13.014 Botschaft zur Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)» vom 16. Januar 2013

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen die Botschaft und den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)» und beantragen Ihnen, diese Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

16. Januar 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2012-3027

1211

Übersicht Der Bundesrat beantragt dem Parlament, die Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)» Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen. Zwar teilt er grundsätzlich das Anliegen der Initiative, Lohnunterbietung und Armut zu bekämpfen, doch zweifelt er an der Wirksamkeit der Initiative und ist der Meinung, die Initiative habe schädliche Auswirkungen auf den Schweizer Arbeitsmarkt und die insgesamt gut funktionierende Sozialpartnerschaft in unserem Land.

Inhalt der Initiative Die Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)» wurde am 23. Januar 2012 mit 112 301 gültigen Unterschriften vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) eingereicht. Sie verlangt einerseits, dass Bund und Kantone die Löhne in der Schweiz schützen, indem sie die Festlegung von Mindestlöhnen in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) fördern. Andererseits soll der Bund einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde festlegen.

Mit diesen Forderungen wollen die Initiantinnen und Initianten dafür sorgen, dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Schweiz von ihrem Lohn leben können. Sie hoffen, damit die Armut zu reduzieren, Lohnunterbietung zu bekämpfen und zugleich den sozialen Frieden in der Schweiz zu wahren.

Mängel der Initiative Die Lohnbildung in der Schweiz basiert auf einer starken und verantwortungsvollen Sozialpartnerschaft. Während die hohen Löhne von den Unternehmen festgelegt werden, sind die Niedriglöhne weitgehend vom guten Funktionieren der Sozialpartnerschaft und der GAV abhängig. Die Allgemeinverbindlicherklärung von GAV durch die öffentliche Hand hilft den Sozialpartnern, die Löhne und die Mindestarbeitsbedingungen in den Branchen und Regionen zu sichern. Das ausgezeichnete Funktionieren der Sozialpartnerschaft ist eine der wesentlichen Stärken des Schweizer Wirtschaftsstandorts. Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes würde die Sozialpartnerschaft geschwächt, da der Spielraum in den Verhandlungen und die Verantwortung der Sozialpartner reduziert würden.

Mit dem Inkrafttreten der flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr (FlaM) am 1. Juni 2004 wurde die effiziente Bekämpfung der missbräuchlichen Unterschreitung der Lohnbedingungen ermöglicht. Die Sozialpartner und die GAV nehmen im Bereich der FlaM eine zentrale
Rolle ein. Falls kein GAV besteht und wiederholt Missbräuche festgestellt werden, können die tripartiten Kommissionen Mindestlöhne in Normalarbeitsverträgen erlassen. Die Einführung eines nationalen Mindestlohnes könnte negative Auswirkungen auf die FlaM haben, deren Ziel der Schutz der üblichen Löhne ist. Mittelfristig könnten sich die üblichen Löhne dem Niveau des Mindestlohnes annähern.

1212

Die vorhandenen Daten weisen darauf hin, dass die Verteilung der Löhne und der verfügbaren Einkommen in den letzten Jahren relativ ausgewogen geblieben ist.

Der Schweizer Arbeitsmarkt schneidet im internationalen Vergleich sehr gut ab und zeichnet sich durch eine hohe Erwerbsquote, eine tiefe Arbeitslosigkeit und hohe Löhne mit steigender Tendenz aus. Damit verfügt die Schweiz im internationalen Vergleich seit jeher über eine der effizientesten Lohn- und Arbeitsmarktpolitiken.

Dank ihren Arbeitsmarktinstitutionen ist es der Schweizer Wirtschaft gelungen, schwierige Zeiten rasch zu überwinden und sehr schnell zurück zur Vollbeschäftigung zu gelangen. Ein nationaler gesetzlicher Mindestlohn im Sinne der Initiative könnte das gute Funktionieren des Arbeitsmarktes gefährden und Arbeitsplätze bedrohen. Dadurch würde die Integration einiger heute benachteiligter Personenkategorien erschwert. Gewisse Regionen und Branchen wären besonders stark betroffen.

Die Armut in der Schweiz hat vielfältige Ursachen und lässt sich nur teilweise durch niedrige Löhne erklären. So ist der Anteil der von Armut betroffenen Personen bei den Nicht-Erwerbstätigen viel höher als bei den Erwerbstätigen. Andere lohnunabhängige Faktoren wie die Familiensituation oder das Bildungsniveau tragen massgeblich zur Armut bei. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Bekämpfung von Armut eine vielschichtige Aufgabe ist, die in zahlreichen Politikfeldern und auf allen drei staatlichen Ebenen ­ Bund, Kantone und Gemeinden ­ erfüllt werden muss.

Der Bund legt das Schwergewicht seines Engagements bei der Bekämpfung der Armut auf die Verbesserung der Massnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt verbunden mit Präventions-, Kompensations- und Umverteilungsmassnahmen. Eine solche Politik ist wirkungsvoller als die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns, welche mit unerwünschten Folgewirkungen wie der Gefährdung von Arbeitsplätzen und der erschwerten Arbeitsmarktintegration von Niedrigqualifizierten verbunden wäre.

Antrag des Bundesrates Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die angestrebten Ziele mit den von der Initiative vorgeschlagenen Massnahmen nicht erreicht werden können. Aus diesen Gründen beantragt der Bundesrat den eidgenössischen Räten mit dieser Botschaft, die Initiative Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen.

1213

Inhaltsverzeichnis Übersicht

1212

Abkürzungsverzeichnis

1216

1 Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative 1.1 Wortlaut der Initiative 1.2 Zustandekommen und Behandlungsfristen 1.3 Gültigkeit

1217 1217 1218 1218

2 Ausgangslage 2.1 Anlass für die Entstehung der Initiative 2.2 Geltendes Recht 2.3 Politische Ausgangslage 2.4 Wirtschaftliche Ausgangslage in der Schweiz 2.5 Einkommensungleichheit und Mindestlöhne im internationalen Vergleich

1218 1218 1219 1221 1221

3 Inhalt und Ziele der Initiative 3.1 Inhalt der Initiative 3.2 Ziele der Initiative 3.3 Erläuterung und Auslegung des Initiativtextes

1224 1224 1224 1225

4 Heutige Grundsätze und Werte des schweizerischen Wirtschaftsund Sozialsystems 4.1 Rolle des Staates bei der Lohnbildung 4.1.1 Einleitung 4.1.2 Das System der Gesamtarbeitverträge (GAV) 4.1.3 Die Entwicklung der flankierenden Massnahmen 4.1.4 Bekämpfung der Schwarzarbeit 4.2 Umverteilungspolitik und Armutsbekämpfung 4.3 Positive Auswirkungen des aktuellen Systems auf den Arbeitsmarkt 4.3.1 Ausgewogene Lohnverteilung und hohes Lohnniveau 4.3.2 Hohe Arbeitsmarktbeteiligung und geringe Arbeitslosigkeit

1226 1227 1227 1228 1230 1233 1233 1234 1234 1235

5 Würdigung der Initiative 5.1 Würdigung der Anliegen der Initiative 5.2 Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme 5.2.1 Auswirkungen auf die Sozialpartnerschaft 5.2.2 Auswirkungen auf die Arbeitsmarktintegration 5.2.3 Auswirkungen auf die flankierenden Massnahmen und die üblichen Löhne 5.2.4 Auswirkungen auf die Anreize zur Aus- und Weiterbildung 5.2.5 Auswirkungen auf die Armut 5.2.6 Auswirkungen auf den Staat als Arbeitgeber 5.2.7 Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen 5.2.8 Umsetzung der Initiative

1214

1222

1236 1236 1236 1236 1237 1239 1239 1240 1242 1242 1243

5.3 Vereinbarkeit mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz

1244

6 Schlussfolgerungen

1245

Anhang: Grafik und Tabellen

1247

Literaturverzeichnis

1252

Bundesbeschluss über die Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)» (Entwurf)

1255

1215

Abkürzungsverzeichnis AHV AUG AVE GAV AVEG BFS BIP BV EFTA EntsG EU FZA GAV NAV OECD OR ParlG SECO SGB WTO

1216

Die Alters- und Hinterlassenenversicherung Ausländergesetz vom 16. Dezember 2005 (SR 142.20) Allgemeinverbindlich erklärter Gesamtarbeitsvertrag Bundesgesetz vom 28. September 1956 über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (SR 221.215.311) Bundesamt für Statistik Bruttoinlandprodukt Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101) Europäische Freihandelsassoziation Entsendegesetz vom 8. Oktober 1999 (SR 823.20) Europäische Union Personenfreizügigkeitsabkommen vom 21. Juni 1999 (SR 0.142.112.681) Gesamtarbeitsvertrag Normalarbeitsvertrag Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development) Obligationenrecht (SR 220) Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 2002 (SR 171.10) Staatssekretariat für Wirtschaft Schweizerischer Gewerkschaftsbund Welthandelsorganisation

Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Initiative «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)» hat folgenden Wortlaut: I Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert: Art. 110a (neu)

Schutz der Löhne

Bund und Kantone treffen Massnahmen zum Schutz der Löhne auf dem Arbeitsmarkt.

1

Sie fördern zu diesem Zweck insbesondere die Festlegung von orts-, berufs- und branchenüblichen Mindestlöhnen in Gesamtarbeitsverträgen und deren Einhaltung.

2

Der Bund legt einen gesetzlichen Mindestlohn fest. Dieser gilt für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als zwingende Lohnuntergrenze. Der Bund kann für besondere Arbeitsverhältnisse Ausnahmeregelungen erlassen.

3

Der gesetzliche Mindestlohn wird regelmässig an die Lohn- und Preisentwicklung angepasst, mindestens aber im Ausmass des Rentenindexes der Alters- und Hinterlassenenversicherung.

4

Die Ausnahmeregelungen und die Anpassungen des gesetzlichen Mindestlohnes an die Lohn- und Preisentwicklung werden unter Mitwirkung der Sozialpartner erlassen.

5

Die Kantone können zwingende Zuschläge auf den gesetzlichen Mindestlohn festlegen.

6

II Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt geändert: Art. 197 Ziff. 81 (neu) 8. Übergangsbestimmung zu Art. 110a (Schutz der Löhne) Der gesetzliche Mindestlohn beträgt 22 Franken pro Stunde. Bei der Inkraftsetzung von Artikel 110a wird die seit dem Jahr 2011 aufgelaufene Lohn- und Preisentwicklung nach Artikel 110a Absatz 4 hinzugerechnet.

1

Die Kantone bezeichnen die Behörde, die für den Vollzug des gesetzlichen Mindestlohnes verantwortlich ist.

2

1

Die endgültige Ziffer dieser Übergangsbestimmung wird nach der Volksabstimmung von der Bundeskanzlei festgelegt.

1217

Der Bundesrat setzt Artikel 110a spätestens drei Jahre nach dessen Annahme durch Volk und Stände in Kraft.

3

Falls innert dieser Frist kein Ausführungsgesetz in Kraft gesetzt wird, erlässt der Bundesrat unter Mitwirkung der Sozialpartner die nötigen Ausführungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg.

4

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative wurde am 11. Januar 20112 von der Bundeskanzlei vorgeprüft und am 23. Januar 2012 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.

Mit Verfügung vom 6. März 2012 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 112 301 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist3.

Die Initiative hat die Form eines ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag.

Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a ParlG hat der Bundesrat spätestens bis zum 23. Januar 2013 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 21. Juli 2014 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen.

1.3

Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absätze 3 und 5 BV: ­

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.

­

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.

­

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

2

Ausgangslage

2.1

Anlass für die Entstehung der Initiative

Die Initiantinnen und Initianten sind der Ansicht, dass heute in der Schweiz eine gewisse Anzahl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht genug verdienen, um anständig davon leben zu können. Diese Initiative soll folglich dafür sorgen, dass jemand, der Vollzeit arbeitet, Anrecht auf einen ordentlichen Lohn hat. Die Initiative zielt darauf ab, den wachsenden Druck am unteren Ende der Lohnskala zu stoppen.

2 3

BBl 2011 907 BBl 2012 3069

1218

Schliesslich sind die Initiantinnen und Initianten der Meinung, dass ein gesetzlicher Mindestlohn auch zur Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen beiträgt.

2.2

Geltendes Recht

Einzelarbeitsvertrag Die Initiative bezieht sich auf den Lohn gemäss Arbeitsvertrag im Sinne der Artikel 319 ff. OR. Nach Artikel 322 Absatz 1 OR hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den Lohn zu entrichten, der verabredet oder üblich oder durch NAV oder GAV bestimmt ist. Das Gesetz legt weder einen Mindestlohn noch eine Lohnobergrenze fest.

Die Freiheit der Parteien eines Arbeitsvertrags unterliegt einigen wenigen rechtlichen Einschränkungen. Diese ergeben sich aus dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung oder eines allfälligen offenbaren Missverhältnisses zwischen der Leistung und der Gegenleistung.

So kann der vereinbarte Lohn korrigiert werden, wenn er den Grundsatz der Gleichstellung von Männern und Frauen missachtet (Art. 8 Abs. 3 BV; Art. 3 Abs. 2 des Gleichstellungsgesetzes vom 24. März 19954). Darüber hinaus dürfen Angehörige der EU und der EFTA, die in der Schweiz arbeiten, gemäss Artikel 2 FZA nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Artikel 9 Absatz 1 von Anhang 1 FZA legt fest, dass ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist, im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf die Entlöhnung, aufgrund seiner Staatsangehörigkeit nicht anders behandelt werden darf als die inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist auch im Rahmen von GAV oder anderen Einzel- oder Kollektivvereinbarungen zu wahren, insbesondere hinsichtlich der Entlöhnung. Alle diskriminierenden Bestimmungen gegenüber Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmern, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA sind, sind von Rechts wegen nichtig (vgl. Art. 9 Abs. 4 von Anhang 1 FZA).

