinung des Bundesrates sind die mit der Einführung des KVG gesetzten Ziele in erster Linie durch eine fortgesetzte Konsolidierung des Systems anzustreben. So soll mit den bereits angestossenen Korrekturen das gegenwärtige Wettbewerbssystem beibehalten werden. Mit einem Wettbewerb, der unter verbesserter Aufsicht spielt, können die Versicherer weiterhin Ideen und Versicherungsmodelle entwickeln, mit denen den Bedürfnissen der Versicherten flexibel Rechnung getragen werden kann. Diese Ideen und Modelle sind auch ein wichtiger Anstoss für Qualitätsverbesserungen, insbesondere im Bereich der Überprüfung der Rechnungen der Leistungserbringer. Sie sind des Weiteren ein Faktor zur Bekämpfung des Kostenanstiegs, da die Versicherer ein Interesse daran haben, die Prämien tief zu halten. Die entsprechenden Korrekturen sind im Rahmen des vom Bundesrat lancierten Krankenversicherungsaufsichtsgesetzes und den Reformen im KVG bereits in die Wege geleitet.
Antrag des Bundesrates Aus den genannten Gründen beantragt der Bundesrat, dass die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet wird mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen. Zugleich beantragt der Bundesrat, der Initiative keinen direkten Gegenentwurf und keinen indirekten Gegenvorschlag entgegenzusetzen.

7931

Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» lautet: I Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 117 Abs. 3 (neu) und 4 (neu) Die soziale Krankenversicherung wird von einer einheitlichen nationalen öffentlich-rechtlichen Einrichtung durchgeführt. Deren Organe werden namentlich aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes, der Kantone, der Versicherten und der Leistungserbringer gebildet.

3

Die nationale Einrichtung verfügt über kantonale oder interkantonale Agenturen.

Diese legen namentlich die Prämien fest, ziehen sie ein und vergüten die Leistungen.

Für jeden Kanton wird eine einheitliche Prämie festgelegt; diese wird aufgrund der Kosten der sozialen Krankenversicherung berechnet.

4

II Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt geändert: Art. 197 Ziff. 8 (neu)2 8. Übergangsbestimmungen zu Art. 117 Abs. 3 und 4 (nationale öffentlich-rechtliche Krankenkasse) Nach der Annahme von Artikel 117 Absätze 3 und 4 durch Volk und Stände erlässt die Bundesversammlung die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen, damit die Reserven, die Rückstellungen und die Vermögen aus dem Bereich der sozialen Krankenversicherung auf die Einrichtung nach Artikel 117 Absätze 3 und 4 übertragen werden.

1

Erlässt die Bundesversammlung nicht innert drei Jahren nach Annahme von Artikel 117 Absätze 3 und 4 ein entsprechendes Bundesgesetz, so können die Kantone auf ihrem Gebiet eine einheitliche öffentliche Einrichtung der sozialen Krankenversicherung schaffen.

2

1 2

SR 101 Da die Volksinitiative keine Übergangsbestimmung der Bundesverfassung ersetzen will, erhält die Übergangsbestimmung zum vorliegenden Artikel erst nach der Volksabstimmung die endgültige Ziffer, und zwar aufgrund der Chronologie der in der Volksabstimmung angenommenen Verfassungsänderungen. Die Bundeskanzlei wird die nötigen Anpassungen vor der Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts (AS) vornehmen.

7932

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Zustandekommen Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» ist nach Vorprüfung durch die Bundeskanzlei vom 18. Januar 20113 am 23. Mai 2012 mit der notwendigen Anzahl Unterschriften eingereicht worden. Die Bundeskanzlei hat mit Verfügung vom 19. Juni 20124 das formelle Zustandekommen der mit 115 841 gültigen Unterschriften eingereichten Volksinitiative festgestellt.

Behandlungsfristen Die Volksinitiative ist in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs eingereicht worden.

Gestützt auf Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20025 (ParlG) hätte der Bundesrat bis zum 23. Mai 2013, das heisst bis spätestens ein Jahr nach Einreichen der Initiative, der Bundesversammlung eine Botschaft und den Entwurf eines Bundesbeschlusses unterbreiten sollen. Stellt der Bundesrat der Volksinitiative jedoch einen direkten Gegenentwurf oder einen indirekten Gegenvorschlag gegenüber, so verlängert sich die Frist für die Ausarbeitung eines Entwurfs auf 18 Monate (Art. 97 Abs. 2 ParlG). Der Bundesrat hat sich zunächst entschieden, einen indirekten Gegenvorschlag auszuarbeiten, und hat diesen in die Vernehmlassung gegeben. Aufgrund der Rückmeldungen aus der Vernehmlassung beschloss er aber, darauf zu verzichten. Zudem fordern fünf überwiesene Motionen den Verzicht auf einen Gegenvorschlag (vgl. Ziff. 3). Gemäss Artikel 100 ParlG hat die Bundesversammlung ihrerseits innert 30 Monaten nach Einreichung einer Volksinitiative, das heisst bis am 23. November 2014, zu entscheiden, ob sie die Initiative Volk und Ständen zur Annahme oder Ablehnung empfiehlt. Vorbehalten bleibt der Bundesversammlung die Möglichkeit, die Frist um ein Jahr zu verlängern, wenn mindestens ein Rat über einen direkten Gegenentwurf oder einen mit der Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlassentwurf (indirekter Gegenvorschlag) Beschluss gefasst hat (Art. 105 Abs. 1 ParlG).

1.3

Gültigkeit

Gemäss den Artikeln 139 Absätze 2 und 3 sowie 194 Absatz 3 der Bundesverfassung6 (BV) ist eine Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung nur in der Form der allgemeinen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfs zulässig; Mischformen sind nicht gestattet. Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» ist ausschliesslich und in allen Teilen in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs gehalten. Die Einheit der Form ist somit gewahrt.

Gemäss den Artikeln 139 Absatz 3 und 194 Absatz 2 BV muss die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung die Einheit der Materie wahren und darf entsprechend nur eine Materie zum Gegenstand haben. Die Einheit der Materie gilt als gewahrt, wenn zwischen den einzelnen Teilen der Initiative ein sachlicher Zusammenhang besteht. Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» 3 4 5 6

BBl 2011 1317 BBl 2012 6631 SR 171.10 SR 101

7933

bezieht sich einzig auf die Krankenversicherung, und es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den verschiedenen vorgeschlagenen Massnahmen. Damit ist die Einheit der Materie gewahrt.

Gemäss den Artikeln 139 Absatz 3 und 194 Absatz 2 BV darf ein Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts nicht verletzen. Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» verletzt keine dieser Bestimmungen.

