13.036 Botschaft zu einer allgemeinen Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung vom 8. Mai 2013

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen ­ in drei Varianten ­ den Entwurf eines Bundesbeschlusses über eine allgemeine Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2005

M 05.3232

Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung (S 16.6.05, Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen 04.076; N 6.3.06)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

8. Mai 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2012-2120

3407

Übersicht Nach der Motion 05.3232 sollen die Grundsätze der Grundversorgung in einer neuen, allgemeinen Verfassungsbestimmung festgehalten werden. Der Bundesrat stellt mit dieser Botschaft drei Regelungsvarianten zur Diskussion. Er ist aber nach wie vor der Meinung, dass es sinnvoller wäre, auf eine solche Bestimmung zu verzichten, und beantragt daher keine der Varianten. In jedem Fall kann die Grundversorgung als ausgesprochene Querschnittmaterie in einer allgemeinen Verfassungsbestimmung nur auf einer programmatischen Ebene behandelt werden. Konkrete Regelungen könnten nur im jeweiligen Sektor formuliert werden.

Ausgangslage Die Grundversorgung ist für die Schweiz von eminenter Bedeutung. Der Zusammenhalt des Landes in geografischer und in sozialer Hinsicht hängt davon ab, dass der Zugang zu den Gütern und Dienstleistungen des üblichen Bedarfs allen offensteht. Auch für die Wirtschaft sind die grundversorgungsrelevanten Sektoren sehr wichtig.

Verschiedene Akteure sind in verschiedenen Gebieten auf verschiedene Weise daran beteiligt, dass eine Grundversorgung der Bevölkerung mit verschiedenen Gütern und Dienstleistungen sichergestellt wird. Zahlreiche Verfassungsbestimmungen, Gesetze und Verordnungen des Bundes regeln die Grundversorgung in unterschiedlicher Dichte. Auch die Kantone haben entsprechende Regelungen. Der Bund hat aufgrund der geltenden Bundesverfassung in mehreren Bereichen Kompetenzen, die dem Bundesgesetzgeber einen breiten Handlungsspielraum für Anpassungen des heute geltenden Grundversorgungsregimes geben. Für viele wichtige Gebiete sind jedoch die Kantone und Gemeinden zuständig.

Inhalt der Vorlage Zentrales Element aller drei vorgestellten Varianten ist ein Handlungsauftrag an die Gemeinwesen aller Ebenen, sich für eine ausreichende, allen zugängliche Grundversorgung einzusetzen. Die Variante A beschränkt sich auf diesen Handlungsauftrag.

Die Variante B ergänzt den Handlungsauftrag um eine Definition des Begriffs der Grundversorgung. Dazu werden auch typische Sachbereiche aufgezählt, in denen der Grundversorgungsgedanke wichtig ist.

In der Variante C werden die inhaltlichen Grundsätze der Grundversorgung näher ausgeführt: Die Güter und Dienstleistungen der Grundversorgung sollen in allen Landesgegenden und für die ganze Bevölkerung dauerhaft verfügbar und erschwinglich
sein. Das Ziel ist aber nicht ein unbegrenzter Ausbau des Angebots; vielmehr müssen auch das Verursacher- und das Kostendeckungsprinzip angemessen berücksichtigt werden. Die verschiedenen Grundsätze stehen zum Teil in einem Konfliktverhältnis. Es ist deshalb notwendig, in den einzelnen Bereichen im politischen Prozess jeweils einen sinnvollen Ausgleich zwischen ihnen herzustellen.

3408

Für alle vorgestellten Varianten gilt: Die Bundesverfassung formuliert lediglich einen Handlungsauftrag an die Gemeinwesen. Dieser begründet keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen und ändert nichts am Kompetenzgefüge zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden.

Haltung des Bundesrates Der Bundesrat erachtet die Schaffung einer neuen, allgemeinen Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung nicht als sinnvoll. Es lassen sich keine konkreten Regeln formulieren, die in den sehr unterschiedlichen Bereichen der Grundversorgung gleichermassen gelten können. Sollte die Bundesversammlung dennoch eine solche Bestimmung schaffen wollen, würde der Bundesrat die Variante A vorziehen.

3409

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Parlamentarischer Auftrag

Die parlamentarische Initiative 03.465 Maissen Theo, «Service Public. Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung» verlangt, dass die Bundesverfassung1 (BV) mit einem Artikel über die «Grundversorgung (Service public)» ergänzt wird. Die Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerats (KVF-S) sistierte die Initiative zugunsten einer Motion der Kommission (05.3232, «Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung»). Die Motion nimmt das Anliegen der parlamentarischen Initiative ausdrücklich auf. Sie beauftragt den Bundesrat, der Bundesversammlung eine Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung vorzulegen, präzisiert aber einige Punkte. So stellt sie klar, dass eine offen ausgestaltete, allgemeine Bestimmung gewünscht ist, die insbesondere die betroffenen Sachbereiche nicht abschliessend aufzählt. Vielmehr sollen, ähnlich wie in der Bestimmung über die Nachhaltigkeit (Art. 73 BV), allgemeine Prinzipien in der Verfassung festgehalten werden.

Die Motion regt an, den Bericht des Bundesrates vom 23. Juni 20042 «Grundversorgung in der Infrastruktur (Service public)» als materielle Grundlage zu verwenden (im Folgenden: Service-public-Bericht 2004). Dies ist nur beschränkt möglich, da der Bericht nur den Infrastrukturbereich behandelt, und auch das nur insoweit, als der Bund zuständig ist. Die Motion hingegen ist dahingehend zu verstehen, dass auch Sachgebiete ausserhalb des Infrastrukturbereichs erfasst sein und auch die Kompetenzbereiche der Kantone und Gemeinden angesprochen werden sollen.

1.1.2

Bisheriges Verfahren

Der Bundesrat hatte in seiner Antwort auf die Motion die Haltung vertreten, eine allgemeine Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung sei nicht sinnvoll, weil sich aufgrund der sehr unterschiedlichen Sachbereiche keine aussagekräftige Querschnittbestimmung formulieren lässt.

Beide Räte hiessen die Motion entgegen dem Antrag des Bundesrates gut und bekräftigten dies noch einmal im Rahmen der Berichterstattung über Motionen und Postulate 20083.

1 2 3

SR 101 04.076, BBl 2004 4569 09.017: AB S 2009 562, AB N 2009 909; vgl. den Bericht des Bundesrates vom 6. März 2009, BBl 2009 1935 1950

3410

Gestützt auf diesen Entscheid der Bundesversammlung führte der Bundesrat im Jahr 2010 eine Vernehmlassung zu einem konkreten Entwurf durch4. Dieser Entwurf sollte es erlauben, die Motion zu erfüllen. Der Bundesrat gab allerdings seiner Skepsis Ausdruck.

Angesichts der mehrheitlich ablehnenden Stellungnahmen in der Vernehmlassung (insb. 14 von 22 Kantonen und 4 von 7 Parteien)5 beantragte der Bundesrat mit einem besonderen Bericht die Abschreibung der Motion6. Der Nationalrat lehnte jedoch die Abschreibung am 14. Juni 2012 ab7; dieser Entscheid ist definitiv8.

Die KVF-S hatte in der Zwischenzeit der parlamentarischen Initiative Folge gegeben. Ihre Schwesterkommission hatte dem aber nicht zugestimmt. Nachdem der Nationalrat die Abschreibung der Motion abgelehnt hatte, sistierte die KVF-S die parlamentarische Initiative erneut, um die vorliegende Botschaft des Bundesrates abzuwarten.

1.1.3

Zum Begriff «Grundversorgung»

Bisheriger Sprachgebrauch Was ist «Grundversorgung»/«service universel»/«servizio universale»? Eine allgemein gültige Definition gibt es nicht, und es werden unterschiedliche Ausdrücke verwendet. Auf Französisch finden sich mindestens vier verschiedene Ausdrücke, die denselben Gedanken auszusprechen scheinen: «service public» (z. B. Servicepublic-Bericht 2004; pa. Iv. 03.465), «prestations de base» (z. B. Art. 43a Abs. 4 BV), «desserte de base» (z. B. Motion 05.3232) und «service universel» (z. B. Art. 1 PG9). Auf Italienisch finden sich «servizio universale» und «servizio pubblico». Auf Deutsch steht neben «Grundversorgung» auch «Universaldienst». Auch auf Deutsch und auf Italienisch wird teilweise der französische Begriff «service public» verwendet.

Wortwahl im vorgestellten Entwurf Der vorgestellte Entwurf verwendet auf Deutsch den Ausdruck «Grundversorgung», weil dieser in der Bundesverfassung (Art. 43a Abs. 4 und Art. 92 Abs. 2 BV) eingeführt sowie in der Gesetzgebung etabliert10 ist und einen zentralen Gedanken der Verfassungsbestimmung gut zum Ausdruck bringt. Auf Französisch wurde der Ausdruck «service universel» gewählt. Dieser ist offener für Bereiche, in denen nicht nur staatliche Unternehmen aktiv sind, als dies bei «service public» der Fall 4 5 6 7 8

9 10

Vernehmlassungsunterlagen verfügbar auf www.admin.ch > Dokumentation > Gesetzgebung > Vernehmlassungen > Abgeschlossene > 2010 > EJPD.

Bericht vom Aug. 2011 über die Ergebnisse der Vernehmlassung, Ziff. 4.1 (Fundstelle s. Fn 4).

BBl 2012 291 (gestützt auf Art. 122 Abs. 3 Bst. a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dez.

2002, SR 171.10).

12.012: AB N 2012 849 Art. 122 Abs. 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dez. 2002, in der Fassung nach AS 2003 3543 in Verbindung mit der Übergangsbestimmung der Änderung vom 5. Okt. 2007, AS 2008 2113.

Postgesetz vom 17. Dez. 2010, PG, SR 783.0.

Art. 1 Abs. 2 des Fernmeldegesetzes vom 30. April 1997, SR 784.10; 1. Abschnitt des 2. Kapitels des Stromversorgungsgesetzes vom 23. März 2007, SR 734.7; Art. 32, 54 und 62 der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung, SR 832.102.