Auch wenn es in der Schweiz keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, darf der Lohn nicht in einem offenbaren Missverhältnis zur Gegenleistung stehen und nicht aus der Ausbeutung einer Schwächesituation der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers hervorgehen (Art. 21 OR und Art. 157 Strafgesetzbuch5).

Gesamtarbeitsvertrag (GAV) Der GAV ist ein zwischen Arbeitgebern oder deren Verbänden und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder deren Verbänden abgeschlossener Vertrag. Er wird durch die Artikel 356­358 OR geregelt. Sein Inhalt umfasst in der Regel Bestimmungen zu Abschluss und
Beendigung der einzelnen Arbeitsverhältnisse, zu den Rechten und Pflichten der Unterzeichnenden sowie zu Kontrolle und Durchsetzung des GAV. Der Lohn wird gemäss Artikel 319 ff. OR festgelegt. Der Arbeitgeber hat einen Lohn zu bezahlen, der dem im GAV vereinbarten Lohn entspricht. Der Lohn ist oft eines der zentralen Elemente eines GAV. Daher regelt ein GAV nicht nur den 4 5

SR 151.1 SR 311.0; vgl. z.B. BGE 130 IV 106

1219

Mindestlohn, sondern auch dessen Entwicklung, in Abhängigkeit von Kriterien wie dem Dienstalter, der Funktion oder der Ausbildung.

Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG) Auf Antrag der unterzeichnenden Parteien können die Bundes- oder Kantonsbehörden den Geltungsbereich eines GAV ausdehnen. Die Beschlüsse über die Allgemeinverbindlicherklärung regeln, in welchen Bereichen, auf welche Branchen und auf welche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Bestimmungen eines GAV ausgedehnt werden. Artikel 1a AVEG bietet die Möglichkeit der erleichterten Allgemeinverbindlicherklärung gewisser Bestimmungen eines GAV. Stellt eine tripartite Kommission nach Artikel 360b OR wiederholt missbräuchliche Lohnunterbietungen fest, so kann sie mit Zustimmung der betroffenen Vertragsparteien die erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung des entsprechenden GAV beantragen, falls ein solcher existiert. Es können allerdings nur die Bestimmungen über die minimale Entlöhnung und die ihr entsprechende Arbeitszeit sowie die paritätischen Kontrollen erleichtert allgemeinverbindlich erklärt werden6.

Normalarbeitsvertrag (NAV) Falls in einer Branche kein GAV existiert und wiederholt missbräuchliche Lohnunterbietungen festgestellt werden, kann auf Antrag der tripartiten Kommission nach Artikel 360a OR ein NAV mit zwingenden Mindestlöhnen erlassen werden. Die Nichteinhaltung dieser Löhne unterliegt neu einer Verwaltungssanktion, die eine Belastung durch einen Betrag bis zu 5000 Franken vorsieht (vgl. Bundesgesetz vom 15. Juni 20127 über die Anpassung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit).

Entsendendegesetz (EntsG) Das EntsG beruht auf dem FZA. Mit dem EntsG wurde die Richtlinie 96/71/EG8 umgesetzt, welche die Schweiz mit dem FZA übernommen hat. Das EntsG regelt die minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in die Schweiz entsendet werden (Art. 1), indem es eine Reihe von in der Schweiz geltenden Normen für diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für anwendbar erklärt.

Die einzuhaltenden Normen betreffen die folgenden Bereiche (Art. 2): minimale Entlöhnung, Arbeits- und Ruhezeit, Mindestdauer der Ferien, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Schutz von Schwangeren, Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen
sowie die Gleichbehandlung von Frau und Mann. Bei Verstössen sind Sanktionen vorgesehen, bis hin zu einem Verbot für einen Arbeitgeber, seine Dienste in der Schweiz anbieten zu dürfen (Art. 9).

6 7 8

Ab dem 1. Januar 2013 können auch Bestimmungen über Vollzugskostenbeiträge und Sanktionen erleichtert allgemeinverbindlich erklärt werden.

BBl 2012 5945.

Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dez. 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen; Abl. L 18 vom 21.1.1997, S. 1.

1220

Ausländergesetz (AuG) Artikel 22 AuG legt den Grundsatz der Kontrolle der Lohnbedingungen als eine der Voraussetzungen für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz fest9. Die orts-, berufs- und branchenüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen werden überprüft. Der übliche Lohn wird im Rahmen der Aufenthaltsgenehmigung geprüft, und der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer steht gemäss Artikel 342 Absatz 2 OR10 ein zivilrechtlicher Anspruch auf Erfüllung zu.

2.3

Politische Ausgangslage

Auf Bundesebene wurde die Mindestlohnfrage während der beiden letzten Legislaturperioden in zwei parlamentarischen Initiativen thematisiert: 05.425 «Einführung eines garantierten Mindestlohnes für Arbeitnehmer und eines zulässigen Höchsteinkommens» und 08.411 «Verankerung des Rechtes auf einen Mindestlohn in der Bundesverfassung». Die erste Initiative forderte unter anderem die Einführung eines Mindestlohnes von 3500 Franken pro Monat, die zweite die Festlegung eines kantonalen Mindestlohnes. Der Nationalrat hat beide parlamentarischen Initiativen abgelehnt.

Die Festlegung eines Mindestlohnes auf kantonaler Ebene ist nach Auffassung des Bundesrates bis zu einem gewissen Grad bundesrechtskonform11. Der Kanton Jura hat in seiner Verfassung das Recht auf einen Lohn verankert, der jeder Arbeitnehmerin und jedem Arbeitnehmer einen menschenwürdigen Lebensunterhalt sichert. Der Kanton Neuenburg hat seinerseits einen Mindestlohn eingeführt12. Allerdings sind in beiden Fällen die Verfassungsartikel noch nicht in einem Ausführungsgesetz konkretisiert worden. Die Kantone Waadt und Genf haben den Grundsatz eines verfassungsmässigen Mindestlohnes in einer Volksabstimmung abgelehnt. Auf Gesetzesstufe wurden in den Kantonen Wallis («Pour un salaire minimum en Valais») und Jura («Un Jura aux salaires décents») Volksinitiativen eingereicht, die die Einführung eines kantonalen Mindestlohnes zum Ziel haben. Sie sind zurzeit noch hängig.

Eine ähnliche Initiative wurde 2007 im Kanton Tessin eingereicht; sie wurde vom Grossen Rat jedoch als ungültig erklärt.

2.4

Wirtschaftliche Ausgangslage in der Schweiz

Im Durchschnitt der letzten zehn Jahre (2001­2011) wuchs das BIP der Schweiz um 1,8 Prozent pro Jahr und die Zahl der Erwerbstätigen nahm jährlich um 1,2 Prozent zu. Innerhalb von zehn Jahren fanden rund 530 000 Personen zusätzlich eine Erwerbstätigkeit. Das Wachstum des BIP pro Kopf lag in den letzten zehn Jahren international im Mittelfeld. Während Deutschland und Österreich etwas stärker 9 10 11

12

Betrifft nur Angehörige aus Staaten, mit denen die Schweiz kein Personenfreizügigkeitsabkommen abgeschlossen hat.

Die Rechtsprechung nach altem Recht bleibt gültig: BGE 129 III 618 E. 5, 122 III 110, E. 4d.

Botschaft über die Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Glarus, Appenzell Innerrhoden, Aargau, Thurgau, Waadt, Neuenburg und Genf vom 10. Oktober 2012 (BBl 2012 8513) Das Parlament wird sich voraussichtlich in der Frühjahressession 2013 zur Erteilung der eidgenössischen Gewährleistung für diese Bestimmung des Kantons Neuenburg äussern.

1221

zulegten als die Schweiz, lag das reale Wirtschaftswachstum pro Kopf in Frankreich und Italien, aber auch zum Beispiel in den USA darunter.

Im internationalen Vergleich hat die Schweiz eine der tiefsten Erwerbslosenquoten und gleichzeitig eine ausgesprochen hohe Erwerbsbeteiligung (vgl. Ziff. 4.3.2). Die Schweiz konnte diese gute Position insbesondere auch über die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hinweg halten.

In den Jahren 2000­2010 wuchs der Medianlohn13 im Durchschnitt in der Schweiz um nominal 1,4 Prozent pro Jahr. Die Konsumteuerung lag bei 0,9 Prozent womit ein durchschnittliches Reallohnwachstum von jährlich 0,5 Prozent resultierte. Während Löhne im oberen Bereich der Lohnverteilung und bei hochqualifizierten Fachkräften überdurchschnittlich zulegten, wuchsen Löhne im unteren Bereich wie zum Beispiel bei Hilfsarbeitskräften im Gleichschritt mit den mittleren Löhnen. Diese Lohnentwicklung darf auch im internationalen Vergleich als ausgewogen bezeichnet werden.

Die Schweiz hat im internationalen Vergleich ein hohes Lohnniveau. Dies ist dank der Spezialisierung unserer Unternehmen auf die Produktion von Waren und Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung möglich. 2010 lag das mittlere Lohneinkommen von Vollzeitarbeitnehmenden in der Schweiz mit 77 999 Franken14 europaweit an der Spitze. Auch kaufkraftbereinigt positioniert sich die Schweiz in Europa in den vorderen Rängen.

Der Schweizer Arbeitsmarkt schneidet somit im internationalen Vergleich sehr gut ab und zeichnet sich durch eine hohe Erwerbsquote, eine tiefe Arbeitslosigkeit und ein hohes Lohnniveau aus. Gleichzeitig ist die Lohnstruktur in den letzten Jahrzehnten relativ stabil geblieben.

2.5

Einkommensungleichheit und Mindestlöhne im internationalen Vergleich

Die Einkommensungleichheit der Bevölkerung im Erwerbsalter ist international sehr unterschiedlich ausgeprägt, wie eine aktuelle Untersuchung für OECD-Staaten (OECD 2011a) zeigt (vgl. Grafik 1 im Anhang). Während angelsächsische Länder sowie einige Schwellenländer wie Chile, Mexiko, die Türkei oder Israel relativ ungleiche Einkommensverteilungen aufweisen, sind die Einkommen in skandinavischen sowie verschiedenen osteuropäischen Ländern gleichmässiger auf die Bevölkerung im Erwerbsalter verteilt. Die Schweiz gehört nach Berücksichtigung der Umverteilung durch Steuern und Transfers in der OECD zu den Ländern mit leicht unterdurchschnittlicher Einkommensungleichheit. Gemessen an den Primäreinkommen, d.h. vor Berücksichtigung der staatlichen Umverteilung, weist sie hinter der Republik Korea sogar die geringste Einkommensungleichheit aller OECD-Staaten auf.

13

14

Der Medianlohn bezeichnet denjenigen Lohn, der von 50 % der Erwerbstätigen übertroffen und von 50 % der Erwerbstätigen untertroffen wird. Die Relation vom Mindestlohn zum Medianlohn eignet sich besonders gut für internationale Vergleiche.

Der internationale Lohnvergleich ist auf der Website des BFS ersichtlich (www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/03/04/blank/key/ lohnstruktur/interloehne.html).

Gemäss Eurostat betrug 2010 der Wechselkurs im Jahresdurchschnitt 1.3803 CHF/EUR (http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pcode= tec00033&plugin=1).

1222

Die Rolle von gesetzlichen Mindestlöhnen ist in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Grafik 1 zeigt für jene OECD-Staaten, die einen gesetzlichen Mindestlohn kennen, wie hoch dieser relativ zum Medianlohn des Landes liegt. Für die Schweiz wurde die entsprechende Relation zur Illustration ausgehend von den Lohndaten 2010 und einem hypothetischen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde ermittelt.

Wie in der Grafik 1 zu sehen ist, läge ein Mindestlohn, wie ihn die Initiative verlangt, im europäischen Vergleich mit umgerechnet EUR 17.80 in der OECD deutlich an der Spitze15. Der Wert läge um 74 Prozent über jenem von Luxemburg, welches in Europa den höchsten Mindestlohn kennt. Er wäre rund doppelt so hoch wie in Frankreich oder Irland und sogar mehr als doppelt so hoch wie in den Niederlanden, die wie die Schweiz eine kleine und offene Volkswirtschaft sind. Relativ zum Medianlohn würde ein Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde 64 Prozent des Medianlohnes entsprechen. Auch in relativer Hinsicht wäre der Mindestlohn damit sehr hoch angesetzt. In Frankreich, das in Europa den höchsten relativen Mindestlohn kennt, liegt dieser bei 60 Prozent des Medianlohnes. In den Niederlanden liegt das Verhältnis bei 47 Prozent und in Luxemburg bei 42 Prozent Die drei Nachbarländer Deutschland, Italien und Österreich sowie die Länder Skandinaviens kennen wie die Schweiz keinen generellen gesetzlichen Mindestlohn. Mindestlöhne sind jedoch in all diesen Ländern nach Branchen differenziert in zahlreichen Gesamtarbeitsverträgen enthalten.

Grafik 1

100%

18.0

90%

16.0

80%

14.0

70%

12.0

60%

10.0

50%

8.0

40%

6.0

30%

4.0

20%

2.0

10%

0.0

0%

Anteil am Medianlohn

20.0

CZE USA JPN EST KOR LUX ESP POL CAN SVN GBR NLD IRL HUN BEL GRC AUS PRT SVK NZL FR Schweiz* TRK

Euro

Gesetzlicher Mindest-Stundenlohn in Euro sowie im Verhältnis zum Medianlohn, OECD-Staaten 2011

Mindestlohn pro Stunde (linke Skala)

Mindestlohn/Medianlohn (rechte Skala)

* hypothetischer Mindestlohn gemäss Initiative (Lohnstrukturerhebung 2010) Quelle: OECD 2012, BFS 2011, SECO (eigene Auswertungen)

15

Die Umrechnung erfolgte anhand des Wechselkurses von 1.237 CHF/EUR im Jahresdurchschnitt.

