12.098 Botschaft zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» vom 7. Dezember 2012

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Volksinitiative abzulehnen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

7. Dezember 2012

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Eveline Widmer-Schlumpf Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2012-2553

291

Übersicht Die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» verlangt eine grundsätzliche Neuausrichtung der schweizerischen Zuwanderungspolitik durch eine umfassende Regulierung. Die vorgeschlagene Lösung ist insbesondere nicht mit dem Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) sowie mit der entsprechenden Konvention der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) vereinbar. Eine Annahme der Initiative stellt somit die bewährten bilateralen Beziehungen zu unseren europäischen Partnerländern in Frage und schadet der Schweizer Wirtschaft. Sie führt zudem zu einem bürokratischen Mehraufwand. Der Bundesrat beantragt der Bundesversammlung, die Initiative ohne Gegenentwurf Volk und Ständen zu unterbreiten, mit der Empfehlung, sie abzulehnen.

Inhalt der Initiative Die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» wurde am 14. Februar 2012 bei der Bundeskanzlei eingereicht. Sie will insbesondere erreichen, dass die Schweiz die Zuwanderung durch die Festlegung von jährlichen Höchstzahlen für alle Zulassungen steuert. Negative Folgen der Zuwanderung sollen dadurch vermieden werden.

Vorzüge und Mängel der Initiative Die Zuwanderungspolitik der Schweiz basiert auf dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU (FZA) und der entsprechenden EFTA-Konvention sowie einer beschränkten Zulassung von Angehörigen der übrigen Staaten aus wichtigen wirtschaftlichen oder humanitären Gründen. Dieses duale Zulassungssystem hat sich bewährt. Die Zuwanderung wird heute in erster Linie durch die wirtschaftliche Situation der Schweiz und die damit verbundene Nachfrage insbesondere nach qualifizierten Arbeitskräften beeinflusst und gesteuert. Der Bundesrat will an der bisherigen Zuwanderungspolitik festhalten und allfälligen negativen Auswirkungen insbesondere in einzelnen Infrastrukturbereichen mit den notwendigen Massnahmen begegnen.

Bereits mit der Einführung des Freizügigkeitsabkommens wurden flankierende Massnahmen eingeführt, um Missbräuchen insbesondere im Bereich der Lohn- und Arbeitsbedingungen zu begegnen. Der Bundesrat verkennt nicht, dass das schweizerische Wirtschaftswachstum und die vergleichsweise hohe Zuwanderung der letzten Jahre zu einem Bevölkerungswachstum geführt haben, womit sich die Herausforderungen insbesondere in der Integration, auf dem Wohnungsmarkt, bei der Infrastruktur- und Raumplanung
und in der Bildungspolitik erhöhen. Die hohe Zuwanderung erhöht in den genannten Bereichen den innenpolitischen Reformdruck. Der Bundesrat setzt sich dafür ein, die nötigen Reformen anzugehen. Grundlage dafür bildet der Bericht der Arbeitsgruppe Personenfreizügigkeit und Zuwanderung, der am 4. Juli 2012 vom Bundesrat verabschiedet wurde.1 Ausschlaggebend für den 1

292

Bericht des Bundesrates über die Personenfreizügigkeit und die Zuwanderung in die Schweiz vom 4. Juli 2012, siehe unter: www.ejpd.admin.ch/content/dam/data/ pressemitteilung/2012/2012-07-040/ber-br-d.pdf.

Erfolg der Zulassungspolitik ist letztlich die berufliche und soziale Integration der Ausländerinnen und Ausländer. Sie ist heute trotz einer starken Zuwanderung insgesamt gut. Der Bundesrat plant zudem weitere integrationspolitische Massnahmen.

Die mit dem FZA gewährleistete Personenfreizügigkeit gehört zu den zentralen Grundfreiheiten, die aus Sicht der EU mit einer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt verbunden sind. Die EU und ihre Mitgliedstaaten könnten eine Diskriminierung ihrer Bürgerinnen und Bürger gegenüber Schweizerinnen und Schweizern in diesem Bereich daher nicht akzeptieren. Bei einer Annahme der Initiative müsste deshalb davon ausgegangen werden, dass das FZA nicht mehr weitergeführt werden kann. Eine Kündigung hätte gravierende Konsequenzen für die Schweizer Volkswirtschaft, die jeden zweiten Franken in der EU verdient: Das FZA ist eines von insgesamt sieben sektoriellen Abkommen, welche als Paket zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossen wurden (Bilaterale I). Bei einer Kündigung des FZA würden die von der «Guillotine-Klausel» betroffenen Abkommen automatisch hinfällig.

Durch den Wegfall des FZA würde auch das heute den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern garantierte Aufenthaltsrecht (inklusive Zugang zum Arbeitsmarkt) in allen EU- und EFTA-Staaten wegfallen.

Die von der Initiative geforderte Zulassungsregelung würde ausserdem sowohl für die schweizerischen Arbeitgeber als auch für die Arbeitsmarkt- und Migrationsbehörden der Kantone und des Bundes zu einem erheblichen Mehraufwand führen. Ein solcher Ausbau der Bürokratie stünde im Widerspruch zu der von breiten Kreisen geforderten Vereinfachung der Verwaltungsverfahren und zum Ziel einer Zuwanderung gemäss den tatsächlichen wirtschaftlichen Bedürfnissen.

