13.103 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte vom 29. November 2013

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf einer Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

29. November 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2013-2826

9217

Übersicht Die vorliegende Revision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte schlägt Massnahmen vor, mit denen einige mit dem vermehrten Gebrauch der Volksrechte aufgetretene Schwierigkeiten zügig gemeistert werden sollen: Der unvermindert starke Zuwachs von Nationalratskandidaturen macht zur Vermeidung verbotener Doppelkandidaturen nötig, dass zu spät entdeckte Doppelkandidaturen nachträglich gestrichen werden können. Die Einreichung von Wahlvorschlägen ist auf den Monat August zu konzentrieren, und Entscheide über Wahlbeschwerden sind vom Fristenstillstand auszunehmen.

Ausgangslage Das unablässige Anwachsen der Anzahl Wahlvorschläge, Kandidaturen, Listenverbindungen und Unterlistenverbindungen gefährdet zunehmend die korrekte Abwicklung eines Kernprozesses bundesstaatlicher Selbstorganisation: der Nationalratswahlen. Neuere Entwicklungen im Namensrecht, in der Mobilität und in der Migration haben den Komplexitätsgrad stark erhöht. Ohne gesetzliche Anpassungen können die gestiegenen Anforderungen in der zwangsläufig kurzen zur Verfügung stehenden Zeit nicht wirksam zufriedengestellt werden. Für die Kontrolle von Hand reichen manchen Kantonen und der Bundeskanzlei die wenigen zur Verfügung stehenden Stunden nicht mehr aus. Das Risiko steigt stark an, dass eine Doppelkandidatur nicht mehr rechtzeitig erkannt und verhindert werden kann. Dies gefährdet die korrekte Zuteilung sämtlicher Stimmen an die Listen und damit die unzweifelhaft korrekte Proporzwahl an sich.

Hinzu kommt, dass Auslandschweizer Stimmberechtigte wegen der bei Wahlen verkürzten Fristen für die Zustellung des Wahlmaterials riskieren, faktisch ihr Wahlrecht nicht ausüben zu können. Entsprechende Reklamationen gingen anlässlich der Wahlen 2007 und 2011 ein. Aber auch Wählerinnen und Wähler im Inland zeigen sich zunehmend irritiert darüber, dass bei Nationalratswahlen das Wahlmaterial später verschickt wird als bei eidgenössischen Volksabstimmungen.

Inhalt der Vorlage Zur Sicherstellung regelkonformer Wahlen unterbreitet diese Vorlage dementsprechend einige parteien- und bürgerfreundliche, aber eher technische Anpassungen des Nationalratswahlrechts, die keinen Aufschub ertragen.

So sollen einerseits die Wahlanmeldefristen auf den August des Wahljahres konzentriert werden, damit anderseits die Wahlunterlagen den Stimmberechtigten
künftig in der viertletzten Woche statt erst zehn Tage vor dem Wahltag zugestellt werden können.

Damit das Schweizer Bürgerrecht aller Kandidierenden EDV-gestützt rasch und verlässlich festgestellt werden kann, soll beim Heimatort die Kantonszugehörigkeit angegeben werden.

9218

Ausserdem schlägt die Vorlage Massnahmen vor, die den Wählenden auch in Majorzkantonen ohne Anmeldezwang die nötigen Minimalinformationen über die vorbereiteten Kandidaturen ermöglichen.

Für den Fall von Wahlbeschwerden soll ein gesetzgeberisches Versehen behoben werden, welches vom Bundesgericht angezeigt worden ist: Wahlbeschwerden sind vom Rechtsstillstand in den Gerichtsferien nicht weniger auszunehmen als Schuldbetreibungs- und Konkurssachen.

Entsprechend einer von der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats unterstützten parlamentarischen Initiative Joder sollen schliesslich Nachzählungen auch bei sehr knappen Abstimmungsergebnissen vom Glaubhaftmachen von Unregelmässigkeiten abhängig gemacht werden.

9219

Inhaltsverzeichnis Übersicht

9218

1

9222 9222 9222 9233 9234 9239

Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Nationalratswahlen 1.1.2 Knappe Abstimmungsergebnisse 1.1.3 Stimmrechtsbescheinigungen bei Volksbegehren 1.2 Die beantragte Neuregelung 1.2.1 Möglichkeit amtlicher Streichung nachträglich aufgetauchter Doppelkandidaturen 1.2.2 Einreichung der Wahlvorschläge bei Nationalratswahlen 1.2.3 Beobachtung von Urnengängen statt Nachzählung bei sehr knappen Ergebnissen von Urnengängen 1.3 Vernehmlassung 1.3.1 In der Vernehmlassung gutgeheissene Kernthemen 1.3.2 In der Vernehmlassung umstrittene Kernthemen 1.3.3 Nationalratswahlen 1.3.4 Beobachtung von Urnengängen statt Nachzählungen 1.3.5 Stimmrechtsbescheinigungen bei Volksbegehren 1.3.6 Rechtsmittel 1.3.7 Weitere nicht berücksichtigte Revisionswünsche 1.4 Begründung und Bewertung der vorgeschlagenen Lösung 1.4.1 Kontrolle der Kandidaturen bei Nationalratswahlen 1.4.2 Nachzählung aufgrund glaubhaft gemachter Unregelmässigkeiten 1.4.3 Beobachtung von Urnengängen 1.4.4 Stimmrechtsbescheinigungen 1.5 Erledigung parlamentarischer Vorstösse

9239 9239 9239 9241 9242 9242 9242 9243 9244 9246 9246 9248 9248 9252 9254 9255 9255

2

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln

9256

3

Auswirkungen 3.1 Auswirkungen auf den Bund 3.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

9259 9259 9259

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

9261

5

Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungsmässigkeit 5.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 5.3 Erlassform 5.4 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 5.5 Datenschutz

9261 9261 9261 9261 9262 9262

Literaturverzeichnis

9220

9263

Anhang: Nachzählungen? Alternative Umsetzungsvarianten

9264

Bundesgesetz über die politischen Rechte (Nationalratswahlen) (Entwurf)

9271

9221

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

Mit dem Bundesgesetz vom 17. Dezember 19761 über die politischen Rechte (BPR) hat der Gesetzgeber 1976 die politischen Rechte der Bundesebene erstmals kodifiziert und eine ausgezeichnete Grundlage für die Weiterentwicklung der direkten Demokratie in der Schweiz geschaffen. Teilrevisionen haben seither wo nötig Anpassungen an veränderte Umstände ermöglicht. Mit 35 Jahren weist das Gesetz eine beachtliche Gültigkeitsdauer auf. Die Implikationen des digitalen Zeitalters lassen absehen, dass die Kodifikation in einigen Jahren einer Gesamtrevision bedarf. Bevor sie angegangen wird, ist es jedoch sinnvoll, noch eine weitere Etappe der Entwicklung der elektronischen Stimmabgabe und ihrer Auswirkungen abzuwarten, damit die Stossrichtung des gesetzgeberischen Handlungsbedarfs präziser abgeschätzt werden kann (vgl. Ziff. 1.3.7). Für kommende Nationalratswahlen sind jedoch einige Anpassungen der gegenwärtigen Gesetzgebung nötig, die realen Entwicklungen Rechnung tragen und den reibungslosen Vollzug auch künftig parteien- und bürgerfreundlich sicherstellen.

1.1.1

Nationalratswahlen

Mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 hat sich die Zahl der Wahlberechtigten mehr als verdoppelt. Die Ausweitung des Stimmrechts auf interessierte Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer und die Senkung des Stimmrechtsalters 1991 von 20 auf 18 Jahre trugen ihrerseits seither kräftig zu einem deutlichen Wachstum bei. Die Anzahl der Kandidaturen sowie jene der eingereichten Listen hat sich seither verdoppelt. Noch stärker ausgefallen ist das Wachstum der Listenverbindungen und der Unterlistenverbindungen. Dieses Wachstum an Kandidaturen, Listen, Listen- und Unterlistenverbindungen ist darauf zurückzuführen, dass seit 1979 ein Anspruch darauf besteht, dass der Staat sämtliche Wahlzettel aller Listen von Amtes wegen druckt und jeder stimmberechtigten Person zukommen lässt. Der Zuwachs sowohl der Wahlberechtigten als auch der Listen und der Kandidaturen potenziert volumenmässig Druck- und Versandbedarf für die Nationalratswahlen.

Damit verbunden steigen der Zeitbedarf und die Pannenanfälligkeit an.

1

SR 161.1

9222

Tabelle 1

Wahljahr

Listen

Kandidaturen

davon Frauen

davon Männer

davon Auslandschweizer/-innen

Wahlberechtigte in 1000

davon Auslandschweizer/innen in 1000

Listenverbindungen

Unterlistenverbindungen

Bemerkungen

Nationalratswahlen 1971­2011. Entwicklung in den Proporzkantonen

1971 1975 1979 1983 1987 1991 1995 1999 2003 2007 2011

151 170 164 187 222 248 278 268 262 311 365

1689 1947 1845 1880 2400 2561 2834 2845 2836 3089 3458

267 329 340 434 704 834 990 983 993 1088 1132

1422 1618 1505 1446 1696 1727 1844 1862 1843 2001 2326

­ ­ ­ ­ ­ ­ 9 6 17 44 74

3595 3745 3900 4080 4250 4510 4590 4655 4770 4950 5100

0 0 5 9 11 14 56 70 84 113 125

30 26 34 36 47 54 56 63 67 70 79

4 11 14 13 17 31+3 40 42 39 67 71

a) a)

b) c)

Bemerkungen a) keine amtliche Verteilung von Wahlzetteln mit Vordruck b) 3 = Unter-Unterlistenverbindungen c) briefliche Stimmabgabe liberalisiert

Auch die Nationalratswahlen zur 49. Legislaturperiode 2011­2015 am 23. Oktober 2011 brachten ein Wahljahr neuer Rekorde.

In den 20 Proporzkantonen (ZH, BE, LU, SZ, ZG, FR, SO, BS, BL, SH, SG, GR, AG, TG, TI, VD, VS, NE, GE und JU) kandidierten 3458 Personen; der bisherige Rekord von 2007 (3092 Kandidaturen) wurde bei Weitem übertroffen. Analoges gilt in den 20 Proporzkantonen für die Anzahl eingereichter Listen (365 gegenüber 2007: 311), der Listenverbindungen (79 gegenüber 2007: 70) und der Unterlistenverbindungen (71 gegenüber 2007: 67). Es kandidierten 64 Bundesangestellte (2007: 65) und 77 Auslandschweizer Stimmberechtigte (2007: 44, 2003: 17).

Der anhaltende Kandidaten- und Listenzuwachs bei gleichbleibenden Fristen stellt Kantone und Bund vor zunehmend heiklere Probleme. Zugleich lassen laufend wachsende Wünsche nach Ausdifferenzierungen und Sonderregelungen die Dienstleistungen pannenanfälliger werden. In vier Kantonen passierten ärgerliche Druckoder Verteilfehler bei (kleinen) Teilauflagen der Wahlzettelsätze; sie sind eine erklärbare Folge erhöhten Zeitdrucks und konnten nur, wo sie umgehend bekannt gegeben wurden, rasch und ohne Beschwerden behoben werden.

Immer öfter reklamieren Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, weil sie das Wahlmaterial im Ausland zu spät erhalten, um ihre Stimme noch wirksam abgeben zu können.2

2

Vgl. BBl 2008 7493

9223

Steuern lässt sich hier einzig durch ein früheres Ende des Zeitfensters für den Wahlanmeldeschluss. So wird der nötige Zeitraum geschaffen, der anschliessend die Erstellung aller Wahlzettel und ihre fristgerechte Verteilung in der Schweiz, aber grösstenteils auch im Ausland ermöglicht. Dies entspricht v. a. auch den berechtigten Ansprüchen der Wahlberechtigten, die zuletzt auffallend häufig reklamierten, das Wahlmaterial nicht erhalten zu haben, weil ihnen nicht bewusst ist, dass ihr Anspruch auf Erhalt des Wahlmaterials nur zehn Tage vor dem Wahltag und nicht wie bei Volksabstimmungen mindestens drei Wochen beträgt. Gerade die Wahlberechtigten müssen genügend Zeit zum Studium immer umfangreicherer Wahlunterlagen und zur Bildung ihres Wählerwillens eingeräumt erhalten.

Seit dem Inkrafttreten der Kodifikation am 1. Juli 1978 wurden neun Nationalratswahlen durchgeführt; dabei haben sich ­ bei gleichbleibender Anzahl zu vergebender Mandate ­ die Anzahl der Kandidaturen, der Listen und der Listenverbindungen verdoppelt und jene der Unterlistenverbindungen verfünffacht (vgl. Tab. 1), und die Anzahl der Wahlberechtigten ist um rund 25 Prozent von rund 3 900 000 auf 5 160 000 gestiegen. 1978 waren 5300 Auslandschweizerinnen und -schweizer im Stimmregister eingetragen; heute sind es über 125 000, d. h. 24-mal mehr. Der Papierverbrauch für den Druck der Wahlzettel hat sich deshalb mehr als verdoppelt.

Die Liberalisierung der brieflichen Stimmabgabe auch für Auslandschweizer Stimmberechtigte erhöht den Fristendruck für die Verteilung des Wahlmaterials.

Wahlbeschwerden beanstanden dies. Die Gefahr einer Panne steigt. Die postalische Zustellung kann nicht ohne erhebliche Mehrkosten weiter beschleunigt werden. Der Zeitgewinn muss anderswo realisiert werden. Verfahrensbedingt darf im Proporzverfahren niemand auf mehr als einer Liste kandidieren. Das Kontrollinstrumentarium dafür ist «wackelig» geworden, weil die verlangten Kandidatenangaben infolge des geänderten Namensrechts, erhöhter Mobilität (z. B. Wochenaufenthalterinnen und Wochenaufenthalter), mehrfacher Heimatorte, stärkerer Migration und von Geschlechtsumwandlungen nirgends mehr eindeutig sind. Bei den Nationalratswahlen 2015 dürfte die Anzahl der Kandidaturen, der Listen, der Listen- und Unterlistenverbindungen und der stimmberechtigten Schweizerinnen
und Schweizer im In- und Ausland kaum zurückgehen. Der Kosten- und der Fristendruck werden ebenso wenig abnehmen. Ein Gesetzesvollzug mit einem den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr genügenden Instrumentarium lässt unvermeidlich auch die Verletzlichkeit der Verfahren und das Risiko zunehmender Beschwerden steigen.

9224

Tabelle 2 Stimmberechtigte, Listen, Kandidaten, Wahlzettel. Veränderung seit 2003 Kanton Sitze

ZH BE LU SZ ZG FR SO BS BL SH SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU

34 26 10 4 3 7 7 5 7 2 12 5 15 6 8 18 7 5 11 2

CH

194

Zuwachs

Stimmberechtigte

Listen

2003

2003

2011

32 21 14 8 8 12 11 14 12 5 18 9 17 12 7 15 17 11 11 8

30 28 18 17 12 18 22 25 14 11 15 15 22 17 11 22 29 9 22 8

964 462 102 27 24 61 75 67 79 9 163 43 207 63 49 204 91 55 75 16

802 546 129 64 35 99 141 114 97 21 176 69 280 102 68 334 151 45 170 16

4 634 555 4 969 237 262

365

2836

3459

810 622 685 159 237 537 89 902 67 318 164 210 166 052 116 361 179 186 48 022 291 445 129 782 363 920 146 431 198 992 373 917 190 121 105 235 219 984 48 356

7,0 %

2011

877 817 713 938 260 101 98 193 71 845 185 485 173 356 114 064 186 806 49 783 311 495 135 141 399 092 160 453 212 103 410 956 205 917 109 926 240 126 50 629

39,3 %

Kandidaturen

Wahlzettelbedarf: (Listen + 1) × Stimmberechtigte

2003

2003

22,0 %

2011

27 000 000 15 000 000 3 350 000 820 000 612 000 2 150 000 2 000 000 1 755 000 2 350 000 294 000 5 500 000 1 310 000 6 570 000 1 911 000 1 600 000 6 000 000 3 438 000 1 272 000 2 652 000 441 000

2011

27 300 000 20 000 000 4 750 000 1 880 000 936 000 3 535 000 4 000 000 2 875 000 2 800 000 605 000 5 000 000 2 175 000 9 200 000 2 898 000 2 556 000 9 476 000 6 210 000 1 110 000 5 543 000 459 000

86 025 000 113 308 000 31,4 %

Innert acht Jahren nahm die Menge an Wahlzetteln gesamtschweizerisch um über 30 %, in den Kantonen FR, BS, TI und VD um ca. 60 %, im Kanton VS um 80 % und in SZ, SO, SH und GE um 100­130 % zu.

Gesamtschweizerisch erzielten 2011 von den 365 Listen in Proporzwahlkantonen 149 (41 %) je weniger als ein einziges Prozent aller Stimmen ihres Kantons. In einem Viertel aller Proporzkantone machten solche Listen jeweils mehr als die Hälfte, in sechs Kantonen weniger als 20 % sämtlicher Wahlvorschläge des gesamten Wahlkreises aus. Sehr Ähnliches gilt für die Anzahl Kandidaturen auf solchen Wahlvorschlägen: Diese Splitterlisten enthielten 41,3 % aller Proporzwahlkandidaturen. In vier Kantonen stellten solche Listen das absolute Mehr, in fünf Kantonen weniger als je 10 % sämtlicher Kandidaturen (vgl. Tab. 3).

9225

Tabelle 3 Anzahl Listen pro Kanton 2011 mit weniger als jeweils 1 % aller Stimmen Kanton

Sitze

Anzahl Listen

Anzahl aller Listen mit weniger als 1% aller Stimmen

Prozentanteil Anzahl an Kandidieallen Listen rende auf diesen Listen

Prozentanteil Wahlbean allen teiligung Kandiin Prozent dierenden

a

b

c

d

e

g

h

f

ZH BE LU SZ ZG FR SO BS BL SH SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU

34 26 10 4 3 7 7 5 7 2 12 5 15 6 8 18 7 5 11 2

30 28 18 17 12 18 22 25 14 11 15 15 22 17 11 22 29 9 22 8

20 18 10 5 1 8 6 11 6 2 2 4 13 6 2 8 18 0 9 0

67 64 56 29 8 44 27 44 43 18 13 27 59 35 18 36 62 0 41 0

462 286 60 18 3 33 33 44 41 2 24 16 145 36 3 85 89 0 50 0

57,6 52,4 46,5 28,1 8,6 33,3 23,4 38,6 42,3 9,5 13,6 23,2 51,8 35,3 4,4 25,4 58,9 0 29,4 0

46,8 50,4 50,9 50,5 55,1 47,2 51,7 50,3 48,2 60,8 46,8 45,1 48,5 46,7 54,3 41,6 61,8 42,4 42,4 44,4

CH

194

365

149

41

1430

41,3

48,6

9226

Die Zahlen zeigen, dass der Kanton Wallis mit der ausgeprägten Listenzersplitterung keineswegs alleine da steht. Insofern trifft er mit seiner Kritik einen wunden Punkt.