1223

Gemäss einer Untersuchung der OECD weisen Länder mit höherem relativen gesetzlichen Mindestlohn tendenziell eine geringere Lohnungleichheit auf als Länder mit einem tiefen Mindestlohn. Eine Übertragung dieses Befunds auf Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn ist jedoch nicht möglich. So gehören auch auffällig viele Länder ohne gesetzliche Mindestlohnbestimmung zu den Ländern mit relativ ausgewogener Lohnverteilung. Zu diesen gehört auch die Schweiz.

Die Wirkung von Mindestlöhnen auf die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit wurde international schon vielfach untersucht. Weil der von den Initiantinnen und Initianten geforderte Mindestlohn sowohl absolut als auch in relativer Hinsicht deutlich höher liegt als in den hauptsächlich untersuchten Ländern, lassen sich diese Ergebnisse allerdings nicht zur Abschätzung der Wirkungen nutzen. Zudem hängt die Wirkung von gesetzlichen Mindestlöhnen auch von der Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik ab.

Einheitlich zeigt die internationale Literatur, dass wenig qualifizierte Arbeitskräfte lohnseitig zwar häufiger von Mindestlöhnen profitieren, dass ihre Beschäftigungschancen aber gleichzeitig am stärksten beeinträchtigt werden (Boockmann 2010, S. 167­188). Die relative Höhe von Mindestlöhnen spielt gemäss jüngeren Studien zumeist eine untergeordnete Rolle in Bezug auf die Ab- und Zugänge auf dem Arbeitsmarkt16. Bezüglich des Netto-Effekts von Mindestlöhnen auf das verfügbare Haushaltseinkommen ist die empirische Literatur schliesslich wenig einheitlich. Die von der Initiative postulierte positive Wirkung gesetzlicher Mindestlöhne auf die Einkommenssituation von Haushalten mit Tieflohnbezügern ist somit empirisch nicht belegt.

3

Inhalt und Ziele der Initiative

3.1

Inhalt der Initiative

Die Initiative fordert die Kantone und den Bund auf, Massnahmen zum Schutz der Löhne zu treffen, indem sie Mindestlöhne in den GAV fördern. Sie legt einen zwingenden nationalen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde fest, d.h.

rund 4000 Franken monatlich bei einer Wochenarbeitszeit von 42 Stunden. Dieser Betrag wird an die Lohn- und Preisentwicklung seit dem Referenzjahr 2011 angepasst. Die Initiative erlaubt in beschränktem Ausmass gewisse Ausnahmeregelungen für bestimmte Kategorien von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern (z.B. Lehrlinge und Stagiaires). Schliesslich bietet die Initiative den Kantonen die Gelegenheit, einen höheren kantonalen Mindestlohn festzulegen.

3.2

Ziele der Initiative

Die allgemeine Zielsetzung der Initiative besteht darin, durch die Festlegung zwingender Mindestlöhne und die Förderung der Aufnahme von Mindestlöhnen in die GAV dafür zu sorgen, dass erwerbstätige Personen anständig von ihrem Lohn leben

16

OECD 2010a = Organisation for Economic Co-operation and Development, 2010, Institutional and Policy Determinants of Labour Market Flows, in: OECD, Employment Outlook 2010, Paris: OECD Publishing, S. 196­197.

1224

können. Damit soll der angeblich zunehmende Druck auf die Löhne gestoppt und die Armut generell reduziert werden.

Die Initiantinnen und Initianten stellen fest, dass eine gewisse Anzahl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gezwungen sind, sich an die Sozialhilfe zu wenden, weil manche Löhne nicht ausreichen, um anständig davon zu leben. Sie betonen zudem den Druck auf die niedrigsten Löhne, der insbesondere durch Temporärarbeit, bei der Vergabe von Aufträgen an Subunternehmer oder durch Lohnungleichheiten zwischen Männern und Frauen entsteht.

Durch Annahme der Initiative erhoffen sie sich insbesondere einen Rückgang der Zahl der armen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine Abnahme des Bedarfs an Sozialhilfe sowie eine Steigerung der Kaufkraft. Die daraus hervorgehende Stabilität soll den sozialen Frieden und die soziale Kohäsion gewährleisten.

3.3

Erläuterung und Auslegung des Initiativtextes

Das von den Initiantinnen und Initianten entworfene Umsetzungsdispositiv der Initiative besteht aus einer Reihe gezielter Massnahmen, deren Inhalt im Folgenden kurz mit der aktuellen Lage in der Schweiz verglichen wird.

Art. 110a Abs. 1 Absatz 1 überträgt dem Bund und den Kantonen die grundlegende Pflicht, die Löhne auf dem Schweizer Arbeitsmarkt zu schützen. Betroffen sind alle Löhne.

Im heute geltenden System setzen sich Bund und Kantone bereits für den Schutz der Löhne auf dem Schweizer Arbeitsmarkt ein, insbesondere im Rahmen der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit.

Art. 110a Abs. 2 Absatz 2 verleiht den GAV eine wichtige Rolle beim Schutz der Löhne. Er ermächtigt den Bund und die Kantone, die Aufnahme von üblichen Mindestlöhnen in die GAV zu fördern. Unter den von den Initiantinnen und Initianten genannten Beispielen ist auf die Pflicht zu verweisen, einen GAV abzuschliessen, um den Zuschlag bei öffentlichen Ausschreibungen, eine Konzession oder eine Subvention zu erhalten, oder auch die Pflicht, einen GAV einzuhalten, um das Recht zur Auslagerung oder Privatisierung einer Betriebsstätte oder eines Unternehmens zu erhalten.

Zum heutigen Zeitpunkt verfügen der Bund und die meisten Kantone über keine Mittel, um in einem GAV-Verhandlungsprozess tätig zu werden.

Art. 110a Abs. 3 Absatz 3 legt den Grundsatz eines zwingenden gesetzlichen Mindestlohnes für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für alle Branchen, Berufe und Regionen des Landes fest. Er erlaubt dem Bund auch, gewisse Ausnahmeregelungen für besondere Fälle wie Lehre, Berufspraktika, Massnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, Arbeit in Familienbetrieben oder Freiwilligenarbeit zu erlassen.

1225

Wie weiter oben erwähnt gibt es kein allgemeines System gesetzlich festgelegter Mindestlöhne in unserem Land. Jedoch besteht die Möglichkeit, unter gewissen Bedingungen Mindestlöhne in NAV festzulegen.17 Art. 110a Abs. 4 Absatz 4 legt den Mechanismus für die Indexierung des Mindestlohnes fest. Dieser hat, nach dem gleichen Prinzip wie bei der Anpassung der AHV-Renten, nicht nur der Entwicklung der Preise, sondern auch jener der Löhne zu folgen. Allerdings darf der Satz für die Anpassung der Mindestlöhne nicht niedriger sein als jener für die AHV-Renten.

Die Lohnindexierung in der Schweiz ist heute vorwiegend Sache der Sozialpartner.

Art. 110a Abs. 5 Absatz 5 verankert die Bedeutung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern und den tripartiten Kommissionen beim Erlass von Ausnahmen und bei der Indexierung des Mindestlohnes.

Die Bedeutung, die dem Sozialdialog durch diesen Absatz verliehen wird, verändert unsere Tradition der Lohnverhandlungen, indem die Zuständigkeit der Sozialpartner auf die Bereiche der Ausnahmen und der Indexierung beschränkt wird.

Art. 110a Abs. 6 Absatz 6 gewährt den Kantonen einen Handlungsspielraum zur Festlegung eines kantonalen Mindestlohns, der mit den regionalen Bedürfnissen im Einklang steht.

Allerdings darf dieser nicht unter dem nationalen gesetzlichen Mindestlohn liegen.

Heute zählt die Festlegung von Mindestlöhnen in der Schweiz nur in den Kantonen Jura und Neuenburg zu den verfassungsmässigen Kompetenzen.

Art. 197 Ziff. 8 BV Artikel 197 legt den Betrag des nationalen gesetzlichen Mindestlohnes für 2011 auf 22 Franken pro Stunde fest; ab 2011 muss er indexiert werden. Der Artikel enthält zudem Übergangsbestimmungen für die Umsetzung.

4

Heutige Grundsätze und Werte des schweizerischen Wirtschafts- und Sozialsystems

Mit Annahme der Initiative würden in der Bundesverfassung Bestimmungen eingeführt, die zum Bruch mit der sehr langen Tradition der Lohnbildung durch die Sozialpartner führen würden. Zudem würde dies eine staatliche Intervention in den Bereichen der Wirtschafts-, Vertrags- und Koalitionsfreiheit mit sich bringen. Daher werden in diesem Kapitel die heutigen Grundsätze und Werte unseres Wirtschaftsund Sozialsystems betrachtet.

17

Zum Beispiel wurde 2011 ein NAV mit Mindestlohnbestimmungen im Bereich der Hauswirtschaft erlassen (SR 221.215.329.4).

1226

4.1

Rolle des Staates bei der Lohnbildung

4.1.1

Einleitung

Die Wirtschaftsfreiheit erfüllt eine individualrechtliche, eine wirtschaftspolitische oder ordnungspolitische sowie eine bundesstaatliche Funktion. In ihrer wirtschaftspolitischen Funktion drückt sie die Wahl des Verfassungsgebers für ein bestimmtes Wirtschaftssystem aus, dasjenige der freien Marktwirtschaft. Daraus folgt, dass die Wirtschaftsfreiheit, wie sie in der Schweiz definiert ist, eine besondere Bedeutung hat (Aubert/Mahon 2003, S. 235). Auch wenn die Arbeitsgesetzgebung zwingende Regeln aufstellt, bleibt den Sozialpartnern ein grosser Spielraum für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Dazu nutzen sie das Instrument der GAV, in denen ausgehandelte Regelungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen, die über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehen, verbindlich festgehalten werden. Unter bestimmten Voraussetzungen können auf Antrag der Sozialpartner Bestimmungen der GAV durch den Staat allgemeinverbindlich erklärt werden und gelten somit für den gesamten Wirtschaftszweig.

Die GAV haben in der Schweiz eine sozialpartnerschaftliche Tradition, die bereits seit über 100 Jahren besteht. Sie stärken die Sozialpartnerschaft und haben in der Schweiz den Sozialfrieden gefördert. Dieser Sozialfrieden stellt einen wichtigen Pfeiler für den Wirtschaftsstandort Schweiz dar. GAV bilden ein Kernelement der Schweizer Arbeitsmarktpolitik, welche im internationalen Vergleich ausgesprochen liberal und flexibel ist. GAV ermöglichen eine relativ zurückhaltende gesetzliche Regulierung von Arbeitsverhältnissen und tragen dazu bei, dass der schweizerische Arbeitsmarkt im internationalen Vergleich ausgesprochen flexibel ist.

Das System in der Schweiz, wonach die Mindestlohnfestsetzung den Sozialpartnern überlassen wird, wirkt sich ausgleichend auf die Lohnverteilung aus. Die Sozialpartner können die Mindestbedingungen den Besonderheiten der Branchen anpassen.

Damit können sie auch deutlich über die Standards hinausgehen, die beispielsweise ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn bieten könnte.

Die paritätischen Kommissionen, die von den Sozialpartnern mit der Durchsetzung des GAV betraut sind, kontrollieren neben den Gerichten die Einhaltung der Bestimmungen des GAV bei Schweizer Betrieben. Die private Kontroll- und Aufsichtstätigkeit durch die paritätischen Kommissionen gilt auch für GAV, die vom Bundesrat
oder einer kantonalen Behörde allgemeinverbindlich erklärt worden sind.

Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU wurde die Rolle der Sozialpartner bei der Festlegung und Überwachung der Arbeitsund Lohnbedingungen von ausländischen Arbeitnehmenden aus der EU/EFTA noch gestärkt. Mit den FlaM haben namentlich die AVE GAV eine grössere Bedeutung erlangt. Den paritätischen Kommissionen von AVE GAV wurde zusätzlich die Aufgabe übertragen, ausländische Betriebe, die Arbeitnehmende in die Schweiz entsenden, hinsichtlich der Einhaltung der in AVE GAV geregelten minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen zu kontrollieren und gegebenenfalls zu sanktionieren.

Als Mitglieder der mit den FlaM geschaffenen tripartiten Kommissionen haben die Sozialpartner zudem die Möglichkeit erhalten, in der Arbeitsmarktbeobachtung sowie beim Erlass von zwingenden Mindestlöhnen infolge der Feststellung wieder-

1227

holter missbräuchlicher Unterbietungen der orts- und branchenüblichen Löhne mitzuwirken.

Mit den FlaM wurden folglich umfassende arbeitsmarktliche Kontrollinstrumente geschaffen. Die Arbeitsmarktbeobachtung im Sinne der FlaM sieht somit die Überprüfung der Lohn- und Arbeitsbedingungen bei Schweizer Unternehmen wie auch bei Entsendebetrieben in allen Wirtschaftszweigen vor, unabhängig davon, ob ein GAV oder ein AVE GAV für eine Branche existiert oder nicht. Dank diesen ist man erstmals in der Geschichte des Schweizer Arbeitsmarktes überhaupt in der Lage, sich einen umfassenden Überblick über die inländische Lohnsituation zu verschaffen.

Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung und des zunehmenden Wettbewerbs ist die Schweizer Volkswirtschaft seit mehr als 20 Jahren einem ständigen Strukturwandel ausgesetzt. Dazu beigetragen haben Faktoren wie der technologische Wandel, der zunehmende Bedarf an Dienstleistungen, die Intensivierung des Aussenhandels, der Kostendruck in Hochlohnländern sowie die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes gegenüber den EU/EFTA-Staaten. Die Folgen des Strukturwandels sind vorwiegend positiv, da er in den letzten Jahren ein überdurchschnittlich starkes Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum ermöglicht hat. Allerdings offenbart der Strukturwandel auch eine zunehmende Konkurrenz auf dem Schweizer Arbeitsmarkt.