3411

wäre. Er ist moderner und offener als der Ausdruck «desserte de base», der in erster Linie an Postautos und Fahrpläne denken lässt. «Service universel» trifft den Kern der im Folgenden verwendeten Begriffsdefinition besser als «(biens et) services de base» oder «service de base», da er nicht an den blossen Grundbedarf im Sinn des Existenzminimums erinnert. Zudem schliesst er durch das Adjektiv «universel» den Gedanken der allgemeinen Zugänglichkeit ein. Was im Sinne des Grundbedarfs grundlegend ­ mithin «de base» ­ ist, muss grundsätzlich auch allen zur Verfügung stehen, sodass «universel» auch den Gedanken von «Grund-» («de base») abdeckt.

Der Begriff «service universel» wird heute zwar vorwiegend im Post- und Fernmeldebereich verwendet, ist sprachlich jedoch nicht auf diese Verwendung beschränkt; die Erweiterung seines Verwendungsbereichs rechtfertigt sich angesichts der genannten Vorteile. Die italienische Formulierung «servizio universale» entspricht der französischen und hat die entsprechenden sprachlichen Vorzüge. In systematischer Hinsicht liegt ihre Wahl umso näher, als sie bereits heute breiter angewendet wird als das französische «service universel» (etwa in der pa. Iv. 03.465 und in der Mo 05.3232).

Namentlich das totalrevidierte Postgesetz11 verwendet «Grundversorgung», «service universel» und «servizio universale». Mit dieser Wortgleichung steht eine prägnante, transparente, wenig disparate und leicht als Schlagwort verwendbare Wortwahl zur Verfügung. Anzumerken ist, dass der deutsche Ausdruck nicht genau denselben Akzent setzt wie der französische und der italienische: «Grundversorgung» betont das Element «Grund-», also die Basis, das Notwendige. Im französischen «universel» und im italienischen «universale» rückt hingegen ein anderer Aspekt in den Vordergrund, nämlich die Ausrichtung auf die gesamte Bevölkerung. Diese kleine Variation ist nicht schädlich, sondern im Gegenteil eine Bereicherung. Beide Varianten bringen zentrale, mit einander verknüpfte Aspekte des Konzepts der Grundversorgung zum Ausdruck, ohne sich zu widersprechen.

Konsequenterweise sehen die vorgestellten Entwürfe eine terminologische Anpassung der geltenden Verfassungsbestimmungen vor, die heute noch andere Ausdrücke verwenden (Art. 43a Abs. 4 auf Französisch und Italienisch, Art. 92 Abs. 2 auf Italienisch).
Inhaltliche Definition des Begriffs Wichtiger als die genaue Wortwahl ist die inhaltliche Eingrenzung des Begriffs, der einer allfälligen neuen Verfassungsbestimmung zugrunde liegen soll. Die in der bisherigen Diskussion verwendeten Definitionen können vorliegend nicht unbesehen übernommen werden: ­

11

Nach der parlamentarischen Initiative 03.465 umfasst das Grundversorgungsangebot «Güter und Dienstleistungen mit einem speziellen öffentlichen Interesse, sodass alle Bevölkerungsschichten und Wirtschaftsunternehmen in allen Landesteilen zu einem günstigen Preis Zugang dazu haben».

In dieser Form lässt die Definition wichtige Fragen offen: Erstens sollte die Voraussetzung «spezielles öffentliches Interesse» präzisiert werden. Zweitens trifft die Schlussfolgerung «Zugang haben» den Kern des Gedankens nicht genau; gemeint ist vielmehr «Zugang haben sollten».

Postgesetz vom 17. Dez. 2010, PG, SR 783.0.

3412

­

Die Definition des Service-public-Berichts 2004 ist nur auf die Infrastruktur zugeschnitten, sodass sie hier nicht verwendet werden kann: «Service public umfasst eine politisch definierte Grundversorgung mit Infrastrukturgütern und Infrastrukturdienstleistungen, welche für alle Bevölkerungsschichten und Regionen des Landes nach gleichen Grundsätzen in guter Qualität und zu angemessenen Preisen zur Verfügung stehen sollen». Zudem verwendet die Definition den hier zu definierenden Begriff der Grundversorgung als Definitionsmerkmal («Service public umfasst ... eine Grundversorgung»).

Vorliegend wird der Begriff, aufbauend auf den Elementen der beiden genannten Definitionen, wie folgt verwendet: Die Grundversorgung ist das politisch näher zu definierende Ziel, dass die Bevölkerung zu den Gütern und Dienstleistungen des üblichen Bedarfs Zugang hat. Für den Staat hat sie die Bedeutung eines Handlungsauftrags, sich für dieses Ziel einzusetzen.

Die Elemente dieser Definition bleiben zwangsläufig auf einer hohen Abstraktionsstufe und sind von vielen Wertungen abhängig. Sie stellen aber doch einiges klar: ­

Die Rede ist von einem allgemeinen Auftrag, zu dessen Erfüllung die Gemeinwesen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten verpflichtet werden, und nicht von einer Kompetenzfrage.

­

Der Auftrag an den Bund und die Kantone verlangt ein Tätigwerden, nicht aber das Erreichen eines bestimmten, klar definierten Zustands.

­

Auch die Art der zu ergreifenden Massnahmen ist nicht vorgegeben. Ob die Marktkräfte mehr oder weniger von alleine zu einem befriedigenden Resultat führen oder ob staatliche Massnahmen nötig sind, und, wenn ja, welche, kann nicht allgemein gesagt werden.

­

Gegenstand der Grundversorgung können Güter (z. B. Wasser, Nahrungsmittel, Medikamente, Energie) und Dienstleistungen (z. B. Fernmeldedienste, Transportleistungen, ärztliche Behandlungen) der verschiedensten Art sein.

­

Erfasst werden jedoch immer nur Güter und Dienstleistungen des üblichen Bedarfs. Dies deckt einen Teilaspekt des «speziellen öffentlichen Interesses» ab, von dem die parlamentarische Initiative 03.465 ausgeht, und schliesst Luxuriöses und Exklusives ebenso aus wie Güter und Dienstleistungen, die zwar von einer Mehrheit, aber nur sehr selten benötigt werden (etwa die Ausstellung eines Passes, für die ein flächendeckendes Angebotsnetz nicht praktikabel wäre).

Der übliche Bedarf geht über das Leistungsniveau der Unterstützung Bedürftiger im Sinn von Artikel 115 BV hinaus, und umso mehr über dasjenige der Hilfe in Notlagen nach Artikel 12 BV. Während der neue Artikel 41a die Optimierung des Wohlstandes der gesamten Bevölkerung zum Ziel hat, knüpft Artikel 115 BV an die Bedürftigkeit Einzelner an. Artikel 12 BV vermittelt einen grundrechtlichen Anspruch auf ein Minimum von Leistungen, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.

­

Gegenüber dem üblichen Konsum ist eine Einschränkung auf den effektiven Bedarf angebracht. Diese Einschränkung nimmt ebenfalls einen Aspekt des «speziellen öffentlichen Interesses» auf und soll klarstellen, dass nicht jede 3413

Nachfrage gemeint ist und dass nicht eine Ausziselierung bis ins letzte Detail erwartet werden kann. Der Staat muss sich nicht besonders engagieren für die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die zwar von vielen konsumiert werden, aber nach allgemeiner gesellschaftlicher Wertung nicht als notwendig gelten. So muss es im Rahmen der Trinkwasserversorgung reichen, dass der Staat die Versorgung mit sauberem und frischem Leitungswasser aus der Gegend sicherstellt, auch wenn der Konsum alpinen Mineralwassers aus der Flasche durchaus üblich ist. In der Vernehmlassungsvorlage wurde dieses Element mit dem separaten Wort grundlegend abgebildet («grundlegende Dienstleistungen und Güter des üblichen Bedarfs»). Aufgrund berechtigter Hinweise auf die unklare Abgrenzung gegenüber dem üblichen Bedarf wird es vorliegend nun an diesem Ausdruck festgemacht.

­

Der konkrete Umfang der Grundversorgung muss nach politischen Kriterien für jeden Sachbereich, in dem staatliche Massnahmen ergriffen werden sollen, in der Gesetzgebung näher festgelegt werden. Er kann nicht verfassungsrechtlich abstrakt definiert werden. Praktische Verbesserungen für die Bevölkerung kann der Staat nicht durch einen allgemeinen Grundsatzartikel bewirken, sondern nur durch konkrete (auch gesetzgeberische) Massnahmen in ausgewählten Sachbereichen. Zudem wäre es unpraktikabel, den konkreten Umfang bestimmter Grundversorgungsleistungen in der Verfassung zu regeln, beispielsweise für den Fernmeldebereich in Artikel 92 BV. Stufengerecht hierfür sind hier vielmehr das Fernmeldegesetz12 und die Verordnung über Fernmeldedienste13.

1.1.4

Übersicht über die heutige Rechtslage

Die heutige Rechtslage ­ nicht nur auf Verfassungsebene ­ wird im Folgenden anhand dreier Leitsätze dargestellt. Jeder Leitsatz wird mit einem illustrativen Überblick über verbreitete Varianten und mit charakteristischen Beispielen ergänzt.

Vollständigkeit wird dabei nicht angestrebt.

A. Verschiedene Akteure sind in verschiedenen Gebieten auf verschiedene Weise daran beteiligt, dass eine Grundversorgung mit verschiedenen Gütern und Dienstleistungen sichergestellt wird.

Zu den Typen von Akteuren gehören insbesondere: ­

12 13

Einheiten der zentralen Verwaltung (für Strassen kantonale und kommunale Tiefbauämter und das Bundesamt für Strassen);

­

Anstalten (kommunale Elektrizitäts-, Wasser- und Gaswerke);

­

gemischtwirtschaftliche und spezialgesetzliche Aktiengesellschaften (SBB, Swisscom, Post, kommunale Elektrizitäts-, Wasser- und Gaswerke);

­

Private (Einzelpersonen wie etwa Hausärztinnen und Hausärzte; Familienbetriebe wie etwa Bauern; kleine, mittlere und grosse Unternehmen wie etwa Detailhändler; Transportunternehmen; internationale Konzerne).

Fernmeldegesetz vom 30. April 1997, FMG, SR 784.10, Art. 16.

Verordnung vom 9. März 2007 über Fernmeldedienste, FDV, SR 784.101.1, Art. 15­23.