Die offensichtliche faktische Undurchführbarkeit einer Initiative gilt als einzige ungeschriebene materielle Schranke einer Verfassungsrevision. Nach konstanter Praxis müssen zweifelsfrei und faktisch unmöglich durchführbare Volksinitiativen der Volksabstimmung entzogen werden. Die Forderungen der Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» sind faktisch durchführbar.

Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» erfüllt somit keinen Ungültigkeitsgrund; sie ist gültig.

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

2.1

Berichte

Der in Erfüllung eines Postulates der SGK-N (99.3009) im Jahr 2001 erstellte Expertenbericht über die Vorteile einer Einheitskasse7 ist zum Schluss gelangt, dass das geltende Krankenversicherungsgesetz auf der Systemebene die gesetzlichen Ziele erreicht hat. Nach Einschätzung des Autors dürfte eine Einheitskasse kaum positive Auswirkungen auf die Kosten- und Prämienentwicklung haben. In diesem Sinn sei das Instrument als ineffizient zu bezeichnen. Denn mit dem gleichen Aufwand dürften sich nach seiner Einschätzung bei gezielterem Ressourceneinsatz insbesondere auf der Leistungserbringerseite ohne Weiteres spürbarere Effekte auf die Kosten- und Prämienentwicklung realisieren lassen; dies gelte sowohl für eher staatliche als auch für eher wettbewerbsorientierte Massnahmen.

2.2

Parlamentarische Vorstösse

Die Einführung einer öffentlichen Krankenkasse war in den vergangenen Jahren wiederholt auch Gegenstand parlamentarischer Vorstösse. Einer der letzten (11.3276 Postulat Stahl, Einheitskasse in der Krankenversicherung) verlangt die Erstellung eines Berichts. Dieser soll Auskunft geben darüber, ob die Einführung einer öffentlichen Einheitskasse einen Einfluss auf die Kosten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung hätte und wie hoch die Umsetzungskosten der Einführung einer öffentlichen Einheitskasse (Erwerb der notwendigen Gebäude für diese Einrichtung, Kosten der Einführung eines einheitlichen Informatiksystems usw.) geschätzt werden. Der Bundesrat hat die Annahme des Postulates beantragt. Mit dieser Botschaft gilt das Postulat materiell als erfüllt. Er beantragt daher die Abschreibung des Postulats.

7

Dr. Willy Oggier: Vorteile einer Einheitskasse, Schlussbericht im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherung, Zürich, Dezember 2001.

7934

In seiner Antwort auf ein weiteres (mittlerweile abgeschriebenes) Postulat (09.4221 Fehr Jacqueline, Was hat der Wettbewerb unter den Krankenkassen gebracht?)

bekräftigte der Bundesrat seine Stellungnahme zugunsten des heutigen Systems eines regulierten Wettbewerbs zwischen den Krankenversicherern und beantragte, das Gesuch um Erstellung eines Berichts abzulehnen. Im gleichen Sinne und aus den gleichen Gründen lehnte der Bundesrat den Antrag auf Erstellung eines Berichts über die Vorteile der Schaffung von kantonalen Gesundheitskassen (mittlerweile abgeschriebenes Postulat 09.4019 Wehrli, Kantonale Gesundheitskassen als Krankenversicherer) ab. Er ist der Meinung, dass eine Kantonalisierung des Krankenversicherungssystems den Anstrengungen, die für eine bessere Koordination auf nationaler Ebene unternommen wurden, zuwiderlaufen würde.

Der Nationalrat beschloss am 9. Dezember 2010, einer parlamentarischen Initiative, welche die Vornahme der notwendigen Verfassungsänderungen für die Schaffung einer einzigen nationalen öffentlichen Krankenkasse verlangte (09.504 parlamentarische Initiative Sozialdemokratische Fraktion, Schaffung einer nationalen öffentlichen Krankenkasse) keine Folge zu geben. Am 15. September 2010 beschloss der Nationalrat ebenfalls, einer parlamentarischen Initiative keine Folge zu geben, die das KVG dahingehend ändern wollte, den Kantonen die Möglichkeit zu gegeben, eine kantonale Einheitskasse für die Grundversicherung zu schaffen (09.457 parlamentarische Initiative Zisyadis. Entscheidungsfreiheit für die Kantone bei der Grundversicherung. Einheitskasse oder Wettbewerb).

2.3

Volksinitiativen

Volk und Ständen sind in den vergangenen Jahren zwei Volksinitiativen zur Abstimmung unterbreitet worden, die eine grundlegende Reform des Systems und der Finanzierung der sozialen Krankenversicherung anstrebten:

3

­

Die Volksinitiative «Gesundheit muss bezahlbar bleiben (Gesundheitsinitiative)» verlangte, dass die obligatorische Krankenpflegeversicherung durch gemeinnützige Krankenversicherer erfolgt und insbesondere durch zusätzliche Einnahmen aus der Mehrwertsteuer und durch einkommens- und vermögensabhängige Beiträge der Versicherten zu finanzieren sei. Sie wurde am 18. Mai 2003 von Volk und Ständen mit grossem Mehr abgelehnt (BBl 2003 5164, 2006 735).

­

Die Volksinitiative «Für eine soziale Einheitskrankenkasse» verlangte die Einrichtung einer Einheitskasse für die obligatorische Krankenpflegeversicherung und eine Reform ihrer Finanzierung durch die Einführung von Prämien nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten. Sie wurde am 11. März 2007 von Volk und Ständen ebenfalls mit grossem Mehr abgelehnt (BBl 2007 3229, 2003 3977).

Die Frage des Gegenvorschlags

Das heutige System der sozialen Krankenversicherung weist insbesondere im Bereich der Risikoselektion und der Transparenz Verbesserungspotenzial auf. Der Bundesrat ist jedoch der Ansicht, dass sich das wettbewerbsorientierte System, wie es seit der Einführung des KVG im Jahr 1996 besteht, bewährt hat und grundsätzlich 7935

beibehalten werden soll. Um gezielt gegen bestehende Fehlanreize vorzugehen, hat sich der Bundesrat am 10. Oktober 2012 entschieden, einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» auszuarbeiten und in die Vernehmlassung zu geben. Diese dauerte vom 27. Februar bis zum 3. Juni 2013.

3.1

Inhalt des indirekten Gegenvorschlags

Der indirekte Gegenvorschlag umfasste zwei Elemente. Einerseits sollte mit der Einführung einer Rückversicherung für sehr hohe Kosten und einer weiteren Verfeinerung des Risikoausgleichs für die Versicherer der Anreiz zur Risikoselektion minimiert werden. Andererseits sollten Grund- und Zusatzversicherungen zugunsten einer besseren Transparenz und zur Eindämmung der Risikoselektion künftig nicht mehr in derselben Gesellschaft durchgeführt werden dürfen. Innerhalb von Gruppengesellschaften sollten Informationsbarrieren den Austausch von Daten und Informationen von der Grund- in die Zusatzversicherungen verhindern.