Eine gesamtschweizerische Analyse aller Listen mit höchstens marginalem Wählerzuspruch ergibt folgendes Bild: Tabelle 4

CH

j

X

X

X X

X

Summe

i

Auslandschweizerlisten*

h

Fantasielisten*

X

g

parteifrei

X X X

f

Jungparteien*

X X

e

EDU

X X X

EVP

ZH BE LU SZ ZG FR SO BS BL SH SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU

PdA

d

AL

SD

c

PNOS

Piraten

b

SLB

Tierpartei

a

CSP

Kanton

Frequenz marginal unterstützter Listen

k

l

m

n

o

p

8 5 5 2

X X X

4 5 1 2

2

1

2 2 6 5

X

2 1 2

1 1

20 18 10 5 1 8 6 11 6 2 2 4 13 6 2 8 18 0 9 0

X X

X

X

X

X X X

X

X

2 X X

X

X

X

4

6

5

2

2

2

1

2

X

3 11

2 3 6

X

2

1

4

30

13

X

X

2 3 7 6

4

1

2

4

69

5

149

* Junggruppierungen (Tab. 4 Kol. l) bzw. Auslandschweizerlisten (Tab. 4 Kol. o), vereinzelt auch Seniorenlisten (miterfasst in Tab. 4 Kol. n) verschiedener Parteien

9227

Ein Blick etwas weiter zurück zeigt schliesslich die Langzeitauswirkungen des anhaltenden Wachstumsschubs: Tabelle 5 Auswirkungen des Zuwachses 1983­2011 auf den Wahlzettelbedarf Kanton Sitze

a

b

ZH BE LU SZ ZG FR SO BS BL SH SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU

34 26 10 4 3 7 7 5 7 2 12 5 15 6 8 18 7 5 11 2

CH

194

Zuwachs

Stimmberechtigte

Listen

1983

2011

1983

c

d

e

717 000 625 995 193 946 63 068 47 815 122 666 144 237 137 296 143 229 44 499 244 526 106 814 287 227 113 263 159 845 320 472 145 446 97 581 187 930 42 207

Wahlzettelbedarf: (Listen + 1) × Stimmberechtigte

2011

1983

2011

1983

2011

f

g

h

i

j

21 18 7 4 5 6 7 15 9 7 6 4 10 8 8 11 8 7 10 12

30 28 18 17 12 18 22 25 14 11 15 15 22 17 11 22 29 9 22 8

569 415 44 10 9 32 45 75 62 14 61 20 111 48 53 164 37 34 50 23

802 546 129 64 35 99 141 114 97 21 176 69 280 102 68 334 151 45 170 16

4 065 000 4 969 237 183

365

1876

3 459

22,3 %

877 817 713 938 260 101 98 193 71 845 185 485 173 356 114 064 186 806 49 783 311 495 135 141 399 092 160 453 212 103 410 956 205 917 109 926 240 126 50 629

Kandidaturen

99,5 %

84,4 %

15 775 000 11 900 000 1 600 000 320 000 250 000 900 000 1 200 000 2 250 000 1 500 000 400 000 1 800 000 600 000 3 300 000 1 100 000 1 500 000 4 200 000 1 400 000 800 000 2 200 000 550 000

27 300 000 20 000 000 4 750 000 1 880 000 936 000 3 535 000 4 000 000 2 875 000 2 800 000 605 000 5 000 000 2 175 000 9 200 000 2 898 000 2 556 000 9 476 000 6 210 000 1 110 000 5 543 000 459 000

53 545 000 113 308 000 111,6 %

Fazit: In den vergangenen acht Nationalratswahlen: ­

blieb die Anzahl zu verteilender Nationalratsmandate gesamtschweizerisch unverändert;

­

verdoppelte sich gesamtschweizerisch die Anzahl der Listen nahezu;

­

verdoppelte sich gesamtschweizerisch die Anzahl der Proporzkandidaturen nahezu;

­

nahm die Anzahl der Wahlberechtigten gesamtschweizerisch um knapp einen Viertel zu;

­

bewirkten diese Zunahmen mehr als eine Verdoppelung der zu druckenden und zu verteilenden Wahlzettel (Zuwachs 111,6 %).

9228

Nach Artikel 149 Absatz 1 der Bundesverfassung3 (BV) umfasst der Nationalrat 200 Sitze. Ohne Änderung der Bundesverfassung bleibt also die Anzahl der insgesamt verteilbaren Mandate unveränderlich. Die Anzahl der Nationalratswahllisten hingegen hat von 1983 (183 Listen) bis 2011 (365 Listen) um 182, d. h. 99,5 % zugenommen (Tab. 5 Kol. e und f). Von den zusätzlichen 182 erzielten 149 Listen (81,9 %) je weniger als ein einziges Prozent aller Stimmen ihres Wahlkreises (Tab. 3 Kol. d). Mehr als die Hälfte dieser Listen sind Wahlvorschläge der Jungparteien und von Auslandschweizer Gruppierungen verschiedener Parteien (Tab. 4 Kol. l und o).

Aus diesen Fakten ergibt sich: Der Listenzuwachs der vergangenen drei Jahrzehnte generiert keine breitere Mandatsverteilung. Wo Listenverbindungen eingegangen wurden, dienten vier von fünf der zusätzlichen Listen einzig dazu, Stimmen zur Stammliste umzuleiten. Weil mittlerweile allenthalben eingesetzt, ist das Vorgehen zum Nullsummenspiel geworden. Zu bezahlen haben dies die Stimmberechtigten und Steuerzahlenden. Im Kanton Solothurn beispielsweise haben sich die Anzahl Listen und die Anzahl der Kandidatinnen und Kandidaten bei Nationalratswahlen seit 1983 je mehr als verdreifacht; die Wahlbeteiligung ist trotz Liberalisierung der brieflichen Stimmabgabe im gleichen Zeitraum indessen um 5 Prozent auf 51,7 % gesunken. Wenn Mehraufwand nur dazu führt, dass die Wählerinnen und Wähler schlechter erreicht werden, ist niemandem gedient.

Eine Analyse der Funktionsweise des heutigen Wahlsystems zeigt, dass die Einreichung eigener Listen weder die Wahlchancen des Parteinachwuchses noch jene der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer einer Partei fördert; im Gegenteil: Mangels überdurchschnittlichen Bekanntheitsgrades ihrer Exponenten können weder Jungpartei- noch Auslandschweizerlisten auf eine Stimmenstärke hoffen, die jenen Bruchteil der Stimmen der Stammliste ihrer Partei übersteigt, der begründete Aussicht auf ein Mandat geben könnte (vgl. Art. 42 BPR). Und bei einer Vakanz bleibt Nachrücken auf die Kandidatinnen und Kandidaten der Liste beschränkt, die das Mandat errungen hat (Art. 43 Abs. 1 und Art. 55 BPR). Auf ordentlichen Listen stehen bei geeigneten Massnahmen der Listenvertreter (privilegierte Listenplätze, Vorkumulation) die Chancen für Auslandschweizer und
Auslandschweizerinnen sowie Nachwuchskräfte einer Partei auf eine Wahl bedeutend besser, wie Beispiele aus der Realität wiederholt gezeigt haben.

Die wichtigste Frage dabei bleibt: Welche Auswirkungen ergeben sich hieraus für die Wählerinnen und Wähler?

3

SR 101

9229

Tabelle 6 Entwicklung der Anzahl Kandidaten pro Proporzsitz 1971­2011

Sitze

Kandidaturen

Kandidaturen pro Sitz

Sitze

Kandidaturen

Kandidaturen pro Sitz

Sitze

Kandidaturen

Kandidaturen pro Sitz

Sitze

Kandidaturen

Kandidaturen pro Sitz

2011

Kandidaturen pro Sitz

2003

Kandidaturen

1995

Sitze

1983

Kanton

1971

a

b

c

d

e

f

g

h

i

j

k

l

m

n

o

p

ZH BE LU SZ ZG FR SO BS BL SH AR SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU

35 31 9 3 2 6 7 7 7 2 2 12 5 14 6 8 16 7 5 11 ­

477 14 441 14 36 4 6 2 2 1 30 5 30 4 65 9 40 6 9 4 3 1 91 8 20 4 136 10 39 6 51 6 120 7 28 4 27 5 42 4 ­ 0

CH 195 1693

35 29 9 3 2 6 7 6 7 2 2 12 5 14 6 8 17 7 5 11 2

569 415 44 10 9 32 45 75 62 14 4 61 20 111 48 53 164 37 34 50 10

16 14 5 3 4 5 6 12 9 7 2 5 4 8 8 7 10 5 7 5 5

34 27 10 3 2 6 7 6 7 2 2 12 5 15 6 8 17 7 5 11 2

805 583 68 21 19 78 59 74 88 9 10 192 51 218 80 63 216 58 40 94 8

24 22 7 7 9 13 8 12 13 4 5 16 10 15 13 8 13 8 8 8 4

34 26 10 4 3 7 7 5 7 2 ­ 12 5 15 6 8 18 7 5 11 2

964 462 102 27 24 61 75 67 79 9 ­ 163 43 207 63 49 204 91 55 75 16

28 18 10 7 8 9 11 13 12 4 ­ 14 9 14 10 6 11 13 11 7 8

34 26 10 4 3 7 7 5 7 2 ­ 12 5 15 6 8 18 7 5 11 2

802 546 129 64 35 99 141 114 97 21 ­ 176 69 280 102 68 334 151 45 170 16

24 21 13 16 12 14 20 23 14 10 ­ 15 14 19 17 8 19 22 9 15 8

9 195 1867 10 194 2834 15 194 2836 15 194 3459 18

Gesamtschweizerisch hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten die Anzahl Kandidaturen pro Proporzmandat (Tab. 6 Kol. d, g, j, m und p) mehr als verdoppelt, in einzelnen Kantonen zumindest verfünffacht (SO, AR, VS) oder gar verachtfacht (SZ, ZG). Mit Ausnahme der Grenzkantone TI, NE und JU stellen sich heute in jedem Proporzkanton pro verteilbares Mandat zehn und mehr, in ZH, BE, SO, BS und VS sogar mehr als 20 Kandidatinnen und Kandidaten.

Für die Wählenden geht es freilich nicht um Verhältniszahlen. In elf der 20 Proporzkantone muss heute, wer nicht ad hoc oder auf Dauer eine vorgegebene Vorliebe für eine Partei hat, für seinen Wahlentscheid jeweils über 100 Kandidaturen sichten; in den vier bevölkerungsreichsten Kantonen leben 47 Prozent aller Wahlberechtigten; sie erhalten heute je weit über 250 Kandidaturen vorgesetzt.

9230

Registrierte Parteien, die sich das Unterschriftensammeln ersparen wollen, können im betreffenden Kanton nur eine einzige Liste einreichen (Art. 24 Abs. 3 Bst. b BPR). Würde diese Einschränkung gestrichen, so wäre damit in verschiedenen Kantonen auch die Möglichkeit eines zusätzlichen Anwachsens der Listenzahl verbunden. Eine solche Erleichterung für registrierte Parteien liefe also nur auf eine weitere Erschwerung der Aufgabe der Wählenden hinaus. Darauf ist zu verzichten.

Beim Erlass des Bundesgesetzes über die politischen Rechte 1976 erlaubten die für eine Nationalratskandidatur geforderten Angaben (Art. 22 Abs. 2 BPR: Familienund Vornamen, Geschlecht, Geburtsdatum, Beruf, Wohnadresse und Heimatort aller Vorgeschlagenen) eine wirksame Kontrolle zur Verhinderung von Doppelkandidaturen. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Über die Gründe gibt nachfolgende Tabelle Auskunft: Tabelle 7 Entwicklung zu einzelnen Identifikationsmerkmalen Folgen

Probleme

Fundstellen + Bemerkungen

1

Diese Realitäten haben die mögliche Identität einer Person vervierfacht

Sind Frau Meier Müller aus L und Frau Müller-Meier aus M identisch?

Art. 30 Abs. 2 und alt Art. 160 Abs. 2 und 3 ZGB

Name

Nr. Krite- Entwicklung seit 1978 rium

Vorname

2

Zivilstandsrechtlich haben manche mehrere Vornamen und tragen sie abwechselnd

Wer für die Kandidatur im Kanton A Vorname L und im Kanton B Vorname M angibt, fällt durch alle EDV-Kontrollen

Vornamen können zuweilen keinem Geschlecht zugeordnet werden

Beispiel: 2011 Jüksel (türkischer Vorname); in der Schweiz z. B.

Andrea, Dominique

Kandidatur bei erst bevorstehender Geschlechtsumwandlung Geschlecht

3

Praxis: Amtliche Namen, Allianznamen, Alltagsnamen; Eingebürgerte mit vorangegangenem unabhängigem Namenserwerb nach ausländischem Recht

2003 eine, 2011 drei solche Kandidaturen

Mittlerweile anerkennt die Praxis, dass ein Mann auch dann zur Frau werden kann, wenn er sich keiner Operation unterzog, sondern sich seit Jahrzehnten hormonell behandeln lässt und als Frau wahrgenommen wird, noch bevor ein Gericht die Geschlechtsumwandlung festgestellt hat

BGE 1P.94/ 2005/gij; VPB 68.64; BGE 119 II 269 E. 6 (Verfahren zum rechtlichen Nachvollzug medizinisch durchgeführter Geschlechtsumwandlung); Zürcher Obergericht, Urteil NC090012 vom 1.2.2011, NZZ Nr. 57 vom 09.03. 2011, S. 17

9231

Folgen

Probleme

4

Die wenigsten Berufsbezeichnungen sind geschützt, und die meisten Funktionen lassen mehrere Bezeichnungen zu

Für die gleiche Person z. B. Bundesangestellter, Jurist, Verwaltungsrechtler, Dr. iur., MLaw, Markenrechtsspezialist

Wer für die Kandidatur im Kanton A als Berufsangabe Jurist und im Kanton B als Berufsangabe Angestellter angibt, fällt unter Umständen durch alle EDVKontrollen. Viele geben zudem politische Ämter statt den Beruf an

Wohnaufenthalter/-innen, Wochenendsitz, im gegenseitigen Einvernehmen getrennt lebende Eheleute und Partner, Auslandschweizer/-innen

Wer für die Kandidatur im Kanton A Wohnort P und im Kanton B Wohnort Q angibt, schlüpft unter Umständen durch alle EDVKontrollen

Die laufend zunehmende Mobilität verschärft dieses Problem zusehends und generell

Verbeiständete, die in einem Heim wohnen, haben ihren Wohnsitz am Wohnort des Beistands, behalten aber grösstenteils das Wahlrecht (1 Kandidatur 2011)

Mit alternierender Angabe des faktischen oder des rechtlichen Wohnsitzes schlüpfen derlei Kandidaturen durch alle EDVKontrollen

Mit dem Bedeutungsschwund des Heimatortes (Wegfall des ultimum refugium) haben sukzessive mehr Leute mehrere Heimatorte; bei Heirat für Frauen früher zeitweise von Gesetzes wegen

Wer für die Kandidatur im Kanton A Heimatort P und im Kanton B Heimatort Q angibt, schlüpft durch alle EDVKontrollen

Homonyme inländische und ausländische Gemeindenamen

Fehlende Kantonszugehörigkeit der Heimatorte erschwert das Erkennen und Streichen nicht wahlfähiger Ausländerinnen und Ausländer

Beruf

Nr. Krite- Entwicklung seit 1978 rium

Wohnadresse

5

Heimatort

6

9232

Fundstellen + Bemerkungen

Art. 25 Abs. 2 ZGB; Art. 1 VPR

alt Art. 161 ZGB

7

Geburtsdatum

Nr. Krite- Entwicklung seit 1978 rium

Folgen

Probleme

Fundstellen + Bemerkungen

Ältere Personen neigen dazu, sich jünger zu machen; öfters treffen die Angaben de facto nicht zu

Zu den Zeilen 1 und 6: Seit Inkrafttreten der Änderung vom 30. September 2011 des Zivilgesetzbuches4 (ZGB) am 1. Januar 2013 behalten Brautleute bei der Heirat aufgrund von Artikel 160 bzw. 161 ZGB neu zwar künftig ihren Namen und ihren Heimatort. Bis jedoch Kandidaturen von Personen unmöglich geworden sind, die nach früherem Recht geheiratet und dabei einen anderen Heimatort erhalten oder gewählt oder die eine der altrechtlichen Namensmöglichkeiten gewählt haben, können noch Jahrzehnte vergehen.

Fazit: Eine Person, die für den Nationalrat kandidiert, entgeht heute datenbankgestützten Kontrollen, wenn sie von ihren ­ legalen ­ Angaben in zwei verschiedenen Kantonen zwei verschiedene Namen, zwei verschiedene Vornamen, verschiedenes Geschlecht, zwei verschiedene Heimatorte und unterschiedliche Wohnadressen angibt. Kein EDV-System vermag dies noch zu erkennen; dasselbe gilt für Personen mit ausschliesslich ausländischem Heimat- oder Geburtsort, der den gleichen Namen wie eine Schweizer Gemeinde hat. In der Tat haben sich solche Fälle bereits ereignet. Sie sind nicht wie von einzelnen Kantonen in der Vernehmlassung vermutet theoretisch, und ihr Vorkommen gefährdet entgegen vereinzelter Beurteilung in der Vernehmlassung den korrekten Wahlprozess insgesamt und von Grund auf: Ist die präzise Zuordnung aller Stimmen verunmöglicht, so sind auch die Wahlresultate nicht mehr überprüfbar. Die Glaubwürdigkeit des gesamten Wahlprozesses wäre dann untergraben.

1.1.2

Knappe Abstimmungsergebnisse

In den vergangenen Jahren resultierten bei eidgenössischen Volksabstimmungen einige knappe Ergebnisse (vgl. Anh. Tab. 13: 2002, 2008 und 2009).

Die Resultatermittlung bei eidgenössischen Volksabstimmungen und weit mehr noch bei den Nationalratswahlen ist einem tiefgreifenden Wandel unterworfen.

Zunehmende Verstädterung und Anonymität sowie wachsende Mobilität verursachten in jüngerer Zeit vor allem in grösseren Städten Probleme bei der Rekrutierung des nötigen Milizpersonals: Mehr und mehr blieben aufgebotene Personen am Wahlnachmittag unentschuldigt dem Auszählprozedere fern. Daher sind bereits mehrere Städte zu einer Professionalisierung der Ausmittlungsverfahren übergegangen. Dies löst nicht nur das althergebrachte Milizsystem auf, sondern liess bereits da und dort kritische Rückfragen nach der demokratischen Kontrolle zur Erhaltung des Vertrauens laut werden.