3414

Die Grundversorgung wird auf unterschiedliche Art und Weise sichergestellt (teilweise auch kombiniert): ­

private Initiative mit weitgehend auf polizeiliche Aspekte beschränktem gesetzlichem Rahmen (Detailhandel, Finanzdienstleistungen);

­

Konzessionssysteme (Grundversorgungskonzession im Fernmeldebereich, teilweise öffentlicher Verkehr, Wasserkraft);

­

Angebotssteuerung durch Bestellungssystem (teilweise öffentlicher Verkehr);

­

Subventionen (öffentlicher Verkehr, teilweise sozialer Wohnungsbau);

­

klassische Leistungsverwaltung ohne Konkurrenz durch Private, aber teilweise unter deren Zuhilfenahme (Strassen, Versorgung mit Leitungswasser, Müllabfuhr);

­

Leistungsverwaltung in Konkurrenz mit Privaten (teilweise sozialer Wohnungsbau).

Die Güter und Dienstleistungen, die von der Idee der Grundversorgung erfasst werden, können nicht abschliessend aufgezählt werden. Die Motion 05.3232 fordert denn auch eine Formulierung, die auf eine abschliessende Aufzählung verzichtet.

Heute setzen sich die Gemeinwesen in der Schweiz für die Grundversorgung namentlich mit folgenden Gütern und Dienstleistungen ein: ­

Trinkwasser;

­

Elektrizität;

­

Abfall- und Abwasserentsorgung;

­

Nahrungsmittel;

­

Wohnen;

­

Bildung;

­

medizinische Behandlung;

­

Angebote für den Personen- und Güterverkehr von nationaler oder regionaler Bedeutung sowie für den Ortsverkehr;

­

Strassenbau;

­

Versand und Zustellung von Briefen und Paketen;

­

Zahlungsverkehr (Postüberweisungen);

­

Telefon;

­

Internetanschluss;

­

Medien;

­

kulturelle Angebote wie Theater, Film, Musik, Folklore;

­

Sport-Infrastruktur und Sportveranstaltungen;

­

Sicherheit: Schutz von Leib und Leben sowie Eigentum, Ruhe und Ordnung, etwa durch gut gestalteten öffentlichen Raum und Polizeipräsenz.

3415

B. Verschiedene Bestimmungen der Bundesverfassung sowie verschiedene Gesetze und zahlreiche Verordnungen regeln die Grundversorgung in unterschiedlicher Dichte. Auch die Kantone haben entsprechende Regelungen.

Typische Konstellationen sind: ­

reine Bundeskompetenz, ausgeführt in einer vorwiegend polizeilich orientierten Gesetzgebung (z. B. Art. 98 BV, ausgeführt in der Banken- und Versicherungsaufsichtsgesetzgebung);

­

reine Bundeskompetenz ohne spezifischen Handlungsauftrag an den Bund, ausgeführt in einer Gesetzgebung, die einen Grundversorgungsauftrag enthält und teilweise vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Art. 94 Abs. 1 und 4 BV) abweicht (z. B. Art. 87 BV, ausgeführt unter anderem in der Eisenbahngesetzgebung);

­

Bundeskompetenz mit Handlungsauftrag an den Bund, für die Grundversorgung mit bestimmten Gütern und Dienstleistungen zu sorgen (z. B. Art. 92 BV, ausgeführt in der Post- und Fernmeldegesetzgebung des Bundes);

­

Handlungsauftrag an die Kantone in einem Gebiet, wo diese zuständig sind (z. B. Art. 62 BV, ausgeführt in der kantonalen Schulgesetzgebung und in interkantonalem Recht; Art. 57 BV, der in Bezug auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung eine originäre Kern-Zuständigkeit der Kantone betrifft);

­

verfassungsrechtlich nicht gesondert erfasster Sachbereich, in dem die Grundversorgung im Wesentlichen vom privaten Sektor sichergestellt wird; die Gesetzgebung beschränkt sich auf vorwiegend polizeilich orientierte Vorschriften aller Staatsebenen (z. B. Detailhandel).

C. Der Bund hat aufgrund der geltenden Bundesverfassung in mehreren Bereichen Kompetenzen, die dem Bundesgesetzgeber einen breiten Handlungsspielraum für Anpassungen der heute geltenden Grundversorgungsregimes geben. Für viele wichtige Gebiete sind jedoch die Kantone und Gemeinden zuständig.

So kann der Bundesgesetzgeber gestützt auf Artikel 92 BV ohne Weiteres den Umfang der Grundversorgung mit Post- und Fernmeldediensten an die aktuellen Verhältnisse anpassen. Ebenso können die kantonalen oder kommunalen Gesetzgeber die Modalitäten der Abfallentsorgung an veränderte Gegebenheiten anpassen oder den Betrieb bestehender staatlicher Gasleitungsnetze einstellen oder aufnehmen lassen. Die auf Artikel 91 BV gestützten bundesrechtlichen Rahmenbedingungen für den Betrieb solcher Rohrleitungsnetze finden sich im Rohrleitungsgesetz und in der Rohrleitungsverordnung14 und können vom Bundesgesetzgeber und vom Bundesrat geändert werden. Allgemein lässt sich festhalten, dass Änderungen der Bundesverfassung praktisch für alle heute zu diskutierenden Massnahmen nicht nötig sind, weil bereits Verfassungsgrundlagen bestehen.

Es gibt allerdings sehr wohl Bereiche, in denen für Markteingriffe oder ein staatliches Angebot von Gütern oder Dienstleistungen keine Verfassungsgrundlagen bestehen. Es ist namentlich an diejenigen Bereiche zu denken, in denen die Grundversorgung heute auf privater Basis sichergestellt wird und der Staat sich auf eine polizeiliche Regelung zum Schutz vor Missbräuchen beschränkt (wie etwa im 14

Rohrleitungsgesetz vom 4. Okt. 1963, RLG, SR 746.1; Rohrleitungsverordnung vom 2. Febr. 2000, RLV, SR 746.11.

3416

Bereich der Finanzdienstleistungen, soweit diese überhaupt vom Begriff der Grundversorgung erfasst werden). Neue Verfassungsgrundlagen für Markteingriffe oder ein staatliches Angebot von Gütern oder Dienstleistungen in solchen Bereichen können und sollen mit einer allgemeinen Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung nicht geschaffen werden.

1.2

Mögliche Neuregelungen

Vorgestellt werden mit der vorliegenden Botschaft drei Varianten: ­

Die Variante A besteht nur aus einem Handlungsauftrag an die Gemeinwesen aller Ebenen und vermeidet dadurch die Nennung von Elementen, zu denen sich nicht alle wesentlichen politischen Akteure im Detail bekennen können. Dennoch erlaubt sie es, das gemäss den bisherigen parlamentarischen Beratungen gewünschte Zeichen zu setzen.

­

Die Variante B enthält neben dem Handlungsauftrag an die Gemeinwesen eine Begriffsdefinition. Die Definitionselemente und die im Rahmen der Definition beispielhaft genannten Sachbereiche sind dabei zum Teil umstritten.

­

Die Variante C nimmt den Handlungsauftrag und die Begriffsdefinition der Variante B auf und versucht zusätzlich, die wesentlichen, in der Schweiz weitherum anerkannten Grundsätze der Grundversorgung genauer abzubilden. Unter anderem äussert sie sich auch in zurückhaltender Art zur Finanzierung. Insgesamt ist es nicht möglich, eindeutige oder gar justiziable Regeln zu definieren. Es können bloss auf einer hohen Abstraktionsebene Grundsätze festgehalten werden, zwischen denen teilweise ein Spannungsverhältnis besteht. Sie müssen daher in den verschiedenen Sachbereichen im politischen Prozess gewichtet werden, um einen Ausgleich zu finden. Im Einzelnen sind die Ausgestaltung und die Tragweite der Grundsätze durchwegs umstritten. Dasselbe gilt für einen Teil der beispielhaften Aufzählung von Sachbereichen.

Durch die Nennung inhaltlicher Grundsätze in der Variante C steigt die Gefahr von Missverständnissen in Bezug auf die programmatische Natur der Bestimmung. Daher weist sie auf ihren programmatischen Charakter unmissverständlich hin, indem die entsprechenden Elemente aus der geltenden Sozialzielbestimmung (Art. 41) verschoben und dadurch für den ganzen Abschnitt für anwendbar erklärt werden.

1.3

Begründung und Bewertung der vorgestellten Neuregelungen

1.3.1

Allgemein

In einer allgemeinen Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung lassen sich nur Aussagen auf einer programmatischen Ebene machen. In der Vernehmlassung und in den bisherigen parlamentarischen Beratungen haben sowohl Befürworter als

3417

auch Gegner einer neuen Bestimmung diese Einschätzung des Bundesrates bestätigt15. Nur begrüssen die einen die Schaffung einer Grundsatzbestimmung ohne justiziable Kraft, während die anderen eine solche Grundsatzbestimmung ablehnen.

In der Vernehmlassung äusserte sich eine Mehrheit ablehnend; zu zahlreichen Details wurden Einwände und Gegenvorschläge eingebracht (auf diese wird bei der Kommentierung der verschiedenen Varianten unter Ziffer 2 näher eingegangen). Die eidgenössischen Räte sprachen sich hingegen deutlich für die Motion aus16.

Eine ganz kurze Grundsatznorm, wie sie im Begleitbericht zur Vernehmlassungsvorlage17 angesprochen worden ist, wurde in der Vernehmlassung von verschiedenen Seiten aufgegriffen. Teils gaben sowohl Gegner als auch Befürworter zu erkennen, sie würden diese Variante unterstützen, teils forderten Gegner der Vorlage, wenn schon, dann sei bloss eine solche kurze Formulierung aufzunehmen18. Vor diesem Hintergrund erscheint es dem Bundesrat angezeigt, mehrere Regelungsmöglichkeiten vorzustellen.

Bei der Ausarbeitung der Variante C wurde darauf geachtet, dass zwar getreu den Anforderungen der Motion die Grundsätze der Grundversorgung festgehalten werden, dass dabei aber auch keine unbeabsichtigten Rechtsfolgen angeordnet werden.