3.2

Vernehmlassungsergebnisse

Zur Vernehmlassung wurden die Kantonsregierungen, die kantonalen Konferenzen der Gesundheits-, Finanz- und Sozialdirektorinnen und -direktoren und die Konferenz der Kantonsregierungen eingeladen. Die in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien, die gesamtschweizerischen Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete und die gesamtschweizerischen Dachverbände und Organisationen der Wirtschaft sowie die verschiedenen Organisationen des Gesundheitswesens, die unter anderem die Leistungserbringer, die Versicherer und die Patientinnen und Patienten vertreten, wurden ebenfalls zur Stellungnahme eingeladen.

Insgesamt wurden 197 Behörden und interessierte Organisationen angeschrieben.

Es gingen insgesamt 111 Stellungnahmen ein. Alle Kantone haben sich am Vernehmlassungsverfahren beteiligt. 7 politische Parteien auf Bundesebene haben eine Stellungnahme abgegeben. Von den Leistungserbringern und den Organisationen des Gesundheitswesens gingen 43 Stellungnahmen ein. Von den Versicherern und ihren Verbänden äusserten sich 6. Von den übrigen Verbänden äusserten sich 23.

Von den 111 Stellungnahmen unterstützten 28 den Gegenvorschlag, die Hälfte davon waren Leistungserbringer und Organisationen des Gesundheitswesens. Die anderen unterstützten den Gegenvorschlag nicht oder lehnten ihn ab, anerkannten aber grundsätzlichen Handlungsbedarf zur Optimierung der Fehlanreize des Systems, insbesondere im Bereich der Risikoselektion.

Die Rückversicherung für sehr hohe Kosten, das erste Element des Gegenvorschlags, wurde von allen Stellen, welche sich nicht ausdrücklich für den Gegenvorschlag aussprachen, abgelehnt. Die Verfeinerung des Risikoausgleichs wird als notwendig erachtet und ist inhaltlich bis auf ein paar wenige Ausnahmen unbestritten. Jedoch soll diese Verfeinerung gemäss der Mehrheitsmeinung im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens eingeführt und nicht an einen Gegenvorschlag und die Einheitskassen-Diskussion geknüpft werden. Gemäss diesen Stellungnahmen sollen die bereits laufenden parlamentarischen Arbeiten (pa. Iv. «Risikoausgleich» der Fraktion S. (11.473) und pa. Iv. «Wirksamen Risikoausgleich schnell einführen» der Fraktion RL (12.446)) dadurch nicht verzögert oder gar 7936

gefährdet werden. Die vorgeschlagene Trennung der Grund- und Zusatzversicherung wurde von rund der Hälfte derjenigen, die sich dazu geäussert haben, unterstützt.

Die in der Vernehmlassung mehrheitlich begrüssten Elemente des Gegenvorschlags werden in einer separaten, unabhängigen Vorlage aufgenommen.8

3.3

Parlamentarische Motionen

Im Juni 2013 wurden fünf gleichlautende parlamentarische Motionen mit dem Titel Rasche Volksabstimmung ohne Gegenvorschlag über die Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse» überwiesen: 12.4123 Motion de Courten Thomas vom 12. Dezember 2012, 12.4157 Motion Humbel Ruth sowie 12.4164 Motion Cassis Ignazio vom 13. Dezember 2012, zudem 12.4277 Motion Schwaller Urs und 12.4207 Motion Hess Lorenz vom 14. Dezember. Die Motion 12.4277 Schwaller war im Ständerat eingereicht worden, die anderen im Nationalrat.

Alle fünf Motionen beauftragen den Bundesrat, die eidgenössische Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse» dem Parlament und dem Volk rasch und ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung zu unterbreiten. Begründet wurde dies damit, dass im Hinblick auf die hängigen Geschäfte zur Verfeinerung des Risikoausgleichs im Parlament kein Grund bestehe, den Gegenvorschlag den Räten und dem Volk gleichzeitig zu unterbreiten. Das Volk habe die Idee einer Einheitskasse bereits mehrfach abgelehnt. Deshalb soll gemäss den Motionen die Volksabstimmung zu dieser erneuten Initiative möglichst rasch erfolgen, damit das Thema wieder ad acta gelegt werden könne.

Mit dieser Botschaft werden die Motionen materiell erfüllt; der Bundesrat beantragt daher mit dieser Botschaft deren Abschreibung.

3.4

Fazit

Aufgrund der Resultate aus dem Vernehmlassungsverfahren und unter Berücksichtigung der parlamentarischen Motionen hat der Bundesrat beschlossen, auf einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» zu verzichten.

4

Ziel und Inhalt der Volksinitiative

4.1

Ziel der Initiative

Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» hat ein Ziel, nämlich die Einrichtung einer einzigen öffentlichen Krankenkasse für die obligatorische Krankenpflegeversicherung durch den Bund.

8

Der Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens ist zu finden unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2013 > EDI

7937

4.2

Inhalt der vorgeschlagenen Regelung

Zu diesem Zweck verlangt die Volksinitiative einen neuen Verfassungsartikel 117 Absätze 3 und 4 sowie eine entsprechende Übergangsbestimmung (Art. 197 Ziff. 8).

Die Folge wäre eine grundlegende Änderung des Systems der schweizerischen sozialen Krankenversicherung mit folgenden Merkmalen: 1.

Die Durchführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung obliegt einer einheitlichen nationalen öffentlich-rechtlichen Einrichtung: der «öffentlichen Krankenkasse».

2.

Die Organe dieser Einrichtung werden namentlich aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes, der Kantone, der Versicherten und der Leistungserbringer gebildet.

3.

Die nationale Einrichtung verfügt über kantonale oder interkantonale Agenturen. Diese legen namentlich die Prämien fest, ziehen sie ein und vergüten die Leistungen. Für jeden Kanton wird eine einheitliche Prämie festgelegt; diese wird aufgrund der Kosten der sozialen Krankenversicherung berechnet.

4.

Nach Annahme der Volksinitiative erlässt die Bundesversammlung die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen, damit die Reserven, Rückstellungen und Vermögen aus der sozialen Krankenversicherung auf die neue nationale Einheitskasse übertragen werden.

5.

Erlässt die Bundesversammlung nicht innert drei Jahren nach Annahme der Volksinitiative entsprechende Regeln, so können die Kantone in ihrem Gebiet eine einheitliche öffentliche Einrichtung der sozialen Krankenversicherung schaffen.