In diesen Zusammenhang ist auch die Frage einer Nachzählung von Volksabstimmungsergebnissen zu stellen: Das Bundesgericht hat zwar (aufgrund der detaillierten 4

AS 2012 2569

9233

Verfahrensregeln) nicht für Nationalratswahlen5, wohl aber für Volksabstimmungen6 Nachzählungen bei sehr knappem Resultat auch ohne glaubhaft gemachte Unregelmässigkeiten als angezeigt bezeichnet und dem Gesetzgeber empfohlen, dies zu konkretisieren, sei es durch eine zahlenmässige Abgrenzung zwischen «knapp» und «sehr knapp» oder aber durch eine abstraktere Umschreibung. Abstrakte Umschreibungen würden das Problem nur zeitlich verschieben, und konkrete Definitionen entgehen kaum der Willkür: Die Kantone Zürich, Schaffhausen und Graubünden ziehen die Grenze bei 0,3 % Differenz, stellen aber auf eine unterschiedliche Berechnungsbasis ab. Das Bundesgericht7 befand bei der Volksabstimmung über die biometrischen Pässe eine gesamteidgenössische Differenz von 0,29 % als «knapp», aber nicht «sehr knapp».

Bei eidgenössischen Volksabstimmungen ist das Normengeflecht weit weniger engmaschig als bei Nationalratswahlen (vgl. Ziff. 1.2.3, II.); äusserst knappe Volksabstimmungsergebnisse sind angesichts der möglichen Irrtumsquellen laut Bundesgericht per se mit eigentlichen Unregelmässigkeiten gleichzusetzen und erfordern eine Nachzählung, deren Voraussetzungen jedoch vom Bundesgesetzgeber festzulegen seien.8

1.1.3

Stimmrechtsbescheinigungen bei Volksbegehren

2012 hatte die Bundeskanzlei in bisher nicht dagewesener Häufung festzustellen, dass eingereichte Volksbegehren nicht zustande gekommen waren (BBl 2012 7757, 8555, 8575 und 8591). Zwei dieser vier Verfügungen wurden fristgerecht rechtskräftig, die beiden andern (BBl 2012 8555 und 8575) bildeten Gegenstand von vier Beschwerden, die vom Bundesgericht am 14. Dezember 2012 (BGE 1C_619/2012) und am 5. Juni 2013 (BGE 139 II 303 und 1C_608/2012) als unbegründet abgewiesen wurden, soweit es darauf eintreten konnte.

Reklamationen über Probleme der Stimmrechtsbescheinigung bei zustande gekommenen Volksbegehren von Seiten des Schweizerischen Gewerbeverbandes (Referendum gegen die Änderung des Raumplanungsgesetzes), eines Ad-hoc-Komitees (Referendum gegen das Tierseuchengesetz) und der SVP (Volksinitiative gegen Masseneinwanderung) mochten den Eindruck erwecken, mit dieser Obliegenheit liege es im Argen. Dem ist nicht so: 19 von 20 Stimmrechtsbescheinigungen werden speditiv und zweckmässig erteilt, und in sehr vielen Fällen lässt sich feststellen, dass die nach kantonalem Recht zuständigen Amtsstellen auch Sondereinsätze leisten, um die Dienstleistung auch bei Belastungsspitzen fristgerecht und einwandfrei zu erbringen.

Die Motion 12.3975 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats vom 19. Oktober 2012 beauftragt den Bundesrat, den Entwurf für eine Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte zu unterbreiten, wonach getrennte Fristen für die Einreichung von Unterschriften für Referenden sowie Volksinitiativen durch die Referendums- und Initiativkomitees und für die Stimmrechtsbe-

5 6 7 8

BGE 138 II 5­12 E. 3 und 4 BGE 136 II 132 E. 2.7 BGE 136 II 132 BGE 136 II 132 E. 2.7

9234

scheinigung vorgesehen werden. Den Gemeinden soll eine bestimmte Frist gesetzt werden, innerhalb welcher sie die Stimmrechtsbescheinigung vorzunehmen haben.

Einige Probleme bei Stimmrechtsbescheinigungen zu den eidgenössischen Volksinitiativen «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)»9 und «Gegen Masseneinwanderung»10 in einer grossen Stadt sowie verschiedenenorts zum Referendum gegen die Revision des Tierseuchengesetzes11 hatten bereits eine Interpellation Wermuth (12.3082)12 ausgelöst. Direkten äusseren Anlass zur Motion der SPK-N gaben dann die drei Referenden gegen die Abgeltungssteuerabkommen mit Deutschland13, dem Vereinigten Königreich14 und Österreich15, für welche die Sammelfrist am 27. September 2012 ablief und für die eine erkleckliche Anzahl Unterschriften von den Referendumskomitees am 1. Oktober 2012 nachgereicht wurde, was dann eine mediale Auseinandersetzung zwischen dem Kanton Genf, einem der Referendumskomitees und der Post zur Folge hatte, sowie das Schreiben des Schweizerischen Gewerbeverbandes mit Reklamationen über verzögerte oder fehlerhafte Stimmrechtsbescheinigungen im Zusammenhang mit dem Referendum gegen die Teilrevision des Raumplanungsgesetzes16.

Geltendes Recht und Praxis Mit der Verfassungsrevision zu einer Volksrechtsreform hoben Volk und Stände am 9. Februar 2003 die ehedem im BPR verankerte Referendumsfrist von 100 Tagen auf die Verfassungsstufe.17 Artikel 141 Absatz 1 der Bundesverfassung bindet die Volksabstimmung über Vorlagen des fakultativen Referendums an die Voraussetzung, dass innert 100 Tagen 50 000 Stimmberechtigte ein entsprechendes Begehren unterzeichnet haben.

Diese Verfassungsvorgaben setzt das BPR um: Das Referendum muss mit der nötigen Anzahl Unterschriften samt Stimmrechtsbescheinigung innerhalb der Referendumsfrist bei der Bundeskanzlei eintreffen (Art. 59a BPR). Nach Artikel 66 Absatz 2 Buchstabe c BPR hat die Bundeskanzlei Unterschriften auf Referendumslisten für ungültig zu erklären, die nach Ablauf der Referendumsfrist eingereicht worden sind.

Liegen nicht ganz aussergewöhnliche Umstände (wie etwa eine Naturkatastrophe oder ein spontaner Streik) vor, die die Einhaltung der Frist absolut verunmöglichen, so erlaubt das Gesetz es der Bundeskanzlei nicht, diese Unterschriften für gültig zu erachten, denn dies liefe auf eine
Verlängerung der verfassungsmässigen Referendumsfrist hinaus. Dies hat auch das Bundesgericht am 5. Juni 2013 bestätigt (BGE 1C_606/2012 und 1C_608/2012).

Der Bundesgesetzgeber hatte die Ausstellung der Stimmrechtsbescheinigungen bewusst keiner genauen Frist unterworfen, sondern angeordnet, dass die bescheinigten Unterschriftenlisten «unverzüglich den Absendern» zurückzugeben seien (Art. 62 Abs. 2 BPR). Er hat damit dem Umstand Rechnung getragen, dass die Menge anfallender Stimmrechtsbescheinigungen je nach Amtsstelle stark variieren 9 10 11 12 13 14 15 16 17

BBl 2012 3069 BBl 2012 3869 BBl 2012 7503 3457 AB 2012 N 1226 BBl 2012 5823 8555 BBl 2012 5825 8575 BBl 2012 5827 8591 BBl 2012 5987 BBl 2001 4803 6080, 2002 6485, 2003 3111 3954 3960

9235

kann. Ein langjähriger Erfahrungswert besagt, dass eine geübte Person pro Tag ca.

300 bis höchstens 400 Stimmrechtsbescheinigungen ausstellen kann18. Daher hat der Gesetzgeber auch angeordnet, dass die «Unterschriftenlisten rechtzeitig vor Ablauf der Referendumsfrist der Amtsstelle» zuzustellen sind, die der Kanton zur Ausstellung der Stimmrechtsbescheinigungen für zuständig erklärt hat (Art. 62 Abs. 1 BPR). Wie bereits die Botschaft des Bundesrates von 197519 betont dies auch der Leitfaden der Bundeskanzlei für Urheberinnen und Urheber eines Referendums unter dem Titel «Umgehendes Einholen der Stimmrechtsbescheinigung» ausdrücklich (S. 35 Ziff. E1 und E12: «Stimmrechtsbescheinigungen sollten möglichst umgehend, laufend und portionenweise eingeholt werden. Dies ist sehr wichtig, damit [...] Belastungsspitzen bei den Stimmregisterführerinnen und -führern gebrochen werden können [...]).» Aus diesem Grund hat der Bundesgesetzgeber 1996 bei der Streichung der Möglichkeit nachträglicher Behebung von Bescheinigungsmängeln ­ diese Norm erlaubte nur fehlerhafte, nicht aber fehlende Stimmrechtsbescheinigungen zu retten ­ gleichzeitig die Referendumsfrist von 90 auf 100 Tage verlängert.20 Für Volksinitiativen gilt Analoges mit dem Unterschied, dass 100 000 Unterschriften Stimmberechtigter in 18 Monaten zu sammeln und mit Stimmrechtsbescheinigungen versehen der Bundeskanzlei fristgerecht einzureichen sind (Art. 138 Abs. 1 und Art. 139 Abs. 1 BV, Art. 70­72 BPR).

Eine erfolgversprechende Regelung kann nur aufgrund einer Analyse der jüngsten Entwicklung der Volksrechte getroffen werden. Ihr Gebrauch ist in den drei Jahren 2010­2012 in bisher nicht gekanntem Masse angestiegen. Allein im Nachwahljahr 2012 hatten Stimmberechtigte, Gemeinden und Bund nur in eidgenössischen Belangen fünfzig Volksbegehren zu behandeln: Tabelle 8 2012 laufende Volksinitiativen und Referenden auf Bundesebene Kategorie

Volksinitiativen

Referenden

Periode

Zustande gekommen Nicht zustande gekommen in der Unterschriftensammlung gestartet, definitiv nicht eingereicht eingereicht, in Prüfung Summe

9 4 19 7 3 42

3 321 2 0 0 8

01.01.2012­31.12.2012 01.01.2012­31.12.2012 am 31.12.2012 01.01.2012­31.12.2012 am 31.12.2012 01.01.2012­31.12.2012

Nachwahljahre waren vor 2012 bevorzugte Perioden des Rückzugs von Volksinitiativen, und sie zeichneten sich durch einen markanten Rückgang gestarteter und eingereichter Volksinitiativen aus.

Grafik 1 18 19 20 21

AB 1975 N 1502, BBl 2012 8568 8587 BBl 1975 I 1345 f.

AS 1997 754 Art. 59 gegenüber AS 1978 700 Art. 59; dazu BBl 1993 III 490 BBl 2012 8555 8575 8591; seit dem 5. Juni 2013 sind auch die beiden ersterwähnten Verfügungen rechtskräftig (BGE 1C_606/2012 und BGE 1C_608/2012).

9236

Gestartete und zustande gekommene Initiativen und Referenden 1993­2012

Die vorstehende Grafik macht deutlich, dass der Gebrauch der Volksinitiative nach einer relativen Baisse von 2000 bis 2008, die vor allem auf die rasche und starke Verbreitung der brieflichen Stimmabgabe zurückzuführen sein dürfte, seit 2009 in nie gekannter Häufung auftritt.

Nimmt man die fakultativen Referenden hinzu, so zeigt sich eine Rückkehr zum Spitzengebrauch der Jahre 1993, 1994, 1998 und 2002. Die seit 2010 anhaltende Frequentierung der Volksrechte fordert ihren Preis. Allein die verfassungsrechtlich bestehenden Quoren zur Volksinitiative (100 000 Unterschriften Stimmberechtigter) und zum Referendum (50 000 Unterschriften Stimmberechtigter) erfordern schon nur für die im Laufe der drei Jahre 2010­2012 gestarteten 64 eidgenössischen Volksbegehren (52 Volksinitiativen und 12 Referenden) Stimmrechtsbescheinigungen für 5 800 000 Unterschriften, d. h. jährlich für 2 000 000 Unterschriften. Die Hälfte dieser Volksbegehren (25 Volksinitiativen und 8 Referenden) wurden der Bundeskanzlei eingereicht, und davon kamen 87,5 % (23 Volksinitiativen und 5 Referenden) zustande. Die der Bundeskanzlei eingereichten Akten enthielten insgesamt rund 3 500 000 Unterschriften, von denen mehr als 3 400 000 gültig erklärt werden konnten.

Diese Menge allein auf Bundesebene erfordert gesamtschweizerisch für die Stimmrechtsbescheinigung verteilt auf drei Jahre also über 11 000 Personenarbeitstage oder pro Jahr 3700 Personenarbeitstage. Wäre dies örtlich und zeitlich alles gut verteilt, liesse es sich bewältigen. Problematisch sind die Belastungsspitzen: Als neue Tendenz hat sich herauskristallisiert, dass nahezu alle Parteien im Hinblick auf die Nationalratswahlen je mindestens eine, zuweilen lieber zwei oder drei Volksinitiativen einreichen oder wenigstens lancieren wollen. Dies verursacht Engpässe, zumal National- und Ständeratswahlen heute in nahezu allen Kantonen gleichzeitig und die Stichwahl für die Ständeratssitze kurz darauf stattfinden und die Bereinigung des Stimmregisters und seine Reservation für die korrekte Abwicklung der Wahlgänge erheischen: Daher müssen in diesem Zeitraum laufende Referenden wegen der viel kürzeren Sammelfrist priorisiert werden. Zu den drei Abgeltungs9237

steuerabkommen mit Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Österreich wurden in Genf nahezu die Hälfte aller gesammelten Unterschriften frühestens drei Tage vor Ablauf der Referendumsfrist zur Stimmrechtsbescheinigung eingereicht.22 Die Engpässe werden dann akzentuiert, wenn die Urheberschaft einer Volksinitiative die Stimmrechtsbescheinigungen entgegen den Ratschlägen der Bundeskanzlei im Leitfaden nicht laufend, sondern in Form von Grosspaketen gemeindeweise in einem einzigen Mal einholt. Diese Art des Vorgehens hat verschiedenenorts zugenommen. So mussten im Spätherbst 2012 in der Stadt Zürich innert 10 Tagen 22 000 Unterschriften bescheinigt werden. Solches Vorgehen schadet letztlich allen: Initiativkomitees vernichten sich einen erklecklichen Prozentsatz mühsam gesammelter Unterschriften, wenn sie die Stimmrechtsbescheinigungen erst Monate später einholen, weil dann alle Unterzeichnenden gestrichen werden müssen, die wegen Hinschieds oder Umzugs mittlerweile nicht mehr im Stimmregister der angegebenen Gemeinde figurieren. Entgegen einer im Vernehmlassungsverfahren geäusserten Hypothese ist solche verzögerte Einholung von Stimmrechtsbescheinigungen sehr wohl verbreitet. Auch eine Grossgemeinde gerät in Schwierigkeiten, wenn sie erst kurz vor Ablauf der Sammelfristen zu verschiedenen Volksinitiativen innerhalb einer Woche 10 000 Unterschriften zur Ausstellung der Stimmrechtsbescheinigungen erhält und diese Arbeiten innerhalb einer Woche erledigen soll. Verstärkt wird diese Schwierigkeit noch dadurch, dass die wenigsten Komitees die Einsendungen ankündigen. Auch die Gemeinden können ihr Personal, das Zugriff auf das Stimmregister hat, nicht einfach auf einen Extremfall hin auslegen; dies käme die Steuerzahlenden weit teurer zu stehen als die heutige Praxis. Zudem ist die Arbeit am Stimmregister heikel und erfordert höchste Konzentration und der sensitiven Informationen wegen absolute Verschwiegenheit. Daher ist es nicht zu rechtfertigen, derlei Arbeiten auszulagern oder dafür ad hoc und kurzfristig Temporärverstärkung zu beschaffen.

Es lässt sich oftmals beobachten, dass insbesondere Initiativkomitees ihr Begehren während der Sammelfrist aus den verschiedensten Gründen (z. B. Kapazitätsengpässe nach dem Wahlkampf oder Opportunitätsgründe bei einer bestimmten Entwicklung) längere Zeit nur
reduziert laufen lassen und erst gegen Ende der Sammelfrist mit ausserordentlichen Steigerungen versuchen, das Begehren doch noch zustande zu bringen. Urheberkomitees von Volksbegehren sehen primär ihr eigenes Anliegen und wissen oftmals nicht einmal von der Existenz manch anderer Volksbegehren.

Die Amtsstellen dürfen aber nicht einzelne Volksbegehren zulasten anderer beförderlich behandeln. Urheberinnen und Unterzeichner eidgenössischer Volksbegehren haben Anspruch auf Schutz ihrer verfassungsmässigen Rechte; aber ebenso haben stimmberechtigte Nichtunterzeichnende und Steuerzahlende angesichts von Kostendruck und Sparanstrengungen Anspruch darauf, dass die öffentliche Verwaltung kostengünstig arbeitet.

22

BBl 2012 8566 f. und 8585 f.

9238

1.2

Die beantragte Neuregelung

Folgende Massnahmen sollen der Wahlvorbereitung Griffigkeit und Tempo zurückgeben:

1.2.1

Möglichkeit amtlicher Streichung nachträglich aufgetauchter Doppelkandidaturen

Durch die Ermöglichung einer nachträglichen amtlichen Streichung soll verhindert werden, dass unbemerkte Doppelkandidaturen die korrekte Zuordnung aller Stimmen vereiteln könnten. Zuweilen haben inländische und ausländische Gemeinden gleiche Namen. Damit dies sofort erkannt werden kann, soll beim Wohnort aller Kandidierenden die Postleitzahl angegeben werden. Beim Heimatort hingegen soll die Kantonszugehörigkeit angegeben werden, weil Gemeindefusionen im Laufe der Geschichte öfters auch Wechsel der Postleitzahlen zur Folge gehabt haben.

1.2.2

Einreichung der Wahlvorschläge bei Nationalratswahlen

In Mailanfragen wähnten sich viele Stimmberechtigte vergessen, als sie drei Wochen vor dem Wahltag ihr Wahlmaterial immer noch nicht besassen, wie sie es sich von Volksabstimmungen her gewohnt sind.

Daher soll die Wahlanmeldefrist auf den Monat August eingegrenzt und die Verteilung des Wahlmaterials bürgerfreundlich auf die viertletzte Woche vorverlegt werden, damit auch Auslandschweizer Stimmberechtigte ihr Wahlmaterial so rechtzeitig erhalten, dass sie ihr Stimmrecht tatsächlich ausüben können.

Die kürzeren Fristen beeinträchtigen auch die effektive Ausübung des Stimmrechts durch Auslandschweizer Stimmberechtigte. Papierbeschaffung sowie Druck und Verteilung der Wahlzettel erlauben keine Wahlanmeldeverschiebung nach hinten näher zum Wahltermin; im Gegenteil drängt es sich auf, die Wahlanmeldung künftig von Bundesrechts wegen ausschliesslich im August zu konzentrieren.

1.2.3

Beobachtung von Urnengängen statt Nachzählung bei sehr knappen Ergebnissen von Urnengängen

Gegenüber einzelnen Gerichtsurteilen ist dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers Nachachtung zu verschaffen: Auch sehr knappe Ergebnisse eines Urnengangs rechtfertigen Nachzählungen nur, wo Unregelmässigkeiten glaubhaft gemacht worden sind.