Die Definition des Begriffs der Grundversorgung und die Kodifizierung der anzuwendenden Grundsätze sind wohl im Einzelnen nicht von einem Konsens aller politischen Lager getragen. Das hat auch die Vernehmlassung bestätigt. Es besteht zwar Einigkeit darüber, dass unser Land eine gute Grundversorgung haben soll. Die Problematik der Variante C liegt jedoch darin, dass es kaum möglich ist, inhaltliche Grundsätze über die Art und Weise der Sicherstellung und über die Finanzierung der Grundversorgung so zu formulieren, dass die gesamte Regelung wirklich konsensfähig ist. Das erklärte Anliegen der Motion 05.3232 und der pa. Iv. 03.465 Maissen ist aber, einen Grundkonsens über die Grundversorgung in der Verfassung festzuhalten.

Dem Wunsch, eine programmatische Bestimmung in die Verfassung aufzunehmen, kann auch mit der Variante A nachgekommen werden. Diese verleiht der Grundversorgung neues Gewicht in der Verfassung, verzichtet aber auf umstrittene Einzelheiten und lässt nicht das Missverständnis aufkommen, es sollten grundrechtsähnliche Ansprüche
verliehen werden. Die Variante B kommt dem nahe, ist in der konkreten Ausgestaltung allerdings auch umstritten und dadurch weniger geeignet, einen Konsens zum Thema auszudrücken.

Der Bundesrat ist nach wie vor der Meinung, dass eine allgemeine Verfassungsbestimmung zur Grundversorgung die gehegten Erwartungen nicht würde erfüllen und keinen praktischen Nutzen würde bieten können. Er erachtet es als sinnvoller, auf eine solche Bestimmung zu verzichten. Entsprechend unterbreitet er dem Parlament auftragsgemäss zwar eine Botschaft, beantragt aber keine der dargelegten Varianten.

Sollte die Bundesversammlung dennoch eine solche Bestimmung schaffen wollen, würde er die Variante A vorziehen. Deren Beschränkung auf einen ganz knappen Grundsatz entspricht der zwangsläufig programmatischen Natur der Bestimmung.

15 16 17 18

Siehe insb. AB N 2012 849, Votum Amherd; Bericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung, Ziff. 4.2 und 4.3 (Fundstelle s. Fn. 4).

05.3232: AB S 2005 658, N 2006 11; 09.017: AB N 2009 909, S 2009 562; 12.012: AB N 2012 849.

Ziff. 1.3 (Fundstelle s. Fn. 4).

Ziff. 4.4 (Fundstelle s. Fn. 4).

3418

Der Bundesrat verfolgt unabhängig von einer allfälligen neuen Verfassungsbestimmung alle grundversorgungsrelevanten Sachbereiche genau. Sobald sich konkreter Handlungsbedarf abzeichnet, unternimmt er die nötigen gesetzgeberischen Schritte.

Er würde, wenn es nötig sein sollte, auch Anpassungen der Verfassung vorschlagen.

Heute besteht zu solchen Änderungen jedoch kein Anlass.

1.3.2

Verworfene Alternativen

Die aufgeführten Alternativen wurden bereits in der Vernehmlassungsvorlage angesprochen und teilweise auch von Vernehmlassungsteilnehmern unterstützt. Sie wurden aus den nachfolgend angegebenen Gründen verworfen:

19

­

Eine konkretere Regelung, die bestimmte Regulierungsinstrumente vorschreiben würde, ist in einer Querschnittbestimmung nicht machbar, da die Sachgebiete und die Handlungsformen zu unterschiedlich sind. Eine abschliessende Aufzählung der erfassten Sachbereiche ist laut der Motion ausdrücklich nicht gewünscht; die Bestimmung soll allgemein sein. Möglich, aber nicht sachdienlich, wäre eine beispielhafte Aufzählung möglicher Regulierungsinstrumente ohne Zuordnung zu den einzelnen Sachgebieten.

­

Die Einführung sektorieller Verpflichtungen des Bundes oder der Kantone, die Grundversorgung in bestimmten Gebieten sicherzustellen, müsste für jeden Sektor gesondert geprüft werden (vgl. den geltenden Art. 92 Abs. 2 BV und die in Ziffer 2.6 erwähnten laufenden Verfassungsrevisionen).

­

Eine auf die «Infrastruktur» beschränkte Bestimmung über die Grundversorgung (vgl. den Service-public-Bericht 2004) schliesst die Motion 05.3232 aus, indem sie ausdrücklich eine offene Bestimmung ohne abschliessende Aufzählung der erfassten Sachbereiche fordert. Welche Sachbereiche im Einzelnen zur «Infrastruktur» gehören, lässt sich dem Begriff nicht entnehmen. Klar ist bloss, dass die im Service-public-Bericht 2004 behandelten Bereiche gemeinhin dazu gezählt werden. Es entspricht jedoch beispielsweise auch dem Sprachgebrauch, das Bildungswesen als Bestandteil der Infrastruktur des Landes zu bezeichnen. Die Einschränkung würde sich daher weitgehend als Scheineinschränkung entpuppen.

­

Eine Verschiebung von Kompetenzen zwischen dem Bund und den Kantonen könnte durch Änderungen im 2. Kapitel des 3. Titels der Bundesverfassung vorgenommen werden, namentlich um den Bund in neuen Sachgebieten zum Handeln zu ermächtigen oder zu verpflichten. Dies wäre jedoch politisch nicht angebracht und liefe der durch die NFA19 betonten Rücksichtnahme auf die kantonale Autonomie und der Vermeidung von Lastenverschiebungen zwischen den Gemeinwesen zuwider.

NFA: Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen; siehe die revidierten Art. 5a, 43a Abs. 1, 46 Abs. 3, 47 BV; AS 2007 5765.

3419

1.4

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Das Verhältnis zwischen der Bedeutung konkreter Grundversorgungsaufgaben und ihren Kosten muss in jedem Sachgebiet einzeln geprüft werden. Die daraus resultierenden Detailregelungen haben ihren Platz in der sektoriellen Gesetzgebung; eine allgemeine Verfassungsbestimmung kann die nötige Abstimmung nicht gewährleisten. Dies gilt für alle drei vorgestellten Varianten.

1.5

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Mit der vorliegenden Botschaft erfüllt der Bundesrat die Motion KVF-S 05.3232 (s. o. Ziff. 1.2). Die sistierte parlamentarische Initiative Maissen 03.465 wird obsolet, da die Motion ihr Anliegen aufgenommen hat.

2

Erläuterungen zu einzelnen Bestimmungen

2.1

Rein formelle Anpassungen (Gliederungstitel, Art. 41)

Die Gliederungstitel vor den Artikeln 7 und 41 müssen neu auch die Grundversorgung nennen. Die Bezeichnung «Sozialziele», die bisher der Gliederungstitel des 3. Kapitels war, muss somit in allen Varianten neu als Sachüberschrift von Artikel 41 BV aufgenommen werden.

2.2

Variante A: nur Handlungsauftrag

Die Variante A beschränkt sich auf einen allgemeinen Auftrag an die Gemeinwesen aller Ebenen, sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine ausreichende, allen zugängliche Grundversorgung einzusetzen (Art. 41a).

Dies ergibt trotz der Kürze der Bestimmung keine lückenhafte Regelung. Vielmehr würde die Verfassung es in dieser Variante vollständig den Gesetzgebern aller Stufen überlassen, den Begriff der Grundversorgung mit Inhalten in Bezug auf die Begriffsdefinition, die Sachbereiche und die inhaltlichen Grundsätze zu füllen. Dies kann getrennt für jeden Sachbereich geschehen, was eine konkretere Regelung ermöglicht.

Aus der Bestimmung über die Grundversorgung können, wie aus den Sozialzielen, keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden (vgl.

Art. 41 Abs. 4). Die Gemeinwesen trifft nur eine Handlungspflicht.

Die Bestimmung weist auch keine Kompetenzen zu. Eine diesbezügliche Einschränkung («im Rahmen ihrer Zuständigkeiten» o. ä.), wie sie im Zuständigkeitskapitel der Bundesverfassung an mehreren Stellen enthalten ist20, ist zwar mitzudenken, muss aber entgegen einem in der Vernehmlassung eingebrachten Vorschlag21 nicht 20 21

Art. 54­125, siehe etwa Art. 57 Abs. 1, 61a Abs. 1, 72 Abs. 2 und 89 Abs. 1 BV.

Siehe zu diesem und den folgenden Änderungsvorschlägen aus der Vernehmlassung den ericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung, insb. Ziff. 5.2 (Fundstelle s. Fn. 4).

3420

ausdrücklich genannt werden, da sie sich aus den allgemeinen Vorschriften über die bundesstaatliche Kompetenzverteilung ergibt und nur im Kompetenz-Kapitel Anlass besteht, allfälligen Missverständnissen vorzubeugen.

Auch die Wendung «in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative» wird gegenüber Artikel 41 BV weggelassen, da sie nur den durch die NFA betonten Grundsatz der Subsidiarität wiederholen würde (Art. 5a BV). Aus den unterschiedlichen Entstehungszeitpunkten der Artikel 41, 5a und 41a ergibt sich, dass aus dem Fehlen der Subsidiaritätsklausel in Artikel 41a gegenüber Artikel 41 und gegenüber diversen Bestimmungen des Kompetenzteils kein Umkehrschluss gezogen werden darf: Im Rahmen der Totalrevision 1999 war der Grundsatz der Subsidiarität noch nicht explizit in der Verfassung verankert. Heute, wo dies in Artikel 5a der Fall ist, würde die Klausel eine unnötige Wiederholung bedeuten.

Auch ohne sie ist klar, dass die private Initiative der Ausgangspunkt ist und dass eine staatliche Intervention besonders gerechtfertigt werden muss.

Ausdrücklich angesprochen werden zwar nur der Bund und die Kantone, die Gemeinden sind jedoch bei den Kantonen mitgemeint. Die Aufgabenteilung zwischen den Kantonen und den Gemeinden ergibt sich aus dem kantonalen Recht. Es gibt in der Bundesverfassung zwar Ausnahmen von dieser Regelungstechnik, das heisst Bestimmungen, die die Gemeinden ausdrücklich nennen22. Neben der parallelen Bestimmung in Artikel 41 BV, wo die Gemeinden bei den Kantonen mitgemeint sind, wäre es aber unverständlich, wenn sie im neuen Artikel explizit genannt würden.