Die Entwicklung der Lohnverteilung zwischen 2002 und 2010 legt jedoch nahe, dass in den Jahren seit Inkrafttreten des FZA kein besonders starker Druck auf tiefe Löhne ausgeübt wurde (SECO 2012, S. 64). Die FlaM und die GAV dürften wesentlich dazu beigetragen haben. Dank diesen Instrumenten wird weitgehend verhindert, dass Löhne auf dem Schweizer Arbeitsmarkt aufgrund der Personenfreizügigkeit unter Druck geraten.

Diese Ausführungen zeigen, dass der Wirtschaftsfreiheit in der Schweiz eine grosse Bedeutung zukommt. Die Arbeitsgesetzgebung ist zurückhaltend, bietet jedoch den Arbeitnehmenden einen umfassenden und genügenden Schutz. Sie bildet die Grundlage für den ausgesprochen flexiblen Schweizer Arbeitsmarkt und gibt den Sozialpartnern einen grossen Spielraum für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Mit dem Instrument der AVE und mit den FlaM unterstützt und stärkt der Staat die Sozialpartnerschaft. Die gut funktionierende Sozialpartnerschaft ist ein wichtiger Vorteil für den Wirtschaftsstandort Schweiz.

4.1.2

Das System der Gesamtarbeitverträge (GAV)

Der Abschluss von Gesamtarbeitsverträgen Der wichtigste Baustein der Sozialpartnerschaft ist das gut ausgebaute System von GAV. Mit den GAV stellen die Sozialpartner Regeln auf, die direkt für die Arbeitsverhältnisse der jeweiligen Branche gelten. Zwischen den Parteien des GAV gilt das Prinzip der Vertragsfreiheit. Der Inhalt von GAV ist grundsätzlich frei, darf jedoch nur zum Vorteil der Arbeitnehmerseite von zwingendem Recht abweichen. Die GAV bedürfen weder von der Form noch vom Inhalt her einer staatlichen Genehmigung, sie sind direkt gültig und anwendbar.

1228

Abdeckungsgrad der GAV und unterstellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Vor allem in wenig qualifizierte Branchen und Berufen werden Lohn- und Arbeitsbedingungen gesamtarbeitsvertraglich geregelt. Die Wirtschaftsbranchen mit den meisten GAV-Unterstellten im Jahr 2012 (vgl. Tabelle 1 im Anhang) sind das Gastgewerbe und der Personalverleih. Dem AVE GAV Gastgewerbe sind 220 000 Arbeitnehmende unterstellt und der im Jahr 2012 in Kraft gesetzte AVE GAV Personalverleih mit 270 000 unterstellten Arbeitnehmenden ist ebenfalls von besonders grosser Bedeutung für die Festlegung der Arbeitsbedingungen. Weitere Branchen, in denen GAV eine quantitativ wichtige Rolle spielen, sind der Detailhandel und das Baugewerbe (AVE GAV Bauhauptgewerbe).

Der GAV-Abdeckungsgrad18 bezeichnet den Anteil der einem GAV mit normativen Bestimmungen19 unterstellten Arbeitnehmenden am Total der theoretisch unterstellbaren Beschäftigten (ohne Kader, selbstständig Erwerbstätige, mitarbeitende Betriebseigner und Familienmitglieder sowie öffentliche Angestellte). Die Zahl der einem GAV mit normativen Bestimmungen unterstellten Arbeitnehmenden nahm zwischen 2001 und 2012 von 1 218 400 auf 1 628 900 stark zu (vgl. Tabelle 2 im Anhang). Der GAV-Abdeckungsgrad stieg von 38 Prozent im Jahr 2001 auf 49 Prozent im Jahr 2012 an. Zwischen 2007 und 2012 nahm auch die Zahl der unterstellten Arbeitnehmenden von GAV mit verbindlichen Mindestlöhnen von 1 079 400 auf 1 289 600 Personen zu.

Entwicklung der Allgemeinverbindlicherklärung von GAV Im Zeitraum 2001­2012 ist ein deutlicher Anstieg der einem AVE GAV unterstellten Arbeitnehmenden zu verzeichnen. Die Anzahl der unterstellten Arbeitnehmenden von AVE GAV mit normativen Bestimmungen hat zwischen 2001 und 2012 von 386 600 auf 793 500 um 105 Prozent zugenommen (vgl. Tabelle 3 im Anhang).

Der AVE-GAV-Abdeckungsgrad stieg im gleichen Zeitraum von 12 Prozent auf 24 Prozent20 an. Insgesamt hat die Einführung der Personenfreizügigkeit diese Zunahme begünstigt, indem der AVE von GAV im Rahmen der FlaM eine wichtige Rolle zugeteilt wurde.

18

19

20

Der AVE GAV-Abdeckungsgrad entspricht der Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden (GAV mit normativen Bestimmungen) geteilt durch die gesamte unterstellbare Beschäftigung.

Die gesamte unterstellbare Beschäftigung entspricht dem Total der Beschäftigten (BESTA 2. Quartal) minus Beschäftigte öffentliche Verwaltung minus 50 % Beschäftigte Erziehung und Unterricht minus mitarbeitende Betriebseigner, Kader und mitarbeitende Familienmitglieder* * Mitarbeitende Betriebsinhaber und Familienmitglieder sind ebenso wie Kader und Aushilfenangestellten in aller Regel vom Geltungsbereich eines GAV ausgeschlossen.

Der geschätzte Anteil der dadurch nicht unterstellbaren Erwerbstätigen von 4,9 % ist eine Extrapolation der Resultate des im Jahr 2005 grössten GAV der Schweiz, jenem des Gastgewerbes (Beschäftigung Gastgewerbe 2005: 216 000; GAV-Unterstellte Gastgewerbe: 206 000; Anteil nicht unterstellte Beschäftigte im Gastgewerbe: 4,9 %).

Bestimmungen über Abschluss, Inhalt und Beendigung des Einzelarbeitsvertrags wie Dauer der Probezeit, Mindestlöhne, Arbeitsdauer, Ferien, Zulagen, Kündigungsfristen usw.

Der grosse Sprung des AVE-GAV-Abdeckungsgrads auf 24 % im Jahr 2012 ist auf den AVE GAV Personalverleih zurückzuführen, welcher 2012 neu in Kraft gesetzt wurde.

1229

Die Abdeckung mit AVE GAV stieg auch an, weil sich Gewerkschaften in verschiedenen Branchen des Dienstleistungsbereichs (z.B. im Reinigungsgewerbe und in der Sicherheitsdienstleistungsbranche) etablieren und mit den Arbeitgebervertretern erfolgreich GAV abschliessen konnten.

Internationaler Vergleich der GAV-Abdeckung Der GAV-Abdeckungsgrad gibt einen Eindruck davon, wie der Lohnfestsetzungsmechanismus in einem Land funktioniert. Allerdings sind internationale Vergleiche mit einiger Vorsicht zu interpretieren, da sich aus dem GAV-Abdeckungsgrad keine Rückschlüsse auf den Inhalt und die Qualität von kollektiven Lohnabschlüssen ziehen lassen. Zwischen 1990 und 2009 verzeichneten die meisten OECD-Staaten einen relativen Rückgang des GAV-Abdeckungsgrads (vgl. Tabelle 4 im Anhang).

Im OECD-Durchschnitt betrug die Abnahme mehr als 8 Prozentpunkte. In der Schweiz hingegen blieb der GAV-Abdeckungsgrad gemäss OECD21 über die letzten Jahrzehnte hinweg relativ konstant. Mit einem GAV-Abdeckungsgrad von knapp 50 Prozent positioniert sich die Schweiz im OECD-Vergleich im Mittelfeld. In den skandinavischen, südeuropäischen und Benelux-Staaten liegt der GAV-Abdeckungsgrad höher. Dagegen weisen die angelsächsischen Länder, allen voran die USA, Neuseeland, Kanada und Grossbritannien sowie einige osteuropäische Länder weitaus niedrigere GAV-Abdeckungsgrade auf. Mit Ausnahme von Deutschland und der Schweiz verfügen alle OECD-Staaten, welche einen unterdurchschnittlichen GAVAbdeckungsgrad aufweisen, über einen gesetzlichen Mindestlohn. Allerdings liegt dieser in den betreffenden Ländern sowohl absolut als auch in relativer Hinsicht erheblich tiefer als der von den Initianten für die Schweiz geforderte Mindestlohn.

Die Mittelfeldposition der Schweiz im OECD-Vergleich ist Ausdruck davon, dass die Lohnpolitik in unserem Land der Verantwortung der Sozialpartner übertragen ist. In diesem Zusammenhang gilt es zu berücksichtigen, dass in den hochqualifzierten Dienstleistungsbranchen, die ein wichtiger Bestandteil der Schweizer Wirtschaft sind, GAV kaum vorzufinden sind. Der Staat bietet geeignete Rahmenbedingungen zum Abschluss von GAV und ermöglicht in begründeten Fällen eine Allgemeinverbindlicherklärung. Die staatliche Zurückhaltung in der Lohnpolitik hat sich bewährt und manifestiert sich im internationalen Vergleich
durch ausgezeichnete Arbeitsmarktergebnisse. Mit der schrittweisen Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes gegenüber den EU/EFTA Staaten hat die Allgemeinverbindlicherklärungvon GAV als Element der flankierenden Massnahmen an Bedeutung gewonnen.

4.1.3

Die Entwicklung der flankierenden Massnahmen

Mit der schrittweisen Einführung des freien Personenverkehrs zwischen der Schweiz und der EU/EFTA sind am 1. Juni 2004 flankierende Massnahmen eingeführt worden. Diese sollen verhindern, dass die üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Schweiz wegen der Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes unter Druck geraten.

Seit ihrer Einführung wurden die FlaM mehrfach verstärkt und ihr Vollzug optimiert. Die FlaM umfassen im Wesentlichen die folgenden Regelungen: 21

Der standardisierte GAV-Abdeckungsgrad gemäss OECD basiert auf Auswertungen der ICTWSS-database (www.uva-aias.net/208) und entspricht aufgrund unterschiedlicher Datengrundlagen nicht der Höhe des GAV-Abdeckungsgrads in der Schweiz (vgl. Tabellen 1 und 3 im Anhang).

1230

­

Das EntsG verpflichtet ausländische Arbeitgeber, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Rahmen einer grenzüberschreitenden Dienstleistung in die Schweiz entsenden, zur Einhaltung minimaler Arbeits- und Lohnbedingungen, die in Bundesgesetzen, in AVE GAV und in NAV vorgeschrieben sind.

­

Bei wiederholter missbräuchlicher Lohnunterbietung können Bestimmungen eines GAV, die Mindestlöhne, Arbeitszeiten und den paritätischen Vollzug betreffen, erleichtert allgemeinverbindlich erklärt werden. Diese Massnahme gilt sowohl für inländische Betriebe als auch für ausländische Betriebe, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden (Entsendebetriebe).

­

In Branchen, in denen es keinen GAV gibt, können bei wiederholter missbräuchlicher Lohnunterbietung NAV mit zwingenden Mindestlöhnen erlassen werden. Diese Massnahme gilt für alle Betriebe der jeweiligen Branche.

Für das System der FlaM sind AVE GAV von zentraler Bedeutung, weil diese u.a.

verbindliche Mindestlöhne enthalten, die auch von Entsendebetrieben eingehalten werden müssen. Mit der Personenfreizügigkeit hat somit die Bedeutung von AVE GAV weiter zugenommen.

Kontrolltätigkeit im Rahmen der FlaM Die Anzahl Kontrollen im Rahmen der FlaM und die Überprüfung der Mindestlohnbestimmungen aus GAV haben seit der Einführung der FlaM jährlich zugenommen.

Die paritätischen Kommissionen, die für die Kontrollen der Lohnbedingungen in Branchen mit AVE GAV zuständig sind, haben beispielsweise im Jahr 2011 die Lohn- und Arbeitsbedingungen bei über 7500 Entsendebetrieben und bei über 11 000 Schweizer Betrieben überprüft. Wird eine wiederholte und missbräuchliche Unterbietung des üblichen Lohnes festgestellt, so sehen die FlaM geeignete Massnahmen vor. Bei Verstössen werden Sanktionen verhängt. Trotz eines nicht unerheblichen Anteils aufgedeckter Verstösse ist davon auszugehen, dass die in AVE GAV verankerten Mindestlöhne und die vermehrten Kontrollen einem Lohndruck auf tiefe Löhne entgegenwirkten. Dies zeigt sich unter anderem in den vielen erfolgreichen Einigungsverfahren, bei denen sich die Betriebe zu einer Lohnnachzahlung bereit erklärten. Die tiefen Rückfallquoten und die Bereitschaft der sanktionierten Betriebe, auferlegte Bussen zu begleichen, dürften auch dazu beigetragen haben.

Erlass von Mindestlöhnen in NAV und erleichtert allgemeinverbindlich erklärten GAV Auch die durch die FlaM zur Verfügung gestellten Instrumente zum befristeten Erlass von zwingenden Mindestlöhnen werden genutzt. Auf den 1. Januar 2012 wurde erstmals ein GAV auf Bundesebene erleichtert allgemeinverbindlich erklärt.

Per 1. Mai 2012 wurde auf kantonaler Ebene (Kanton Genf) erstmals ein GAV erleichtert allgemeinverbindlich erklärt. Zudem existieren bereits mehrere NAV mit zwingenden Mindestlöhnen. Auf kantonaler Ebene sind in den Kantonen Genf (Kosmetikbereich, Hauswirtschaft), Tessin (Reifenwechsler, Callcenter) und Wallis (Bauhauptgewerbe, industrielle Wartung und Reinigung) zurzeit sechs NAV mit zwingenden Mindestlöhnen in Kraft (Stand: Oktober 2012). Auf Bundesebene existiert zurzeit 1 NAV mit zwingenden Mindestlöhnen (NAV Hauswirtschaft).