Die Initiative lässt sich so auslegen, dass sie den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts nicht widerspricht (Non-Refoulement-Prinzip). Im Fall einer Annahme müsste bei der Umsetzung gewährleistet sein, dass das Non-Refoulement-Prinzip und weitere menschenrechtliche Verpflichtungen der Schweiz eingehalten werden.

Dies ist insbesondere bei der geforderten Einführung von Höchstzahlen auch bei der Zulassung aus humanitären Gründen zu beachten. Eine solche Begrenzung steht im Widerspruch zur humanitären Tradition der Schweiz.

Antrag des Bundesrates Der Bundesrat beantragt deshalb den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen.

293

Inhaltsverzeichnis Übersicht

292

1 Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative 1.1 Wortlaut der Initiative 1.2 Zustandekommen und Behandlungsfristen 1.3 Gültigkeit 1.3.1 Vereinbarkeit mit zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts 1.3.2 Vereinbarkeit der Einführung von Höchstzahlen mit dem Non-Refoulement-Prinzip 1.3.3 Schlussfolgerung

296 296 297 297

2 Ausgangslage für die Entstehung der Initiative 2.1 Historische Entwicklung der Zulassung 2.2 Das heutige Zulassungssystem im Ausländerbereich 2.2.1 Zulassung von Personen aus EU/EFTA-Staaten 2.2.2 Zulassung von Personen aus Drittstaaten 2.3 Zulassung im Asylbereich 2.4 Volksinitiativen im Migrationsbereich seit 2000 2.5 Wichtigste Auswirkungen der Einführung des FZA 2.5.1 Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage 2.5.2 Löhne und Arbeitslosigkeit 2.5.3 Grenzgängerregionen 2.5.4 Wohnungsmarkt 2.6 Grund für die Initiative

300 300 302 302 303 304 304 306 307 308 309 309 310

3 Ziele und Inhalt der Initiative 3.1 Die einzelnen Bestimmungen des Initiativtextes 3.1.1 Artikel 121 BV [Sachüberschrift] 3.1.2 Artikel 121a BV [neu] 3.1.3 Artikel 197 Ziffer 9 BV [neu] 3.2 Auslegung des Initiativtextes

310 311 311 311 312 313

4 Würdigung der Initiative 4.1 Würdigung der Anliegen der Initiative 4.2 Auswirkungen einer Annahme der Initiative 4.2.1 Neuverhandlung des FZA 4.2.2 Auswirkungen auf andere Abkommen 4.2.3 Umsetzung der Initiative 4.2.4 Finanzielle und personelle Auswirkungen 4.2.5 Inkrafttreten und Übergangsrecht 4.3 Mängel der Initiative 4.3.1 Gravierende Konsequenzen für die Schweizer Wirtschaft 4.3.2 Zuwanderungsbedingte Probleme gezielter angehen als die Initiative

316 316 317 317 318 318 320 321 322 322

294

298 299 300

328

4.4 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 4.4.1 Ausgangslage 4.4.2 Freizügigkeitsabkommen 4.4.3 World Trade Organisation (WTO/GATS) und Freihandelsabkommen 4.4.4 Niederlassungsverträge und Niederlassungsvereinbarungen 4.4.5 Abkommen über den Austausch junger Berufsleute (Stagiaires) 4.4.6 EMRK und UNO-Pakt II 4.4.7 Kinderrechtskonvention 4.4.8 Dublin- und Schengen-Assoziierungsabkommen

334 334 335 336 338 338 339 340 341

5 Schlussfolgerungen

342

Literaturverzeichnis

344

Bundesbeschluss über die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» (Entwurf)

345

295

Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» hat folgenden Wortlaut: I Die Bundesverfassung2 wird wie folgt geändert: Art. 121 Sachüberschrift (neu) Gesetzgebung im Ausländer- und Asylbereich Art. 121a (neu)

Steuerung der Zuwanderung

Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig.

1

Die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz wird durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt.

Die Höchstzahlen gelten für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug des Asylwesens. Der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen kann beschränkt werden.

2

Die jährlichen Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer sind auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz unter Berücksichtigung eines Vorranges für Schweizerinnen und Schweizer auszurichten; die Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind einzubeziehen. Massgebende Kriterien für die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen sind insbesondere das Gesuch eines Arbeitgebers, die Integrationsfähigkeit und eine ausreichende, eigenständige Existenzgrundlage.

3

Es dürfen keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden, die gegen diesen Artikel verstossen.

4

5

Das Gesetz regelt die Einzelheiten.

2

296

SR 101

II Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt geändert: Art. 197 Ziff. 93 (neu) 9. Übergangsbestimmung zu Art. 121a (Steuerung der Zuwanderung) 1 Völkerrechtliche Verträge, die Artikel 121a widersprechen, sind innerhalb von drei Jahren nach dessen Annahme durch Volk und Stände neu zu verhandeln und anzupassen.

Ist die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 121a drei Jahre nach dessen Annahme durch Volk und Stände noch nicht in Kraft getreten, so erlässt der Bundesrat auf diesen Zeitpunkt hin die Ausführungsbestimmungen vorübergehend auf dem Verordnungsweg.

2

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» wurde am 12. Juli 2011 von der Bundeskanzlei vorgeprüft4 und am 14. Februar 2012 eingereicht.