Die Vernehmlassungsvorlage nannte als Nutzniesser der Grundversorgung die Bevölkerung. Dem wurde entgegengehalten, dass auch die Wirtschaft oder die Unternehmen wichtige Nutzergruppen seien. Ebenso könnte man die Erwähnung anderer gesellschaftlicher Akteure verlangen, etwa der Schulen oder der Verbände. Eine solche Verkomplizierung der Regelung ist aber nicht sinnvoll. Stattdessen sieht der vorliegende Entwurf nun vor, dass die Grundversorgung allen zugänglich sein soll.

Damit lehnt er sich an den Gegenentwurf zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin»23 an. Allen zugänglich ist die Grundversorgung dann, wenn die entsprechenden Leistungen der gesamten Bevölkerung in allen Landesteilen innert nützlicher
Frist zugänglich sind. Damit deckt die knappe Formulierung die geografische, die soziale und die finanzielle Dimension ab. Zur detaillierteren Darstellung dieser Dimensionen in der Variante C siehe Ziffer 2.4 (Kommentar zu Art. 41a Abs. 3 und 4).

Entgegen einem Vorschlag aus der Vernehmlassung, eine «möglichst umfassende Grundversorgung» als Massstab zu nennen, wird analog zur bestehenden Formulierung in Artikel 92 Absatz 2 BV eine ausreichende Grundversorgung zum Ziel erklärt. Das Konzept der Grundversorgung besteht eben gerade darin, nur einen Grundstock von Gütern und Dienstleistungen abzudecken.

In der Variante A ist (anders als in der Variante C) keine inhaltliche Anpassung von Artikel 43a Absatz 4 BV vorgesehen, da der dort genannte Grundsatz in der neuen Bestimmung nicht durch eine umfassendere Formulierung der Bewertungskriterien aufgenommen würde. Im französischen und im italienischen Text werden jedoch zur Vereinheitlichung der Terminologie (vgl. Ziff. 1.1.3) die Ausdrücke «service univer22 23

Art. 75b, 89 Abs. 5, 100 Abs. 4, 128 Abs. 2, 129 Abs. 1 und 134 BV.

Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung (Gegenentwurf zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin»), 11.062, BBl 2011 7553, 7963; Entwurf zu Art. 117a Abs. 1 BV.

3421

sel» und «servizio universale» eingesetzt, ohne dass dies zu einer materiellen Änderung dieser Bestimmung führen würde.

Auch die Anpassung des italienischen Texts von Artikel 92 dient nur dieser terminologischen Angleichung.

2.3

Variante B: Handlungsauftrag und Definition mit Aufzählung von Sachbereichen

Die Variante B nimmt in Artikel 41a Absatz 1 zunächst unverändert den Inhalt der Variante A auf. Es kann auf die entsprechenden Erläuterungen verwiesen werden.

Zusätzlich nennt Absatz 2 die wichtigsten Definitionsmerkmale des Begriffs der Grundversorgung, den Absatz 1 voraussetzt; dabei spielen die Elemente eine Rolle, die oben unter Ziffer 1.1.3 dargelegt wurden («Güter und Dienstleistungen des üblichen Bedarfs»). Zudem zählt Absatz 2 einige wichtige, typische Sachgebiete auf, in denen sich die Gemeinwesen für die Grundversorgung engagieren sollen.

Durch die Ergänzung ändert sich nichts daran, dass die Bestimmung rein programmatischer Natur ist. Sie vermittelt keine justiziablen Ansprüche, verpflichtet die Gemeinwesen nicht auf ein Ergebnis, befreit die Einzelnen nicht von ihrer Eigenverantwortung und ändert nichts an der bundesstaatlichen Kompetenzordnung.

Die Aufzählung ist gemäss der Vorgabe der Motion nicht abschliessend. Obwohl der Begriff der Grundversorgung nach seiner hier verwendeten Definition nicht nur in Bereichen relevant ist, in denen die Gemeinwesen aktiv zur Grundversorgung beitragen, werden vorwiegend solche Bereiche als Beispiele genannt. Der Wortlaut «die Güter und Dienstleistungen des üblichen Bedarfs namentlich in den Bereichen ...» stellt klar, dass nicht alle Güter und Dienstleistungen aus den aufgeführten Bereichen vom üblichen Bedarf erfasst werden. Vielmehr deckt der Begriff der Grundversorgung jeweils nur einen Teilbereich ab. Auch in diesem Teilbereich, der als Gegenstand der Grundversorgung betrachtet wird, muss immer aufs Neue rechtspolitisch darum gerungen werden, ob staatliche Eingriffe angezeigt sind und welche Massnahmen ergriffen werden sollen.

In den verschiedenen Bereichen werden Anliegen der Grundversorgung, wie unter Ziffer 1.1.4 dargestellt, auf den verschiedensten Wegen mit unterschiedlichster Beteiligung der Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand sichergestellt. Als Beispiel für das eine Ende des Spektrums kann die Versorgung mit Leitungswasser aufgeführt werden, die in der Regel in klassischer Leistungsverwaltung direkt durch den Staat sichergestellt wird. Als typischer Fall am anderen Ende des Spektrums können die Finanzdienstleistungen genannt werden. Diese werden (abgesehen vom Zahlungsverkehr, den auch die Post sicherstellt) aufgrund privater
Initiative erbracht und vom Staat nur auf Missbräuche hin überwacht. Daran ändert der vorgestellte Entwurf nichts.

Viele Bereiche, die man durchaus auch als Gegenstand der Grundversorgung begreifen kann, werden in der Bestimmung nicht erwähnt. So bleiben etwa die soeben angeführten grundversorgungsrelevanten Teilbereiche des Finanzsektors ungenannt.

Ein guter Teil der in der Definition genannten Bereiche wird in der geltenden Bundesverfassung bereits spezifisch angesprochen und teilweise detailliert geregelt.

3422

Dazu gehören etwa die Gesundheit24, das Wohnen25 das Post- und Fernmeldewesen26 die Bildung27 die Medien28 und die Sicherheit29. Blieben diese Bereiche unerwähnt, so ergäbe sich ein sehr unvollständiges Bild der Grundversorgung in der Schweiz: Konsequenterweise könnten nur Bereiche genannt werden, die weder von einer Bundeskompetenz noch von einer sonstigen spezifischen Verfassungsbestimmung berührt werden. Die Nennung dieser Bereiche bedeutet nicht, dass die bestehenden, spezielleren Regelungen übersteuert werden sollen. Soweit diese von der allgemeinen Bestimmung über die Grundversorgung abweichen, gehen sie ihr vor.

Gewisse Sachbereiche, in denen der Grundversorgungsgedanke wichtig ist, werden in der geltenden Bestimmung über die Sozialziele bereits genannt. Das betrifft die Gesundheit, das Wohnen und die Bildung30. Wesentliche Aspekte der Grundversorgung in diesen Bereichen sind durch die Sozialzielbestimmung ­ ebenfalls ein Handlungsauftrag mit Querschnittcharakter ­ bereits abgedeckt. Dennoch erscheint es sinnvoll, die drei Bereiche in der neuen Bestimmung zu nennen. Andernfalls würden schwer verständliche Lücken in der Aufzählung entstehen.

Das existenzsichernde Einkommen31 kann schon begrifflich schlecht unter «Güter und Dienstleistungen» gefasst werden und ist zudem in der Sozialzielbestimmung ebenfalls bereits erwähnt (Art. 41 Abs. 1 Bst. d BV). Im Zusammenhang mit der Erschwinglichkeit der Grundversorgung kommen teilweise ähnliche Fragen auf; diese werden aber separat angesprochen (Art. 41a Abs. 3 und 4 in der Variante C).

Die in der Vernehmlassung vorgeschlagene «Aufrechterhaltung der Lebensgrundlagen» wird nicht aufgenommen. In Artikel 73 BV steht unter dem Titel Nachhaltigkeit bereits eine gleichwertige Bestimmung mit Querschnittcharakter.

In Bezug auf den Personen- und Güterverkehr, die Wasser- und Energieversorgung sowie die Abfall- und Abwasserentsorgung kann festgehalten werden, dass der heute geltende Grundsatz beibehalten wird, wonach die Gemeinwesen ausserhalb der Bauzonen keine Erschliessung sicherstellen müssen32.

Wenn auch die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung (-reinigung) in einem engen Zusammenhang stehen und oft von denselben Betrieben sichergestellt werden, geht es doch um zwei verschiedene Aufgaben mit unterschiedlicher Zielsetzung. Entsprechend werden
sie gesondert genannt.

Abweichend von der Vernehmlassungsvorlage wird der Verkehrsbereich nun mit der Formulierung Personen- und Güterverkehr angesprochen (statt «öffentlicher und privater Verkehr»). Damit ist einerseits klar, dass neben dem öffentlichen Verkehr und dem Strassennetz auch der Binnengütertransport auf der Schiene grundsätzlich 24 25 26 27 28 29

30 31

32

Art. 10 Abs. 2, 117 und 118 BV.

Art. 108 und 109 BV.

Art. 13 Abs. 1, Art. 92 BV.

Art. 19, 20 und 61a­67a BV.

Art. 17 und 93 BV.

Art. 10 Abs. 1 und 2 BV; Art. 57­61 BV; diverse Bestimmungen im Zusammenhang mit der technischen Sicherheit in den Kompetenzabschnitten zu Umwelt und Raumplanung, öffentlichen Werken und Verkehr sowie Energie und Kommunikation, Art. 73­93 BV.

Art. 41 Abs. 1 Bst. b, e und f BV.

Siehe zu diesem und den folgenden Änderungsvorschlägen aus der Vernehmlassung den ericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung, insb. Ziff. 5.3 und 5.4 (Fundstelle siehe Fn 4).

Vgl. für die Einschränkung der Erschliessungspflicht Art. 19 des Raumplanungsgesetzes vom 22. Juni 1979 (SR 700).

3423

erfasst ist; andererseits bleibt wie überall die Möglichkeit bestehen, dass Verfassungs- und Gesetzgeber bestimmte Verkehrsträger nicht oder anders als andere fördern.

Das Post- und das Fernmeldewesen sowie die Medien (Radio, Fernsehen, Presse und neue Medien) könnten auch unter dem Stichwort «Kommunikation» zusammengefasst werden. Der Anschaulichkeit halber bleiben sie im Entwurf aber separat genannt.

Die Sicherheit könnte auch aufgeschlüsselt werden, etwa als «Schutz von Leib und Leben sowie Eigentum, Ruhe und Ordnung». Der prägnantere Begriff der Sicherheit schliesst jedoch besser an Artikel 57 BV und den vorangehenden Gliederungstitel an.