1231

Jüngste Entwicklung bei den flankierenden Massnahmen Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich die FlaM bewährt haben. Sie gewährleisten namentlich einen wirksamen Schutz der in- und ausländischen Arbeitnehmenden vor Lohnunterbietungen und Verstössen gegen die Arbeitsbedingungen. Sie sorgen ausserdem für gleiche Wettbewerbsbedingungen für in- und ausländische Betriebe. Es hatte sich aber herausgestellt, dass in der gegenwärtigen Gesetzgebung zu den FlaM Lücken bestehen. Um diese Lücken zu schliessen, hatte der Bundesrat dem Parlament am 2. März 2012 die Botschaft22 zum Bundesgesetz über die Anpassung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit überwiesen. Das Parlament hat das Gesetz am 15. Juni 2012 verabschiedet23 und der Bundesrat hat es grösstenteils am 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt. Mit dem Bundesgesetz über die Anpassung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit werden das AVEG und das EntsG geändert. Die neu beschlossenen Massnahmen umfassen im Wesentlichen: ­

Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit ausländischer Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer durch die Einführung einer Dokumentationspflicht sowie der Schaffung neuer Sanktionsbestimmungen;

­

Schaffung einer Sanktionsmöglichkeit für Arbeitgeber, die Arbeitnehmende in der Schweiz beschäftigen und gegen zwingende Mindestlöhne in NAV verstossen;

­

Einführung einer Sanktionsmöglichkeit für Betriebe, die eine rechtskräftige Dienstleistungssperre missachten;

­

Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Weiterleitung der rechtskräftigen kantonalen Sanktionen an die zuständigen paritätischen Kommissionen;

­

Einführung einer Sanktionsmöglichkeit bei Verstössen im Sinn von Artikel 1a AVEG, indem neu Bestimmungen in einem GAV über Sanktionen und die Auferlegung von Kontrollkosten erleichtert allgemeinverbindlich erklärt werden können.

­

Pflicht des ausländischen Arbeitgebers zur Meldung des Lohns der von ihm in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Zudem hat das Parlament am 14. Dezember 2012 einer Verstärkung der Solidarhaftung des Erstunternehmers für die Nichteinhaltung der minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen durch seine Subunternehmer zugestimmt. Mit dieser Massnahme soll die Durchsetzung der minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen in Subunternehmerketten im Baugewerbe verbessert werden. Die Haftung ist auf in- und ausländische Subunternehmer anwendbar.

22 23

BBl 2012 3397 BBl 2012 5945

1232

4.1.4

Bekämpfung der Schwarzarbeit

Am 1. Januar 2008 traten das Bundesgesetz vom 17. Juni 200524 gegen die Schwarzarbeit, die Verordnung vom 6. September 200625 gegen die Schwarzarbeit sowie Gesetzes- und Verordnungsänderungen in weiteren relevanten Rechtsgebieten in Kraft. Damit wurden Massnahmen zur Bekämpfung der negativen Folgen von Schwarzarbeit geschaffen. Die Gesetzeseinführung wurde von einer in der Bevölkerung erfolgreich wahrgenommenen Sensibilisierungskampagne begleitet. Mit den im Rahmen des Bundesgesetzes gegen die Schwarzarbeit geschaffenen Massnahmen, insbesondere den Kontrollen durch die Kontrollorgane, wurden Instrumente eingeführt, welche die finanzielle Ausbeutung von gefährdeten Personengruppen eindämmen. Zu diesen gefährdeten Gruppen gehören auch Personen, welche in bestimmten Tieflohnbranchen arbeiten.

Am 19. Dezember 2012 hat der Bundesrat beschlossen, zusätzliche Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit zu ergreifen. Bis Ende 2014 soll eine Gesetzes- oder Verordnungsrevision geprüft werden, wobei insbesondere Massnahmen zur besseren Nachweisbarkeit von Verstössen im Zentrum stehen. Zudem soll der Vollzug vereinheitlicht werden.

4.2

Umverteilungspolitik und Armutsbekämpfung

Die Lohnverhandlungen zwischen den Sozialpartnern sind ein wichtiges Element des sozialen Ausgleichs. Da sich die Löhne jedoch an der Arbeitsproduktivität messen, sind sie nicht das geeignete Mittel, um in allen Fällen das sozialpolitisch erwünschte Einkommensniveau zu erreichen. Hier kommen die Mechanismen des Wohlfahrtsstaates ins Spiel, insbesondere die Sozialtransfers und die Massnahmen der Fiskalpolitik.

Soweit es die Art der Steuer zulässt, sind bei der Besteuerung die Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichmässigkeit der Besteuerung sowie der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu beachten (Art. 127 Abs. 2 BV). Horizontale Steuergerechtigkeit bedeutet gleiche Steuerlasten bei gleicher Leistungsfähigkeit. Bei der vertikalen Steuergerechtigkeit geht es um die Frage, inwieweit Steuerpflichtige unterschiedlicher Leistungsfähigkeit unterschiedlich besteuert werden sollen. Der Steuertarif und die Bemessungsgrundlage bestimmen, wie die Steuerlast auf die einzelnen steuerpflichtigen Personen verteilt wird. Die direkte Bundessteuer weist einen ausgeprägt progressiven Steuertarif auf. So verfügten zum Beispiel in der Steuerperiode 2008 die Steuerpflichtigen des obersten Dezils (10 % der Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen) über 36,1 Prozent des steuerbaren Einkommens und bezahlten 77,7 Prozent der direkten Bundessteuer.

Auch in den Kantonen und Gemeinden werden die Einkommen meistens mit einem direkt progressiven Tarif besteuert. Aufgrund des interkantonalen Steuerwettbewerbs ist die Progression jedoch weniger ausgeprägt als bei der direkten Bundessteuer. In den Kantonen und Gemeinden kommt jedoch die Vermögenssteuer hinzu, welche ebenfalls progressiv ausgestaltet ist.

24 25

SR 822.41 SR 822.411

1233

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass auch im Rahmen gewisser Sozialversicherungen eine Umverteilung der Einkommen erfolgt.

Ausserdem können einkommensschwache Haushalte mit erwerbstätigen Personen verschiedene Sozialtransfers beanspruchen. Dazu gehören die Prämienverbilligungen für die Krankenversicherung, die Sozialhilfe sowie verschiedene Vergünstigungen wie beispielsweise im Rahmen der familienergänzenden Kinderbetreuung. Es handelt sich dabei in der Regel um gezielte, bedarfsorientierte Massnahmen.

Durch das Steuersystem und die Sozialtransfers können die Ungleichheiten beim verfügbaren Einkommen spürbar reduziert werden (OECD 2011a, S. 36).

Ferner verfolgt der Bund eine Strategie zur Prävention und Bekämpfung von Armut.26 In deren Rahmen analysiert er die Armutsrisiken in den verschiedenen Lebensphasen. Zusammen mit den Kantonen und den anderen betroffenen Akteuren strebt der Bund Massnahmen an, um die Chancengleichheit in der Ausbildung zu verbessern, die Eingliederung und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu erleichtern und die Familienarmut zu bekämpfen. Armutsgefährdung ist primär durch präventive Massnahmen langfristig und nachhaltig zu minimieren. Bildung und Weiterbildungsmöglichkeiten sind der Schlüssel zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und zur Integration in den Arbeitsmarkt. Ein wichtiger Ansatz liegt deshalb in der Förderung der Bildungschancen. Armutsgefährdete und von Armut betroffene Personen sollen ausserdem dazu befähigt werden, finanziell eigenständig zu werden und zu bleiben. Schliesslich sollen Massnahmen getroffen werden, um die bedarfsabhängigen Leistungen zu optimieren, beispielsweise durch verbesserte Beratung und Begleitung der Betroffenen. Als gezielte Antwort auf das Problem einkommensschwacher Haushalte empfiehlt die Strategie den Kantonen, unter anderem Ergänzungsleistungen für Familien einzuführen.

4.3

Positive Auswirkungen des aktuellen Systems auf den Arbeitsmarkt

4.3.1

Ausgewogene Lohnverteilung und hohes Lohnniveau

Gemäss OECD gehört die Schweiz sowohl beim Primäreinkommen als auch beim verfügbaren Einkommen (d.h. nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und staatlichen Transfers) zu den Ländern mit einer unterdurchschnittlichen Ungleichheit der Haushaltseinkommen. Die Ungleichverteilung der Einkommen27 wies seit Anfang der 1980er-Jahre auch keine steigende Tendenz auf (OECD 2011b, S. 35ff.)28.

Bestätigt wird dieser Befund für den Zeitraum 1998­2009 anhand standardisierter Daten des BFS zu den Haushaltseinkommen. Die Verteilung der verfügbaren Ein-

26

27 28

Gesamtschweizerische Strategie zur Armutsbekämpfung, Bericht des Bundesrates vom 31. März 2010 in Erfüllung der Motion (06.3001) der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) vom 13. Januar 2006.

Zur Darstellung der Ungleichverteilung von Einkommen wird der Gini-Koeffizient verwendet.

Für langfristige Vergleiche müssen unterschiedliche Datenquellen herangezogen werden.

1234

kommen, d.h. nach Abzug sozialer Transfers, war 2009 sogar leicht ausgeglichener als im Jahr 1998 (BFS 2012c, S. 27).29 Auch die Lohnverteilung war in der Schweiz in den letzten rund 20 Jahren relativ stabil. Zwar stiegen die Löhne von hoch qualifizierten Arbeitskräften seit Anfang der 1990er-Jahre leicht überdurchschnittlich an. Diese Entwicklung war aber in allen Industriestaaten zu beobachten.

Die umfangreichen Daten der schweizerischen Lohnstrukturerhebung zeigen, dass zwischen 1994 und 2010 die Löhne am unteren Ende der Lohnverteilung in ihrer Entwicklung mit den mittleren Lohnniveaus mithielten. Die untersten Löhne, d.h.

die Löhne der Lohnemfpänger der unteren 10 Prozent (des sog. 1. Dezils30), wuchsen während dieser Zeit mit durchschnittlich 1,4 Prozent pro Jahr leicht stärker als der Medianlohn, der um 1,3 Prozent pro Jahr anstieg. Dieses Ergebnis ist vor allem in sozialpolitischer Hinsicht sehr bedeutsam und positiv. In Zusammenhang mit der schrittweisen Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes gegenüber den EU/EFTAStaaten dürften die flankierenden Massnahmen wesentlich dazu beigetragen haben (vgl. Ziff. 4.1).

4.3.2

Hohe Arbeitsmarktbeteiligung und geringe Arbeitslosigkeit

Die Erwerbsbeteiligung in der Schweiz ist im internationalen Vergleich ausserordentlich hoch. 2010 lag die Erwerbsquote für die Bevölkerung im Alter von 15­64 Jahren bei 82,2 Prozent gegenüber 70,7 Prozent im Durchschnitt aller OECDLänder. Das Lohnniveau ist dabei ein ausschlaggebender Faktor zur Erklärung der Erwerbsbeteiligung. Aufgrund des aktuellen Lohnniveaus in der Schweiz ist ein grosser Teil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter motiviert, am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Weitere Faktoren wie das Bildungssystem und die Tatsache, dass die Schweiz keine systematische Politik der Frühpensionierung eingeführt hat, tragen ebenfalls zur Erklärung der hohen Erwerbsbeteiligung bei.

Auch hinsichtlich der Arbeitslosigkeit ist die Leistung des Schweizer Arbeitsmarktes mit einer im internationalen Vergleich seit mehreren Jahrzehnten traditionell niedrigen Quote bemerkenswert. Die harmonisierte Arbeitslosenquote der OECD betrug 2010 in der Schweiz 4,4 Prozent gegenüber 7,2 Prozent in Deutschland, 9,3 Prozent in Frankreich und 9,8 Prozent in den USA (OECD 2011a).

29

30

Die Gini-Koeffizenten der Primäreinkommen zeigen im betrachteten Zeitraum insgesamt weder für Personen in Erwerbshaushalten noch für die Gesamtbevölkerung eine grosse Variation der Ungleichheit und nur tendenziell eine leichte Abnahme von 1998 bis 2001, in den Jahren 2003 bis 2007 eine leichte Zunahme der Ungleichheit und in den jüngeren Beobachtungsjahren wiederum eine leichte Abnahme auf das Niveau von 1998.

Durch Dezile wird die Lohnverteilung in zehn gleich grosse Gruppen unterteilt. Das 1. Dezil entspricht dem Lohn, unterhalb dessen sich 10 % der Lohnempfänger befinden.

1235

5

Würdigung der Initiative

5.1

Würdigung der Anliegen der Initiative

Der Bundesrat teilt das Ziel der Autorinnen und Autoren der Initiative, die Armut zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass jede Person von den Früchten ihrer Arbeit in Würde leben kann. Er ist jedoch der Ansicht, dass das von der Initiative vorgeschlagene Instrument zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist. Die Initiative stellt damit die Lohnfestsetzungsmechanismen (vgl. Ziff. 4.1) in Frage, die sich in der Schweiz seit Jahrzehnten bewährt haben. Ein nationaler gesetzlicher Mindestlohn könnte das gute Funktionieren des Arbeitsmarktes gefährden und Arbeitsplätze bedrohen.

5.2

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

5.2.1

Auswirkungen auf die Sozialpartnerschaft

Die Festlegung von Mindestlöhnen in den GAV unterscheidet sich stark von einem im Sinne der Initiative für alle Branchen und Regionen geltenden gesetzlichen Mindestlohn. Dank ihrer Kenntnisse der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und der sektoren-, branchen- und regionenspezifischen Bedürfnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verfügen die Sozialpartner über alle erforderlichen Elemente zur Bestimmung von angemessenen Arbeitsbedingungen und Löhnen je Branche und Region. Das vorhandene Instrumentarium erlaubt den Sozialpartnern, in Problembranchen Lohn- und Arbeitsbedingungen festzulegen und diese vom Staat allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Der Staat berücksichtigt bei der Allgemeinverbindlicherklärung den Grundsatz, dass eine Minderheit der Mehrheit nicht Regeln aufzwingen kann.