Laut den Argumenten der Initiantinnen und Initianten9 hätte die Volksinitiative zur Folge: ­

dass die Krankenversicherung einfacher, effizienter, transparenter und erst noch günstiger wird;

­

dass der Wettbewerb unter den Krankenkassen beseitigt würde, der zu Risikoselektion und überrissenen Managerlöhnen führt;

­

dass die Reserven der Krankenversicherung allenfalls herabgesetzt werden könnten.

5

Würdigung der Initiative

5.1

Würdigung der vorgeschlagenen Änderung der Bundesverfassung

5.1.1

Organisation und Rechtsform der Einheitskasse

Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» verlangt, dass der Bund eine einheitliche nationale öffentlich-rechtliche Einrichtung schafft, welche die obligatorische Krankenpflegeversicherung durchführt. Sie lässt aber offen, in welche 9

www.oeffentliche-krankenkasse.ch

7938

Rechtsform die neue Institution zu kleiden ist, sodass diesbezüglich ein gewisser Interpretationsspielraum bleibt. Hingegen schreibt der Initiativtext zwingend vor, dass die Organe der Einrichtung namentlich aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes, der Kantone, der Versicherten und der Leistungserbringer gebildet werden.

Er sieht zudem vor, dass die nationale Einrichtung über kantonale oder interkantonale Agenturen verfügt.

Mangels einer genauen Definition der Rechtsform der öffentlichen Einheitskasse im Initiativtext dürfte unter den heute möglichen Organisationsformen der Krankenkassen (Stiftung, Verein, Genossenschaft, juristische Person des kantonalen öffentlichen Rechts oder Aktiengesellschaft mit anderen als wirtschaftlichen Zwecken) am ehesten eine juristische Person des öffentlichen Rechts in Frage kommen.

5.1.2

Führung der Einheitskasse

Die Durchführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung obliegt einer einheitlichen nationalen Einrichtung, die hierfür kantonale oder interkantonale Agenturen bildet. Diese legen namentlich die Prämien fest, ziehen sie ein und vergüten die Leistungen. Die Organe (üblicherweise: Geschäftsleitung, Verwaltungsrat) der öffentlich-rechtlichen Einrichtung setzen sich aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes, der Kantone, der Versicherten und der Leistungserbringer zusammen, so der Initiativtext. Die Aufgaben und Kompetenzen der Organe werden nicht weiter beschrieben. Die vorgesehene Zusammensetzung der Organe kann zu Interessenkonflikten führen. Obwohl das Modell auf den ersten Blick mit demjenigen der SUVA vergleichbar erscheint, zeigen sich bei einer näheren Betrachtung wichtige Unterschiede. Bei der SUVA sind die Mitglieder des Verwaltungsrats Vertreter der Arbeitgeber, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und des Bundes. Die Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter haben dieselben Interessen. Sie vertreten die Prämienzahler und haben dieselben Anliegen bezüglich Prävention und Behandlung bei einem Unfall. Bei der Einheitskasse wären auch die Leistungserbringer und die Kantone vertreten. Letztere besitzen auch die öffentlichen Spitäler, die als Leistungserbringer andere finanzielle Interessen haben als die Versicherer. Konflikte innerhalb der Organe, wie sie im Vorschlag der Initiantinnen und Initianten der öffentlichen Krankenkasse vorgesehen sind, sind unter anderem bei der Aushandlung der Tarife unvermeidlich: ­

Die Leistungserbringer haben ein Interesse an hohen Tarifen in ihren Bereichen.

­

Die Versicherten haben ein Interesse an möglichst umfassenden Leistungen und tiefen Prämien.

5.1.3

Dezentrale Organisation der öffentlichen Krankenkasse

Die Volksinitiative sieht eine relativ dezentrale Organisation der nationalen öffentlichen Krankenkasse vor. Mit der Schaffung von kantonalen oder interkantonalen Agenturen - vergleichbar mit den Arbeitslosenkassen ­ soll den Versicherten eine Dienstleistung im Nahbereich geboten werden. Damit würden die Versicherten weitgehend von ihrer regionalen Betreuung abhängig, was der heutigen Situation 7939

ähnlich ist. Dies allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Versicherten nicht zu einem anderen Krankenversicherer wechseln könnten, wenn sie mit der Qualität der Dienstleistung nicht zufrieden wären oder wenn Unverträglichkeiten zwischen Versicherten und der zuständigen Betreuungsperson entstehen sollten.

5.1.4

Monopolstellung der öffentlichen Krankenkasse und ihre Auswirkungen

Die Einrichtung einer nationalen öffentlichen Kasse zur Durchführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung führt zwangsläufig zu einer Monopolsituation auf Versichererseite mit folgenden Auswirkungen: ­

Wie oben erwähnt, hätten die Versicherten nicht mehr wie heute die Möglichkeit, den Versicherer zu wechseln, wenn sie mit der Leistungsabwicklung oder mit der Servicequalität nicht zufrieden sind.

­

Die öffentliche Krankenkasse wäre mangels Wettbewerb weniger zu kostensparendem Verhalten motiviert. Mehrere Krankenversicherer bewirken infolge ihrer Konkurrenzsituation höhere Anreize zur Effizienz und damit zu einem Innovationsverhalten als eine einzige Krankenkasse,

­

Vergleiche mit dem Ausland zeigen, dass Monopolsituationen in der Grundversicherung die Aufteilung der Finanzierung zwischen Grund- und Zusatzversorgung beeinflussen. Der Bedarf nach Versorgungs- und Versicherungsformen ausserhalb der Grundversicherung nimmt in solchen Systemen tendenziell zu, da dort die entsprechende Leistungsqualität und -bereitschaft im Rahmen von Wettbewerbsstrukturen erbracht werden und so den Präferenzen der Versicherten besser entsprechen.

5.1.5

Öffentliche Krankenkasse als Instrument zur Kosteneindämmung

Die Volksinitiative bezweckt in erster Linie die Einrichtung einer nationalen öffentlichen Kasse für die obligatorische Krankenpflegeversicherung durch den Bund. Sie zielt somit nicht prioritär auf die Eindämmung der Kosten ab. Die Initiative enthält denn auch keine explizite Verpflichtung zu kosteneindämmenden Massnahmen.

Laut Argumentarium der Initiantinnen und Initianten wird die öffentliche Einheitskasse die administrativen Kosten reduzieren können. Namentlich werden die entfallenden Werbe- und Wechselkosten der heutigen Versicherer erwähnt. Zwar würden bei einer Einheitskasse gewisse Verwaltungskosten entfallen oder sich reduzieren.