Die Rechtsprechung hat bereits einige Klärungen gebracht: I.

BGE 136 II 132 ff. hatte annehmen lassen, künftig könne gegen eidgenössische Urnengänge teilweise ohne vorgängige Beschwerde an die Kantonsregierung auch direkt beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden. Mit

9239

Entscheid vom 20. Dezember 201123 grenzt das Bundesgericht nun folgendermassen ab: Werden Unregelmässigkeiten anlässlich eines Urnengangs überhaupt erst im Nachhinein bekannt, so können solche unechten Noven nach erfolgloser früherer Beschwerdeführung vor Bundesgericht den ursprünglichen Gerichtsentscheid in Frage stellen und zu einer Revision (Art. 123 Abs. 2 Bst. a Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 200524) führen.

Blieb hingegen eine Abstimmungsbeschwerde gegen den Urnengang aus, müssen die neu entdeckten Tatsachen und Beweise, die die Korrektheit des früheren Urnengangs in Frage stellen, in analoger Anwendung von Artikel 77 Absatz 2 BPR sofort25 vor der Kantonsregierung26 geltend gemacht werden. Damit hat das Bundesgericht die Frage des Instanzenzugs nachvollziehbar geklärt und die Unsicherheiten nach dem Bundesgerichtsentscheid zur Volksabstimmung über die biometrischen Pässe27 beseitigt.

II.

Bei Nationalratswahlen im Proporzverfahren sind angesichts des sehr engmaschigen Normengeflechts Nachzählungen einzig angebracht, wenn Unregelmässigkeiten glaubhaft gemacht worden sind, die nach Art und Umfang ein Wahlresultat hätten zum Kippen bringen können.28 Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass der historische Gesetzgeber en connaissance de cause bewusst darauf verzichtete, für sehr knappe Wahlergebnisse Nachzählungen anzuordnen, ohne dass eigentliche Unregelmässigkeiten geltend gemacht worden wären, und stattdessen aus dem alten Nationalratswahlgesetz für Stimmengleichheit bewusst den Losentscheid unverändert auch ins neue Gesetz übernahm (Art. 20 und Art. 43 Abs. 3 BPR). Während der Beratungen des BPR fanden die Nationalratswahlen 1975 statt, und auf der Liste Nr. 4 im Kanton Aargau erzielte der letzte Gewählte 32 198 Stimmen, der erste Ersatzkandidat 32 190 Stimmen.29 Eine Wahlbeschwerde verlangte eine Nachzählung und wurde sowohl vom Regierungsrat des Kantons Aargau als auch vom Nationalrat abgewiesen.30 Der Berichterstatter der nationalrätlichen Wahlprüfungskommission kommentierte: «Das Gesetz sieht aber nicht vor und gibt auch niemandem einen Anspruch darauf, dass bei einem knappen Resultat zu den ohnehin in das Verfahren eingebauten Kontrollen hinzu eine Nachzählung vorgenommen wird.

Die Nachzählung müsste, um nicht ungerecht zu sein, das gesamte Material eines Wahlkreises betreffen und würde einen unverhältnismässigen Aufwand erfordern. Es liesse sich auch keine einleuchtende Grenze dafür angeben, wann eine Nachzählung stattfinden soll und wann nicht. Knappe Resultate sind nämlich nicht selten. (...) Die Kommission ist daher der Auffassung, dass eine Nachzählung nur stattfinden könnte, wenn ein Zählfehler unter Hinweis auf einen konkreten Sachverhalt glaubhaft gemacht wird. Im vorliegenden Fall weist der Beschwerdeführer wohl auf einige Unstimmigkeiten hin, die aber im Verlaufe des normalen Auszählverfahrens

23 24 25 26 27 28 29 30

BGE 138 I 77 E. 4.6 SR 173.110 BGE 121 I 5 BGE 137 II 177 BGE 136 II 132 ff.

BGE 138 II 9­11 E. 3.2­3.4 Vgl. BBl 1975 II 2032. Diese Differenz war zwölf Mal kleiner als heute die Nachzählquoren der Kantone ZH, SH und GR (vgl. Ziff. 1.1.2).

AB 1975 N 1538­1541

9240

festgestellt und korrigiert wurden, oder Differenzen, wie sie zwischen provisorisch mitgeteilten und endgültig ermittelten Abstimmungsergebnissen immer wieder auftreten. Der Beschwerdeführer kann keinen konkreten Umstand nennen, der auf einen noch nicht festgestellten und nicht korrigierten Fehler hindeuten würde. Es besteht daher kein Anlass für eine Nachzählung»31.

Der historische Gesetzgeber wollte 1976 keine Nachzählungen angeordnet wissen, solange keine Unregelmässigkeiten glaubhaft gemacht seien. Eine Stärkung des Vertrauens in die direkte Demokratie durch Ermöglichung (nicht Erzwingung) geeigneter Kontrollen bietet zu Nachzählungen eine taugliche Alternative.

Damit verbindet sich die Umsetzung einer parlamentarischen Initiative Joder, der die Staatspolitische Kommission des Nationalrats am 18. Oktober 2012 Folge zu geben beschlossen hat: Auch bei Volksabstimmungen sollen Nachzählungen nur bei glaubhaft gemachten Unregelmässigkeiten angeordnet werden.

Aufwändigen Nachzählungen zieht der Bundesrat die Möglichkeit vor, Urnengänge beobachten zu lassen.

Ansätze zu solchen Beobachtungsmöglichkeiten bestehen bereits in den verschiedensten Kantonen. Die einen (etwa SO oder SH) schreiben vor, dass die Wahl- und Abstimmungsergebnisse durch Personen unterschiedlicher Parteien auszuzählen sind, und stellen auf diese Weise eine milizartige wechselseitige Kontrolle sicher. In einigen Kantonen werden die Mitglieder des Urnen- und/oder des Abstimmungsbüros vom Volk gewählt (OW, FR, AG und TG, z.T. auch GR). Andere haben eine Kommission eingerichtet, die die professionellen Resultatermittlerinnen und Resultatermittler überwacht und Zutritt zu allen Akten hat; in dieser Kommission nehmen alle im Kantonsparlament vertretenen Parteien Einsitz (z. B. NE und GE). Eine vierte Möglichkeit besteht darin, dass Vertreterinnen und Vertretern aller Parteien (so SZ, SG, VD, VS, GE und JU) oder interessierten Stimmberechtigten Zutritt zu einem abgegrenzten Bereich der Ausmittlungsräumlichkeiten (etwa auf der Zuschauertribüne einer Turnhalle, in der die Auszählarbeiten abgewickelt werden) gewährt wird (z. B. SZ, SH, VD, NE und JU). Wichtig ist bei dieser letzten Methode, dass die Zuschauenden klar von den Auszählenden getrennt bleiben und weder Abstimmungsdokumente behändigen noch das Stimmgeheimnis verletzen können.

In dieser Weise konnte nach einem Bundesgerichtsentscheid32 etwa in der Stadt Bern die Nachzählung von interessierten Stimmberechtigten beobachtet werden.

1.3

Vernehmlassung

Am 8. März 2013 eröffnete der Bundesrat die Vernehmlassung zum Vorentwurf einer Teilrevision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte (VE-BPR). Die Vernehmlassung dauerte bis zum 30. Juni 2013. Insgesamt sind 51 Stellungnahmen eingegangen, von denen allerdings vier nur mitteilen, dass sie auf eine materielle Stellungnahme verzichten. Neben der Staatsschreiberkonferenz haben sämtliche Kantone eine Stellungnahme eingereicht. Stellung genommen haben auch sieben Parteien (SVP, SPS, FDP, CVP, BDP, GPS, EVP), der Schweizerische Gewerbe31 32

AB 1975 N 1540; dazu vgl. BGE 138 II 5­12 und 13­22 BGE 131 I 442

9241

verband, das Centre Patronal, der Schweizerische Bauernverband, der Schweizerische Gewerkschaftsbund, ferner die Auslandschweizer-Organisation und auf die Frage der Stimmrechtsbescheinigungen beschränkt der Schweizerische Städteverband, der Schweizerische Gemeindeverband, die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete und der Verband schweizerischer Einwohnerdienste einerseits sowie anderseits mit identischem Wortlaut der Verkehrs-Club der Schweiz, Pro Natura Schweiz und WWF Schweiz und schliesslich der persönliche Mitarbeiter eines Mitglieds des Ständerats. Einzelheiten der Vernehmlassungsergebnisse finden sich im Ergebnisbericht.33

1.3.1

In der Vernehmlassung gutgeheissene Kernthemen

Die Vorlage und ihre Regelungsdichte werden von einer grossen Mehrheit «grundsätzlich» begrüsst. Mit dem Vorziehen des Wahlanmeldeschlusses und der Verteilung des Wahlmaterials sowie der Möglichkeit eines nachträglichen Ausschlusses mehrfach Kandidierender von der Nationalratswahl, mit der Einschränkung von Nachzählungen sehr knapper Abstimmungsergebnisse auf Fälle glaubhaft gemachter Unregelmässigkeiten und mit der Schaffung einer Gesetzesgrundlage für die längst praktizierte Erstellung von Panaschierstimmenstatistiken sind die Stellungnahmen von vereinzelten Ausnahmen abgesehen oder gar einstimmig einverstanden. Diese Kernthemen werden unverändert in diese Vorlage übernommen.

1.3.2

In der Vernehmlassung umstrittene Kernthemen

40 Prozent der Antworten bezweifeln die Praktikabilität einzelner Massnahmen.

Zwar enthielt die Vernehmlassungsvorlage keine Themen, die von den Vernehmlassern grossmehrheitlich abgelehnt worden wären. Aber einige Themen wurden in den Stellungnahmen überaus kontrovers kommentiert.

1.3.3

Nationalratswahlen

Bei andern Fragen ist der Umstand von Bedeutung, dass die ungleiche Verteilung von Nutzen und Aufwand einmal Kantone und Parteien, ein andermal Majorz- und Proporzkantone entzweit. Aus diesem Grund verzichtet der Entwurf des Bundesrates beim Proporzwahlverfahren darauf,

33

1.

die Beschaffung einer gehashten AHV-Nummer für alle Kandidierenden bei Nationalratswahlen vorzuschreiben, weil dies von einer Zweidrittelsmehrheit aller Kantone abgelehnt wird;

2.

die obligatorische Berufsangabe aller Kandidierenden in Proporzwahlkantonen zu streichen, was bei Parteien und Wirtschaftsverbänden unisono auf Widerstand stösst.

Der Ergebnisbericht ist veröffentlicht auf: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2013 > Bundeskanzlei

9242

Im Vernehmlassungsverfahren begrüssten die Parteien sowohl die Beschaffung einer gehashten AHV-Nummer als auch die Streichung der Einschränkung der Einreichung einer einzigen Liste pro registrierte Partei für den Quorumserlass. Dennoch ist die Ermächtigung seitens aller Kandidierenden an die Wahlkontrollbehörden zur Einholung einer bereichsspezifisch auf der Basis ihrer neuen 13-stelligen AHVNummer im Einwegverfahren errechneten (gehashten) und nicht zurückrechenbaren Nummer nicht mehrheitsfähig. Der Vorschlag stiess bei den Kantonen auf starken Widerstand. Er erscheint ihnen allzu aufwändig. Dabei wurde auch die Preisgabe des Junktims zwischen Verzicht auf das Quorum einerseits und Einführung der gehashten AHV-Nummer anderseits angeregt. Dies wird aber vom Kanton Wallis entschieden abgelehnt. Der Walliser Staatsrat verlangt nicht weniger, sondern im Gegenteil mehr Schranken gegen die unaufhaltsam wachsende Anzahl Nationalratswahllisten, nachdem von den 2011 dort eingereichten 29 Listen 18 jeweils weniger als ein Prozent der Stimmen erzielt hatten.

Zur Behebung der Schwierigkeiten verbleibt die Option, den Kantonen zu ermöglichen, den Wahlanmeldetermin generell weiter nach vorne zu verlegen. Je nach Kanton kann dies die Parteien dazu veranlassen, das Kandidatenausleseverfahren vor der Sommerpause abzuschliessen. Um dies zu vermeiden, waren einige EDVgestützte Massnahmen vorgeschlagen worden, die sich aber nicht als mehrheitsfähig erwiesen haben.

Der Kanton Wallis wünschte die Vorverlegung des Wahlanmeldeschlusses bereits auf den Juli des Wahljahres. Der Bundesrat hält nun am Unterschriftenquorum für registrierte Parteien fest, die im Kanton mehr als eine einzige Liste einreichen. Im Gegenzug kann und soll den Parteien die Einreichung ihrer Wahlvorschläge im August möglich bleiben. Die Kantone können den Wahlanmeldeschluss im August nach ihren Bedürfnissen festlegen und haben so genügend Spielraum. Der Kanton Wallis beispielsweise kann so gegenüber seiner eigenen bisherigen Praxis einen Zeitgewinn von vier Wochen realisieren.

Mangels Mehrheitsfähigkeit fällt die Hilfe neuer technischer Mittel zur rascheren Identifizierung aller Kandidatinnen und Kandidaten aus. Daher übernehmen allein die Normen über die Streichung der Namen mehrfach Kandidierender diese Sicherung.

Aufgrund der kontroversen
Vernehmlassungsergebnisse einerseits und des Einwands des Centre Patronal anderseits, dass Berufsangaben in Proporzkantonen nicht weniger informativ seien als in Majorzkantonen (vgl. Art. 47), verzichtet der Bundesrat darauf, die Berufsangabe für Nationalratskandidaturen in Proporzkantonen zu streichen.

1.3.4

Beobachtung von Urnengängen statt Nachzählungen

Der Vorschlag, Stimmberechtigten die Beobachtung von Urnengängen zu ermöglichen, ist bei den Kantonen zu gleichen Teilen auf Zustimmung und Ablehnung gestossen. Kritische Stellungnahmen artikulierten dabei aber die Befürchtung, dass vielen Kantonen und Gemeinden aufwändige Zusatzobliegenheiten auferlegt werden sollten, und machten auf Differenzen zwischen dem apodiktischen Wortlaut des Gesetzesentwurfs und dem flexibleren Kommentar aufmerksam. Diesem Anliegen wurde mit einer neuen Formulierung Rechnung getragen.

9243

1.3.5

Stimmrechtsbescheinigungen bei Volksbegehren

Mit der Motion 12.3975 beauftragte die Staatspolitische Kommission des Nationalrats am 19. Oktober 2012 den Bundesrat, den Entwurf für eine Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte zu unterbreiten, wonach getrennte Fristen für die Einreichung von Unterschriften für Referenden sowie Volksinitiativen durch die Referendums- und Initiativkomitees und für die Stimmrechtsbescheinigung vorgesehen werden. Den Gemeinden solle eine bestimmte Frist gesetzt werden, innerhalb welcher sie die Stimmrechtsbescheinigung vorzunehmen haben. Die Motion knüpfte an Vorkommnisse im Zusammenhang der Referenden gegen die drei Abgeltungssteuerabkommen mit Deutschland34, dem Vereinigten Königreich35 und Österreich36 an. Der Nationalrat überwies die Motion am 10. Dezember 201237; der Ständerat hingegen lehnte am 10. Juni 2013 die Motion ab38, weil er die vorliegende Botschaft des Bundesrates abwarten wollte.

Bei den Volksrechten hatte der Bundesrat folgenden Regelungsvorschlag für eine Innendifferenzierung der Sammelfristen ins Vernehmlassungsverfahren gegeben: Art. 62 Abs. 2 zweiter Satz ... Listen, die ihr vor dem 81. Tag der Referendumsfrist eingereicht worden sind, gibt sie vor dem 95. Tag zurück.

2

Art. 70

Ergänzende Bestimmungen

Die für das Referendum aufgestellten Bestimmungen über die Unterschrift (Art. 61), die Stimmrechtsbescheinigung (Art. 62) und die Verweigerung der Stimmrechtsbescheinigung (Art. 63) gelten sinngemäss auch für die Volksinitiative.

1

2 Die Amtsstelle gibt den Absendern alle Unterschriftenlisten zu Volksinitiativen, die ihr vor Beginn des 14. Monats der Sammelfrist zur Stimmrechtsbescheinigung eingereicht worden sind, vor Beginn des 17. Monats zurück.

Die Überlegung hinter diesem Vorschlag war, dass damit der Grossteil der Unterschriften so innerhalb der ersten rund vier Fünftel der Frist zur Stimmrechtsbescheinigung eingereicht werden dürfte und infolgedessen Belastungsspitzen bei den Gemeinden bei einer Häufung von Volksbegehren oder über die Festtage gebrochen werden könnten, was dann automatisch auch die Erledigungschancen für Bescheinigungsrestanzen letzter Minute verbessere. Damit sollten insbesondere die Initiativund Referendumskomitees erheblich bessere Planungssicherheit erhalten.

Doch sind diese Vorschläge im Vernehmlassungsverfahren sehr kontrovers aufgenommen worden: Derweil der Regelungsvorschlag den Kantonen, Städten und Gemeinden viel zu weit ging, kritisierten einige Nutzer ihn als zu schwach.

34 35 36 37 38

BBl 2012 8555 BBl 2012 8575 BBl 2012 8591 AB 2012 N 2105 f.

AB 2013 S 472­474

9244

Die Vernehmlassungsergebnisse zu einer weitergehenden Revision der Artikel 62 und 70 BPR fielen kontrovers aus. Konzertierte Anregungen aus der Vernehmlassung vernachlässigen seitens der Kunden, dass im Zeitalter starker Häufung von Volksbegehren zur Berechnung des Zeitbedarfs kein Referendum und keine Volksinitiative isoliert betrachtet werden kann, oder beruhen zum anderen Teil auf unzutreffenden Behauptungen über frühere Regelungen, derweil eine Stellungnahme des Städteverbands die Vorgaben der Bundesverfassung ausser Acht lässt.

So lässt die Verfassung es sicherlich nicht zu, die Stimmrechtsbescheinigung von Unterschriften zu verweigern, die nach dem 75. Tag bei der bescheinigenden Behörde eintreffen. Umgekehrt trifft es keineswegs zu, dass Stimmrechtsbescheinigungen vor 1995 erst nach der Sammelfrist einzuholen gewesen wären (vgl. AS 1978 688 Art. 62­64).

Angesichts dieser unvereinbaren Extremstandpunkte verzichtet der Bundesrat darauf, eine Gesetzesänderung vorzuschlagen. Besser als ein kontrovers aufgenommener Regelungsvorschlag vermögen der Gesamtschau Organisations- und Informationsvorkehren zu genügen, die sich an der Intention des ursprünglichen Gesetzgebers orientiert, der sowohl die Einreichung der Unterschriften zur Stimmrechtsbescheinigung rechtzeitig vor Ablauf der Sammelfrist als auch die unverzügliche Rückgabe der bescheinigten Unterschriften an die Absendenden (Art. 62 Abs. 2 und Art. 70 BPR) verlangte. Gemeinsam mit der Schweizerischen Staatsschreiberkonferenz hat die Bundeskanzlei einer breiten Anregung aus dem Vernehmlassungsverfahren folgend ein Vademecum für Stimmregisterbehörden erarbeitet und die Leitfaden für Urheber eidgenössischer Volksbegehren leicht verständlich neu redigiert, um für Sammelnde Anreize zu schaffen und für Amtsstellen Belastungsspitzen zu brechen und zur Klärung der Beweislage beizutragen. Diese Massnahmen sollen dazu beitragen, den nach kantonalem Recht zuständigen Amtsstellen den nötigen Spielraum zu erhalten, damit diese alle in der Unterschriftensammlung stehenden Volksbegehren zumindest so behandeln können, dass keines an der verfassungsmässigen Sammelfrist scheitern muss.