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes würde die Vertrags- und Wirtschaftsfreiheit einschränken und dem Staat neue Verantwortlichkeiten übertragen.

Ein solches Instrument würde den Spielraum der Sozialpartner massgeblich vermindern und könnte dazu führen, dass diese ihre Verantwortung nicht mehr wahrnehmen. Die Sozialpartner könnten sich an den Staat wenden, statt ihre Konflikte innerhalb der Branche oder des Unternehmens selbst zu regeln. Ihre Bereitschaft zur Mitwirkung an Lohnverhandlungen könnte dadurch abnehmen. Eine mögliche Folge davon wäre eine zunehmende Angleichung der Löhne an das Niveau des Mindestlohnes. Damit würden die Sozialpartnerschaft und der Sozialfrieden, der den Wirtschaftsstandort Schweiz auszeichnet, gefährdet.

Ausserdem liegen die meisten Mindestlöhne in den AVE GAV über dem von der Initiative verlangten Lohn. Allerdings sehen einige GAV für gewisse Qualifikationsniveaus oder Tätigkeiten tiefere Mindestlöhne vor. Die Sozialpartner sind also der Ansicht, dass es nötig ist, beispielsweise für wenig qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder für solche mit wenig Erfahrung einen Mindestlohn unter der von der Initiative verlangten Grenze festlegen zu können.

Auch der Handlungsspielraum der Sozialpartner bei der regionalen und branchenbezogenen Lohngestaltung würde abnehmen.

1236

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten würde die Einführung eines nationalen Mindestlohnes die heutige Flexibilität der Lohnverhandlungen beeinträchtigen31. Heute können die Sozialpartner in solchen Situationen schnell in Kontakt treten, um pragmatische Lösungen für die konkreten Probleme zu finden. Würden die Löhne gesetzlich festgelegt werden, könnten flexible Lösungen schwieriger erreicht werden32.

Dank der funktionierenden Sozialpartnerschaft ist es der Schweizer Wirtschaft gelungen, schwierige Zeiten rasch zu überwinden und sehr schnell zurück zur Vollbeschäftigung zu gelangen.

5.2.2

Auswirkungen auf die Arbeitsmarktintegration

Es ist schwierig, eine zuverlässige Vorhersage der Auswirkungen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes auf die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit zu machen. Allerdings scheint das Erreichen der Wirkung, die mit der Einführung eines Mindestlohnes angestrebt wird, eng mit der Höhe des Mindestlohns verbunden zu sein. Falls er zu niedrig ist, bleibt der Mindestlohn wirkungslos. Ist er hingegen zu hoch, so drohen schädliche Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit, welche die erwünschten Vorteile zunichte machen können.

Der durch die Initiative vorgegebene Stundenlohn von 22 Franken entspricht 64 Prozent des Medianlohnes der Schweiz. Im internationalen Vergleich handelt es sich sowohl in absoluten Werten als auch im Verhältnis zum Medianlohn um den höchsten Mindestlohn (vgl. Ziff. 2.5). Aufgrund dieser Tatsache sind alle Schätzungen der Auswirkungen der Initiative auf die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit, die sich auf die Erfahrungen anderer Länder stützen, mit Vorsicht zu geniessen.

Eine Annahme der Initiative hätte direkte Auswirkungen auf diejenigen Arbeitsplätze, deren Stundenlohn heute tiefer als 22 Franken ist. Im Schweizer Durchschnitt 2010 würde dies für 9,5 Prozent der Arbeitsplätze, d.h. für rund 390 000 Arbeitsplätze, gelten. Der durchschnittliche Stundenlohn dieser Arbeitsplätze beträgt Fr. 18.90, was ca. 86 Prozent des durch die Initiative vorgegebenen Mindestlohns entspricht. Das Hotelgewerbe, der Detailhandel, das Reinigungsgewerbe, die Hauswirtschaft und die Landwirtschaft wären von einem Mindestlohn in der Höhe von 22 Franken stark betroffen, da es sich um Wirtschaftsbranchen handelt, bei denen der Anteil der Arbeitsplätze mit einem Stundenlohn von weniger als 22 Franken am höchsten ist. Die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns würde insbesondere in diesen Wirtschaftsbranchen zahlreiche Arbeitsplätze gefährden.

31

32

Aus theoretischer Sicht begünstigt ein Mindestlohn vorübergehende Entlassungen in Krisensituationen, wenn durch ihn die Lohnflexibilität nach unten eingeschränkt wird.

Das Risiko ist bei einem relativ hohen Mindestlohn grösser, weil tendenziell ein höherer Anteil der Beschäftigten zum Mindestlohn arbeitet. Die empirische Literatur zum Einfluss von Mindestlöhnen auf die Arbeitsmarktdynamik ist gemischt. Gemäss jüngeren Studien scheint die relative Höhe von Mindestlöhnen eher eine untergeordnete Rolle in Bezug auf die Arbeitsmarktdynamik zu spielen. Andere Faktoren wie bspw. Kündigungsschutzbestimmungen oder die Leistungen der Arbeitslosenversicherung spielen eine deutlich grössere Rolle (vgl. OECD 2010a).

Die heutige Regelung erlaubt es zum Beispiel Schweizer Exportunternehmen, befristete Lösungen zu finden, um Exportrückgänge aufgrund des starken Frankens zu überwinden.

Um die Folgen des Exportrückgangs abzufedern, können Unternehmen beispielsweise als befristete Massnahme die Wochenarbeitszeit anheben, ohne die Löhne zu erhöhen. Mit einem nationalen gesetzlichen Mindestlohn wäre dies nicht möglich.

1237

Auch in geografischer Hinsicht würde sich ein nationaler gesetzlicher Mindestlohn in unterschiedlichem Ausmass auf dem Arbeitsmarkt niederschlagen. So dürfte sich ein nationaler gesetzlicher Mindestlohn insbesondere auf gewisse Randregionen mit einem generell niedrigen Lohnniveau stärker auswirken und dort in grösserem Ausmass Arbeitsplätze bedrohen. Beispielsweise lag im Kanton Tessin der Lohn bei rund einem Fünftel der Arbeitsplätze unter 22 Franken pro Stunde.

Obwohl die Arbeitsplätze mit einem Lohn von weniger als 22 Franken pro Stunde häufig von Frauen, wenig qualifizierten Personen und jungen Erwerbstätigen besetzt werden, sind es auch diese Kategorien von Personen, welche am meisten Schwierigkeiten bei der Arbeitsmarktintegration bekunden. Diese Personenkategorien weisen gegenüber dem Schweizer Durchschnitt eine überdurchschnittliche Arbeitslosenquote und/oder eine unterdurchschnittliche Erwerbsquote auf. Ihre Benachteiligung könnte mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes im Sinne der Initiative noch zunehmen. Eine Zusammenfassung der OECD von Mindestlohnstudien weist darauf hin, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns insbesondere schädliche Auswirkungen auf die Integration der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt hat (OECD 2010, S. 102­104).

In Zusammenhang mit den Frauen auf dem Arbeitsmarkt ist zu beachten, dass Tieflöhne und die Frage der Lohngleichheit zwischen Frau und Mann eng miteinander verbunden sind. Gemäss BFS lag 2010 die Quote der Frauen, welche im Tieflohnbereich (Lohn weniger als zwei Drittel des Medianlohns) erwerbstätig waren, mit 19,1 Prozent knapp drei mal höher als die Quote der Männer (6,9 %). Allerdings sind Frauen aufgrund familiärer Verpflichtungen häufiger in flexiblen und damit oft auch unsicheren und schlechter bezahlten Beschäftigungsverhältnissen tätig. Mit Blick auf die ablehnende Haltung des Bundesrates gegenüber der vorliegenden Initiative gilt es daher, die bisherige Politik der Lohngleichheit (namentlich Lohngleichheitsdialog und Lohnkontrollen im Beschaffungswesen) verstärkt fortzuführen und umzusetzen, gemäss dem Bundesbeschluss über die Legislaturperiode 2011­ 2015 vom 15. Juni 2012 (8. Abschnitt: Die Schweiz sorgt für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit
sowie beim Rentenalter).

Ausserdem dürften kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die einen Grossteil der Schweizer Volkswirtschaft ausmachen, direkter von der Initiative betroffen sein als die Grossunternehmen. Daher würden die von der Initiative verfolgten Ziele der sozialen Integration und der Lohngleichheit verfehlt. Obwohl die Initiative Ausnahmen vorsieht, zum Beispiel für Lernende oder für Praktikantinnen und Praktikanten, hätte eine Annahme der Initiative auch negative Auswirkungen im Bereich der Arbeitsmarktintegration. Ein zwingender nationaler Mindestlohn könnte nämlich den Eintritt ins Erwerbsleben für Arbeitslose, junge Erwerbstätige oder Personen mit gewissen Behinderungen erschweren. Die Risiken im Zusammenhang mit einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt, verbunden mit der Gefahr drohender Arbeitsplatzverluste, könnten die Armut noch verstärken und die Sozialversicherungen stärker belasten.

Ein nationaler gesetzlicher Mindestlohn würde das gute Funktionieren des Arbeitsmarktes gefährden und Arbeitsplätze bedrohen. Dadurch würde die Integration einiger heute bereits benachteiligter Personenkategorien (Jugendliche ohne Berufserfahrung, Niedrigqualifizierte) erschwert. Gewisse Regionen (Tessin) und Branchen (Hotelgewerbe, Detailhandel, Reinigungsgewerbe, Hauswirtschaft und Landwirtschaft) wären besonders stark betroffen.

1238

5.2.3

Auswirkungen auf die flankierenden Massnahmen und die üblichen Löhne

Im Rahmen der FlaM beobachten die tripartiten Kommissionen ­ in denen der Staat sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter Einsitz haben ­ in den Kantonen und auf Bundesebene den Arbeitsmarkt umfassend. Sie decken dabei allfällige Missbräuche auf und beobachten allgemein die Auswirkungen der Arbeitsmarktöffnung auf die Wirtschaft oder die Regionen, namentlich die Grenzregionen. Decken die tripartiten Kommissionen missbräuchliche Unterschreitungen der orts- und branchenüblichen Löhne auf, können sie die Einführung von Mindestlöhnen in den betroffenen Branchen oder Berufen beantragen.

Das bestehende System der Arbeitsmarktbeobachtung erlaubt es somit, im Falle von wiederholtem Missbrauch Mindestlöhne gezielt und je nach betroffener Branche oder betroffenem Beruf in unterschiedlicher Höhe einzuführen. Diese gezielte Einführung von Mindestlöhnen im Missbrauchsfall erlaubt es, den Gegebenheiten in den einzelnen Branchen und Berufen angemessen Rechnung zu tragen.

Die Initiative verlangt die klare Festlegung eines zwingenden gesetzlichen Mindestlohnes. Falls der gesetzliche Mindestlohn von 22 Franken tiefer liegt als der ortsund branchenübliche Lohn, würden die Unternehmen, welche einen tieferen Lohn als den orts- und branchenüblichen Lohn ausrichten, im Rahmen der Verständigungsverfahren von den tripartiten Kommissionen kaum mehr dazu bewegt werden können, die orts- und branchenüblichen Löhne einzuhalten. Damit würde die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes das Ziel der flankierenden Massnahmen gefährden, die orts- und branchenüblichen Löhne zu schützen.

5.2.4

Auswirkungen auf die Anreize zur Aus- und Weiterbildung

Die relative Stabilität der Lohnstruktur und die niedrige Arbeitslosigkeit deuten darauf hin, dass das schweizerische Bildungssystem in der Lage ist, sich der technischen Entwicklung der Wirtschaft anzupassen. Investitionen in die Aus- und Weiterbildung und in das Humankapital verringern für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Risiko, einen Lohn zu erhalten, der nicht zum Leben ausreicht.

Das Bildungsniveau hat einen massgeblichen Einfluss auf die Erwerbsbeteiligung, die Möglichkeiten zur Erzielung von Einkommen und die gesellschaftliche Teilhabe.

Eine unzureichende Ausbildung kann daher für die Betroffenen längerfristig einschneidende soziale und wirtschaftliche Konsequenzen haben und zu Armut führen.

Gemäss der schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2010 (BFS 2012b) erzielten 25 Prozent der Arbeitnehmenden ohne nach-obligatorische Ausbildung einen Stundenlohn von unter 22 Franken. Bei Personen mit abgeschlossener Berufsbildung lag dieser Anteil bei knapp 7 Prozent bzw. um den Faktor 3,7 tiefer.

Durch die Einführung eines Mindestlohnes, der unabhängig vom Qualifikationsniveau ist, könnten die Anreize zur Aus- und Weiterbildung abnehmen. Niedrigqualifizierte könnten darauf verzichten, sich aus- oder weiterzubilden und würden somit im Niedriglohnsektor verbleiben. Die Problematik der erhöhten Arbeitslosigkeit bei

1239

unqualifizierten Arbeitskräften könnte sich verschärfen. Eine solche Entwicklung liefe den Anstrengungen zur Armutsbekämpfung diametral entgegen.

5.2.5

Auswirkungen auf die Armut

Trotz eines gut ausgebauten Sozialsystems gibt es in der Schweiz von Armut betroffene Personen. Gemäss BFS lebten 2010 rund 600 000 Armutsbetroffene33 in der Schweiz. Davon waren rund 120 000 Personen erwerbstätig34. Aus methodologischen Gründen wird in der vorliegenden Botschaft anstelle des alten Working-PoorKonzepts der Begriff der von Armut betroffenen erwerbstätigen Personen verwendet.35 Rund 80 000 armutsbetroffene Personen übten eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aus.

Die Armutsquote der Gesamtbevölkerung, d. h. der Anteil der Personen, die sich unter der Armutsgrenze befinden, betrug in der Schweiz 2010 7,9 Prozent was einen Rückgang von 1,2 Prozent gegenüber 2008 (9,1 %) bedeutet (BFS 2012a).