Jedoch ist mit erheblichen Umstrukturierungskosten zu rechnen, die während Jahren zu Buche schlagen. Zudem ist mit dem Aufbau einer Versicherungseinrichtung mit Monopolstellung fraglich, ob diese effizienter arbeiten und die Leistungskosten besser kontrollieren würde als die bestehenden Krankenversicherer. Im Übrigen hat unter dem KVG die Anzahl der Krankenversicherer, welche die obligatorische Krankenpflegeversicherung durchführen, von 145 im Jahre 1996 auf 61 im Jahr 2013 abgenommen. Bei den Verwaltungskosten lässt sich ­ in Franken pro versicherte Person ­ vorerst eine Abnahme von 133 (1996) auf 118 (1999) Franken und in der Folge eine Zunahme auf 160 Franken (2011) feststellen. Das jährliche Wachs7940

tum der Verwaltungskosten liegt damit aber über die ganze Zeitperiode hinweg mit 1,2 % leicht unter dem Schweizer Lohnwachstum gemäss Lohnindex des Bundesamtes für Statistik (1,3 %), wobei es allerdings seit 1999 etwas höher ausgefallen ist.

Auf die Verwaltungs- und Durchführungskosten entfallen bei der obligatorischen Krankenpflegeversicherung 5,6 Prozent der Ausgaben10. Bei anderen Sozialversicherungen liegt dieser Wert teilweise deutlich höher, namentlich bei der Unfallversicherung (11,3 %), der Arbeitslosenversicherung (9,2 %) oder der Invalidenversicherung (6,5 %). Tiefer liegt der Anteil dagegen in denjenigen Sozialversicherungen, deren Ausgaben nahezu vollständig Rentenzahlungen umfassen, d. h. in der AHV (0,4 %), der EO (0,1 %) sowie den Familienzulagen (2,8 %). Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung keinerlei Renten bezahlt werden, sondern das personalintensivere Geschäft der Kontrolle und Bezahlung von Rechnungen der Leistungserbringer betrieben wird, ist nicht zu erwarten, dass die öffentliche Krankenkasse die Verwaltungskosten signifikant senken könnte.

5.1.6

Auswirkungen auf den Tarifwettbewerb

In einem System mit einer nationalen öffentlichen Krankenkasse ändern sich die Wettbewerbsregeln im Tarifbereich: Einer Vielzahl von Leistungserbringern steht ein einziger Versicherer gegenüber. Auf Versichererseite besteht somit eine Monopolsituation. Man könnte davon ausgehen, dass der Versicherer dadurch über eine stärkere Position im Rahmen der Tarifverhandlungen verfügt, als dies bei einer Vielzahl von Krankenversicherern der Fall ist. Da die Leistungserbringer in den Organen der öffentlichen Krankenkasse sitzen und dadurch in einen gewissen Interessenkonflikt geraten, wird eine allfällige Stärke des Monopols bei den Verhandlungen mit den Leistungserbringern relativiert.

Die Versicherer haben noch bis zur Einführung der neuen Spitalfinanzierung gemeinsame Verhandlungen mit den Leistungserbringern geführt. Die vormals bestehende «Marktmacht» ist nun aufgebrochen. Neu verhandeln verschiedene Tarifgemeinschaften wie insbesondere die Tarifsuisse AG sowie die Gruppe Helsana/Sanitas/KPT mit den Leistungserbringern. Die Auswirkungen der Verhandlungen der einzelnen Tarifgemeinschaften anstelle der gemeinsamen Verhandlungen können noch nicht beurteilt werden. Wegen des Vertragszwangs ist der Wettbewerb allerdings eingeschränkt.

5.1.7

Auswirkungen auf die Prämien

Der Bund befürchtet aufgrund der mit der Volksinitiative verbundenen Schwächung der Wettbewerbselemente im Krankenversicherungssystem, dass es in der Tendenz zu einem Anstieg der Prämien in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung kommen könnte.

Die Volksinitiative setzt, wie das geltende Recht, auf Prämien der Versicherten als Hauptfinanzierungsquelle der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Konkret 10

Quelle: Bundesamt für Sozialversicherungen, Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2012. Alle Angaben beziehen sich auf das Jahr 2010.

7941

sieht sie vor, dass die von der öffentlichen Krankenkasse geschaffenen kantonalen oder interkantonalen Agenturen zum einen die Prämien festlegen und einziehen, zum anderen die Leistungen vergüten. Für jeden Kanton soll eine einheitliche Prämie festgelegt werden, deren Berechnung auf den Kosten der sozialen Krankenversicherung basiert. Die Volksinitiative macht keine weiteren Angaben zur Umsetzung der Finanzierung der sozialen Krankenversicherung. Die Frage der Bildung von Reserven und Rückstellungen wird gar nicht angesprochen, so auch nicht die Frage der Finanzierungslücke im Falle einer Bedarfsunterschätzung bei der Prämienfestsetzung oder einer plötzlichen und unerwarteten Erhöhung der Kosten zulasten der Krankenversicherung.

Da sich die Prämien mit einer Einheitskasse nicht mehr unterscheiden, könnten zwar diejenigen Personen, die heute bei einer Kasse mit hohen Prämien versichert sind, weniger bezahlen. Gleichzeitig müssten aber diejenigen Personen, die heute bei einer Kasse mit tiefen Prämien versichert sind, höhere Prämien bezahlen. Dadurch dürfte sich der Anteil derjenigen Personen erhöhen, deren Prämien mittels der individuellen Prämienverbilligung mitfinanziert wird. Somit werden auch die Ausgaben für die Prämienverbilligung ansteigen.

5.1.8

Auswirkungen auf die Reserven

Als weiterer Vorzug der öffentlichen Krankenkasse wird im Argumentarium der Initiantinnen und Initianten ihre Möglichkeit zur Herabsetzung der Reserven angeführt. Es trifft zwar zu, dass eine Krankenkasse mit rund acht Millionen Versicherten die Risiken besser diversifizieren kann, als dies bei den heutigen Krankenversicherern der Fall ist, und deshalb über tiefere Reserveanforderungen verfügen könnte.

Damit würden jedoch keine Kosten eingedämmt, da ein Abbau der Reserven ­ vorausgesetzt, dass die gesetzlichen Reserven bei Aufnahme der Tätigkeit der Einheitskasse überhaupt vollständig vorhanden sind ­ ohnehin nur in den ersten Jahren eine entlastende Wirkung auf die Prämien hätte. Im Übrigen ist vor Augen zu halten, dass auch eine Einheitskasse ausreichend Reserven benötigt, um die Risiken abzudecken, die sie mit ihrer Geschäftstätigkeit eingeht. Auch stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, was geschieht, wenn die Reserven nicht ausreichen, um unerwartet eingetretene Risiken zu decken.