Mit Verfügung vom 19. März 2012 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 135 557 gültigen Unterschriften zu Stande gekommen ist.5 Die Initiative hat die Form eines ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag.

Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20026 (ParlG) hat der Bundesrat der Bundesversammlung spätestens bis am 14. Februar 2013 eine Botschaft und den Entwurf eines Bundesbeschlusses für eine Stellungnahme zu unterbreiten. Die Bundesversammlung muss nach Artikel 100 ParlG bis zum 14. August 2014 über die Abstimmungsempfehlung beschliessen.

1.3

Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 der Bundesverfassung (BV): a.

3

4 5 6

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt die Anforderungen an die Einheit der Form.

Da die Volksinitiative keine Übergangsbestimmung der Bundesverfassung ersetzen will, erhält die Übergangsbestimmung zum vorliegenden Artikel erst nach der Volksabstimmung die endgültige Ziffer, und zwar aufgrund der Chronologie der in der Volksabstimmung angenommenen Verfassungsänderungen. Die Bundeskanzlei wird die nötigen Anpassungen vor der Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts (AS) vornehmen.

BBl 2011 6269 BBl 2012 3869 SR 171.10

297

b.

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.

c.

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht (siehe Ziff. 1.3.1­1.3.3).

1.3.1

Vereinbarkeit mit zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts

Der landesrechtliche Begriff «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» knüpft vorab an den völkerrechtlichen Begriff des Ius cogens an. Dazu zählen namentlich die Grundzüge des humanitären Völkerrechts («Recht im Krieg») sowie das Gewaltverbot der UNO-Charta, das Verbot von Völkermord, Folter, Sklaverei sowie der Ausschaffung in einen Staat, in dem der betroffenen Person Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht («Non-Refoulement-Prinzip»). Unter den Begriff der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» fallen schliesslich auch die meisten notstandsfesten Garantien der Konvention vom 4. November 19507 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK) und des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 19668 über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II).9 Durch die vorliegende Initiative sind die zwingenden Bestimmungen des NonRefoulement-Prinzips betroffen (vgl. nachfolgend Ziff. 1.3.2). Weitere Bestimmungen des zwingenden Völkerrechts werden jedoch nicht tangiert.

Zwingende Bestimmungen des Völkerrechtes umfassen die Fundamentalnormen des Völkerrechts, von denen keine Abweichung zulässig ist. Sie stellen eine materielle Schranke für Verfassungsrevisionen dar. Ein Verstoss gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts im Sinne von Artikel 139 Absatz 3 und Artikel 194 Absatz 2 BV liegt nur vor, wenn eine völkerrechtskonforme Auslegung des Initiativtextes nicht möglich ist.

Bisher wurde erst eine Initiative aus diesem Grund für ungültig erklärt: Die 1992 zustande gekommene Volksinitiative «für eine vernünftige Asylpolitik» wurde 1996 wegen Verletzung des völkerrechtlichen Non-Refoulement-Prinzips durch die Bundesversammlung für ungültig erklärt und Volk und Ständen nicht zur Abstimmung unterbreitet.10

7 8 9 10

298

SR 0.101 SR 0.103.2 Vgl. Zusatzbericht vom 30. März 2011 des Bundesrats zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht (BBl 2011 3613), Ziff. 2.4.1.

BBl 1994 III 1496 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 1996 I 355 (Bundesbeschluss zur Ungültigkeit der Volksinitiative).

1.3.2

Vereinbarkeit der Einführung von Höchstzahlen mit dem Non-Refoulement-Prinzip

Gemäss dem Wortlaut der Initiative sollen neu auch im Asylwesen Höchstzahlen eingeführt werden. In einem konkreten Fall könnte die Verweigerung des Aufenthalts in der Schweiz aufgrund bereits ausgeschöpfter Höchstzahlen im Widerspruch zum Non-Refoulement-Prinzip stehen. Es ist daher zu prüfen, ob der Initiativtext gegen das Prinzip des Non-Refoulement verstösst (vgl. Art. 25 Abs. 2 und 3 BV, Art. 33 des Abkommens vom 28. Juli 195111 über die Rechtstellung der Flüchtlinge [Genfer Flüchtlingskonvention] sowie Art. 3 EMRK und Art. 3 des Übereinkommens vom 10. Dezember 198412 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe [UNO-Antifolterkonvention]).

Die Auslegung von Initiativtexten erfolgt nach den Grundsätzen, die das Bundesgericht für die Beurteilung kantonaler Volksinitiativen entwickelt hat. Die Initiative ist folglich nach den anerkannten Auslegungsmethoden zu interpretieren. Auszugehen ist in erster Linie vom Wortlaut der Initiative. Der subjektive Wille der Initiantinnen und Initianten ist nicht ausschlaggebend; immerhin dürfen deren Meinungsäusserungen mitberücksichtigt werden. Kann die Initiative so ausgelegt werden, dass sie mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts vereinbar ist, so ist sie für gültig zu erklären.