Der Anteil der von Armut betroffenen Personen ist bei den Nicht-Erwerbstätigen viel höher als bei den Erwerbstätigen. Als besondere armutsbetroffene Risikogruppen werden identifiziert: Alleinerziehende (Armutsquote 25,9 %), alleinlebende Erwachsene (17,5 %), Personen ohne nachobligatorische Bildung (14,0 %) sowie Personen in Haushalten mit geringer Arbeitsmarktpartizipation (17,5 %).

Zwischen 2008 und 2010 hat die Armut der erwerbstätigen Bevölkerung von 5,2 % auf 3,5 Prozent deutlich abgenommen (BFS 2012a). Da die Armutsquote jeweils mit einer zeitlichen Verzögerung auf die aktuelle Arbeitsmarktentwicklung reagiert, ist dieser Rückgang wahrscheinlich auf die positive Arbeitsmarktentwicklung während der Aufschwungphase zwischen 2006 und 2008 zurückzuführen. Aufgrund einer verbesserten Erwerbssituation konnten viele Personen ihr Haushaltseinkommen über die Armutsschwelle anheben.

Die aktuellen Zahlen des BFS zeigen, dass Personen in Haushalten mit hoher Erwerbspartizipation generell die tiefsten Armutsquoten aufweisen. Dies lässt darauf schliessen, dass der beste Schutz gegen Armut die Erwerbstätigkeit ist. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass unselbstständige Erwerbstätige (2,8 %) eine tiefere Armutsquote aufweisen als selbständige Erwerbstätige (7,9 %). Angesichts der 33

34

35

Eine Person gilt als arm, wenn sie in einem Haushalt lebt, dessen verfügbares Haushaltseinkommen unter der Armutsgrenze liegt. Die verwendete Armutsgrenze wird vom BFS berechnet und leitet sich von den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ab, welche in der Schweiz als Bemessungsgrundlage für den Sozialhilfebezug breite Verwendung finden. 2010 lag sie für eine Einzelperson bei durchschnittlich rund 2250 Franken pro Monat und für zwei Erwachsene mit zwei Kindern bei rund 4000 Franken. Liegt das verfügbare Haushaltseinkommen unterhalb der Armutsgrenze, gelten alle Personen des betreffenden Haushaltes als arm.

Gemäss SGB arbeiten in der Schweiz 400 000 Menschen zu Armutslöhnen. Die Unterschiede sind auf unterschiedliche Berechnungsgrundlagen zurückzuführen, wobei der SGB nicht das verfügbare Einkommen berücksichtigt, sondern eine Lohngrenze von 3500 Franken im Monat (SGB (2011b) Da das Working-Poor-Konzept in den Analysen des BFS nicht mehr verwendet wird (BFS 2012a S. 65) sind auch keine Aktualisierungen der alten Working-Poor-Statistiken mehr möglich. Das neue Armutskonzept des BFS ermöglicht indes eine umfassendere Analyse der Armut trotz Erwerbstätigkeit und erleichtert gleichzeitig die internationale Vergleichbarkeit der Resultate.

1240

höheren Armutsbetroffenheit bei Erwerbstätigen mit geringem Bildungsniveau, ist der zentrale Schlüssel zur Arbeitsmarktintegration die Verbesserung der Qualifikationen.

Obwohl ein tiefes Lohnniveau dazu führen kann, dass das Haushaltseinkommen unterhalb der Armutsgrenze zu liegen kommt, lässt sich das Armutsproblem nicht allein durch die Einführung eines Mindestlohnes lösen. Da Armut in Abhängigkeit der Haushaltszusammensetzung definiert wird, ist nicht der individuelle Lohn, sondern das verfügbare Haushaltseinkommen der entscheidende Faktor zur Berechnung der Armutsgrenze (vgl. Fussnote in Ziff. 5.3). Dabei gilt es, die Mechanismen zwischen dem individuellen Lohn und dem verfügbaren Haushaltseinkommen zu berücksichtigen. Bezeichnend ist, dass nur eine kleine Minderheit der Personen, die für einen Tieflohn arbeiten (unter zwei Drittel des Medianlohns), von Armut betroffen sind. So waren gemäss BFS im Jahr 2006 86,8 Prozent der Tieflohnbezügerinnen und Tieflohnbezüger nicht von Armut betroffen, insbesondere dank anderen Einkommensquellen im Haushalt oder dank Sozialtransfers.

Für Haushalte armer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bereits bedarfsabhängige Leistungen oder Sozialhilfe erhalten und die trotz eines besseren Lohnes nicht genügend Einkommen zur Deckung ihres Lebensunterhalts hätten, würde die Situation nach Einführung eines Mindestlohnes insgesamt unverändert bleiben.

Der Anteil der Sozialtransfers an ihrem verfügbaren Einkommen würde allerdings infolge des höheren Lohnes reduziert. Diejenigen Institutionen, die bedarfsabhängige Leistungen auszahlen, wie in erster Linie die Sozialhilfe, würden dagegen finanziell entlastet.

Aufgrund dieser Ausführungen lässt sich feststellen, dass der Lohn eine der Variablen zur Erklärung der Armut ist. Nur mit einem tiefen Lohn lässt sich Armut jedoch nicht erklären. Die Bedeutung anderer nicht lohnrelevanter Faktoren, die sich auf das verfügbare Einkommen auswirken, ist nicht zu vernachlässigen. Die Einführung eines Mindestlohnes hätte vermutlich keine entscheidende Wirkung auf die Armutsbekämpfung. Gleichzeitig bestünde die Gefahr, dadurch den gut funktionierenden Schweizer Arbeitsmarkt aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Der Einfluss eines Mindestlohns auf die Gesamtbeschäftigung ist empirisch umstritten. Ein negativer Beschäftigungseffekt bei
Niedrigqualifizierten wäre jedoch - auch gestützt auf die internationale Literatur - bei Annahme der Initiative zu befürchten.

Eine Schmälerung der Erwerbschancen und eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit für Bevölkerungsgruppen mit geringen Qualifikationen würde auch die wirtschaftliche Situation der betroffenen Haushalte beeinträchtigen und die Armutsproblematik unter Umständen sogar verschärfen.

Die Armut hat vielfältige Ursachen und lässt sich nur teilweise durch niedrige Löhne erklären. Deshalb ist ein nationaler gesetzlicher Mindestlohn kein zweckmässiges Instrument zur Bekämpfung der Armut.

1241

5.2.6

Auswirkungen auf den Staat als Arbeitgeber

Bundesverwaltung und dem Bundespersonalgesetz (BPG) unterstellte Betriebe Laut Artikel 7 Absatz 1 der Rahmenverordnung vom 20. Dezember 200036 zum Bundespersonalgesetz (Rahmenverordnung BPG) beträgt der Lohn für 18-jährige vollzeitbeschäftigte Angestellte ohne abgeschlossene Berufslehre mindestens 38 000 Franken brutto im Jahr. Diese Bestimmung betrifft alle Arbeitgeber, deren Personal dem Bundespersonalgesetz vom 24. März 2000 (BPG)37 untersteht, insbesondere die Bundesverwaltung, gewisse dezentrale Verwaltungseinheiten wie die ETHs, die SBB und zurzeit die Post. Unter Berücksichtigung der Teuerung entspricht dieser Lohn im Jahr 2012 ungefähr 42 200 Franken. Hinzu kommt je nach Arbeitsort ein monatlicher Ortszuschlag, der zwischen 423 und 5499 Franken variiert. So liegt der Mindestbetrag, den ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin erhält, bei 42 623 Franken jährlich oder 3552 Franken monatlich. Mit dem höchsten Ortszuschlag liegt der Mindestbetrag bei 3975 Franken pro Monat.

In der Praxis sind die niedrigsten Löhne oft höher als das Minimum. In seltenen Fällen, wie zum Beispiel bei der befristeten Anstellung von Hilfspersonal, können sie jedoch unter 48 000 Franken pro Jahr liegen und damit in den Anwendungsbereich der Initiative fallen.

Kantone und Gemeinden In den Verwaltungen der Gemeinden und Kantone werden die Löhne in Anhängen zu Personalgesetzen, -verordnungen oder -reglementen festgelegt. In den meisten der geprüften Fällen zeigte sich, dass in den niedrigsten Stufen der Lohnskala Löhne unterhalb den von der Initiative vorgeschlagenen 22 Franken pro Stunde bezahlt werden können. In den meisten der untersuchten kantonalen Verwaltungen liegt der niedrigste Stundenlohn zwischen 15 und 20 Franken.

5.2.7

Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen

Die finanziellen Auswirkungen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes im Sinne der Initiative auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene sowie auf die Sozialversicherungen sind schwierig abzuschätzen, denn sie hängen weitgehend von den Auswirkungen des Mindestlohnes auf den Arbeitsmarkt sowie von der Steuerstruktur und der Ausgestaltung der Sozialleistungen für einkommensschwache Haushalte ab.

Auf der einen Seite würden die negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung (vgl.

Ziff. 5.2.2) mit grosser Wahrscheinlichkeit tiefere Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge sowie Mehrkosten für die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe zur Folge haben, was eindeutig zu einer Mehrbelastung der öffentlichen Finanzen führen würde.

36 37

SR 172.220.11 SR 172.220.1

1242

Hingegen bestehen Unsicherheiten in Zusammenhang mit den Verteilungseffekten, die ein gesetzlicher Mindestlohn auslösen würde. Die Änderung der Einkommensverteilung würde insbesondere zwei gegenläufige Effekte bewirken, deren Nettofolgen für die öffentlichen Finanzen schwierig abzuschätzen sind: Erstens würde die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns aufgrund der Steuerprogression die Steuereinnahmen tendenziell sinken lassen, wenn der Mindestlohn auf Kosten der anderen Arbeitnehmer oder Kapitalbesitzer finanziert wird.38 Zweitens dürfte die Anhebung des Einkommens für gewisse Tieflohnempfänger mittels eines gesetzlichen Mindestlohnes zu einer partiellen finanziellen Entlastung der Sozialhilfeinstitutionen führen.

Schliesslich würden die von der Initiative verlangten Massnahmen Umsetzungs- und Kontrollaktivitäten nach sich ziehen und Administrativkosten verursachen. Damit würde ein gesetzlicher Mindestlohn weitere Mehrbelastungen der öffentlichen Haushalte hervorrufen.

Die negativen Beschäftigungseffekte eines gesetzlichen Mindestlohnes würden die öffentlichen Finanzen zweifellos belasten. Hingegen sind die Auswirkungen der Verteilungseffekte auf die öffentlichen Finanzen schwierig abzuschätzen, da deren Effekte in entgegengesetzter Richtung wirken. Schliesslich kämen die zu erwartenden Umsetzungskosten für die öffentliche Hand hinzu. Insgesamt würde sich nach Einschätzung des Bundesrats ein gesetzlicher Mindestlohn mit grosser Wahrscheinlichkeit nachteilig auf die öffentlichen Finanzen sowie die Sozialversicherungen auswirken.

5.2.8

Umsetzung der Initiative

Falls die Initiative angenommen wird, haben Bund und Kantone Massnahmen zum Schutz der Löhne zu treffen (Art. 110a Abs. 1). Eine dieser Massnahmen besteht in der Förderung der Festlegung von Mindestlöhnen in den GAV (Art. 110a Abs. 2).

Die Absätze 3­6 von Artikel 110a, ergänzt durch Absatz 1 der Übergangsbestimmung, führen eine zweite Massnahme zum Schutz der Löhne ein, den gesetzlichen Mindestlohn. Seine Höhe (Übergangsbestimmung) und sein Geltungsbereich (Abs. 3) sind bereits festgelegt. Falls die Initiative angenommen wird, hat die Ausführungsgesetzgebung in erster Linie die Ausnahmen des Geltungsbereichs zu bestimmen (Abs. 3 zweiter Satz) und die Modalitäten für die Indexierung des Mindestlohnes festzulegen (Abs. 4). Die Einsetzung eines Kontroll- und Sanktionensystems wird ebenfalls zu diskutieren sein. Heute hat die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer einen zivilrechtlichen Anspruch auf die Bezahlung des Mindestlohnes. Die Nichteinhaltung dieser Vorschrift stellt auch eine unlautere Handlung im Sinne von Artikel 7 des Bundesgesetzes vom 19. Dezember 198639 gegen den unlau38

39

Beispiel: Aufgrund der oben genannten Verteilungseffekte würde der Tieflohnempfänger infolge der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes 100 Franken zusätzlich zur Verfügung haben, gleichzeitig würde das Einkommen des Hochlohnempfängers um 100 Franken reduziert werden. Damit würden angesichts der höheren Grenzbesteuerung des Hochlohnempfängers gegenüber dem Tieflohnempfänger die globalen Steuereinnahmen sinken, obwohl die Höhe des BIP unverändert bliebe.

SR 241

1243

teren Wettbewerb dar. Die strafrechtlichen Sanktionen nach Artikel 23 dieses Gesetzes sind nicht anwendbar. Die Effizienz dieser Umsetzungsinstrumente und die Vorteile, aber auch die Kosten, die durch zusätzliche administrative Kontrollen und Verwaltungs- oder Strafsanktionen entstehen, werden gegeneinander abzuwägen sein.

5.3

Vereinbarkeit mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Internationale Arbeitsorganisation Die Schweiz ist Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und hat das Übereinkommen Nr. 154 vom 19. Juni 198140 über die Förderung der Kollektivverhandlungen (Ü154) ratifiziert.

Hauptzweck des Ü154 ist es, freie und freiwillige Kollektivverhandlungen in allen Wirtschaftszweigen zu fördern. Das Übereinkommen erinnert daran, dass Kollektivverhandlungen zur Regelung der Arbeitsbedingungen und der Beziehungen zwischen Arbeitgebern oder ihren Verbänden und Arbeitnehmenden oder ihren Verbänden dienen können. In seiner Botschaft vom 24. November 198241 hatte der Bundesrat dem Parlament das Ü154 zur Ratifizierung unterbreitet. Er wies namentlich darauf hin, dass das Übereinkommen die Fortführung der gut funktionierenden Sozialpartnerschaft, wie man sie heute antrifft, bedingt.