5.1.9

Auswirkungen auf den Risikoausgleich

Der Risikoausgleich hätte in einem Monopolkassensystem keinen Sinn mehr und würde wegfallen. Auf die Prämienhöhe hätte dies aber keine nennenswerten Auswirkungen, da der im Zusammenhang mit dem Risikoausgleich bei den Versicherern und der gemeinsamen Einrichtung entstehende Verwaltungsaufwand auf den einzelnen Versicherten bezogen gering ist.

7942

5.1.10

Übernahme der Aktiven und Passiven

Im Zusammenhang mit der Übernahme der Aktiven und Passiven der bestehenden Einrichtungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung durch die öffentliche Einheitskrankenkasse stellen sich heikle rechtliche Probleme. Vor allem geht aus dem Initiativtext nicht hervor, ob die Krankenversicherer für die Übertragung der Aktiven und Passiven eine Gegenleistung erhalten sollen. Da in der Initiative keine explizite Regelung betreffend eine allfällige Abfindung vorgesehen ist, ist es am Gesetzgeber, diese Frage zu regeln.

Zwar ist im Falle der Auflösung einer Krankenversicherung schon im geltenden Recht vorgesehen, dass bei privatrechtlich organisierten Krankenversicherern ein allfälliger Vermögensüberschuss in den Insolvenzfonds der gemeinsamen Einrichtung fällt, wenn das Vermögen und der Versichertenbestand nicht durch Vertrag auf einen anderen Versicherer übertragen werden (Art. 13 Abs. 4 KVG); auch hat ein Versicherer, dem die Bewilligung zur Durchführung der sozialen Krankenversicherung nur für Teile des örtlichen Tätigkeitsbereichs entzogen wurde, einen Teil seiner Reserven abzugeben. Inwiefern sich eine analoge Regelung aber im Falle der Überführung aller Aktiven und Passiven der obligatorischen Krankenpflegeversicherung auf die öffentliche Krankenkasse rechtfertigen lässt, wäre im Rahmen der Ausführungsgesetzgebung zu prüfen. Problemlos dürfte sich diese Übernahme der Aktiven und Passiven nicht abspielen, was dazu führen könnte, dass die finanziellen Verhältnisse der öffentlichen Krankenkasse im Zeitpunkt der Aufnahme ihrer Tätigkeit nicht vollständig geklärt sein werden.

5.1.11

Vereinbarkeit der Vorlage mit Verpflichtungen der Schweiz gegenüber der Europäischen Union

Die Volksinitiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» ist mit den vertraglichen Verpflichtungen der Schweiz gegenüber der Europäischen Union vereinbar. Insbesondere verstösst sie nicht gegen das Freizügigkeitsabkommen mit der EU.11

5.2

Würdigung der Übergangsbestimmung

5.2.1

Erlass der für die Übertragung erforderlichen Rechtsgrundlage

Nach den Übergangsbestimmungen der Volksinitiative hat die Bundesversammlung nach der Annahme dieser durch Volk und Stände die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen zu erlassen, damit die Reserven, die Rückstellungen und die Vermögen aus dem Bereich der sozialen Krankenversicherung auf die öffentliche nationale Krankenkasse übertragen werden. Erlässt die Bundesversammlung nicht innert dreier Jahre nach Annahme der Initiative entsprechende Vorschriften, so können die Kantone auf ihrem Gebiet eine einheitliche öffentliche Einrichtung der sozialen Krankenversicherung schaffen. Diese knappe Regelung auf Verfassungsebene und 11

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, SR 0.142.112.681

7943

das Fehlen weiterer Anhaltspunkte zu wesentlichen Nebenpunkten lassen einen grossen Spielraum hinsichtlich der rechtlichen und finanziellen Auswirkungen der Volksinitiative auf die heute bestehenden Versicherer und auf die neu einzurichtende öffentliche Krankenkasse offen. Nach Ansicht des Bundesrates ist die Dreijahresfrist für den grundlegenden Systemwechsel in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung knapp bemessen. In dieser Zeit müssten erhebliche Teile des geltenden Krankenversicherungsgesetzes geändert oder neu geschaffen werden.

5.2.2

Einrichtungen der Kantone bei Verzögerung der Bundesgesetzgebung

Die Übergangsbestimmungen sehen wie erwähnt vor, dass die Kantone auf ihrem Gebiet eine einheitliche öffentliche Einrichtung der sozialen Krankenversicherung schaffen können, falls die Bundesversammlung nicht innert dreier Jahre nach Annahme der Volksinitiative entsprechende Vorschriften erlässt. Folglich könnte bei einer solchen Hypothese eine öffentliche Einheitskasse auf kantonaler Ebene eingerichtet werden; in der Schweiz würden somit zwei völlig unterschiedliche Versicherungssysteme nebeneinander existieren, was zahlreiche Durchführungs- und Koordinationsprobleme mit sich bringen dürfte.

5.3

Auswirkungen bei Annahme der Initiative

5.3.1

Finanzielle Auswirkungen auf Bund, Kantone und Gemeinden

Die öffentliche Hand leistete in den vergangenen Jahren im Rahmen der Prämienverbilligung in zunehmender Höhe Beiträge an die Krankenversicherung. Im Jahr 2011 betrug der Bundesbeitrag 2,1 Milliarden Franken, derjenige der Kantone 2,0 Milliarden Franken12. Bei den Kantonen kommen die Subventionen der Leistungserbringer hinzu, insbesondere der Spitäler. Die Subventionen an Leistungserbringer betrugen im Jahr 2010 rund 9,4 Milliarden Franken13. Von den insgesamt rund 34,8 Milliarden Franken, die im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gedeckt sind, übernimmt die öffentliche Hand dementsprechend etwa 38,6 Prozent.

Da bei einer Annahme der Volksinitiative kein Wettbewerb mehr unter den Versicherern spielen würde, da es nur noch einen gäbe, wäre mit einem Anstieg der Prämien in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu rechnen. Zudem ist davon auszugehen, dass sich mit der einheitlichen Prämie aufgrund des Monopols eine Erhöhung der heute tiefen Prämien ergeben wird. Die von der öffentlichen Hand zu leistenden Prämienverbilligungen dürften mit der Volksinitiative deshalb tendenziell ansteigen.

12 13

BAG, Statistik der obligatorischen Krankenversicherung 2011.

BFS, Finanzierung des Gesundheitswesens nach Finanzierungsregimes.