Im Bereich der Kultur können sowohl kulturelle Konsumgüter (z. B. Bücher) und Darbietungen (z. B. Theater, Kino) als auch Betätigungsmöglichkeiten (z. B. Kinderzirkus, Laienbühne, Musikverein) erfasst sein. Auch hier heisst das aber nicht, dass es aufgrund der neuen Bestimmung zwingend staatliche Aktivitäten in diesen Bereichen geben muss.

In der Variante B ist aus demselben Grund wie bei der Variante A keine inhaltliche Anpassung von Artikel 43a Absatz 4 vorgesehen. Im französischen und im italienischen Text wird jedoch wie bei der Variante A die Terminologie angeglichen.

Auch die Anpassung des italienischen Texts von Artikel 92 ist rein terminologisch.

2.4

Variante C: Handlungsauftrag, Definition mit Aufzählung von Sachbereichen und Grundsätze

Art. 41: Rein formelle Anpassungen (Verschiebung einzelner Elemente) Zusätzlich zu den unter Ziffer 2.1 genannten formellen Anpassungen werden in dieser Variante aus Artikel 41 über die Sozialziele drei Elemente herausgelöst und in Artikel 41b aufgenommen, damit sie explizit auch für den neuen Artikel 41a über die Grundversorgung gelten. Das betrifft das Element «in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative» aus Absatz 1 sowie die Absätze 3 und 4.

Siehe auch die Kommentierung von Artikel 41b.

Art. 41a Abs. 1 und 2: Grundsatz sowie Definition mit Aufzählung von Sachbereichen Die ersten zwei Absätze von Artikel 41a entsprechen der Variante B. Die betreffenden Erläuterungen gelten auch hier.

Eine kleine inhaltliche Abweichung von der Variante B gibt es nur in Absatz 1. Hier wird das Element «allen zugänglich» weggelassen. Es deckt Grundsätze ab, die in den Absätzen 3 und 4 detaillierter ausgeführt werden.

Art. 41a Abs. 3: Grundsätze zur Bewertung von Grundversorgungsleistungen Ausführlicher als die Variante B hält Absatz 3 einzelne Grundsätze fest, an denen Bestrebungen zur Optimierung der Grundversorgung gemessen werden sollen.

Aufgrund des äusserst breiten, offenen Anwendungsbereichs müssen dieselben 3424

Grundsätze auf verschiedenste Sachverhalte angewendet werden. Jeder Grundsatz ist, für sich genommen, nur ein Teilziel und kann nicht verabsolutiert werden, sondern muss stets auch pragmatischen Einschränkungen zugänglich sein. So würde etwa ein grenzenloser Ausbau des Angebots dazu führen, dass die Güter und Dienstleistungen nicht mehr erschwinglich wären oder dass das Verursacher- und das Kostendeckungsprinzip (Abs. 4) unbeachtet bleiben müssten. Die Gesetzgeber aller Gemeinwesen müssen in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich immer wieder aufs Neue um Kompromisse ringen, um konkrete, finanzierbare Lösungen zu finden.

Aufgrund dieser Relativierungen ist der Unterschied zur Variante B inhaltlich viel kleiner, als der stark ausgeweitete Umfang der Regelung vermuten lassen könnte: In keiner der Varianten können direkt aus der Verfassung konkrete Entscheidungen für einzelne Sachbereiche abgeleitet werden.

Somit werden auch hier keine justiziablen Ansprüche geschaffen und die Gemeinwesen nicht auf ein Ergebnis verpflichtet; die Einzelnen werden nicht von ihrer Eigenverantwortung befreit, und es wird nichts an der bundesstaatlichen Kompetenzordnung geändert. Absatz 3 enthält nicht etwa eine weitergehende Regelung als Absatz 1, sondern präzisiert bloss gewisse Aspekte dieser Grundregel. Entsprechend richtet auch er sich nur an die Gemeinwesen und schafft keine Pflichten Privater.

Im Einzelnen werden folgende Kriterien aufgezählt:

33

a.

Zugänglichkeit für die gesamte Bevölkerung: Die Grundversorgung hat einen sozialen Aspekt. Jede Person soll unabhängig von ihrer Lebenssituation, ihrem Alter, ihrer Gesundheit, ihrem Bildungsstand usw. einen möglichst guten Zugang zu den Gütern und Dienstleistungen der Grundversorgung haben.

b.

Zugänglichkeit in allen Landesgegenden: Dieser Grundsatz erfasst parallel zur sozialen eine geografische Dimension, wonach wirtschaftlich schwächeren Landesgegenden Rechnung zu tragen ist und von besser gestellten Gegenden eine gewisse Solidarität erwartet wird. So ist beispielsweise die Erschliessung mit Postdienstleistungen in dünn besiedelten Randgebieten pro Person teurer als in den Agglomerationen, und dennoch stellt die Postgesetzgebung sicher, dass alle Landesgegenden bedient werden. Da die Grundversorgung aber primär der Bevölkerung dient und nicht den Touristen, lassen sich ihre Grundsätze auf vorwiegend saisonal und touristisch genutzte Gebiete nicht unbesehen anwenden. Es ist hingegen durchaus denkbar, dass gewisse begrenzte Sachbereiche im Rahmen des Vernünftigen auch in nicht ganzjährig bewohnten Gebieten von der Grundversorgung erfasst werden, etwa bei der Versorgung abgelegener Gebiete mit Fernmeldediensten33.

c.

Erschwinglichkeit für alle: Die Nutzung von grundversorgungsrelevanten Gütern und Dienstleistungen soll nicht durch finanzielle Hindernisse verunmöglicht werden. Verschiedenste Massnahmen können dazu dienen, diesem Ziel näher zu kommen. So kann auf verschiedenen Wegen die Senkung von Preisen angestrebt werden. In bestimmten Sektoren leistet der Staat aber auch Subventionen an jene Personen, welche die Marktpreise nicht aus eigenen Mitteln bezahlen können. Dabei wird mit der Erschwinglichkeit ein Siehe schon heute Art. 18 der Verordnung vom 9. März 2007 über Fernmeldedienste (SR 784.101.1) und die darauf gestützte Verordnung des UVEK vom 15. Dez. 1997 über Fernmeldeanschlüsse ausserhalb des Siedlungsgebiets (SR 784.101.12).

3425

relativ zurückhaltendes Ziel formuliert, um der Verschiedenheit der erfassten Bereiche gerecht zu werden. Tendenziell weitergehende Anforderungen finden sich etwa in Bezug auf die Post- und die Fernmeldedienste (Art. 92 Abs. 2: «preiswert»). Anderen gedanklichen Ansätzen folgen etwa die Bestimmungen über die Energieversorgung (Art. 89 Abs. 1: «wirtschaftlich») und über die Wohnbau- und Wohneigentumsförderung (Art. 108 Abs. 2: «Rationalisierung und Verbilligung»). Gemäss dem Querschnittcharakter der allgemeinen Bestimmung über die Grundversorgung gehen ihr solche abweichende sektorielle Vorgaben vor.

Selbstverständlich müssen alle diesbezüglichen Eingriffe in Rechte und Marktmechanismen (z. B. Preisvorschriften) die nötigen Grundlagen auf Verfassungs- und Gesetzesstufe haben; die neue Bestimmung schafft keine solchen Grundlagen. Insbesondere in den Bereichen, in denen nur rechtliche Grundlagen für eine polizeiliche Regelung bestehen, sind die Handlungsmöglichkeiten der Gemeinwesen im Hinblick auf die Preise daher sehr beschränkt.

d.

Die dauerhafte Verfügbarkeit ist gegeben, wenn Angebote der Grundversorgung nicht nur sporadisch, saisonal unausgeglichen oder gemessen an den Bedürfnissen der Nutzer zur falschen Tageszeit angeboten werden. Der Service-public-Bericht 2004 postulierte unter dem Titel «Kontinuität», dass die Dienstleistungen «ohne Unterbrechung» erbracht werden sollten. Der vorliegend verwendete weitere Begriff der «dauerhaften Verfügbarkeit» fasst je nach den Charakteristika des konkret in Frage stehenden Sachbereichs verschiedene zeitliche Kriterien zur Bewertung von Grundversorgungsangeboten zusammen. So sollten die Angebote möglichst ganzjährig und nicht etwa nur während der Tourismus-Saison bestehen; das Angebot sollte auch über die Jahre relativ stabil sein und zu Tageszeiten zur Verfügung stehen, die den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer entsprechen. Das bedeutet aber nicht, dass in Tourismusgebieten auch in der Nebensaison unbedingt dasselbe Angebot (an Lebensmitteln, medizinischen Leistungen usw.) bestehen muss wie in der Hauptsaison. Entscheidend ist vielmehr, dass die Wohnbevölkerung auch in der Nebensaison jene Angebote effektiv nutzen kann, die im Sinne der Grundversorgung dem üblichen Bedarf entsprechen (vgl. Ziff. 1.1.3, inhaltliche Definition des Begriffs). Dabei müssen, abhängig von der mehr oder weniger dezentralen Lage, unter Umständen auch längere Wege in Kauf genommen werden als in der Hochsaison.

Gegenüber Artikel 43a Absatz 4 BV wird das Element «in vergleichbarer Weise» weggelassen. Dieses ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 8 Abs. 1 BV), und zentrale Aspekte werden durch die Verfügbarkeit in allen Landesgegenden und für die ganze Bevölkerung aufgenommen (siehe oben a. und b.).

Gegenüber dem Vernehmlassungsentwurf weggelassen wird die explizite Nennung der Qualität34. Einerseits ist dieses Kriterium schwer fassbar, andererseits ist es selbstverständlich.

Dass die Güter und Dienstleistungen der Grundversorgung auf nachhaltige Art und Weise bereitgestellt werden müssen, ergibt sich aus der bereits bestehenden Quer34

Siehe zu diesem und den folgenden Änderungsvorschlägen aus der Vernehmlassung den ericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung, insb. Ziff. 5.5 (Fundstelle s. Fn. 4).

3426

schnittbestimmung zur Nachhaltigkeit (Art. 73 BV). Entsprechendes gilt für die in der Vernehmlassung vorgeschlagene Ergänzung, wonach sozialverträgliche Arbeitsbestimmungen eingehalten werden müssen; dies ist insbesondere durch die Sozialziele (Art. 41 BV) bereits abgedeckt.