Mit dem in Ziffer 5.2.1 beschriebenen Risiko der Schwächung der Sozialpartnerschaft könnten im Falle einer Annahme der Initiative die Bedingungen ändern, welche die Ratifizierung des Übereinkommens rechtfertigten. Für den Bundesrat könnte sich die Frage stellen, ob die Mitgliedschaft am Ü154 immer noch zweckmässig ist.

Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU/EFTA Die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohnes ist mit den Verpflichtungen der Schweiz im Rahmen des FZA vereinbar. In Bezug auf die Umsetzung der FlaM würden sich keine rechtlichen Probleme stellen.

Welthandelsorganisation (WTO) Im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens würde die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohnes unter den Geltungsbereich des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 199442 über das öffentliche Beschaffungswesen fallen und keine besonderen Probleme hinsichtlich der Verpflichtungen der Schweiz bei der WTO stellen.

40 41 42

SR 0.822.725.4 BBl 1983 I 25 SR 172.056.1

1244

6

Schlussfolgerungen

Der Bundesrat verfolgt wie die Initiantinnen und Initianten das Ziel, die Armut zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass jedermann angemessen von den Früchten seiner Arbeit leben kann.

Jedoch scheint ihm das von der Initiative vorgeschlagene Instrument nicht geeignet, um diese Ziele zu erreichen.

Die Garantie der Wirtschaftsfreiheit, der Vertragsfreiheit, der Koalitionsfreiheit und die Sozialpartnerschaft haben in der Schweiz insgesamt zu positiven Ergebnissen geführt. Eine Einschränkung dieser Freiheiten im Sinne der Initiative scheint ein riskanter Entscheid, solange die möglichen Auswirkungen eines Mindestlohnes auf die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit ungewiss sind und sich als besonders schädlich erweisen könnten.

Mit den FlaM und der gesetzlichen Möglichkeit zur Allgemeinverbindlicherklärung von GAV verfügt der Staat über geeignete und gut bewährte Instrumente zur Bekämpfung von Lohnunterbietungen und zur Einhaltung der in der Schweiz geltenden minimalen Arbeitsbedingungen. Der Bundesrat prüft regelmässig die Auswirkungen seiner Politik und ist bestrebt, allfällige Mängel zu beheben. Hinsichtlich des Schutzes der Löhne hat er 2012 dem Parlament gesetzliche Massnahmen zur Verstärkung der FlaM vorgelegt, die eine noch effizientere Bekämpfung der Lohnunterbietung erlauben. Zu erwähnen sind insbesondere die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit im Zusammenhang mit ausländischen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern sowie eine Verstärkung der Solidarhaftung des Erstunternehmers für die Nichteinhaltung der minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen durch seine Subunternehmer im Baugewerbe. Diese Massnahmen wurden vom Parlament im Jahr 2012 gutgeheissen.

Die Armut hat vielfältige Ursachen und lässt sich nur teilweise durch tiefe Löhne erklären, da ein Grossteil der von Armut betroffenen Personen nicht erwerbstätig ist.

Andere sozioökonomische Eigenschaften wie die Zusammensetzung des Haushalts, das Bildungsniveau, die Gesundheit oder der Migrationsstatus tragen ebenfalls zur Erklärung von Armut bei. Mit der Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohnes von 22 Franken pro Stunde könnte das Problem der Armut nicht gelöst werden; vielmehr würden dadurch die bisherigen guten Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt, d.h. die hohe Erwerbsquote und die niedrige Arbeitslosenquote,
gefährdet. Zudem würden die Integrationsschwierigkeiten gewisser benachteiligter Personenkategorien zunehmen, was die Armutsproblematik in der Schweiz verschärfen könnte.

Bei der Armutsbekämpfung setzt der Bundesrat im Rahmen seiner Kompetenzen in erster Linie auf Präventionsmassnahmen. Er ist bestrebt, zusammen mit den andern betroffenen Akteuren, insbesondere den Kantonen, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die berufliche Integration zu fördern. Dazu verfolgt er eine Politik der Vollbeschäftigung. Er fördert günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaftstätigkeit und damit für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Er verfolgt eine aktive Arbeitsmarktpolitik und eine Bildungspolitik, die den Bedürfnissen der Wirtschaft entspricht. Er trifft Massnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die eine rasche und dauerhafte Wiedereingliederung der Personen in den Arbeitsmarkt bezwecken. Durch die Einrichtung eines wirksamen sozialen Netzes, von dem niemand ausgenommen ist, trägt er zur Milderung der Folgen wirtschaftli1245

cher Schocks und struktureller Brüche bei. Mit der Förderung des Erwerbs beruflicher Qualifikationen trägt er auch zur Vereinfachung des Übertritts von der Ausbildung in das Berufsleben bei. Bei der Organisation der Studiengänge und der Berufsbildung sind die Sozialpartner eng eingebunden.

Der Bundesrat ist daher der Ansicht, dass die von der Initiative vorgeschlagenen Instrumente zur Bekämpfung von Armut und Lohnunterbietung nicht dienlich sind.

Er beantragt deshalb dem Parlament, die Initiative «Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

1246

Anhang

Grafik und Tabellen Grafik 1 (Gini-Koeffizient43)

Ungleichheit von Markteinkommen und verfügbaren (Netto-) Einkommen in OECD-Staaten, Bevölkerung im Erwerbsalter, späte 2000er-Jahre

Quelle: OECD 2011a

43

Der Gini-Index ist ein statistisches Mass, das zur Darstellung von Ungleichverteilungen von Einkommen entwickelt wurde. Der Gini-Koeffizient nimmt einen Wert von 0 bei Gleichverteilung und einen Wert von 1 bei maximaler Ungleichverteilung an.

1247

Tabelle 1 Anzahl unterstellte Arbeitnehmende nach Wirtschaftsbranchen (GAV mit normativen Bestimmungen), 2012 GAV mit mindestens 1500 unterstellten Arbeitnehmenden Wirtschaftsbranchen

Landw. u. Jagd Herstellung v. Nahrungs- u. Futtermittel Herstellung von Holzwaren (ohne Möbel) Herst.v. Papier, Pappe u. Waren daraus Herst. v. Druckerz.; Vervielfältigung Herstellung von chemischen Erzeugnissen Sonst. Prod. aus nichtmet. Mineralien Herstellung von Metallerzeugnissen Herst. von Datenverarbeitungsgeräten Maschinenbau Herst. von Automobilen u. Automobilteil.

Sonst. Fahrzeugbau Rep. u. Inst. v. Masch. u. Ausrüst.

Hochbau44 Sonstiges Ausbaugewerbe Handel, Instandh. u. Rep. v. Motorfahrz.

Grosshandel Detailhandel Landverkehr, Transp. In Rohrfernleitung Luftfahrt Post-, Kurier- u. Expressdienste Gastgewerbe Verlagswesen Rundfunkveranstalter Telekommunikation Finanzdienstleistungen Vermittlung von Arbeitskräften Wach- u. Sicherheitsdienste, Detekteien Gebäudebetreu.; Garten-, Landschaftsbau Öffent. Verw., Verteidigung; Sozialvers.

Erziehung u. Unterricht Gesundheitswesen Heime (ohne Erholungs- und Ferienheime) Sonst. persönliche Dienstleistungen Nicht zuzuordnen

Anzahl GAV-Unterstellte

­ 28 300 31 400 2 300 15 000 4 300 1 500 13 700 42 000 100 500 ­ ­ ­ 81 300 74 800 12 600 ­ 138 700 61 000 2 200 47 400 220 000 1 600 5 100 ­ 69 500 270 000 16 000 80 700 10 400 5 000 55 800 5 500 9 400 192 500

Quelle: BFS 2012 (Erhebung der Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz, provisorischer Stand 01.03.2012), Zeichenerklärung: «­» Entfällt aus Datenschutzgründen

44

Enthält GAV Bauhauptgewerbe, seit 1.4.2012 AVE GAV (vertragloser Zustand vom 31.12.2011 bis 31.03.2012)

1248

Tabelle 2 Anzahl GAV, unterstellte Arbeitnehmende und GAV-Abdeckungsgrad, 2001­201245 GAV mit mindestens 1500 unterstellten Arbeitnehmenden

Anzahl GAV Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden Anzahl GAV mit normativen Bestimmungen Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden (GAV mit normativen Bestimmungen) Anzahl GAV mit verbindlichen Mindestlöhnen47 Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden (GAV mit verbindlichen Mindestlöhnen) Anzahl GAV ohne normative Bestimmungen Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden (GAV ohne normative Bestimmungen) GAV-Abdeckungsgrad48

2001

2007

201246

78 1 234 500

98 1 475 900

100 1 796 300

76 1 218 400

89 1 323 400

89 1 628 900

72 1 079 400

73 1 289 600

2 16 100

9 152 400

11 167 400

38 %

41 %

49 %

Quelle: BFS (BESTA, Erhebung der Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz) und SECO (eigene Auswertungen)

45 46

47 48

2001­2009 Stand 1. Mai, ab 2012 neuer Stand am 1. März und provisorische Zahlen.

Enthält GAV Bauhauptgewerbe (mit normativen Bestimmungen) mit 71 200 unterstellten Arbeitnehmenden (GAV erneuert am 1. April 2012) und GAV Personalverleih (mit normativen Bestimmungen), deren Anzahl der unterstellten Arbeitnehmenden erstmals 2012 geschätzt wurde: 270 000 Personen. In dieser Zahl sind Doppelzählungen enthalten, die erst bei den definitiven Ergebnissen der Erhebung 2012 bekannt werden.

Merkmal Mindestlöhne erstmals 2003 erhoben.

Der AVE GAV-Abdeckungsgrad entspricht der Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden (GAV mit normativen Bestimmungen) geteilt durch die gesamte unterstellbare Beschäftigung.

Die gesamte unterstellbare Beschäftigung entspricht dem Total der Beschäftigten (BESTA 2. Quartal) minus Beschäftigte öffentliche Verwaltung minus 50 % Beschäftigte Erziehung und Unterricht minus mitarbeitende Betriebseigner, Kader und mitarbeitende Familienmitglieder* * Mitarbeitende Betriebsinhaber und Familienmitglieder sind ebenso wie Kader und Aushilfenangestellten in aller Regel vom Geltungsbereich eines GAV ausgeschlossen.

Der geschätzte Anteil der dadurch nicht unterstellbaren Erwerbstätigen von 4,9 % ist eine Extrapolation der Resultate des im Jahr 2005 grössten GAV der Schweiz, jenem des Gastgewerbes (Beschäftigung Gastgewerbe 2005: 216 000; GAV-Unterstellte Gastgewerbe: 206 000; Anteil nicht unterstellte Beschäftigte im Gastgewerbe: 4,9 %).

1249

Tabelle 3 Anzahl AVE GAV, unterstellte Arbeitnehmende und AVE GAV-Abdeckungsgrad, 2001­201249 GAV mit mindestens 1500 unterstellten Arbeitnehmenden

Anzahl AVE GAV Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden Anzahl AVE GAV mit normativen Bestimmungen Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden (AVE GAV mit normativen Bestimmungen) Anzahl AVE GAV ohne normative Bestimmungen Anzahl unterstellter Arbeitnehmenden (AVE GAV ohne normative Bestimmungen) AVE GAV Abdeckungsgrad

2001

2007

201250

14 401 200

28 629 200

31 957 500

13 386 600

21 482 400

22 793 500

1 14 500

7 146 800

9 164 000

12 %

15 %

24 %

Quelle: BFS (BESTA, Erhebung der Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz) und SECO (eigene Auswertungen)

49 50

2001­2009 Stand 1. Mai, ab 2012 neuer Stand am 1. März und provisorische Zahlen Die markante Zunahme im Jahr 2012 ist auf den neuen AVE GAV Personalverleih zurückzuführen, der seit dem 1.1.2012 in Kraft ist; ihm unterstehen 270 000 Arbeitnehmende, davon 127 000 gedeckt mit Mindestlöhnen (Schätzung 2012). Unter den 270 000 unterstellten Arbeitnehmenden sind Doppelzählungen enthalten, die erst bei den definitiven Resultaten der Erhebung 2012 bekannt werden.

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Tabelle 4 Der GAV-Abdeckungsgrad im internationalen Vergleich in Prozent Land

Österreich Belgien** Schweden** Finnland* Frankreich** Island** Spanien** Niederlande** Dänemark* Italien Norwegen** Griechenland** OECD Deutschland Luxemburg** Schweiz** Portugal Irland** Tschechische Republik Australien* Slowakei Ungarn Grossbritannien Kanada Estland Neuseeland* Japan** USA Mexiko**

1990***

2009

Veränderung 1990­2009

98.0 96.0 89.0 81.0 92.0 96.4 82.2 82.0 84.0 83.0 70.0 70.0 70.3 72.0 60.0 48.0 79.0 60.0 #NV 80.0 #NV #NV 54.0 38.0 #NV 61.0 23.0 18.3 #NV

99.0 96.0 91.0 90.0 90.0 88.0 84.5 82.3 80.0 80.0 74.0 65.0 62.1 62.0 58.0 48.0 45.0 44.0 42.5 40.0 40.0 33.5 32.7 31.6 19.0 17.0 16.0 13.6 7.0

1.0 0.0 2.0 9.0 ­2.0 ­8.4 2.3 0.3 ­4.0 ­3.0 4.0 ­5.0 ­8.2 ­10.0 ­2.0 0.0 ­34.0 ­16.0 ­ ­40.0 ­ ­ ­21.3 ­6.4 ­ ­44.0 ­7.0 ­4.7 ­

* letztes Erhebungsjahr 2007 ** letztes Erhebungsjahr 2008 *** Erstes Erhebungsjahr für die Schweiz und Schweden ist 1991.

Erstes Erhebungsjahr für Island ist 1989.

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