7944

5.3.2

Auswirkungen auf die Versicherer

Die soziale Krankenversicherung wäre bei Annahme der Volksinitiative nicht länger Teil des Geschäftsbereichs der bestehenden Krankenversicherer. Diese hätten die Möglichkeit, weiterhin Zusatzversicherungen anzubieten. Die 61 heute im Bereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung tätigen Krankenversicherer würden ihrer hauptsächlichen Geschäftstätigkeit entledigt. Insbesondere jene Krankenversicherer, die keine Zusatzversicherungen durchführen, würden sich ­ sofern sie nicht ihren Zweck ändern und in einem neuen Bereich eine Geschäftstätigkeit aufnehmen würden ­ zur Auflösung gezwungen sehen. Es ist davon auszugehen, dass viele bestehende Einrichtungen ihre Tätigkeit einstellen müssten. Die Einrichtung einer öffentlichen Einheitskasse hätte eine grundlegende Reorganisation der Organisationsstrukturen und der Verwaltungsabläufe zur Folge, von denen ein Grossteil der 12 52714 Krankenkassenangestellten der Grund- und Zusatzversicherung betroffen wären. Bei den Kosten, die den Versicherern, Bund und Kantonen durch die Annahme der Initiative entstehen würden, ist zu unterscheiden zwischen den Umstellungs- und den späteren Betriebskosten. Beide sind von der konkreten Umsetzung der Volksinitiative abhängig und können zum jetzigen Zeitpunkt nicht beziffert werden.

Auch die privaten Krankenzusatzversicherer wären von der Annahme der Volksinitiative betroffen. Gemessen am Prämienvolumen verzeichnet die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) einen dreifach höheren Umsatz als das Krankenzusatzversicherungsgeschäft. Würden die Krankenversicherungsgruppen durch Annahme der Initiative die OKP ganz an die Einheitskasse verlieren, müssten die Gesamtkosten für Infrastruktur, Vertrieb und Verwaltung allein durch die privaten Zusatzversicherungen getragen werden, was zu einer Marktbereinigung führen dürfte.

Wenn einzelne Krankenversicherer zur Aufgabe ihres Geschäfts gezwungen werden, muss aus Sicht des Versichertenschutzes sichergestellt werden, dass die Versicherungsverträge weitergeführt werden können. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die meisten Verträge in der Krankenzusatzversicherung durch das Versicherungsunternehmen nicht kündbar sind. Bei einer grossen Marktbereinigung kann nicht vorausgesetzt werden, dass besonders schutzwürdige Versicherungsverträge einen Abnehmer finden,
da es diesbezüglich keine Aufnahmepflicht bei den Privatversicherern gibt. Somit wäre ein staatlicher Eingriff bei der Zuweisung solcher Versicherungsportefeuilles als flankierende Massnahme vorzusehen.

5.3.3

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

Die Annahme der Initiative bedingt einen grundlegenden Kurswechsel in der sozialen Krankenversicherung und damit verbunden eine Umstrukturierung eines Wirtschaftsektors. Die bestehenden 61 Krankenkassen werden in eine einzige öffentliche Krankenkasse überführt, mit den entsprechenden Folgen auf dem Arbeitsmarkt. Aus volkswirtschaftlicher Sicht am gewichtigsten ist der Effekt auf die Kosten des Gesundheitswesens. Dabei ist zu bedenken, dass sich die Leistungen der OKP auf 4,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts belaufen; unter Berücksichtigung der kantona14

BAG, Statistik der obligatorischen Krankenversicherung 2011.

7945

len Spitalsubventionen, die ebenfalls von der Kostenkontrolle der Versicherer abhängen, sind es sogar 5,7 Prozent. Eine öffentliche Krankenkasse, die nicht im Wettbewerb steht, hat weniger Anreiz zu einer effektiven Kostenkontrolle. Das Problem wird dadurch verschärft, dass gemäss Initiativtext in den Organen der öffentlichen Krankenkasse die Leistungserbringer Einsitz haben sollen, was namentlich die Rolle der Krankenversicherer im Rahmen der Tarifverhandlungen mit den Leistungserbringern schwächt. Ein Monopolist, der nicht im Wettbewerb steht, hat des Weiteren weniger Anreiz zum effizienten Einsatz der Prämien, da er die Prämien erhöhen kann, ohne die Abwanderung der Versicherten befürchten zu müssen.

Höhere Prämien wirken sich auf die Kaufkraft der Bevölkerung aus.

Als Monopolist wird eine öffentliche Krankenkasse eine andere Kostenstruktur aufweisen als die Versicherer, die im Wettbewerb stehen. Da heute zwischen der Grösse der Versicherer und den Verwaltungskosten pro versicherte Person kein Zusammenhang festzustellen ist, kann davon ausgegangen werden, dass keine nennenswerten Grössenvorteile bestehen. Einsparungen werden hingegen im Bereich von Marketing und Werbung anfallen ­ mit gewissen Auswirkungen auf den Werbemarkt sowie auf Versicherungsmakler sowie Internet-Vergleichsdienste. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen auf den Werbemarkt dürften sich im Bereich von 1 Prozent des Gesamtwerbemarktes bewegen.

6

Internationaler Vergleich

In den Industriestaaten kommen, wenn man von den USA absieht, grundsätzlich zwei verschiedene Gesundheitssysteme vor: der nationale Gesundheitsdienst, der hauptsächlich durch Steuern finanziert ist (sog. «Beveridge-Modell»), sowie das Sozialversicherungsmodell, auch «Bismarck-Modell» genannt. Nach dem Sozialversicherungsmodell sind die Gesundheitssysteme in Deutschland, Frankreich, den Benelux-Ländern, Österreich, vielen osteuropäischen Ländern sowie in Japan und Südkorea finanziert. Die Systeme unterscheiden sich im Einzelnen allerdings erheblich. In den meisten Ländern existieren mehrere Versicherer, wobei diese jedoch nicht überall frei gewählt werden können, sondern oftmals in Abhängigkeit von Arbeitgeber, Arbeitsstatus oder Wohnort vorgegeben sind. Wie in der Schweiz besteht Wahlfreiheit bezüglich des Versicherers in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Israel, Tschechien sowie in der Slowakei (sog. «Reguliertes Marktmodell»). Ein System mit einem einzigen öffentlichen Krankenversicherer existiert in Südkorea sowie in einigen osteuropäischen Ländern, die im Zuge der Transformation von einem staatlichen Gesundheitssystem zu einem Sozialversicherungssystem übergegangen sind.

Ein Unterschied des Schweizer Systems gegenüber den meisten anderen Ländern mit einem Sozialversicherungssystem besteht darin, dass die obligatorische Krankenpflegeversicherung nicht auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen beruht, sondern auf Kopfprämien, die für Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen durch individuelle Prämienverbilligungen ergänzt werden.