Damit werden Verbesserungen in der Praxis über organisatorische Massnahmen angestrebt. Diese Praxis entspricht nach dem Urteil des Bundesgerichts dem klaren Willen des
Gesetzgebers und ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BGE 139 II 303 E. 7.5). Die Praxis trägt dem Willen beinahe aller Kantone und des Grossteils der Parteien Rechnung. Die Kantone sind überzeugt, dass dieses Vademecum der Bundeskanzlei im Sinne einer effizienten organisatorischen Massnahme (Qualitätssicherung und Business Continuity Management) zutage getretene Schwachstellen bereits beheben lasse.

So oder so gilt, was der Schweizerische Gewerkschaftsbund in seiner Vernehmlassung zu Recht ausführt: Behörden haben sich einer beförderlichen Ausstellung der Stimmrechtsbescheinigungen zu befleissigen. Dies geht auch klar aus dem erwähnten Bundesgerichtsentscheid hervor.

Zur Unterstützung der Referendums- und Initiativkomitees überarbeitet die Bundeskanzlei derzeit auch die Leitfaden für die Lancierung von Volksbegehren.

9245

1.3.6

Rechtsmittel

Nicht in der Lage sieht sich der Bundesrat, einzelne Anregungen von Kantonen aus dem Vernehmlassungsverfahren aufzunehmen, von Bundesrechts wegen kantonale Rechtsmittelsysteme zu den Ständeratswahlen zu übersteuern. Artikel 150 Absatz 3 der Bundesverfassung ist ernst zu nehmen. Gewünschtenfalls müssten die Kantone ein solches Vorhaben schon selber vortragen.

1.3.7

Weitere nicht berücksichtigte Revisionswünsche

Im Zusammenhang mit Vollzugsunterschieden im Bereich der politischen Rechte des Bundes wurde in jüngerer Zeit öfters in Medien und seitens Privater und im Vernehmlassungsverfahren überraschenderweise auch von einzelnen Kantonen mehr Zentralisierung in der Regelung der politischen Rechte des Bundes gefordert. Damit würden aber in den wenigsten Fällen Probleme gelöst, sondern zumeist nur verschoben. Dies ist nicht sinnvoll. Grundsätzlich ist die bewährte Zusammenarbeit zwischen Kantonen und Bund im Bereich der politischen Rechte beizubehalten. Die politischen Rechte sind in den Kantonen gewachsen. Damit haben sich verschiedene, aber zumeist sehr bewährte Traditionen herausgebildet. Diese Vielfalt birgt mindestens so viele Chancen wie Risiken. Freilich ist es nicht sinnvoll, die föderalistische Vielfalt für die Selbstorganisationsprozesse des Bundes noch weiter zu treiben: Mit einer weiteren Erhöhung der Komplexität müssten auch Pannenrisiken wachsen.

Im Bereich der politischen Rechte sind mittlerweile viele Revisionswünsche unterschiedlichster Herkunft und Tragweite festzustellen. Die tief greifenden gesellschaftlichen, technischen und ökonomischen Entwicklungen und Umwälzungen lassen es angezeigt erscheinen, in der kommenden Legislatur die Vorarbeiten für eine Totalrevision der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte einzuleiten. Dieses Vorhaben dürfte indessen äusserst arbeits-, recherche- und zeitintensiv werden und sich über Jahre erstrecken (vgl. Ziff. 1.1).

Die vorliegende Revision der politischen Rechte kann nicht warten bis zu einer Totalrevision der Kodifikation. Demokratische Kernprozesse wie Wahlen und Volksabstimmungen werden von verschiedensten gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Entwicklungen mit beeinflusst. Man denke nur an die Frage der Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Alle diese Veränderungen haben Rückwirkungen auf die direktdemokratischen Institutionen. Sie müssen in jedem Fall funktionsfähig bleiben; dies darf auf keinen Fall dem Zufall überlassen werden, weil Pannen das Vertrauen in die direktdemokratischen Institutionen und damit in ein Kernverfahren schweizerischen Verfassungsverständnisses untergraben würden.

Die hier zu behandelnden Fragen betreffen die Nationalratswahlen und die damit zusammenhängenden Gerichtsferien sowie vom Bundesgericht
thematisierte Abstimmungsprobleme. Weil diese Massnahmen vordringlich sind und zumindest in Teilen bereits 2015 anwendbar sein sollen, soll die Vorlage nicht mit andern, umstrittenen Fragen belastet und verzögert werden.

Im Bereich der Nationalratswahlen selber verzichtet die Vorlage daher auch auf ein neues, erfolgswertneutraleres Wahlverfahren. Die Vorlage des Bundesrates schlägt keinen Systemwechsel von Hagenbach-Bischoff zum doppelt-proportionalen Sitzzuteilungsverfahren mit Standardrundung («doppelter Pukelsheim») vor. Ein System9246

wechsel zum Sitzverteilungsverfahren des «doppelten Pukelsheim» sollte zuerst in den Kantonen breiter Fuss fassen können.39 Der Kanton Wallis weist im Vernehmlassungsverfahren darauf hin, dass bei den Nationalratswahlen 2011 von den im Kanton insgesamt eingereichten 29 Wahlvorschlägen 18 Listen bei der Wahl jeweils nicht einmal ein Prozent der Stimmen zu erzielen vermochten. Ein weiterer Zuwachs der Wahlvorschläge kann den Wählerinnen und Wählern auch den Überblick erschweren. Insofern kann man sich fragen, ob dies noch im Sinne der Wählenden sei. Der Kanton Wallis regt daher alternativ an zu prüfen, ob die Listen bei Verfehlen eines Stimmenminimums an den Druckkosten zu beteiligen wären oder ob die Anzahl Teilnehmerlisten bei Listenverbindungen limitiert werden könnte. Damit dürfte aber der Listenzersplitterung kaum Einhalt geboten werden können. Der Vorschlag eines Druckkostenbeitrags für Listen, die einen minimalen Stimmenprozentsatz verfehlen, und die ersatzlose Streichung der Unterlistenverbindung hat sich bereits 1994 als nicht mehrheitsfähig erwiesen.40 Nicht mit dieser Vorlage behandelt werden kann die Anregung der Kantone Bern und Schaffhausen aus dem Vernehmlassungverfahren, den Instanzenzug bei Beschwerden zu eidgenössischen Volksabstimmungen von Grund auf neu zu überdenken. Dieses Anliegen wird vertiefter Prüfung in einem grösseren Rahmen bedürfen.

Unberücksichtigt bleiben in dieser Vorlage auch diverse Anregungen der OSZE Wahlbewertungskommission vom 30. Januar 201241 zu den Urnenlokalen (zusätzliche Einrichtungen wie Sichtschutz in jedem Wahllokal, Zugänglichkeit der Wahllokale für Menschen mit Behinderungen, Wahlurnen mit betrugssicher nummerierten Plomben) und weitere Massnahmen im Zusammenhang mit der elektronischen Stimmabgabe. Sie werden auf anderem Wege fallweise umgesetzt. Das beim Debriefing der Bundeskanzlei mit den Kantonen nach den Nationalratswahlen 2011 eingeleitete gemeinsame Vorgehen ist sofortigem gesetzgeberischem Handeln vorzuziehen. Es erlaubt zielgerichtete und verhältnismässige Massregeln zu suchen und abzusprechen. Zur Erhebung des Wahlverhaltens der Frauen genügt die vorhandene Gesetzesgrundlage (Art. 87 Abs. 2 BPR). Nicht in dieser Vorlage zu behandeln sind auch Massnahmen gegen Abstimmungsmanipulationen mit altersbedingt geschwächten Personen sowie das
Schicksal unfrankierter brieflicher Stimmabgaben.

Föderalistische Überzeugung verwehrt es dem Bundesrat auch, eine von einzelnen Kantonen angeregte Ausdehnung der Beschwerdeverfahrensregeln auf das Ständeratswahlrecht vorzuschlagen. Eine solche Änderung kann im Gesetzgebungsprozess glaubwürdig nur von den Kantonen selbst eingebracht werden.

39

40 41

Näheres dazu: Proporzwahlsysteme im Vergleich. Bericht der Bundeskanzlei vom 21. August 2013 an den Bundesrat (abrufbar unter www.bk.admin.ch > Themen > Politische Rechte > Nationalratswahlen), bes. Ziff. 2.8.

BBl 1993 III 482­485, 520 und 534 f.; AB 1993 N 2474­2487, 1994 S 184­186 und 189 f., 1994 N 325­329.

www.osce.org > OSCE Office for Democratic Institutions and Human Rights > Elections > Previous Election Activities > Switzerland > Federal Elections, 23 October 2011

9247

1.4

Begründung und Bewertung der vorgeschlagenen Lösung

1.4.1

Kontrolle der Kandidaturen bei Nationalratswahlen

Einreichungsschluss für Wahlvorschläge und Zustellung der Wahlunterlagen Insbesondere in grossen Kantonen ist die für die Stimmberechtigten verkürzte Frist bei Nationalratswahlen zum Ärgernis geworden, wo Hunderte von Kandidaturen zu studieren wären. Eine Verlängerung und Verteuerung des Wahlkampfs sind deswegen in den wenigsten Fällen zu befürchten: Die Erfahrung zeigt, dass der Wahlkampf drei Wochen vor dem Wahltag längst in vollem Gang ist. Der Aspekt der Wahlkampfkosten muss aber auch zurücktreten vor der verfassungsmässigen Wahlund Abstimmungsfreiheit, die den Stimmberechtigten einen Anspruch auf freie Willensbildung und unverfälschte Willenskundgabe verleiht (Art. 34 BV). Wenn die meisten Parteien das Kandidatenangebot laufend ausbauen, wird man den Wählerinnen und Wählern auch die entsprechende Zeit für das Studium einräumen müssen.

Der kantonale Endtermin für die Einreichung von Wahlvorschlägen ist von den Monaten August und September auf den Monat August des Wahljahres zu konzentrieren. Im Gegenzug zur Konzentration des Wahlanmeldeschlusses auf den Monat August soll das Wahlmaterial den Stimmberechtigten wie bei Volksabstimmungen in der viertletzten Woche statt erst zehn Tage vor dem Wahltag zugestellt werden.

Viele Reklamationen belegen es: Eine bürgerfreundliche Regelung verlangt die Angleichung dieser Fristen. Dafür sprechen noch weitere Gründe:

42

1.

Die Nationalratswahlen finden von Gesetzes wegen am zweitletzten Oktobersonntag statt (Art. 19 BPR). Kurz zuvor sind in vielen Kantonen die Herbstschulferien. Ferienreisen im Herbst erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Über 80 Prozent aller Wählenden stimmen heute brieflich. Sind sie während der zehntägigen Frist ferienabwesend, in der ihnen das Wahlmaterial zur Verfügung steht, so kann dies die Wahlbeteiligung beeinträchtigen.

Eingaben teilnahmeverhinderter Personen anlässlich der Nationalratswahlen 2011 bestätigen diese Befürchtung. Mit der Verteilung des Wahlmaterials in der viertletzten Woche vor dem Wahltag wird dieses Risiko bürgerorientiert vermindert.

2.

Verschärft stellt sich das Problem noch für Auslandschweizer Wahlberechtigte. Zwar hält Artikel 2b der Verordnung vom 24. Mai 197842 über die politischen Rechte (VPR) die Kantone an, den Auslandschweizer Stimmberechtigten das Wahlmaterial eine Woche früher zuzustellen. Dennoch ist für manche interessierte Auslandschweizer Wahlberechtigte die Teilnahme an den Nationalratswahlen mit den bisherigen verkürzten Zustellfristen illusorisch. Denn nach Artikel 29 Absatz 4 BPR beträgt die Listenbereinigungsfrist zwei Wochen, falls nicht die kantonale Gesetzgebung sie ausdrücklich auf eine Woche verkürzt. Der Wahltermin (zweitletzter Oktobersonntag, Art. 19 Abs. 1 BPR) liegt von Gesetzes wegen zwischen dem 18. und dem 24. Oktober.

SR 161.11

9248

3.

Die Frist für die Zustellung besonders kostengünstiger Massensendungen durch die schweizerische Post beträgt heute sieben Arbeitstage; die Gemeinden werden das Wahlmaterial nicht schneller und damit doppelt so teuer versenden wollen.

Aus diesen Gründen muss die Lösung in einem Vorziehen des Wahlanmeldeschlusses gesucht werden. Dies wird Reklamationen und Beschwerden vorbeugen und das Vertrauen in die korrekte Organisation aller Urnengänge festigen.

Auch der Bericht der OSZE/ODIHR-Wahlbewertungsmission vom 30. Januar 2012 über die eidgenössischen Parlamentswahlen vom 23. Oktober 201143 thematisiert diese Schwierigkeit: «Es sollte abgeklärt werden, ob eine längere Frist zur Auslieferung der Wahlunterlagen an die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer eingeführt werden könnte.

Dabei müssen aber auch andere Fristen, wie die Registrierung der Kandidierenden, in Betracht gezogen werden.» Präzisierung der Kandidatenangaben Bund und Kantone haben von Gesetzes wegen zu gewährleisten, dass keine Kandidatur auf mehr als einer einzigen Liste eines einzigen Proporzkantons erscheint (Art. 27 BPR).

Sicherzustellen ist ebenfalls, dass keine Personen kandidieren, die gar nicht das Schweizer Bürgerrecht besitzen oder noch minderjährig sind. In Zeiten grosser Migration nehmen auch unter Nationalratskandidaturen eingebürgerte Personen mit fremdsprachigen Namen zu. Ausserdem gibt es insbesondere in den umliegenden Staaten eine erkleckliche Anzahl Gemeinden, die den gleichen Namen haben wie Schweizer Gemeinden. Die Angabe des Gemeindenamens (öfters auch des Flurnamens) unter dem Heimatort, aber auch fehlende Angaben erschweren diese Prüfung.

Bundesangestellte dürfen selbstverständlich kandidieren, müssen sich aber im Falle der Wahl zwischen Nationalratsmandat und Bundesanstellung entscheiden. Bundesangestellte zu erkennen, ist sehr schwierig, weil die wenigsten Berufsbezeichnungen geschützt sind, weil jede berufliche Tätigkeit mit vielen verschiedenen Bezeichnungen umschrieben werden kann und weil viele Kandidatinnen und Kandidaten statt Berufsangaben Selbstbekenntnisse (z. B. Lebenskünstlerin), eine Anhäufung politischer Funktionen (z. B. Grossratssuppleant, Gemeinderat) und gesellschaftlicher Ehrungen (z. B. ehemaliger Präsident einer Vereinigung) angeben.

Zusammengenommen ergeben die Massnahmen Sinn; sie vermeiden Mehrkosten für die Gemeinden ebenso wie zusätzlichen Zeitdruck und erhöhte Risiken für die Kantone und die Druckereien und ermöglichen den Stimmberechtigten ein besseres Studium der Wahlvorschläge und die Wahlteilnahme.
Streichung von Doppelkandidaturen nach Bereinigung der Wahlvorschläge Wird nach der Listenbereinigung eine Person entdeckt, die auf mehreren verschiedenen Listen eines Kantons oder auf Listen mehrerer Kantone kandidiert, so hat im ersten Fall die kantonale Wahlbehörde, im zweiten Fall die Bundeskanzlei dies bekannt zu geben. Infolgedessen ist der Name dieser kandidierenden Person bei der 43

www.osce.org > OSCE Office for Democratic Institutions and Human Rights > Elections > Previous Election Activities > Switzerland > Federal Elections, 23 October 2011, Ziff. XIII Bst. A, S. 15.

9249

Resultatermittlung auf jedem Wahlzettel zu streichen, auf dem sie aufgeführt wird.

Diese Regelung überträgt das Gebot der Streichung von Mehrfachkandidaturen (Art. 27 Abs. 1 und 2 BPR) aus dem Wahlanmeldeverfahren folgerichtig auf den Wahlausmittlungsprozess: Mehrfachkandidaturen verunmöglichen ein korrektes Listenproporzwahlverfahren, weil die Aufführung des blossen Kandidatennamens verhindert, die Stimme auch der Liste der kandidierenden Person zuzuordnen. Das Streichungsgebot von Artikel 27 BPR ist daher conditio sine qua non korrekter Anwendung des Verfahrens Hagenbach-Bischoff.

Meldung von Kandidaturen auch in Majorzkantonen ohne stille Wahl Zwei neue Entwicklungen entfalten auch auf Nationalratswahlen unvermeidliche Wirkungen: Seit der Liberalisierung der Ausübung politischer Rechte (freie Wahl zwischen Urnengang und brieflicher Stimmabgabe für Auslandschweizer Stimmberechtigte seit 1993) ist die Anzahl der Auslandschweizerinnen und -schweizer, die sich ins Stimmregister eintragen lassen, auch in den Majorzkantonen stark angestiegen.

Tabelle 9 Im Stimmregister eingetragene Auslandschweizerinnen und -schweizer Kanton

UR OW NW GL AR AI alle Majorzkantone

1992 (BBl 1992 III 724)

2011 Bemerkungen (BBl 2011 8267 ff.)

14 32 37 71 83 37

351 403 418 674 938 267

274

3051

erst seit 2003 Majorzkanton Zuwachs um 1100 %

Die Informatik und namentlich die zunehmende Ermöglichung der elektronischen Stimmabgabe für Auslandschweizer Stimmberechtigte hat auch neue Bedürfnisse artikuliert: Derweil Auslandschweizerinnen und -schweizer wegen der verkürzten Zustellfristen für die Wahlunterlagen von ihrem Wahlrecht auch brieflich de facto an den wenigsten Orten Gebrauch machen konnten, sind die Chancen fristgerechter Wahlteilnahme rund um den Erdball mit den seither getroffenen Massnahmen44 deutlich gestiegen.

Infolgedessen ist aber ­ und bei Auslandschweizer Stimmberechtigten verständlicherweise besonders ausgeprägt ­ das Bedürfnis nach Informationen über die Kandidaturen stark gewachsen. In Proporzkantonen wird es abgedeckt, weil dort alle 44

Frühere Zustellung des Wahlmaterials an Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, neuer Artikel 2b VPR (SR 161.11); Kreisschreiben des Bundesrates vom 20. August 2008 an die Kantonsregierungen zuhanden der Einwohnergemeinden über die Gewährleistung des Stimmrechts für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer (BBl 2008 7493); kontinuierliche Informationen in der «Schweizer Revue» (Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer); unter Mithilfe der Bundesbehörden erstellte Musterbriefe für Auslandschweizer Stimmberechtigte auf der Internetseite der Auslandschweizer Organisation ASO (abrufbar unter: http://aso.ch > Beratung > Leben im Ausland > Politische Rechte > Schwierigkeiten bei Abstimmungen).