Die Berücksichtigung des zwingend einzuhaltenden Non-Refoulement-Prinzips wird im Initiativtext nicht ausdrücklich erwähnt. Der Text verbietet es den Behörden indessen weder ausdrücklich noch sinngemäss, das Non-Refoulement-Prinzip zu beachten. Er gewährt dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum bei der Festlegung der Höchstzahlen; es bestehen insbesondere keine Vorgaben über deren Höhe (z.B. durch absolute Zahlen oder Prozentanteile der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung). Sie könnten demnach so angesetzt werden, dass sie gemäss den bisherigen Erfahrungen nicht zu einem Konflikt mit dem Non-Refoulement-Prinzip führen. Sollten die Höchstzahlen dennoch überschritten werden, würde das Non-Refoulement-Prinzip als zwingendes Völkerrecht trotzdem angewendet werden. Ein kurzfristiges Überschreiten der für den Asylbereich festgelegten Höchstzahlen müsste in Kauf genommen werden. Da aber der Initiativtext nicht verbietet, die Höchstzahlen für gewisse Bereiche auch kurzfristig anzupassen (etwa bei einem raschen Anstieg
der Asylgesuche aufgrund eines kriegerischen Ereignisses), sollte eine solche Überschreitung möglichst vermieden werden. Die Initiantinnen und Initianten halten in ihrem Argumentarium13 (S. 30) ebenfalls fest, dass die Höchstzahlen im Asylbereich unter Berücksichtigung des zwingenden Völkerrechts festgelegt werden sollen. Bei einer allfälligen Umsetzung der Initiative müsste näher bestimmt werden, welche Aufenthalte im Asylbereich tatsächlich in die Höchstzahlen einzubeziehen wären. Insgesamt kann also der Initiative ein Sinn beigemessen werden, der die Beachtung des Non-Refoulement-Prinzips zulässt.

Eine vergleichbare Problematik lag bei der von Volk und Ständen abgelehnten Volksinitiative «für eine Regelung der Zuwanderung» vor, die den Bestand der ausländischen Wohnbevölkerung auf 18 % begrenzen wollte.14 Auch hier wurde die 11 12 13 14

SR 0.142.30 SR 0.105 Vgl. Literaturverzeichnis auf S. 54.

Botschaft des Bundesrats zur Eidgenössische Volksinitiative «für eine Regelung der Zuwanderung» (BBl 1997 IV 521).

299

Vereinbarkeit einer auch für den Asylbereich geltenden zahlenmässigen Beschränkung mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts (Non-RefoulementPrinzip) damit begründet, dass bei der Umsetzung ein gewisser Gestaltungsspielraum bestehen würde.15

1.3.3

Schlussfolgerung

Die Initiative kann in einer Weise ausgelegt werden, die mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts (Non-Refoulement-Prinzip) vereinbar ist. Die Initiative kann folglich für gültig erklärt werden.

Bei einer Annahme der Initiative müsste allerdings zwingend darauf geachtet werden, dass deren Umsetzung die Einhaltung des absolut geltenden Non-RefoulementPrinzips gewährleistet.

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

2.1

Historische Entwicklung der Zulassung

Das geltende Ausländergesetz vom 16. Dezember 200516 (AuG) trat am 1. Januar 2008 in Kraft. Es löste das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) aus dem Jahr 1931 ab, das dem Bundesrat bei der Ausgestaltung der Zuwanderungspolitik einen grossen Handlungsspielraum gab.

Bis zur Mitte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts verfolgte der Bundesrat eine liberale Zulassungspraxis. In den Sechzigerjahren kam es als Folge des raschen Wirtschaftswachstums zu einem erheblichen Anstieg der ausländischen Wohnbevölkerung. Der Bundesrat beschränkte aus diesem Grund die Zulassung, indem er den maximalen Ausländerbestand pro Betrieb durch Verordnungen begrenzte. 1970 wurde diese betriebsweise Plafonierung durch eine generelle Begrenzung aller neueinreisenden erwerbstätigen Ausländerinnen und Ausländer ersetzt.

Während der Siebzigerjahre ging der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung infolge einer Rezession zurück. Nachdem er bis 1974 kontinuierlich auf 16,8 % angestiegen war, sank er bis 1979 auf 14,1 %.

Im Zuge der wirtschaftlichen Hochkonjunktur während der Achtzigerjahre wurden viele neue Arbeitsplätze geschaffen, die grösstenteils nur mit neueinreisenden ausländischen Arbeitskräften besetzt werden konnten. Dies führte erneut zu einer Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung (1980: 14,8 %; 1990: 18,1 %).

Zwischen 1991 und 1998 ersetzte der Bundesrat seine bisherige Zulassungsregelung («Drei-Kreise-Modell») schrittweise durch ein duales Zulassungssystem, das bei der Zulassung nur noch zwischen den Staaten der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) einerseits sowie den übrigen Staaten andererseits unterscheidet und das grundsätzlich heute noch gilt.17 Die ursprünglich bestehende Möglichkeit zur Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräften auch 15 16 17

300

Siehe BBl 1997 IV 521, Ziff. 154.2.

SR 142.20 BBl 1991 III 291

ohne besondere berufliche Qualifikationen aus gewissen Staaten ausserhalb der EU und der EFTA wurde abgeschafft. Von dieser Massnahme waren hauptsächlich Personen aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens betroffen.18 Ausgenommen von diesem Prinzip blieb die Zulassung gestützt auf völkerrechtliche Verpflichtungen, aus wichtigen humanitären Gründen, im Rahmen des Familiennachzugs oder zur Aus- und Weiterbildung.