Eindeutige Aussagen zum Zusammenhang von Gesundheitssystem und Gesundheitskosten sind mit den verfügbaren internationalen Statistiken der OECD relativ schwierig. Länder mit einem nationalen Gesundheitssystem weisen einerseits ein tieferes Kostenniveau auf als die Schweiz (sowohl absolut wie auch im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt), gleichzeitig sind dort die Gesundheitskosten im vergan7946

genen Jahrzehnt viel stärker gestiegen. Mit der Schweiz bezüglich Entwicklungsstand der Wirtschaft sowie Qualität der medizinischen Versorgung einigermassen vergleichbare Länder (z. B. Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien) unterscheiden sich dagegen kaum, weder hinsichtlich der Kosten noch hinsichtlich des Kostenwachstums ­ auch wenn die Krankenversicherung teilweise ganz anders finanziert wird.

7

Verhältnis zum europäischen Recht

7.1

Vorschriften der Europäischen Union

Artikel 3 Absatz 3 Unterabsatz 2 des Vertrages der Europäischen Union15 überträgt der Union die Aufgabe, die soziale Gerechtigkeit und den sozialen Schutz zu fördern. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmenden innerhalb der Union ist in Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)16 geregelt. Das Freizügigkeitsprinzip verlangt eine Koordination der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit, wie dies in Artikel 48 AEUV festgelegt ist. Das Unionsrecht sieht keine Harmonisierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit vor. Die Mitgliedstaaten können die Ausgestaltung, den persönlichen Geltungsbereich, die Finanzierungsmodalitäten sowie die Organisation ihrer Systeme der sozialen Sicherheit weiterhin bestimmen. Die Koordination der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit wird durch die Verordnung (EG) Nr. 883/200417 und die Durchführungsverordnung Nr. 987/200918 geregelt. Seit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EU19 am 1. Juni 2002 ist die Schweiz Teil des multilateralen Koordinationssystems.

7.2

Die Instrumente des Europarates

Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 196420 (EOSS) regelt in ihrem Teil II die ärztliche Betreuung. Die Vertragsstaaten nach Teil II sind verpflichtet, den geschützten Personen medizinische Versorgung bei Krankheit ohne Rücksicht auf ihre Ursache sowie bei Mutterschaft zu gewährleisten. Der Leistungsempfänger kann zur Beteiligung an den Kosten der bei Krankheit gewährten medizinischen Versorgung verpflichtet werden. Zudem kann die Dauer der erbrachten Leistungen für die einzelnen Fälle auf 26 Wochen beschränkt werden. Die Schweiz hat bei der Ratifikation der EOSS erklärt, die Verpflichtungen aus Teil II nicht zu übernehmen. Betreffend die Organisation der Sozialversicherungssysteme sieht die EOSS vor, dass, wenn die Verwaltung nicht von einer einem Parlament verantwort15 16 17

18

19 20

ABl. C 326 vom 26. Okt. 2012, S. 13.

ABl. C 326 vom 26. Okt. 2012, S. 47.

Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (SR 0.831.109.268.1).

Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (SR 0.831.109.268.11).

SR 0.142.112.681 SR 0.831.104

7947

lichen Regierungsstelle wahrgenommen wird, Vertreterinnen und Vertreter der geschützten Personen nach vorgeschriebener Regelung an der Verwaltung zu beteiligen oder ihr in beratender Eigenschaft beizuordnen sind; die innerstaatlichen Rechtsvorschriften können auch die Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitgeber und der Behörden vorsehen (Art. 71).

Die (revidierte) Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 6. November 1990 erweitert den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der EOSS. Sie tritt nach der Ratifikation durch zwei Mitgliedstaaten des Europarates in Kraft. Bis anhin haben die Niederlande ratifiziert (am 22. Dez. 2009) und 13 weitere Staaten unterzeichnet.

Die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 sowie die revidierte Europäische Sozialcharta vom 3. Mai 1996 statuieren in Artikel 12 das Recht auf soziale Sicherheit. Die Schweiz hat die beiden Abkommen nicht ratifiziert.

8

Schlussfolgerungen

Nach Ansicht des Bundesrates drängt sich ein grundlegender Kurswechsel bei der Durchführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung von einer Kassenvielfalt zu einer öffentlichen Krankenkasse nicht auf. Vielmehr ist der Bundesrat der Ansicht, dass ein System mit mehreren Versicherern in der sozialen Krankenversicherung klare Vorzüge gegenüber der Monopolstellung einer einzigen Krankenkasse aufweist. Die Durchführung der obligatorischen Krankenversicherung durch mehrere Krankenversicherer hat in der Schweiz eine lange Tradition. Die Erfahrungen, die seit Einführung des KVG gemacht werden konnten, haben aber gezeigt, dass gewisse Anpassungen notwendig sind, damit das System optimal funktioniert. Der Bundesrat ist jedoch überzeugt, dass bestehende Fehlanreize wie beispielsweise die Risikoselektion ohne einen grundlegenden Systemwandel behoben werden können.

Mit der vollen Freizügigkeit wird der Bevölkerung der Schweiz heute eine uneingeschränkte Freiheit bei der Wahl des Versicherers eingeräumt. Die Versicherten können sich entscheiden, ob sie die obligatorische Krankenpflegeversicherung bei ihrem bisherigen Krankenversicherer fortführen oder zu einem anderen Versicherer wechseln wollen. Damit sind dem System wesentliche Wettbewerbselemente eigen, die auch die Anreize zu kostendämpfenden Massnahmen fördern. Daran will der Bundesrat festhalten und den Wettbewerb zur Gewährleistung eines qualitativ hochstehenden Krankenversicherungssystems beibehalten.

Der Bundesrat ist überzeugt, dass das Ziel der Kosteneindämmung mit wirtschaftlichen Anreizen für alle beteiligten Akteure besser erreicht werden kann als mit einem System mit nur einem Versicherer.

Der Bundesrat ist sich aber auch bewusst, dass das heutige System noch optimiert werden muss. Er hat aus diesem Grunde bereits das Krankenversicherungsaufsichtsgesetz an das Parlament überwiesen. Weitere Verbesserungen, insbesondere im Bereich der Risikoselektion und der Transparenz, sind notwendig.

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Auch wenn der Bundesrat im Hinblick auf die Vielfalt der Krankenversicherer keine Strukturerhaltung anstrebt, sieht er in einem abrupten Systemwechsel zu einem einzigen Versicherer keine Lösung der vordringlichen Probleme der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.

Aus all diesen Gründen lehnt der Bundesrat die Einführung einer einheitlichen öffentlichen Krankenkasse ab.

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