Selbstverständlich ist, dass die Grundversorgung immer wieder an die Entwicklungen der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Technik angepasst werden muss. Die Kriterien sind offen gehalten und müssen im jeweils aktuellen Kontext gelesen werden.

An die Stelle der im Vernehmlassungsentwurf genannten Preisbildung nach einheitlichen Grundsätzen tritt Absatz 4 (s. u.).

Art. 41a Abs. 4: Finanzierung der Grundversorgung In Absatz 3 wird unter dem Titel der Erschwinglichkeit die finanzielle Dimension der Grundversorgung aus dem Blickwinkel der Nutzerinnen und Nutzer behandelt.

Die Nennung des Verursacher- und des Kostendeckungsprinzips in Absatz 4 bildet dazu das Gegengewicht.

Wie schon bei Absatz 3 beschränkt sich die Bedeutung von Absatz 4 auf eine Präzisierung der Grundregel in Absatz 1. Auch hier findet also keine Ausweitung des Adressatenkreises über die Gemeinwesen hinaus statt.

Das Verursacherprinzip spricht die Frage an, wer für die Deckung der Kosten herbeigezogen werden soll. Das Kostendeckungsprinzip ergänzt diesen Gedanken um einen Zielwert in Bezug auf die Höhe der Kostenüberwälzung. Wie bereits zu Absatz 3 ausgeführt, können diese Grundsätze nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind angemessen zu berücksichtigen (s. die einleitende Bemerkung bei der Kommentierung von Abs. 3).

Im Ergebnis sind die sektorspezifischen Finanzierungslösungen sehr unterschiedlich.

So gibt es Bereiche, die vollständig über die von den Nutzern bezahlten Preise finanziert werden, wie etwa die Stromversorgung. In anderen Bereichen wird die Grundversorgung flächendeckend mit Steuergeldern finanziert, wie etwa der Grundschulunterricht (vgl. die Art. 19 und 62 Abs. 2 BV). Aber auch dort, wo ein Bereich insgesamt über die von den Nutzerinnen und Nutzern bezahlten Preise finanziert wird, können Querfinanzierungen dazu dienen, etwa die Grundversorgung auch in Randregionen sicherzustellen. Es ist stets ein politischer Entscheid, ob Mittel zu verwenden sind, die nicht aus den von den Kundinnen und Kunden bezahlten Entgelten stammen, oder ob
andere Mechanismen einzusetzen sind. Dies bedeutet auch, dass die heute funktionierenden, äusserst unterschiedlichen Finanzierungsmechanismen der neuen Vorschrift nicht widersprechen.

Art. 41b: Verwirklichung der Sozialziele und der Grundversorgung Dieser Artikel hält einige Grundsätze fest, die bei der Verwirklichung sowohl der Sozialziele als auch der Grundversorgung zu berücksichtigen sind. Zentral ist dabei die Betonung der programmatischen, nicht-justiziablen Natur der Bestimmungen.

Die Sachüberschrift lehnt sich an jene von Artikel 35 BV an («Verwirklichung der Grundrechte»). Die Bestimmungen werden inhaltlich unverändert aus Artikel 41 BV übernommen.

3427

Die explizite Nennung dieser Grundsätze ist bei der Variante C angezeigt, da diese ausführlicher als die Varianten A und B Kriterien nennt, an denen die Grundversorgung zu messen ist. Das Missverständnis, diese Kriterien seien anders als der grundlegende Handlungsauftrag nicht bloss programmatischer Natur, kann dadurch nicht entstehen.

Absatz 1 nimmt zunächst den aus Artikel 41 Absatz 1 BV herausgelösten Subsidiaritätsgedanken («in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative») auf. Diesen kombiniert er mit dem Gehalt von Artikel 41 Absatz 3 BV, wonach die Bestimmung das bundesstaatliche Kompetenzgefüge nicht antastet und staatliche Aktivitäten den Rahmen der verfügbaren Mittel nicht sprengen dürfen.

Absatz 2 entspricht Artikel 41 Absatz 4 BV, wonach aus den Sozialzielen keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden können.

Art. 43a Abs. 4: Ersetzung durch Verweis zwecks systematischer Klarheit Artikel 43a Absatz 4 BV (erst vor wenigen Jahren eingeführt35) muss durch einen Verweis auf den neuen Artikel zur Grundversorgung ersetzt werden, da nicht zwei Querschnittbestimmungen zum selben Thema nebeneinander stehen sollen. Die ersatzlose Streichung von Artikel 43a Absatz 4 BV ist nicht zu empfehlen, weil dadurch der Eindruck entstünde, in der Aufzählung der Grundsätze für die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben werde etwas entfernt, was vorher noch galt.

Dies ist jedoch nicht der Fall, da ja nur anerkannte Grundsätze ausführlicher und vollständiger dargestellt werden sollen.

Auf Französisch und auf Italienisch wird zudem die Terminologie vereinheitlicht («service universel», «servizio universale»).

Art. 92 Abs. 2 erster Satz Die Anpassung der italienischen Fassung dient wie schon bei den anderen Varianten der Vereinheitlichung der Terminologie.

2.5

Keine Änderung sektorieller Bestimmungen

Sektorielle Bestimmungen mit einem Bezug zur Grundversorgung brauchen grundsätzlich nicht angepasst oder aufgehoben zu werden, da sich aus der systematischen Stellung der vorgestellten Bestimmung deren allgemeine Querschnittbedeutung ergibt. Die neue Bestimmung soll einen Grundkonsens über den Grundversorgungsgedanken festhalten. Sektorielle Bestimmungen können darüber hinausgehen oder davon abweichen. Im Folgenden wird das Verhältnis zu einzelnen sektoriellen Bestimmungen beispielhaft dargestellt.

Artikel 57 BV verpflichtet den Bund und die Kantone, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die Sicherheit des Landes und den Schutz der Bevölkerung zu sorgen. In Bezug auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung betrifft dies eine originäre KernZuständigkeit der Kantone; im Bereich der technischen Sicherheit sind zahlreiche Bundeskomptenzen erfasst. Die Verpflichtung geht weiter als bei der vorgestellten neuen Bestimmung, da sie nicht nur ein Aktivwerden erfasst («setzen sich ein 35

Im Rahmen der NFA, AS 2007 5765.

3428

für ...»), sondern die Gemeinwesen verpflichtet, für die Erreichung des Ziels (Sicherheit des Landes und Schutz der Bevölkerung) zu sorgen. An dieser Rechtslage soll nichts geändert werden.

In den Artikeln 61a­66 BV finden sich diverse Bestimmungen, die den Bund und die Kantone anweisen, in verschiedenen Teilbereichen der Bildung in unterschiedlicher Weise aktiv zu werden. Dies kann als Aspekt der Grundversorgung betrachtet werden. Die genannten Regeln sind jedoch viel spezifischer als die vorgestellte allgemeine Bestimmung und gehen in verschiedener Hinsicht über diese hinaus.

Sie können daher unverändert belassen werden. In diesem Zusammenhang kann auch darauf hingewiesen werden, dass der grundrechtliche Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht (Art. 19 BV) durch die neue Bestimmung nicht beschnitten würde. Das Verursacher- und das Kostendeckungsprinzip (Art. 41a Abs. 4 in der Variante C) können bei der Grundschule nicht zum Zug kommen.

Artikel 89 BV und insbesondere dessen Absatz 1 zielen zwar in Bezug auf die Energieversorgung teilweise in dieselbe Richtung wie der vorgestellte Entwurf. Diese Bestimmungen erschöpfen sich jedoch nicht in diesem Aspekt, sondern setzen auch diverse andere Akzente wie etwa die breite Fächerung, die Sicherheit und die Umweltverträglichkeit. Artikel 89 kann daher unverändert beibehalten werden.

Auch Artikel 92 Absatz 2 BV, der dem Bund die Aufgabe gibt, für die Grundversorgung im Post- und Fernmeldebereich zu sorgen, ist nicht aufzuheben oder zu ändern, da er in zweierlei Hinsicht über den vorgestellten Entwurf hinausgeht: Erstens spricht er nicht allgemein die Gemeinwesen aller Stufen an, sondern nimmt konkret den Bund in die Pflicht. Zudem wird der Bund nicht wie im vorgestellten Entwurf nur auf ein Tätigwerden verpflichtet, sondern auf ein Ergebnis («sorgt für ...»).

Artikel 102 BV betreffend die wirtschaftliche Landesversorgung muss ebenfalls nicht angepasst werden. Die in der vorgestellten Verfassungsbestimmung enthaltenen Grundsätze der Grundversorgung beziehen sich auf Zeiten normaler Versorgung, während Artikel 102 BV die Überwindung schwerer Mangel- oder Notlagen zum Ziel hat (vgl. auch Ziff. 4.2 zum Schutz kritischer Infrastrukturen). Artikel 102 BV verpflichtet den Bund, die Verfügbarkeit lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen
sicherzustellen. Im Falle eines Versorgungsengpasses hat der Bund mit gezielten Massnahmen vorübergehend in das Marktgeschehen einzugreifen, um entstandene Angebotslücken zu schliessen. Zu diesem Zweck kann er notfalls auch vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen (Art. 102 Abs. 2 und Art. 94 Abs. 1 und 4 BV). Die allgemeine Bestimmung über die Grundversorgung hingegen würde alle Gemeinwesen ansprechen und sie nicht auf ein Ergebnis, sondern auf ein Tätigwerden verpflichten. Zudem würde sie keine Abweichungen vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit erlauben.