1996 setzte der Bundesrat die Expertenkommission «Migration» (Kommission Hug) ein, um konkrete Vorschläge für eine künftige Migrationspolitik auszuarbeiten.

Gestützt auf ihre Ergebnisse wurde 1998 eine weitere Expertenkommission beauftragt, den Entwurf für ein neues Ausländergesetz auszuarbeiten. Im Verlauf der Neunzigerjahre stieg der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung von 18,1 % auf 20,9 %.

Am 21. Juni 1999 wurde das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit19 (FZA) als Teil der Bilateralen Abkommen I unterzeichnet. Das Schweizer Volk hat am 21. Mai 2000 die Bilateralen Abkommen I mit 67,2 % der Stimmen angenommen. Das FZA trat am 1. Juni 2002 in Kraft.

Am 24. September 2006 wurde das neue Ausländergesetz mit 68 % Ja-Stimmen vom Schweizer Volk angenommen. Neben der Verankerung des dualen Zulassungssystems auf Gesetzesstufe wurden mit dem AuG insbesondere neue Bestimmungen über die Integration, den Familiennachzug sowie zur Bekämpfung der Umgehung der Zulassungsbestimmungen eingeführt. Das AuG trat am 1. Januar 2008 in Kraft.

Migrationspolitisch bedeutsam ist heute zudem die Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU im Rahmen von «Schengen» (insb. Grenzkontrollen, Visa, polizeiliche Zusammenarbeit, justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) sowie «Dublin» (Zuständigkeitsregelung für Asylverfahren). Die entsprechenden Assoziierungsabkommen20 wurden am 26. Oktober 2004 unterzeichnet und die praktische Zusammenarbeit begann grundsätzlich am 12. Dezember 2008. Die Personenkontrollen zwischen den Schengen-Staaten (Binnengrenzen) wurden grundsätzlich aufgehoben.

Gleichzeitig wurden Massnahmen zur Stärkung der inneren Sicherheit ergriffen.

Im Rahmen von «Dublin» werden die Zuständigkeiten für die Behandlung von Asylgesuchen geregelt. Es wird so vermieden, dass mehrere
Verfahren für den gleichen Gesuchsteller oder die gleiche Gesuchstellerin durchgeführt werden. Im Jahr 2011 akzeptierten andere Dublin-Staaten in über 7000 Fällen die Zuständigkeit für ein in der Schweiz gestelltes Asylgesuch. Umgekehrt erklärte sich die Schweiz in rund 900 Fällen zuständig. Im gleichen Jahr stellten insgesamt 22 551 Personen in der Schweiz ein Asylgesuch.

Der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung betrug im Jahr 2000 20,9 %. Bis 2011 wuchs er auf 22,8 %.

18 19 20

Siehe auch den Bericht des Bundesrates zur Ausländer- und Flüchtlingspolitik, BBl 1991 III 291.

SR 0.142.112.681 SR 0.362.31; SR 0.142.392.68

301

Anteil der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung

2.2

Das heutige Zulassungssystem im Ausländerbereich

Die Schweiz kennt heute ein duales Zulassungssystem, das zwischen Personen aus EU/EFTA-Staaten sowie Personen aus Drittstaaten unterscheidet.

2.2.1

Zulassung von Personen aus EU/EFTA-Staaten

Aus den EU/EFTA-Staaten können heute qualifizierte und weniger qualifizierte Erwerbstätige rekrutiert werden. Die Zuwanderung dieser Personen richtet sich nach dem FZA und dem Übereinkommen vom 4. Januar 196021 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA-Konvention); sie folgt in erster Linie den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes. Das FZA ist ein Kernstück der Bilateralen I zwischen der Schweiz und der EU und damit zentral für die Beziehungen der Schweiz zur EU.

Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und den EU/EFTA-Staaten wurde der Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt liberalisiert.

Gleichzeitig haben auch Schweizer Staatsangehörige das Recht erhalten, ihren Arbeitsplatz beziehungsweise ihren Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen. Ergänzt wird das Freizügigkeitsrecht durch die gegenseitige Anerkennung von Berufsdiplomen, durch das Recht auf den Erwerb von Immobilien und die Koordination der Sozialversicherungssysteme. Das FZA regelt auch den Familiennachzug sowie das Aufenthaltsrecht von Personen ohne Erwerbstätigkeit, die über genügende finanzielle Mittel verfügen.

Infolge der EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 wurde das FZA durch ein Protokoll ergänzt, das die schrittweise Einführung der Personenfreizügigkeit mit den zehn neuen EU-Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, Zypern) regelt: Für Zypern und Malta galten von Inkrafttreten des Protokolls an die gleichen Regelungen wie für die «alten» 15 EU21

302

SR 0.632.31

Mitgliedstaaten; sie bilden die Gruppe der EU-17-Staaten. Für die EU-17/EFTAStaaten gilt seit dem 1. Juni 2007 die volle Personenfreizügigkeit, es kommen keine Übergangsfristen mehr zur Anwendung. Für die übrigen 8 Mitgliedstaaten (sogenannte EU-8) hingegen galten spezielle Übergangsregelungen: Bis zum 30. April 2011 konnte die Schweiz gegenüber den Staatsangehörigen aus den EU-8-Staaten die im Abkommen vorgesehenen arbeitsmarktlichen Beschränkungen (wie separate Kontingente, Inländervorrang und Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen) weiterführen. Ausserdem hat die Schweiz bis zum 31. Mai 2014 die Möglichkeit, bei einer übermässigen Zuwanderung von EU-Arbeitskräften (mehr als 10 % des Durchschnittes der drei vorangegangenen Jahre) wieder Kontingente einzuführen (sogenannte Ventilklausel: Art. 10 Abs. 4 FZA).