9250

Listen von Gesetzes wegen (Art. 32 Abs. 1 BPR) zu veröffentlichen sind. In Majorzkantonen mit der Möglichkeit stiller Wahl (OW und NW; Art. 47 Abs. 2 und Art. 50 BPR) lässt sich das Informationsbedürfnis der Auslandschweizer Stimmberechtigten ebenfalls elektronisch problemlos abdecken. In den Majorzkantonen ohne stille Wahl (UR, GL, AR und AI) hingegen gibt es bisher kein Verfahren für die Meldung von Kandidaturen, weil dort für jede wählbare Person (d. h. für jede und jeden der derzeit rund 5 200 000 Schweizer Stimmberechtigten) gültig gestimmt werden kann (Art. 47 Abs. 1 erster Satz BPR). Die staatliche Neutralitätspflicht im Wahlkampf45 verbot den betreffenden Kantonen selektive Angaben über Kandidaturen und stand damit der starken Nachfrage von Auslandschweizer Stimmberechtigten entgegen, Kenntnis über die vorhandenen und aussichtsreichen Kandidaturen, ihre Personalien und ihre politischen Ansichten zu erhalten.

Da es um eine Wahl auf Bundesebene geht, muss dieser Zielkonflikt vom Bundesgesetzgeber gelöst werden. Verletzungen des staatlichen Neutralitätsgebots im Wahlkampf müssen ebenso vermieden werden, wie umgekehrt die Erfüllung der verfassungsmässigen Garantie freier Willensbildung und unverfälschter Willenskundgabe (Art. 34 BV) heute aufgrund der veränderten Voraussetzungen die nötige minimale Information der Stimmberechtigten auf elektronischem Wege erfordert.

Beiden Erfordernissen kann Rechnung getragen werden, wenn auch die Majorzkantone ohne Möglichkeit stiller Wahl eine bundesrechtliche Grundlage dafür erhalten, dass sie den amtlichen Namen gemäss Personenstandsregister und den im Alltag geführten Namen, ferner Vornamen, Beruf, Heimatort, Wohnort und die portierende Gruppierung all jener Kandidaturen elektronisch bekannt geben können, die der kantonalen Wahlbehörde bis spätestens zum 48. Tag vor dem Wahltag gemeldet worden sind. Auch allen nicht gemeldeten Personen kann in diesen Kantonen zwar gültig die Stimme gegeben werden; weil sie aber fristgerecht kein Interesse am Mandat angemeldet haben, verletzt der Kanton seine Neutralitätspflicht nicht, wenn er die Informationen auf die gemeldeten Kandidatinnen und Kandidaten beschränkt.

Problematischer wäre der Einsatz vorgedruckter amtlicher Wahlzettel mit den Namen aller fristgerecht gemeldeten Kandidaturen zum Ankreuzen sowie einer
Leerzeile für die handschriftliche Aufführung einer beliebigen anderen Person. Die gefestigte bundesgerichtliche Rechtsprechung verlangt bei Wahlen strikte staatliche Neutralität46. Unzulässig ist auch nach der Lehre bei Wahlen «alles, was Ausschlusstendenzen fördert und die verfassungsrechtlich gebotene Offenheit des Wahlsystems beeinträchtigt.»47 In einem Majorzverfahren ohne Numerus clausus der Kandidaturen dürfte diesem Kriterium ein Verfahren kaum genügen, das zwei Behandlungsklassen von Kandidaturen kennt, nämlich explizit auf dem amtlichen Wahlzettel genannte und anonyme.

Abzulehnen wäre erst recht die Option «nichtamtlicher vorgedruckter Wahlzettel»48: Die zwingende Verwendung amtlicher Wahlzettel ist eine wichtige Errungenschaft des BPR von 1976, weil sie eine Gleichbehandlung aller kandidierenden Personen und Gruppierungen sichert und Wahlmanipulationen vorbeugt.49 Wahlen sind ein 45 46 47 48 49

Vgl. dazu etwa BGE 113 Ia 293­303 BGE 118 Ia 262 E. 3; 117 Ia 457 E. 3 c; 113 Ia 296 ff. E. 3 b­f Tschannen (1995, 116 f., Rz. 195) mit weiteren Hinweisen zur Doktrin.

Vgl. Tschannen (1995, 67 f., Rz. 109).

Vgl. die Antwort des Bundesrates auf die Interpellation Caroni vom 16.03.2012 (12.3291 «Vereinfachung der Nationalratswahlen in Majorzkantonen»), AB 2012 N 1226.

9251

zentraler staatlicher Selbstorganisationsprozess und gehören in die Hand neutral organisierender Behörden, die öffentlicher Kontrolle unterliegen. Anders kann der Staat nicht für die Korrektheit des Urnengangs Verantwortung tragen. Mit der Zulassung nichtamtlicher Wahlzettel würden zum Beispiel das Inverkehrbringen gefälschter Wahlzettel erleichtert respektive seine Verhinderung erschwert. Aufgrund von Artikel 34 BV hat der Staat den Wählerinnen und Wählern die Kenntnisnahme aller fristgerecht gemeldeten Kandidaturen zu ermöglichen; diesem Anspruch vermöchte er mit einem blossen Delegieren des Wahlzetteldrucks an die kandidierenden Personen nicht zu genügen.

Zwar könnte die Parallelität von Ständeratswahlnormen und Nationalratswahlrecht im einzelnen Kanton Vorteile bringen. Dem steht aber gegenüber, dass Nationalratswahlen als gesamtschweizerisch-demokratische Wahlen nicht nach 26 verschiedenen kantonalen Verfahren abzuwickeln sind. Im Zeitalter wachsender Mobilität wären die Nachteile unterschiedlicher Verfahren nach Wohnsitzwechseln keineswegs geringer als die Vorteile innerkantonal übereinstimmender Verfahren. Ob einzelne Kantone ihre Ständeratswahlnormen umgekehrt stärker auf das Nationalratswahlrecht abstimmen wollen, steht ausschliesslich in ihrem eigenen Belieben (Art. 150 Abs. 3 BV).

1.4.2

Nachzählung aufgrund glaubhaft gemachter Unregelmässigkeiten

Mit der Justizreform hat das Bundesgericht auch für eidgenössische Urnengänge die Aufgabe erhalten, bei Verletzung der Abstimmungs- und Wahlfreiheit (Art. 34 BV) gestützt auf Artikel 29 und Artikel 29a BV Rechtsschutz zu gewähren, was mit einem Ausbau der Normenkontrolle im Anwendungsfall auf Bundesebene verbunden ist.

Gesetzlicher Ausschluss einer Nachzählung, solange keine Unregelmässigkeiten glaubhaft gemacht sind Mit der parlamentarischen Initiative 11.502 vom 23. Dezember 2011 verlangte Nationalrat Joder eine Anpassung der Rechtsgrundlagen, damit bei Abstimmungen und Wahlen Nachzählungen nurmehr aufgrund begründeter Hinweise auf Unregelmässigkeiten möglich sind. Er wollte damit eine Rückkehr zum Willen des historischen Gesetzgebers auslösen und die Rechtsunsicherheit beseitigen, die mit dem Urteil des Bundesgerichts (BGE 136 II 132 ff., vgl. Ziff. 1.2.3, I.) zur Frage entstanden war, wo die Grenze zwischen einem «knappen» und einem «sehr knappen» Abstimmungsergebnis zu ziehen sei. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats beschloss am 19. Oktober 2012, dieser Initiative Folge zu geben; in Erwartung der vorliegenden Botschaft verzichtete die Staatspolitische Kommission des Ständerats darauf, der Initiative Folge zu geben. Die parlamentarische Initiative ist noch von keinem Ratsplenum beraten worden.

Bedingt durch verschiedene Faktoren wie einfaches Volksmehr oder doppeltes Mehr einerseits und die kantonale Verfahrenshoheit mit bewährten, aber unterschiedlichen Regelwerken wird eine sachgerechte Regelung von Nachzählungsvoraussetzungen unweigerlich hochkomplex. Daher lohnt es sich auch, über eine Alternative nachzudenken, wonach Nachzählungen auf den Fall beschränkt werden, wo ein sehr knap-

9252

pes Ergebnis vorliegt und wo das Vorliegen unbehobener Unregelmässigkeiten glaubhaft gemacht wird.

In der Tat erscheint die These anfechtbar, dass ein sehr knappes Ergebnis einer Unregelmässigkeit gleichkomme: Ein sehr knappes Ergebnis ­ sei es in einem Kanton, sei es gesamtschweizerisch ­ zeigt an, dass eine Vorlage stark umstritten war. Daraus abzulesen, dass damit auch Unregelmässigkeiten verbunden gewesen sein müssten, verkennt aber gerade, dass bei einer stark umstrittenen Vorlage die wechselseitige Aufmerksamkeit gegenüber gegnerischen Manipulationsmöglichkeiten steigt, etwa im Urnenbüro oder in der Auszählequipe. Stark erhöht ist in solchen Momenten auch die Wachsamkeit der Medien. Hinzu kommt, dass eine gesamtschweizerisch sehr knapp ausgegangene Bundesabstimmung in allen Kantonen durchaus sehr deutliche (aber eben konträre) Teilergebnisse erzielt haben kann. Eine örtliche Eingrenzung der Nachzählung wird dann unmöglich. Mit welchen Kräften und zu welchem Zeitpunkt soll dann eine Nachzählung durchgeführt werden? Personal-, Zeit- und Platzbedarf dürfen umso weniger unterschätzt werden, als eine gesamtschweizerische Nachzählung erneut überall zur gleichen Zeit abgewickelt und jegliche vorzeitige Bekanntgabe von Teilergebnissen verhindert werden müsste, wenn das Nachzählungsergebnis nicht postwendend Spekulationen, Verdächtigungen, Zweifel und damit neue Beschwerden auslösen soll. Zumal in Kantonen mit Auszählverfahren im Milizsystem dürfte es kaum möglich sein, in kürzester Zeit Milizpersonal in genügender Anzahl aufzubieten; gelingt dies nicht, müsste der Abstimmungsausgang während Wochen in der Schwebe bleiben.

Auch vor dem Verfassungsgebot der Verhältnismässigkeit allen Verwaltungshandelns (Art. 5 Abs. 2 BV) rechtfertigt sich die Nachzählung eines kantonalen Abstimmungsteilergebnisses als bundesrechtliche Pflicht ohne Vorliegen von Anhaltspunkten für irgendwelche Unregelmässigkeiten daher erst, wenn neben dem kantonalen Abstimmungsergebnis auch das Bundesergebnis insgesamt überaus knapp ausgefallen ist.

Nachdem die Schweiz infolge multilateraler Absichtserklärungen, denen sie selber zugestimmt hat, gehalten ist, Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter einzuladen, bietet sich in Artikel 85 die Gelegenheit an, diese niederschwellige Kontrolle in Form der Ermöglichung der Beobachtung von
Urnengängen durch die Stimmberechtigten oder aber durch die Einrichtung spezieller kantonaler Wahl- und Abstimmungskommissionen zu stärken (Entwurf Art. 85), wo Urnen- und Auszählbüros nicht ohnehin bereits durch das Volk bestellt oder kraft kantonalen Rechts mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Parteien besetzt werden. Dieser Weg scheint bedeutend moderater, und er vermeidet eine überaus komplexe Regulierung (vgl. die Darlegungen im Anhang), indem er stattdessen das begründete Vertrauen stärkt.

Vor diesem Hintergrund lässt sich dann auch eine Rückkehr zum Willen des historischen Gesetzgebers sehr wohl vertreten, dessen Kondensat seit 1994 in Artikel 79 Absatz 2bis BPR figuriert und zuvor als Nichteintretensgrund in Artikel 78 Absatz 2 aufgeführt gewesen war: Wo gerügte Unregelmässigkeiten weder nach Art noch nach Umfang geeignet sind, das Hauptergebnis des Urnengangs wesentlich zu beeinflussen, hat die Kantonsregierung eine Beschwerde nicht einmal näher zu prüfen. Die Regelung ist direkt demokratischer Ausfluss des Verhältnismässigkeitsprinzips.

9253

1.4.3

Beobachtung von Urnengängen

Angeknüpft werden kann an funktionierenden kantonalen Beobachtungs- und Kontrollinstituten für die Ausmittlung von Urnengängen (beispielsweise Wahlkommissionen, Beobachtungsrecht oder Vertretungsrecht aller Parteien im Auszählbüro, Webstreaming mit Zugangscode, Volkswahl der Urnen- und Auszählbüros). Dabei soll es den Kantonen anheimgestellt bleiben, welcher Methode sie den Vorzug geben. Wer bereits entsprechende Mechanismen hat, soll sie fortführen können.

Solche Mechanismen haben den Vorteil, demokratisch abgestützt zu sein und die Erwahrung von Abstimmungsergebnissen, für die von keiner Seite Unregelmässigkeiten glaubhaft gemacht worden sind, nicht über lange Zeit zu verzögern: Erneutes Aufbieten von Auszählungs- und Kontrollequipen einzig wegen knapper Ergebnisse kann kaum je von heute auf morgen passieren, sondern ist sehr aufwändig und zeitintensiv. Bei Bundesabstimmungen über Verfassungsvorlagen ist mit zu bedenken, dass ein überaus knappes Volksergebnis mit einem klaren Ständeergebnis einhergehen kann, sodass keine Nachzählung etwas ändern kann. So entstanden beispielsweise bei den Volksabstimmungen über die Totalrevision der Bundesverfassung 187250, über die Waffenausfuhrverbotsinitiative 197251 oder über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR 199252 trotz knappen Volksergebnissen sehr deutliche Ergebnisse beim Ständemehr. Ein sehr knappes Bundesvolksmehr kann sich aus vielen deutlichen Kantonsergebnissen zusammensetzen. So erbrachte beispielsweise die Volksabstimmung über das Raumplanungsgesetz 197653 gesamtschweizerisch eine Differenz zwischen Ja und Nein von 2,2 %; aber einzig der Kanton SG lieferte ein knapperes Teilergebnis, derweil 16 Kantone überaus klare Teilergebnisse mit 10­50 % Unterschied zwischen Annahme und Ablehnung erbrachten; die einen lehnten mit grossem Mehr ab, die andern nahmen klar an.

Hier können auch Erfahrungen mit internationalen Wahlbeobachtungen nutzbar gemacht werden. Artikel 8 des Kopenhagener Dokuments von 199054 der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sieht vor, dass die Mitgliedstaaten gesetzliche Grundlagen für regelmässige Wahlbeobachtungen durch die OSZE schaffen. Aus diesem Grund empfahl die OSZE in ihren Schlussberichten vom 3. April 200855 und vom 30. Januar 2012 zu den Wahlbeobachtungen der eidgenössischen
Gesamterneuerungswahlen von 2007 und von 2011 der Schweiz, ihre Gesetzgebung über die politischen Rechte zu ergänzen, damit die Beobachtung der Schweizer Wahlen für internationale wie einheimische neutrale Wahlbeobachterinnen und -beobachter ausdrücklich ermöglicht wird. Im Bericht von 2012 ergänzt die OSZE ihre Empfehlung. Spezifische Normen sollten eine effektive Beobachtung der elektronischen Stimmabgabe sicherstellen: «Das OSZE/ODIHR wiederholt seine Empfehlung, die Gesetzgebung zu den Wahlen mit einem Zusatz zu versehen, welche die Anwesenheit von internationalen und einheimischen unabhängigen 50 51 52 53 54 55

BBl 1872 II 369 f.

BBl 1972 II 1449 BBl 1993 I 168 BBl 1976 II 1567 Deutsch wiedergegeben in BBl 1991 I 1072 f.

www.osce.org > OSCE Office for Democratic Institutions and Human Rights > Elections > Previous Election Activities > Switzerland > Federal Elections, 21 October 2007, Ziff. IV Bst. E, S. 7: «While the accreditation and co-operation received by the OSCE/ ODIHR EAM was most welcome, in order to fully comply with paragraph 8 of the 1990 OSCE Copenhagen Document, the electoral legislation should be amended to specifically allow for international and domestic non-partisan observers.»

9254

Beobachtern explizit erlaubt, dies in Anlehnung an Paragraf 8 des Dokuments von Kopenhagen (1990). Die Ergänzung sollte spezifische Angaben zur effizienten Beobachtung der Internetwahl enthalten».56 Der Schweizer Expertenpool für zivile Friedensförderung des EDA entsendet Schweizer Wahlbeobachter in OSZE-, EU- und OAS-Wahlbeobachtungsmissionen in verschiedene Staaten (im Jahr 2012 wurden 17 Schweizer Langzeit- und 31 Kurzzeitbeobachterinnen und -beobachter in OSZE/ODIHR-Wahlbeobachtungsmissionen entsandt). Ausserdem werden Schweizer Volksvertreterinnen und -vertreter den Wahlbeobachtungsmissionen der parlamentarischen Versammlungen der OSZE und des Europarats zur Verfügung gestellt. Weil die Staaten der EU, des Europarats, der OSZE und der OAS Schweizer Beobachterinnen und Beobachter empfangen, sollte sich auch die Schweiz als Gastland darum bemühen, den Zugang von Beobachterinnen und Beobachtern aus dem Ausland zum Wahlprozess zu gewährleisten.

Im Übrigen ist es der Schweiz mit Blick auf ihren OSZE-Vorsitz 2014 ein Anliegen, die Empfehlungen der OSZE/ODIHR von 2007 und 2011 bestmöglich umzusetzen.

Artikel 85 Absatz 1 des Gesetzesentwurfs präzisiert nun stärker das im Kommentar Ausgeführte, womit geäusserten kantonalen Bedenken Rechnung getragen wird.

Hingegen soll auf die Massnahme nicht völlig verzichtet werden, weil der Vorschlag eine organisatorische und vertrauensbildende Massnahme und damit eine praktikablere Alternative zu starren Nachzählungsregeln darstellt.

1.4.4

Stimmrechtsbescheinigungen

Die laufende Einholung der Stimmrechtsbescheinigungen beugt der Gefahr verspäteter Rücksendung bescheinigter Unterschriften in bedeutendem Masse wirksam vor, und sie hat zugleich den Vorteil, Belastungsspitzen bei den bescheinigenden Behörden zu brechen.

Der Gesetzestext von Artikel 62 Absatz 1 BPR verdeutlicht neu, dass Unterschriftenlisten den zur Ausstellung der Stimmrechtsbescheinigungen zuständigen Behörden laufend und rechtzeitig zuzustellen sind.

1.5

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Zur offen formulierten Kommissionsmotion (12.3975) der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats verzichtet der Bundesrat darauf, eine Weiterentwicklung des geltenden Rechts zu unterbreiten, die Verlängerungen der Referendumsfrist vermeidet, welche insbesondere den rechtsstaatlich-demokratischen Vollzug dringlicher Bundesgesetze zu vereiteln drohen (vgl. Ziff. 1.3.5).