3429

2.6

Koordination mit anderen Verfassungsrevisionen

Die Frist zur Einreichung der Unterschriften für die Volksinitiative «Pro Service public» läuft am 28. August 2013 ab36. Die Initiative sieht einen neuen Artikel 43b BV vor. Zentrale Inhalte sind eine Regel, wonach der Bund im Bereich der Grundversorgung nicht nach Gewinn streben darf, und ein Verbot der Querfinanzierung anderer Verwaltungsbereiche (Abs. 1). Zudem sollen die Löhne und Honorare in den mit Grundversorgungsaufgaben betrauten Unternehmen nicht über denjenigen der Bundesverwaltung liegen (Abs. 2 zweiter Satz). Diese Regeln sollen einerseits für Unternehmen gelten, die der Bund durch Mehrheitsbeteiligung kontrolliert, andererseits aber auch für Unternehmen, die im Bereich der Grundversorgung des Bundes einen gesetzlichen Auftrag haben (Abs. 2 erster Satz). Schliesslich soll das Gesetz die Einzelheiten regeln und insbesondere für Transparenz über die Kosten der Grundversorgung und über die Verwendung der entsprechenden Einnahmen sorgen (Abs. 3). Somit verfolgt die Initiative einen anderen Ansatz als die vorliegenden Entwürfe. Es soll nicht ein Grundkonsens über die Grundversorgung im Allgemeinen abgebildet werden, sondern es werden bestimmte finanzielle Aspekte der Grundversorgung herausgegriffen und relativ konkret geregelt. Dabei ist nur der Bereich des Bundes erfasst, nicht aber Bestrebungen der Kantone zugunsten der Grundversorgung. Private Unternehmen fallen nur unter die Bestimmung, wenn sie vom Bund einen Grundversorgungsauftrag erhalten. Es wäre rechtlich daher nicht ausgeschlossen, mit der Initiative in deren relativ engem Regelungsbereich Sonderregelungen aufzunehmen, die über die allgemeinen Formulierungen der vorliegend vorgestellten Entwürfe hinausgehen. Sofern die Initiative zustandekommt, kann die Bundesversammlung entscheiden, ob sie ihr den vorliegend vorgestellten Entwurf als direkten Gegenentwurf gegenüberstellen möchte. Dass ein materieller Bezug besteht, ist unbestreitbar.

Die Motion 12.3013 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats (SGK-NR) soll den Bundesrat beauftragen, analog zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts37 ein schlankes «Rahmengesetz für Sozialhilfe» vorzulegen. Der Bundesgesetzgeber kann ein solches Gesetz nur erlassen, wenn eine entsprechende Bundeskompetenz neu in die Verfassung aufgenommen
wird. Die Sozialhilfe dient der Existenzsicherung und zielt damit auf einen niedrigeren Standard als die Grundversorgung. Eine allfällige neue Verfassungsbestimmung über eine Grundsatzgesetzgebung des Bundes im Bereich der Sozialhilfe sollte sich daher mit den hier vorgestellten Bestimmungen zur Grundversorgung nicht überschneiden.

Der Bundesbeschluss über die Finanzierung und den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur (FABI) ist derzeit in parlamentarischer Beratung38. Die Vorlage beinhaltet eine neue Verfassungsbestimmung, gemäss welcher Bund und Kantone für ein ausreichendes Angebot an öffentlichem Verkehr sorgen (Art. 81a Abs. 1). Die FABI-Vorlage geht einerseits weiter als die hier vorgestellte allgemeine Bestimmung. Sie verpflichtet die Gemeinwesen, für ein ausreichendes Angebot zu sorgen, das heisst: ein Ergebnis sicherzustellen. Zudem enthält sie präzisere Vorgaben zur 36 37 38

Verfügung der Bundeskanzlei vom 14. Februar 2012 über die Vorprüfung der Initiative «Pro Service public», BBl 2012 1547.

Bundesgesetz vom 6. Okt. 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, SR 830.1.

12.016; Botschaft: BBl 2012 1577.

3430

Finanzierung. Andererseits ist sie vom Geltungsbereich her enger, indem sie nicht den gesamten Verkehrsbereich, sondern nur den öffentlichen Verkehr abdeckt. Das Verhältnis zwischen der allgemeinen und den besonderen Bestimmungen wäre dasselbe wie bei den anderen sektoriellen Bestimmungen mit Grundversorgungscharakter: Die allgemeine Bestimmung gilt neben der besonderen, soweit diese nicht abweichende Regelungen enthält (vgl. Ziff. 2.5).

Dasselbe Verhältnis zwischen allgemeiner und besonderer Regelung gilt auch in Bezug auf den direkten Gegenentwurf zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin»39. Auch dieser steht momentan in parlamentarischer Beratung. Er enthält einerseits einen allgemeinen Auftrag zugunsten der medizinischen Grundversorgung.

Dabei folgt er ähnlichen Grundgedanken wie der vorliegende Entwurf. Andererseits enthält er aber auch Bestimmungen mit konkreten rechtlichen Folgen, insbesondere mit einer Kompetenzzuweisung an den Bund40. Eine solche bringt die allgemeine Bestimmung über die Grundversorgung nicht mit sich.

3

Auswirkungen

Eine allgemeine Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung hätte, unabhängig von der gewählten Variante, keine unmittelbaren wirtschaftlichen oder sozialen Auswirkungen. Aus ihr könnten, analog zu den Sozialzielen (Art. 41 BV), keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden. Der erste Satz der Bestimmung (bzw. der einzige in der Variante A) sieht zwar eine Handlungsverpflichtung der Gemeinwesen vor, sich für die Grundversorgung einzusetzen. Unmittelbarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergäbe sich daraus aber nicht. Konkrete inhaltliche Vorgaben für die Erreichung des Ziels würde die Bundesverfassung weiterhin nur in sektoriellen Bestimmungen machen.

Auswirkungen hätte die neue Bestimmung somit allenfalls auf einer symbolischen und politischen Ebene.

Dies wird auf der Ebene des Wortlauts mit der Formulierung «Bund und Kantone setzen sich ... ein» in allen Varianten explizit festgehalten. Die systematische Einordnung bei den Sozialzielen unterstreicht es zusätzlich. Bei der Variante C wird es durch eine Verschiebung verschiedener Elemente von Artikel 41 (neu Art. 41b) noch einmal unmissverständlich hervorgehoben. Diese zusätzlichen Absicherungen in der Variante C dürfen jedoch nicht vergessen machen, dass der Wortlaut und die systematische Einordnung auch bei den anderen Varianten eindeutig sind.

Auch die Erwähnung der Erschwinglichkeit sowie des Verursacher- und des Kostendeckungsprinzips hat keine direkten finanziellen Auswirkungen. Die Erschwinglichkeit für die Bevölkerung einerseits und das Verursacher- und das Kostendeckungsprinzip andererseits stehen in vielen Fällen in einem Spannungsverhältnis, das in den jeweiligen Sachbereichen zum Ausgleich gebracht werden muss. Die neue Bestimmung bringt dies zum Ausdruck, indem sie die Gemeinwesen einerseits (nur) verpflichtet, sich für die Grundversorgung einzusetzen, und sie andererseits anweist, auch das Verursacher- und das Kostendeckungsprinzip zu berücksichtigen.

39 40

11.062; Botschaft: BBl 2011 7553 7963.

Art. 117a Abs. 2 und 3 im genannten direkten Gegenentwurf.

3431

Zu erwähnen ist allerdings, dass zu viele programmatische, konturenlose Bestimmungen die Steuerungskraft der Bundesverfassung insgesamt schwächen könnten.

In der Vernehmlassung wurde auch die Sorge geäussert, dass die neue Bestimmung eine unangebrachte Anspruchshaltung gegenüber dem Staat fördern könne.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zu nationalen Strategien des Bundesrats

4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 25. Januar 201241 zur Legislaturplanung 2011­2015 noch im Bundesbeschluss vom 15. Juni 201242 über die Legislaturplanung 2011­2015 angekündigt. Sie ist notwendig zur Erfüllung der Motion KVF-S 05.3232.

4.2

Verhältnis zur nationalen Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen

Der Bundesrat hat im Sommer 2012 die Nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen verabschiedet.43 Als kritisch gelten Infrastrukturen, welche die Verfügbarkeit von essenziellen Gütern und Dienstleistungen, wie etwa Energie, Kommunikation oder Verkehr, sicherstellen. Grossflächige Ausfälle wirken sich schwerwiegend auf die Bevölkerung und die Wirtschaft aus. Damit erfasst der Schutz kritischer Infrastrukturen einen namhaften Teil der Sachbereiche der Grundversorgung. Der Unterschied liegt darin, dass die Grundversorgung den Normalfall und der Schutz kritischer Infrastrukturen den Stör- oder Angriffsfall zum Gegenstand hat. Im Fokus des Schutzes kritischer Infrastrukturen steht vor allem die Vermeidung grossflächiger und schwerwiegender Ausfälle. Die (umfassende) Versorgung bis in die Peripherie steht dabei zwar nicht im Mittelpunkt, die entsprechenden Bereiche der Grundversorgung sind aber darauf angewiesen, dass entsprechende Ausfälle verhindert werden.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Bei der Gesetzgebung über konkrete Grundversorgungsinstrumente sind die internationalen Verpflichtungen der Schweiz zu beachten. Zu nennen sind etwa das internationale Wettbewerbs- und Handelsrecht (Abbau von Handelsbarrieren, Beihilfenverbote usw.) und die Diskriminierungsverbote zugunsten von Ausländerinnen und Ausländern, wie sie namentlich in den bilateralen Verträgen mit der EU enthalten

41 42 43

BBl 2012 481 BBl 2012 7155 BBl 2012 7715

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sind. Der Internationale Pakt vom 16. Dezember 196644 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I) enthält zudem eine Reihe von Bestimmungen, die inhaltlich in eine ähnliche Richtung gehen wir der vorgestellte Entwurf. Konflikte zwischen dem vorgestellten Entwurf und dem UNO-Pakt I bestehen nicht.

5.2

Erlassform

Die Motion gibt als Erlassform eine Revision der Bundesverfassung vor. Programmatische Grundsätze können in die Bundesverfassung aufgenommen werden, eine rechtliche Notwendigkeit dafür besteht jedoch nicht.

Die Bundesversammlung unterbreitet Änderungen der Bundesverfassung Volk und Ständen in der Form des Bundesbeschlusses zur Abstimmung (Art. 23 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200245).

5.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse und Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

Die vorgestellte Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung ist in allen Varianten rein programmatischer Art und hat keine direkten finanziellen Auswirkungen. Es liegt daher kein von der Schuldenbremse oder dem Subventionsgesetz erfasster Sachverhalt vor.

5.4

Zuweisung von Rechtsetzungsbefugnissen

Der Entwurf sieht keine Änderung der heutigen Zuständigkeitsordnung vor. Insbesondere werden keine neuen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und keine neuen Verordnungskompetenzen des Bundesrates geschaffen.

44 45

SR 0.103.1 SR 171.10

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