Am 18. April 2012 hat der Bundesrat entschieden, die Ventilklausel zu aktivieren und für ein Jahr erneut Kontingente (B-Bewilligungen) für die EU-8 festzusetzen.

Diese Massnahme trat am 1. Mai 2012 in Kraft und gilt vorerst für ein Jahr. Davon betroffen sind Personen aus den EU-8-Staaten, die über einen Arbeitsvertrag in der Schweiz mit überjähriger oder unbefristeter Dauer verfügen oder sich als selbstständig Erwerbstätige neu in der Schweiz niederlassen wollen.

Am 8. Februar 2009 wurden die Weiterführung des FZA und das Protokoll II zur Ausdehnung des FZA auf Rumänien und Bulgarien vom Schweizer Volk gutgeheissen. Das Protokoll II trat am 1. Juni 2009 in Kraft. Es sieht folgende Übergangsbestimmungen vor: Bis 2016 kann die Schweiz die im FZA vorgesehenen arbeitsmarktlichen Beschränkungen gegenüber Staatsangehörigen aus Bulgarien und Rumänien weiterführen.

Am 9. Dezember 2011 unterzeichnete Kroatien den Beitrittsvertrag zur EU, am 22. Januar 2012 erfolgte das kroatische Referendum. Die Ratifikation durch die aktuellen EU-Mitgliedstaaten vorausgesetzt, wird Kroatien am 1. Juli 2013 das 28. Mitglied der EU. Der Rat der Allgemeinen Angelegenheiten der EU hat das Mandat betreffend die Ausdehnung des FZA auf Kroatien am 24. September 2012 verabschiedet. Am 17. Oktober 2012 gelangte die EU mit dem Begehren um Ausdehnung des FZA auf Kroatien an die Schweiz. Die Erweiterung des FZA auf Kroatien erfordert die Verabschiedung eines referendumsfähigen Bundesbeschlusses durch das Schweizer Parlament.

2.2.2

Zulassung von Personen aus Drittstaaten

Die Zulassung von erwerbstätigen Personen aus Drittstaaten wird im AuG geregelt.

Sie beschränkt sich auf dringend benötigte und gut qualifizierte Arbeitskräfte, deren langfristige berufliche und soziale Integration gesichert erscheint. Zudem bestehen Höchstzahlen, die vom Bundesrat jährlich festgelegt werden (Art. 20 AuG); für das Jahr 2012 waren es 3500 Aufenthalts- und 5000 Kurzaufenthaltsbewilligungen.22 Es besteht auch ein Vorrang der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Angehörigen der Staaten, mit denen ein Freizügigkeitsabkommen abgeschlossen wurde (Art. 21 AuG). Im Weiteren müssen die üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten werden (Art. 22 AuG).

22

Vgl. die Anhänge 1 und 2 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE), SR 142.201.

303

Ausnahmen von diesen strengen Zulassungsvorschriften sind insbesondere beim Familiennachzug, für Ausbildungsaufenthalte sowie aus wichtigen humanitären Gründen möglich (Art. 27­30 und 42­52 AuG). Hier bestehen jeweils besondere Zulassungsvorschriften und es existieren heute keine Höchstzahlen.

2.3

Zulassung im Asylbereich

Die Schweizer Asylpolitik orientiert sich an den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention. Wer in seinem Heimatstaat nach den völkerrechtlich anerkannten Kriterien bedroht oder verfolgt wird, erhält in der Schweiz Asyl. Die Voraussetzungen dafür sind im Asylgesetz vom 26. Juni 199823 geregelt. Im Gegensatz zur Zulassung von Erwerbstätigen von ausserhalb der EU/EFTA-Staaten bestehen heute für den Asylbereich auch nach zahlreichen Revisionen des Asylgesetzes keine Höchstzahlen, wie dies die Initiative grundsätzlich verlangt. Die Anzahl von Asylsuchenden ist nicht vorhersehbar. Zudem besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Prüfung von Asylgesuchen.

Zurzeit beraten die eidgenössischen Räte eine Teilrevision des Asylgesetzes, die namentlich eine Vereinfachung der Verfahrensabläufe zum Ziel hat. Themen sind insbesondere die Asylgewährung bei Wehrdienstverweigerern und Deserteuren, die subjektiven Nachfluchtgründe, die Aufhebung der Auslandgesuche, der Ausschluss aus der Sozialhilfe bei Mehrfachgesuchen, die Unterbring von Asylsuchenden, die Vereinfachung der Verfahren durch rasche materielle Entscheide anstelle von Nichteintretensentscheiden, die Einschränkung der Wohnsitzwahl von vorläufig Aufgenommenen sowie das Abgeltungssystem für Standortkantone der Empfangs- und Verfahrenszentren des Bundes.

Mit Beschluss vom 28. September 2012 hat die Bundesversammlung eine dringliche Änderung des Asylgesetzes beschlossen, die am 29. September 2012 in Kraft getreten ist.24 Es handelt sich dabei insbesondere um die Aufhebung der Auslandgesuche, die Schaffung von besonderen Unterkünften für renitente Asylsuchende und die bewilligungsfreie vorübergehende Umnutzung von Bauten und Anlagen des Bundes zur Unterbringung von Asylsuchenden.