56

www.osce.org > OSCE Office for Democratic Institutions and Human Rights > Elections > Previous Election Activities > Switzerland > Federal Elections, 23 October 2011, Ziff. XII, S. 14 samt genauer elektronischer Fundstelle, S. 13, Fn. 34: «Siehe Richtlinie Nr. 5 der Richtlinien des Europarates ».

9255

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats hat am 18. Oktober 2012 beschlossen, der parlamentarischen Initiative Nationalrat 11.502 Joder vom 23. Dezember 2011 Folge zu geben, die darauf abzielt, Nachzählungen zu Volksabstimmungen nur anordnen zu lassen, wenn begründete Anzeichen für Unregelmässigkeiten bestehen. Sie verband damit die Erwartung, dass der vorliegende Bericht für die Frage eine Lösung bringen werde. Um die vorliegende Botschaft des Bundesrates abzuwarten, lehnte es die ständerätliche Schwesterkommission ab, der parlamentarischen Initiative Folge zu geben.

2

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln

Titel Dem Titel ist die längst gebräuchliche Abkürzung beizufügen.

Ingress Der Ingress verweist noch auf die Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (aBV). Die Revision gibt Gelegenheit, ihn an die Bestimmungen der neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 anzupassen.

Art. 13 Abs. 3 Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats mochte sich dem Versuch des Bundesgerichts, «sehr knappe» Abstimmungsergebnisse einer Unregelmässigkeit gleichzustellen (vgl. Ziff. 1.1.2)57, nicht anschliessen. Vielmehr zeigte sie sich vom Willen des historischen Gesetzgebers (Nachzählungen nur bei substantiierten Hinweisen auf Unregelmässigkeiten) überzeugt. Diesen Willen möchte sie auch künftig umgesetzt wissen. Nach dem bundesgerichtlichen Urteil empfiehlt es sich freilich, dies heute im Gesetz ausdrücklich zu sagen.

Ergänzend empfiehlt sich eine neue Rechtsgrundlage für die Beobachtung von Urnengängen (vgl. Kommentar zu Art. 85 BPR).

Art. 21 Abs. 1 Artikel 21 Absatz 1 BPR konzentriert die Wahlanmeldefrist neu auf den Monat August; im September können somit Wahlvorschläge künftig nicht mehr gültig eingereicht werden. Die Massnahme erlaubt dann im Gegenzug eine bürgerfreundlichere Praxis bei der Verteilung der Wahlunterlagen (Art. 33 Abs. 2 BPR).

Art. 22 Abs. 2 Zur Vermeidung ungültiger Kandidaturen von Personen ohne Schweizer Bürgerrecht ist dem Heimatort das Kürzel seiner Kantonszugehörigkeit beizufügen. Die Angabe der Postleitzahl führt nicht zum Ziel, da spätere Gemeindefusionen und die Schliessung von Postbüros Postleitzahländerungen nach sich ziehen können und

57

BGE 136 II 132

9256

damit veraltete Angaben Kandidierender zur Folge haben, was zu Mehr- statt Minderaufwand führt.

Art. 29 Abs. 4, 32a, 36 und 38 Abs. 2 Sollte in einem Einzelfall eine Mehrfachkandidatur zu spät erkannt werden, so ist die korrekte Abwicklung der Proporzwahl dadurch zu gewährleisten, dass die zuständigen Behörden (also die kantonale Wahlbehörde bei innerkantonaler Mehrfachkandidatur, die Bundeskanzlei bei Mehrfachkandidatur über die Kantonsgrenzen hinweg) sie durch Veröffentlichung im kantonalen Amtsblatt und im Bundesblatt sowie elektronisch bekannt geben und infolgedessen die Namen der mehrfach Kandidierenden bei der Auszählung der Stimmen auf allen Wahlzetteln (vergleichbar dreifach Aufgeführten) gestrichen werden (Art. 32a, 36 und 38 Abs. 2 BPR): Den Parteien geht dadurch keine einzige Stimme verloren. Soweit der Name solch ungültig Kandidierender auf einem Wahlzettel mit Listenbezeichnung steht, wird die leere Zeile zu einer Zusatzstimme für die betreffende Liste; sind solch ungültig Kandidierende auf Wahlzetteln ohne Parteibezeichnung aufgeführt, so werden die entsprechenden Zeilen Leerstimmen. Auch den Kandidierenden geschieht kein Unrecht, denn keine ihrer mehrfachen Kandidaturen konnte ohne ihre eigenhändige Unterschrift eingereicht werden.

Art. 32 Abs. 2 Die Bestimmung ist an Artikel 22 Absatz 2 BPR (Präzisierung der Namensangabe) anzupassen.

Art. 33 Abs. 2 Die Konzentration des Wahlanmeldeschlusses auf den Monat August (Art. 21 Abs. 1 BPR) ermöglicht im Gegenzug, die Wahlunterlagen künftig den Stimmberechtigten genau gleich wie bei Volksabstimmungen in der viertletzten Woche zu verteilen (Art. 33 Abs. 2 BPR). Dies drängt sich auf, weil die zunehmende Gewohnheit, im Herbst Ferien zu machen, andernfalls erhöhte Wahlabstinenz hervorzurufen droht.

Art. 47 Abs. 1bis Parallel zum Proporzwahlrecht (Art. 32 BPR) regelt Artikel 47 Absatz 1bis BPR auch für Majorzkantone ohne Wahlanmeldeobliegenheit und ohne Möglichkeit stiller Wahl die amtlich zu veröffentlichenden Angaben sämtlicher bis zum 48. Tag vor dem Wahltag eingegangenen Nationalratskandidaturen: Im Zeitalter der Beteiligung von Auslandschweizer Stimmberechtigten an der Wahl muss diesen auch ein Minimum an Informationen über die gemeldeten Kandidaturen zur Verfügung stehen, wenn ihr Recht nicht zur Farce verkommen soll. Wie in Proporzkantonen
soll hier auch der Beruf angegeben werden müssen, damit ein Minimum an Transparenz erreicht wird (vgl. auch die Ausführungen zu Art. 22 BPR hiervor).

Art. 48

Wahlzettel

Die frühere Verteilung des Wahlmaterials (vgl. Bemerkungen zu Art. 33 Abs. 2 BPR hiervor) muss ebenso für die Majorzwahlkantone gelten.

9257

Art. 62 Abs. 1 Was das Bundesgericht explizit bestätigt hat (BGE 139 II 303), soll in Artikel 62 Absatz 1 verdeutlicht werden: Unterschriften sind laufend zur Stimmrechtsbescheinigung einzureichen.

Art. 85

Beobachtung von Urnengängen

Regelungsspielraum ist den Kantonen deshalb zu belassen, weil die Auszählorganisation in den verschiedenen Kantonen zu stark divergiert, als dass eine einheitliche eidgenössische Regelung den kantonalen Unterschieden gerecht werden könnte.

Auch muss der nötige Spielraum geschaffen werden, damit einheimische Wahlbeobachtung nicht zur Wahlbeeinflussung werden kann. Ungeachtet kantonaler Besonderheiten dürfen weder das Stimmgeheimnis noch die ordnungsgemässe Resultatermittlung in Frage gestellt werden können.

Als verlässlicher Partner internationaler Abkommen wird sich die Schweiz auch ohne gesetzliche Selbstverpflichtung an abgeschlossene Verträge und multilaterale Erklärungen halten. Den Anliegen der OSZE kann aber in geeigneter Weise Rechnung getragen werden. Hingegen erscheint es nicht sinnvoll, diese Regelung explizit auf die OSZE zu beschränken; wenn schon soll die Regelung generell-abstrakt redigiert werden, um grundsätzlich auch Beobachtungen durch andere Organisationen, unabhängig ihrer Rechtsnatur, sowie Staaten zu erlauben, wenn sie aufgrund ihres Zwecks und ihrer Aktivitäten über die notwendigen Qualifikationen für eine entsprechende Aufgabe verfügen.

Art. 87 Abs. 1 und 1bis Artikel 87 Absätze 1 und 1bis schaffen vor allem für die von Parteien und Kandidierenden stark nachgefragten und daher längst eingeführten Panaschierstimmenstatistiken des Bundesamtes für Statistik eine gesetzliche Grundlage, nachdem Zweifel über das Genügen der vorhandenen Rechtsgrundlagen laut geworden sind.

Änderung des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 Art. 46 Abs. 2 Artikel 46 Absatz 2 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200558 (BGG) bestimmt, dass gesetzlich oder richterlich nach Tagen bestimmte Fristen vom siebenten Tag vor bis und mit dem siebenten Tag nach Ostern (Bst. a), vom 15. Juli bis und mit dem 15. August (Bst. b) und vom 18. Dezember bis und mit dem 2. Januar (Bst.

c) eines jeden Kalenderjahres stillstehen.

Dass für Abstimmungs- und Wahlbeschwerden verkürzte Beschwerdefristen gelten (Art. 100 Abs. 3 Bst. b und Abs. 4 BGG), wird beim Fristenstillstand während der Gerichtsferien bisher völlig ausser Acht gelassen und damit in wesentlichen Konstellationen vernachlässigt. Zurückzuführen ist dies auf ein gesetzgeberisches Versehen: Im Unterschied zur verkürzten Beschwerdefrist in der
Wechselbetreibung (Art. 100 Abs. 3 Bst. a BGG) wird für die gleichermassen verkürzte Beschwerdefrist zu Abstimmungsbeschwerden bei Volksabstimmungen und die nochmals kürzere Beschwerdefrist für Wahlbeschwerden zu Nationalratswahlen (Art. 100 Abs. 4 58

SR 173.110

9258

BGG) keine Ausnahme vom Fristenstillstand vorgesehen. Dies könnte fatale Folgen haben, wie eine Begebenheit der Nationalratswahlen 2011 aufgezeigt hat: Im Kanton Tessin erreichten auf einer Liste, die zwei Mandate errang, die zweit- und die drittplatzierte Person exakt gleich viele Stimmen59. Das Los musste entscheiden.60 Dieses wurde am 29. November 2011 öffentlich gezogen und im Fernsehen übertragen. Das Resultat wurde gleichentags im kantonalen Amtsblatt veröffentlicht61. Am 5. Dezember 2011 trat der neu gewählte Nationalrat zusammen; vereidigt wurde auch der durch Losentscheid bestimmte Tessiner Kandidat. Gegen das Ergebnis des Losentscheids wurde am 2. Dezember 2011 erneut Beschwerde erhoben. Der Entscheid des Tessiner Staatsrats vom 20. Dezember 2011 wurde nach Ablauf der Gerichtsferien am 5. Januar 2012 noch fristgerecht ans Bundesgericht weiter gezogen, welches die Beschwerde am 18. Januar 2012 abwies. In den Erwägungen wird überzeugend kritisiert, die Dringlichkeit der Beschwerde, die (bei Nationalratswahlen) binnen dreier Tage bzw. (bei eidgenössischen Volksabstimmungen) innert fünf Tagen seit dem Erhalt des angefochtenen Entscheides der Kantonsregierung beim Bundesgericht einzureichen ist, stehe zum Fristenstillstand während der Gerichtsferien (Art. 46 Abs. 1 Bst. c in Verbindung mit Art. 100 Abs. 4 BGG) in deutlichem Kontrast62. Analoges gilt bei dringlichen Bundesgesetzen für strittiges Nichtzustandekommen.

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

Die Vorlage schafft den nötigen minimalen Spielraum zur Sicherstellung einer gesetzeskonformen Durchführung künftiger Nationalratswahlen, ohne Mehrauslagen zu generieren.

3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Die Verkürzung der Wahlanmeldefristen wird in einigen Kantonen gesetzgeberischen Anpassungsbedarf auslösen. Auch der verschiedenenenorts frühere Versand kann in einigen Kantonen Rückwirkungen auf den ersten Wahlgang der Ständeratswahlen entfalten.

Das Vademecum (vgl. Ziff. 1.3.5) soll die Ausstellung von Stimmrechtsbescheinigungen etwas besser planen helfen.

59 60 61 62

BBl 2011 8529 f. mit Fn. 17 und 18 BGE 138 II 5­12 insbes. 10 f. E. 3.3 Vgl. auch BBl 2011 8791­8793 BGE 1C_15/2012 E. 1.3; BGE 138 II 5-12 spez. 10 f. E. 3.3; Steinmann (2011, N. 16 und 17) zu Art. 100; BGE 135 I 257

9259

Tabelle 10 Auswirkungen einer Fristvorverschiebung zur Einreichung von Wahlvorschlägen auf spätestens den 31. August betroffene Kantone

Vorteile

Nachteile

Wahlanmeldung

GR, TI, VS, JU

Postalische Zustellprobleme werden entschärft.

Die Parteien müssen ihre Wahlvorschläge allenthalben vor der Sommerpause des Wahljahres bereinigt haben, und die Kandidierenden haben weniger lang Zeit für ihren Entscheid für oder gegen die Kandidatur.

Listenbereinigung

LU, ZG, FR, BS, In vielen Kantonen kann die Der Wahlkampf wird Kosten GR, TG, TI, VS, Verteilung des Wahlmaterials treibend verlängert.

NE, JU an Ausland- und Inlandschweizer/-innen vorgezogen und den Fristen bei Volksabstimmungen angeglichen werden.

In einigen Kantonen (z. B. ZH) werden damit die Nationalratsden Ständeratswahlvorbereitungen terminlich angeglichen.

In einigen Kantonen (z. B. JU) werden damit die terminlich eben erst angeglichenen Vorbereitungsecktermine für National- und Ständeratswahlen gerade wieder auseinandergerissen.

Mehrere Kantone haben im Vernehmlassungsverfahren zu Recht darauf hingewiesen, dass verschiedene Massnahmen erst noch der Umsetzung im kantonalen Recht bedürfen. Dem wird bei der Inkraftsetzung der Revision Rechnung zu tragen sein.

Nach Artikel 91 Absatz 2 BPR steht den Kantonen zum Erlass der nötigen Ausführungsbestimmungen ein Zeitraum von 18 Monaten zur Verfügung. Soweit neue Normen des Bundes solcher kantonaler Ausführungsbestimmungen bedürfen, werden sie für die Nationalratswahlen 2015 nicht anwendbar sein.

Die Vorverlegung der Verteilung auch des Wahlmaterials auf denselben Zeitraum (viertletzte Woche vor dem Wahltag), den die Stimmberechtigten von eidgenössischen Volksabstimmungen her gewohnt sind, kann in bestimmten Kantonen eine gewisse Verteuerung bestimmter Wahlkampfpraktiken auslösen, nämlich dort, wo das Wahlmaterial nicht ohnehin wie beispielsweise im Kanton Zürich aufgrund kantonaler Normen über die Ständeratswahl bereits in der viertletzten Woche vor dem Wahltag verteilt werden muss. Verteuert werden Wahlkampfpraktiken wie verlängerte Belegung von Plakatflächen, kaum aber elektronische Aktivitäten im Netz. Aufgrund der Tendenz hin zur Nationalisierung der Nationalratswahlkampagnen ist auch dieses Argument zu relativieren. Unabhängig davon sind diese Folgen in Kauf zu nehmen: Wahlen sind primär für die Wählerschaft da, und aufgrund der bedeutenden und zunehmenden Anzahl Reklamationen von Wahlberechtigten wegen der späten Zustellung des Wahlmaterials können weder die Nachfrage nach einem längeren Zeitraum für die Willensbildung noch die Berechtigung des Anliegens angezweifelt werden.

9260

Die Vorlage achtet darauf, möglichst nicht in bewährte kantonale Prärogativen im Bereich der politischen Rechte einzugreifen. Einschränkungen werden einzig dort und nur soweit gemacht, als dies unter den stark veränderten Voraussetzungen grösserer Bevölkerungsmobilität und der Elektronik für den korrekten Vollzug der demokratischen Entscheidungen unumgänglich ist.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist in der Botschaft vom 25. Januar 201263 über die Legislaturplanung 2011­2015 und im Bundesbeschluss vom 15. Juni 201264 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 39 Absatz 1 BV, der dem Bund die Kompetenz zur Regelung der Ausübung der politischen Rechte gibt. Die Vorschläge zu einer bürgerfreundlicheren Ausgestaltung der Wahlanmeldeverfahren dienen der Umsetzung der Garantie der freien Willensbildung und der unverfälschten Stimmabgabe (Art. 34 BV).

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Mit dem Entwurf zu Artikel 85 BPR genügt die Vorlage auch den wiederholten Desideraten der OSZE-Wahlbeobachtungsmissionen. Für andere Belange tangiert die Vorlage keine internationalen Verträge.

5.3

Erlassform

Gemäss Artikel 164 Absatz 1 BV erlässt die Bundesversammlung alle wichtigen rechtsetzenden Normen in der Form des Bundesgesetzes.

63 64

BBl 2012 481, hier 542 f.

BBl 2012 7155, hier 7157

9261

5.4

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Vorlage enthält keine Rechtsetzungsdelegationen.

5.5

Datenschutz

Die Vorlage beachtet die datenschutzrechtlichen Vorgaben.

9262

Literaturverzeichnis 1.

Bochsler, Daniel (2005): Biproportionales Wahlverfahren für den Schweizer Nationalrat. Modellrechnungen für die Nationalratswahlen 2003, Manuskript, Genf.

2.

Hangartner, Yvo / Kley, Andreas (2000): Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich: Schulthess.

3.

Pukelsheim, Friedrich / Schuhmacher, Christian (2004): Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für Parlamentswahlen, in: Aktuelle Juristische Praxis AJP 13, S. 505­522.

4.

Pukelsheim, Friedrich / Schuhmacher, Christian (2011): Doppelproporz bei Parlamentswahlen ­ Ein Rück- und Ausblick, in: Aktuelle Juristische Praxis AJP 20, S. 1581­1599.

5.

Schuhmacher, Christian (2005): Sitzverteilung bei Parlamentswahlen nach dem neuen Zürcher Zuteilungsverfahren. Eine leicht verständliche Darstellung, Zürich: Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich.

6.

Steinmann, Gerold (2011): Beschwerde wegen Verletzung politischer Rechte (lit. c). In: Niggli, Marcel Alexander / Uebersax, Peter / Wiprächtiger, Hans (Hg.): Bundesgerichtsgesetz. 2. Auflage, Basel: Helbing und Lichtenhahn, S. 994­1006, NN. 75­103.

7.

Steinmann, Gerold (2011): Beschwerdefristen nach Absatz 3 Buchstabe b und Absatz 4 (politische Rechte). In: Niggli, Marcel Alexander / Uebersax, Peter / Wiprächtiger, Hans (Hg.): Bundesgerichtsgesetz. 2. Auflage, Basel: Helbing und Lichtenhahn, S. 1334­1336, NN. 16­18.

8.

Tschannen, Pierre (1995): Stimmrecht und politische Verständigung. Beiträge zu einem erneuerten Verständnis von direkter Demokratie, Basel/Frankfurt am Main: Helbing und Lichtenhahn.

9.