In einem weiteren Schritt soll das Asylverfahren grundlegend neu gestaltet werden.

Der Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) vom März 2011 über Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich25 schlägt insbesondere eine Neustrukturierung vor, wonach die Mehrheit der Asylverfahren in Verfahrenszentren des Bundes innert kurzer Zeit durchgeführt werden soll.

2.4

Volksinitiativen im Migrationsbereich seit 2000

Die Beschränkung der Zuwanderung in die Schweiz war bereits im letzten Jahrhundert Gegenstand von zahlreichen Volksinitiativen; sie sind nicht zustande gekommen oder wurden von Volk und Ständen abgelehnt (z.B. Volksinitiative «gegen die 23 24 25

304

SR 142.31 AS 2012 5359 Siehe unter: www.bfm.admin.ch > Dokumentation > Berichte > Bericht über Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich.

Überfremdung und Überbevölkerung der Schweiz»26 oder Volksinitiative «für eine Regelung der Zuwanderung»27, die den Bestand der ausländischen Wohnbevölkerung auf 18 % begrenzen wollte).

Seit dem Jahr 2000 wurden im Rahmen von Volksinitiativen zum Migrationsbereich folgende Themen behandelt: Am 24. November 2002 wurde die Volksinitiative «gegen Asylrechtsmissbrauch»28 mit 50,1 % abgelehnt. Sie verlangte, dass der Bund im Asylbereich unter Vorbehalt völkerrechtlicher Verpflichtungen neue verfahrens-, straf- und fürsorgerechtliche Grundsätze beachten müsse und dadurch die Attraktivität der Schweiz als Asylland senken sollte.

Die Volksinitiative «Begrenzung der Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten»29 scheiterte am 13. September 2004 im Sammelstadium. Diese Initiative sah vor, dass die Zahl der in einem Jahr einwandernden Personen aus dem Ausländer- und Asylbereich nicht höher sein durfte als die Zahl der im Vorjahr ausgewanderten Personen.

Nicht mitgezählt werden sollten insbesondere Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, Angehörige von Staaten, mit denen die Schweiz Abkommen über den freien Personenverkehr abgeschlossen hat, sowie Angehörige ausländischer Vertretungen und internationaler Organisationen.

Die eidgenössische Volksinitiative «für demokratische Einbürgerungen»30 wollte die Gemeinden ermächtigen, Verfahren und Zuständigkeiten für die Erteilung des Gemeindebürgerrechts eigenständig festzulegen. Volksentscheide über Einbürgerungen sollten nicht mehr gerichtlich überprüfbar sein. Die Vorlage wurde am 1. Juni 2008 mit 63,8 % abgelehnt.

Die eidgenössische Volksinitiative «für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)»31 wurde von Volk und Ständen am 28. November 2010 mit 52,3 % angenommen. Gemäss Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV verlieren Ausländerinnen und Ausländer, die wegen bestimmter Straftaten verurteilt wurden oder die missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen haben, ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz und sind auszuweisen. Zudem sollen sie mit einem Einreiseverbot belegt werden. Das Vernehmlassungsverfahren zur Umsetzung dieser Initiative dauerte bis am 30. September 2012. Der Bundesrat wird demnächst die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis nehmen und das weitere Vorgehen
festlegen.

Am 2. November 2012 wurde die eidgenössische Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlage» (auch ECOPOPInitiative)32 bei der Bundeskanzlei eingereicht. Das Ziel der Initiative ist es, dass die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz durch Zuwanderung im dreijährigen 26 27 28 29 30 31 32

BBl 1974 I 190 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 1974 II 1355 (Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung).

BBl 1997 IV 521 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 2001 183 (Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung).

BBl 2001 4725 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 2003 726 (Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung).

BBl 2004 5266 (Fristablauf) BBl 2006 8953 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 2008 6161 (Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung).

BBl 2009 5097 (Botschaft des Bundesrates), BBl 2011 2771 (Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung) und AS 2011 1199 (Inkrafttreten).

BBl 2011 3795 (Vorprüfung)

305

Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 % pro Jahr wächst. Zudem soll der Bund mindestens 10 % seiner für die internationale Entwicklungszusammenarbeit aufgewendeten Mittel für Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung verwenden.

Zwei weitere Volksinitiative befinden sich derzeit im Sammelstadium: Ablauf der Sammelfrist für die eidgenössische Volksinitiative «Für eine Stabilisierung der Gesamtbevölkerung»33 ist der 26. Januar 2013. Demnach soll der Bund Massnahmen gegen die Übervölkerung treffen und für eine ausgeglichene Wanderungsbilanz sorgen. Die Initiative enthält keine Angaben darüber, wie dieses Ziel erreicht werden soll oder wie hoch die Wohnbevölkerung sein dürfte.