Weber, Anina (2010): Vom Proporzglück zur Proporzgenauigkeit, in: Aktuelle Juristische Praxis AJP 19, S. 1373­1377.

9263

Anhang

Nachzählungen? Alternative Umsetzungsvarianten Variante A Tabelle 11 Kt.

Stimmberechtigte am 25.11.2012

0,5

Wahlvorschlagsquorum

ZH BE LU UR SZ OW NW GL ZG FR SO BS BL SH AR AI SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU

885 022 719 780 263 083 26 167 99 197 25 444 30 476 26 124 72 602 188 482 174 689 114 092 186 621 50 479 37 778 11 412 313 554 135 734 403 064 162 777 213 698 414 265 209 044 110 051 242 215 50 882

443 360 132 14 50 13 16 14 37 95 88 58 94 26 19 6 157 68 202 82 107 208 105 56 122 26

400 400 100 50 100 50 50 50 100 100 100 100 100 100 50 50 200 100 200 100 100 200 100 100 200 100

CH

5 166 732

2598

3300

Für die Umsetzung des Bundesgerichtsentscheids betreffend Nachzählung auch ohne Unregelmässigkeiten bei sehr knappen, nicht aber bloss knappen Volksabstimmungsergebnissen65 bieten sich zwei mögliche Regeln an. Das vom Bundesgericht selbst als knapp, aber nicht sehr knapp taxierte Ergebnis der Volksabstimmung vom 17. Mai 2009 zu den biometrischen Pässen ergab bei 953 173 Ja gegen 947 493 Nein eine Differenz von 5680 Stimmen auf insgesamt 1 942 857 abgegebene Stimmzettel (= 0,298 %).66

65 66

BGE 136 II 141 E. 2.7 BBl 2009 7542

9264

Als sehr knapp liesse sich demnach ungefähr die Hälfte dieses Wertes (2840) definieren. Nähme man dies zum Massstab, so könnte eine Gesetzesnorm wie folgt lauten: Art. 13 Abs. 3 Die Stimmen einer eidgenössischen Volksabstimmung sind auch ohne Nachweis von Unregelmässigkeiten gesamtschweizerisch nachzuzählen, wenn beim Ergebnis:

3

a.

das Ständemehr nicht bereits den Ausschlag gibt; und

b.

der Unterschied zwischen den Ja- und den Nein-Stimmen gesamtschweizerisch kleiner als ein halbes Promille der Stimmberechtigten ist.

Eine solche Regelung hätte den Vorteil gesetzgeberischer Kürze. Ihr Nachteil bestünde darin, dass die Nachzählung erst mit starker Verzögerung ausgelöst werden kann: Die provisorischen amtlichen Endergebnisse am Abstimmungsabend sind regelmässig mit Unzulänglichkeiten behaftet; häufig folgen ihnen noch am Abend spät oder in den Folgetagen kleinere Korrekturen: In einer Gemeinde wurden die Jaund die Nein-Stimmen irrtümlich vertauscht gemeldet; entlang der Sprachgrenze haben sich bei telefonischen Meldungen Übermittlungsfehler eingeschlichen. Am Abstimmungsnachmittag lassen sich diese Fehler nirgends feststellen, weil einzig die Ja- und die Nein-Stimmen, aus Zeitgründen hingegen nicht auch die leeren und die ungültigen Stimmzettel sowie die Gesamtzahl der eingegangenen Stimmzettel gemeldet werden. Schweizweit differieren die provisorischen gegenüber den endgültigen Abstimmungsresultaten erfahrungsgemäss regelmässig um 1000 bis 2000 Stimmen.

Aber auch wenn man die provisorischen amtlichen Endergebnisse als Ausgangspunkt nimmt, lässt sich auf Bundesebene ein äusserst knappes Abstimmungsergebnis erst am Abstimmungsabend erkennen, nachdem auch die Teilergebnisse der bevölkerungsreichsten Kantone eingegangen sind. Zu diesem Zeitpunkt haben die vorab in der Zentral- und der Ostschweiz verbreitet eingesetzten Milizkräfte ihre Auszählarbeit längst abgeschlossen und sind nach Hause gegangen. Die Nachzählung müsste also selbst in diesem Fall von Verwaltungsangestellten im Alleingang ausgeführt werden, sofern nicht die Milizkräfte auf einen neuen Termin aufgeboten würden. Im einen wie im anderen Fall würde eine solche schweizweit zu bewerkstelligende Nachzählung frühestens einen Monat später erwartet werden können.

Variante B Eine zweite Variante könnte daher zunächst bei kantonal geringfügigen Unterschieden zwischen den Ja- und den Nein-Stimmen ansetzen: Art. 13 Abs. 3 Die Stimmen einer eidgenössischen Volksabstimmung sind auch ohne Nachweis von Unregelmässigkeiten in jedem Kanton nachzuzählen, in dem beim Ergebnis der Unterschied zwischen Ja- und Nein-Stimmen geringer ist als:

3

a.

50 in Kantonen mit einem einzigen Nationalratssitz;

b.

100 in Kantonen mit 2­10 Nationalratssitzen;

c.

200 in Kantonen mit 11­20 Nationalratssitzen;

d.

400 in Kantonen mit mehr als 20 Nationalratssitzen.

9265

Diese Regelung wäre deutlich kasuistischer und weniger elegant als Variante 1 (Nachteil); aber sie wäre zumindest für gewisse milizorientierte Kantone erheblich rascher und einfacher umzusetzen als die Variante 1 (Vorteil). Die kommunal aufgebotenen Milizhelferinnen und -helfer des Abstimmungsbüros müssten nicht in sämtlichen Kantonen stundenlang im Abstimmungsbüro zurückbehalten werden, bis aus «Bern» Entwarnung käme. In Kantonen, wo die Auszählung jeweils bereits um 14 Uhr abgeschlossen ist (z. B. GL, AR und AG), könnte seitens des kantonalen Abstimmungsbüros bereits sehr viel früher Entwarnung gegeben werden, und in sämtlichen Kantonen könnte diese Rückmeldung sehr viel zeitnaher nach dem Ende der kommunalen Auszählarbeiten erstattet werden. Schweizweit dürften so pro Abstimmungssonntag mehrere Tausend Personenstunden an zumeist nutzlosem Zurückbehalten einzusparen sein, was für die Akzeptanz der Regelung von entscheidender Bedeutung ist. Freilich darf der weitere Nachteil nicht verschwiegen werden, dass gesamtschweizerische Homogenität der Abstimmungsergebnisse verhältnismässig selten ist: Aus diesem Grunde können lauter klare (aber eben teilweise gegenläufige) kantonale Abstimmungsergebnisse insgesamt zu einem äusserst knappen Bundesabstimmungsergebnis führen. Bei einfachen Verfassungsabstimmungen kann dieses Risiko durch ein Ständemehr erheblich vermindert werden, vorab dort, wo eine Kantonsmehrheit die Ablehnung einer Vorlage selbst bei zustimmendem Volksmehr klärt; bei Doppelabstimmungen über Volksinitiativen mit Gegenentwurf entfiele freilich insbesondere in der Stichfrage auch diese Entkräftung. Insgesamt könnte auch mit dieser Variante nicht ausgeschlossen werden, dass hinterher seitens der Bundesbehörden eine Nachzählung angeordnet werden müsste.

Kombination der beiden Varianten Diese letzte Überlegung könnte daran denken lassen, die beiden Varianten miteinander zu kombinieren. Dies ergäbe dann folgende Regelung: Art. 13 Abs. 3 und 4 Die Stimmen einer eidgenössischen Volksabstimmung sind auch ohne Nachweis von Unregelmässigkeiten nachzuzählen:

3

a.

auf Anordnung des kantonalen Abstimmungsbüros hin in jedem Kanton, in dem der Unterschied zwischen Ja- und Nein-Stimmen geringer ist als: 1. 50 in Kantonen mit einem einzigen Nationalratssitz, 2. 100 in Kantonen mit 2­10 Nationalratssitzen, 3. 200 in Kantonen mit 11­20 Nationalratssitzen, 4. 400 in Kantonen mit mehr als 20 Nationalratssitzen;

b.

in jedem Kanton auf Anordnung der Bundeskanzlei hin, wenn: 1. das Ständemehr nicht bereits den Ausschlag gibt, und 2. der Unterschied zwischen den Ja- und den Nein-Stimmen gesamtschweizerisch kleiner als ein halbes Promille der Stimmberechtigten ist.

Das Ergebnis der Nachzählung ist verbindlich, sofern keine Unregelmässigkeiten glaubhaft gemacht werden.

4

9266

a. Kandidaten für kantonale Nachzählungen Tabelle 12 Kt.

SZ NW AI TI BL SO TG UR NW UR OW AI UR AI AI

Jahr

1913 1898 1935 1896 1944 1879 1876 1950 1986 1913 1882 1920 1952 1956 1986

Inhalt

Epidemien Eisenbahn Totalrevision BV Eisenbahnrechnung Unlauterer Wettbewerb Todesstrafe Banknotengesetz Finanzordnung Gegenentwurf zur Kulturinitiative Epidemien Erfindungsschutz Völkerbund Preiskontrolle Ausgabenbremse Mieterschutz

Ergebnis Schweiz

Kt.

Ja

Nein

Diff.

169 012 386 623 196 135 223 228 343 648 200 485 120 068 267 770 548 080 169 012 141 616 416 870 489 461 276 660 922 221

111 163 182 718 511 578 176 577 305 770 181 588 193 253 468 381 670 196 111 163 156 658 323 719 289 837 331 117 510 490

0 1 1 2 2 3 5 5 5 6 8 8 8 8 9

Fundstelle BBl

1913 III 453 1898 II 73 1935 II 446 1896 IV 139 1944 1373 1879 II 852 1876 II 987 1950 II 410 1986 III 899 1913 III 453 1882 IV 260 1920 III 800 1952 III 813 1956 II 660 1987 I 474

Würde man die hier vorgeschlagenen Kriterien zugrunde legen, so hätte in den 164 Jahren seit 1848 bei eidgenössischen Volksabstimmungen insgesamt 89-mal (d.h. im Durchschnitt alle zwei Jahre in irgendeinem Kanton) in einzelnen Kantonen nachgezählt werden müssen, und zwar ungefähr alle zwei Jahrzehnte einmal in ZG (insgesamt 9-mal), NW (8-mal) und AI (7-mal), ungefähr jedes Vierteljahrhundert jeweils einmal in SO, BL, SH und GE (insgesamt alle je 6-mal) sowie OW (5-mal), ungefähr einmal pro 50 Jahre in UR, SZ, TG, TI, VD und NE (insgesamt alle je 3-mal), jeweils etwa alle achtzig Jahre in ZH, BE, GL, FR, BS, SG, GR (insgesamt alle je 2-mal) und einmal alle 150 Jahre in LU, AR, AG und VS (insgesamt alle je 1-mal), derweil der erst seit 1978 eigenständige Kanton JU als einziger bisher keine solche Nachzählung anzuordnen gehabt hätte.

Nun fällt aber gerade bei diesen extrem knappen kantonalen Abstimmungsteilergebnissen auf, dass das Bundesergebnis ausnahmslos klar, zumeist sogar überdeutlich ausgefallen war. Diese Erkenntnis sollte in geeigneter Form in die gesetzgeberischen Überlegungen einfliessen. Dazu besteht auch aus anderem Grunde Anlass: Kantonale Nachzählungen müssten von den Kantonen unmittelbar nach Vorliegen des kantonalen provisorischen amtlichen Endergebnisses aus eigener Kompetenz angeordnet werden können, damit die Verfügbarkeit der Milizkräfte noch genutzt werden könnte. Eine bundesrechtliche Verpflichtung hierzu würde hingegen weit über das Ziel hinaus schiessen: Wo das Bundesergebnis deutlich ausfällt und keine Zweifel über den Ausgang des Volksentscheids offen lässt, wäre eine gesetzliche Pflicht zur Nachzählung ohne Vorliegen eines Verdachts auf Unregelmässigkeiten insbesondere für die in Anspruch genommenen Milizkräfte unverständlich, und bei den Stimmberechtigten insgesamt dürfte es weit eher als ein ­ angesichts der Umstände völlig verfehltes ­ Zeichen von Unsicherheit wirken.

9267

Freilich wäre dabei auch zu bedenken, dass der Ausgang von Urnengängen zu dringlichen Bundesgesetzen mit vorhandener Verfassungsgrundlage unter sehr hohem Zeitdruck geklärt werden muss: Nach Artikel 165 der Bundesverfassung treten sie ein Jahr nach Inkraftsetzung ausser Kraft, wenn sie nach Zustandekommen eines Referendums (allein dafür gehen 100 Tage weg [Art. 141 BV]) nicht zuvor vom Volk angenommen worden sind. Der Mindestzeitbedarf für die Organisation des Urnengangs nach der Einreichung des Referendums ermöglicht die Volksabstimmung hierüber niemals vor dem neunten Monat dieser verfassungsmässigen Jahresfrist. Auch dies sollte beim Entscheid über die Unerlässlichkeit einer Nachzählung und ihres Umfangs berücksichtigt werden können.

b. Kandidaten für bundesweite Nachzählungen Die Bundesabstimmungsgeschichte kennt gut zwei Dutzend knapp ausgegangener Urnengänge: Tabelle 13 Jahr

Inhalt

Volk

Stände

Differenz

Bemerkungen

Ja

Nein

Ja

Nein

abs.



1866 Mass und Gewicht BV

159 202

156 396

8 3/2

11 3/2

2 806

8,9

1866 Niedergelassenenstimmrecht im Kanton

153 469

165 679

9 2/2

10 4/2

12 210

38,3 Auch am Ständemehr gescheitert

1866 Glaubens- und Kultusfreiheit

157 629

162 992

10 2/2

9 4/2

5 363

16,7 Auch am Ständemehr gescheitert

1872 Totalrevision BV

255 606

260 859

2 1/2

17 5/2

5 253

10,2 Auch am Ständemehr gescheitert

1875 Zivilstand und Ehe. Gesetz

213 199

205 069

­

­

8 130

19,0 Gesetz angenommen

1875 Politische Rechte. 202 583 Gesetz

207 263

­

­

4 660

11,0 Gesetz abgelehnt

1877 Fakrikgesetz

181 204

170 857

­

­

10 353

29,0 Gesetz angenommen

1877 Militärpflichtersatz. Gesetz

170 223

181 383

­

­

11 160

32,0 Gesetz abgelehnt

1920 Arbeitsverhältnisse. Gesetz

254 455

256 401

­

­

1 946

3,8

Gesetz abgelehnt

1926 Brotgetreideversorgung. BV

366 507

372 049

8

11 6/2

5 542

7,5

Auch am Ständemehr gescheitert

1931 Tabakbesteuerung. Gesetz

423 523

425 449

­

­

1 926

2,2

Gesetz abgelehnt

9268

Am Ständemehr gescheitert

Jahr

Inhalt

Volk Ja

Stände

Differenz

Bemerkungen

Nein

Ja

Nein

abs.



1949 Volksinitiative 280 755 Rückkehr zur direkten Demokratie

272 599

11 3/2

8 3/2

8 156

15,0 Volksinitiative angenommen

1955 Mieter- und Konsumentenschutzinitiative

392 588

381 130

6 2/2

13 4/2

11 458

14,8 Am Ständemehr gescheitert

1968 Tabakbesteuerung. Gesetz

277 229

297 381

­

­

20 152

35,1 Gesetz abgelehnt

1970 Volksinitiative 344 640 Recht auf Wohnung und Familienschutz

359 818

7 2/2

12 4/2

15 178

21,5 Auch am Ständemehr gescheitert

1972 Waffenausfuhrverbotsinitiative

585 046

592 833

6 2/2

13 4/2

7 787

6,6

1976 Raumplanungsgesetz

626 134

654 233

­

­

28 099

21,9 Gesetz abgelehnt

1979 Stimmrechtsalter 934 073 18

964 749

8 2/2

12 4/2

30 676

16,2 Auch am Ständemehr gescheitert

1982 Ausländergesetz

680 404

690 268

­

­

9 864

7,2

1983 Energieartikel BV 649 485

626 047

11

9 6/2

23 438

18,4 Am Ständemehr gescheitert

1989 Kleinbauerninitiative

773 718

7 2/2

13 4/2

31 971

21,1 Auch am Ständemehr gescheitert

1992 Europäischer 1 762 872 1 786 708 6 2/2 Wirtschaftsraum.

BV

14 4/2

23 836

6,7

2001 Militärgesetzände- 1 002 271 963 336 rung (Bewaffnung)

­

­

38 935

19,8 Gesetz angenommen

2001 Militärgesetz1 001 300 956 496 änderung (Ausbildungszusammenarbeit)

­

­

44 804

22,9 Gesetz angenommen

10 1/2

4 208

1,9

741 747

2002 Volksinitiative 1 119 342 1 123 550 10 5/2 «gegen Asylrechtsmissbrauch»

Auch am Ständemehr gescheitert

Gesetz abgelehnt

Auch am Ständemehr gescheitert

Volksinitiative nur knapp und allein am Volksmehr gescheitert

9269

Jahr

Inhalt

Volk

Stände

Differenz

Bemerkungen

Ja

Nein

Ja

Nein

abs.



2008 Unternehmenssteuerreformgesetz II

938 658

918 985

­

­

19 673

10,6 Gesetz angenommen

2009 Biometrische Pässe

953 173

947 493

­

­

5 680

3,0

Gesetz angenommen

8 3/2

28 796

1,3

Volksinitiative angenommen; Ständemehr klar positiv

2012 Volksinitiative 1 152 598 1 123 802 12 3/2 gegen Zweitwohnungsbau

Definiert man eine Differenz zwischen Ja und Nein von weniger als einem Prozent bei den Volksstimmen als sehr knappes Abstimmungsergebnis, so ergab die Bundesabstimmungsgeschichte seit 1848 neun Fälle (in vorstehender Tabelle mit Negativdruck der Jahresangabe). In diesen neun Fällen war fünfmal zusätzlich das Ständemehr vonnöten. In vier dieser fünf Fälle fiel dieses Ständemehr klar bis sehr deutlich ablehnend aus (nämlich 1866, 1926, 1972 und 1992) und klärte damit die Situation. Als Kandidaten für eine bundesweite Nachzählung verbleiben ein einziger Urnengang mit Ständemehr (Asylinitiative 2002) und vier fakultative Referendumsvorlagen (1920, 1931, 1982 und 2009). Die Referendumsvorlage von 2009 hat nach höchstrichterlicher Einschätzung ein «knappes, aber nicht sehr knappes» Ergebnis erzielt, sodass sich für das Bundesgericht in casu keine Nachzählung aufdrängte.

Knapper als dieses Abstimmungsergebnis sind nur zwei Urnengänge ausgefallen: 1931 jene über die Tabaksteuervorlage zur Finanzierung der AHV und 2002 jene über die Asylinitiative. Weder bei der einen noch bei der anderen Vorlage gab es jedoch besonders knappe Kantonsteilergebnisse. Keiner der überaus knapp ausgegangenen Urnengänge figuriert in beiden vorstehenden Tabellen.

9270