Die Sammelfrist für die eidgenössische Volksinitiative «Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative)»34 hat am 24. Juli 2012 begonnen und endet am 24. Januar 2014. Die Initiative verlangt in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs eine Ergänzung der Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung durch umfassende Kataloge der massgebenden Straftatbestände. Rechtskräftige Verurteilungen sollen unabhängig von der Höhe der Strafe zu Landesverweisungen führen. Sie sind (von wenigen Ausnahmen abgesehen) unverzüglich zu vollziehen. Diese Volksinitiative soll die oben erwähnte Ausschaffungsinitiative umsetzen und durch die direkte Anwendung der vorgeschlagenen Verfassungsbestimmungen eine Regelung auf Gesetzesstufe weitgehend ersetzen.

2.5

Wichtigste Auswirkungen der Einführung des FZA

Das Freizügigkeitsabkommen (FZA) zwischen der Schweiz und der EU ist seit zehn Jahren in Kraft. Die Unternehmen haben stark davon profitiert, Fachkräfte aus dem EU/EFTA-Raum rekrutieren zu können. Die Öffnung des Arbeitsmarktes trug in den letzten Jahren massgeblich zum Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in der Schweiz bei. Negative Auswirkungen auf die ansässigen Arbeitnehmenden blieben eng begrenzt. Die Öffnung könnte die Lohnentwicklung leicht gebremst haben, eine Erosion tiefer Löhne hat aber nicht stattgefunden.

Im Jahr 2011 wanderten netto 78 500 Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz ein (Wanderungssaldo). 53 200 oder zwei Drittel davon waren Bürgerinnen und Bürger der EU/EFTA-Staaten. Die Zuwanderung aus dem EU/EFTA-Raum hat mit der Personenfreizügigkeit an Bedeutung gewonnen, sie stand aber auch stets in direktem Zusammenhang zur Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften. Am höchsten fiel der Wanderungssaldo mit 90 200 im Jahr 2008 aus, nachdem die Schweizer Wirtschaft über mehrere Jahre stark gewachsen war. Mit der Rezession 2009 verringerte sich die Netto-Zuwanderung deutlich. Die rasche wirtschaftliche Erholung 2010 stoppte allerdings den rückläufigen Trend und der Wanderungssaldo stieg 2011 bereits wieder an. Während die Zuwanderung aus den EU-Staaten stark auf die wirtschaftliche Entwicklung reagierte, blieb die Zuwanderung aus Drittstaaten nach Einführung der Personenfreizügigkeit etwa auf konstanter Höhe.

33 34

306

BBl 2011 6273 (Vorprüfung) BBl 2012 7371 (Vorprüfung)

In den zehn Jahren vor Inkrafttreten der Bilateralen Abkommen trugen die Zuwanderung aus Drittstaaten und das natürliche Bevölkerungswachstum pro Jahr je rund 0,3 Prozentpunkte zum Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz bei. In den letzten zehn Jahren halbierte sich der Beitrag des natürlichen Bevölkerungswachstums auf 0,14 Prozentpunkte, während sich jener der Zuwanderung auf knapp 0,8 Prozentpunkte mehr als verdoppelte. Rund 0,5 Prozentpunkte davon waren auf die Zuwanderung aus dem EU/EFTA-Raum zurückzuführen.

Die aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums der Schweiz gesteigerte Nachfrage nach (qualifizierten) Arbeitskräften konnte in den letzten Jahren gedeckt werden.

Teure Personalengpässe bei den Unternehmen wurden vermieden. Dennoch besteht derzeit in einzelnen Branchen teilweise eine stärkere Fachkräfteknappheit, so beispielsweise in den technisch-mathematischen Berufen (MINT).

Insgesamt hat sich die Zuwanderung seit Einführung der Personenfreizügigkeit positiv auf die Produktivität ausgewirkt. Die Schweiz verdankt insbesondere dem relativ hohen Anteil von zugewanderten Akademikerinnen und Akademikern eine zurzeit gute Fiskalbilanz (vgl. Sheldon 2012).

Die Personenfreizügigkeit hat zwar die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verstärkt.

Die allgemeine Aussage, wonach die Zuwanderung der letzten Jahre zu einer Verdrängung ansässiger Arbeitskräfte geführt hätte, lässt sich jedoch nicht stützen. Die zugewanderten Arbeitskräfte aus der EU stellen in der Mehrzahl eine gute Ergänzung des bestehenden Arbeitskräftepotenzials dar.

Die Reallöhne sind auch nach Einführung der Personenfreizügigkeit weiter gestiegen und die Lohnstruktur in der Schweiz ist stabil geblieben. Die tiefen Löhne haben mit den mittleren Löhnen Schritt gehalten. Dazu dürften Gesamtarbeitsverträge und die flankierenden Massnahmen beigetragen haben. Die Arbeitslosenquoten von Ausländerinnen und Ausländern haben sich in den letzten Jahren im Vergleich mit den Neunzigerjahren verringert und somit der tiefen Quote der einheimischen Erwerbsbevölkerung angenähert.

Die Zuwanderung verlangsamt die Alterung der Bevölkerung und entlastet damit die umlagefinanzierten Sozialversicherungen der ersten Säule (AHV/IV/EO/EL).

Arbeitnehmende aus EU/EFTA-Staaten leisten heute deutlich mehr Beiträge an diese Sozialversicherungen,
als sie daraus beziehen. Die anfängliche Befürchtung, die Personenfreizügigkeit führe zu einer massiven Zunahme der Anzahl ausländischer IV-Leistungsbezügerinnen und -bezüger, hat sich nicht bewahrheitet.

2.5.1

Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage

Die Erwerbstätigkeit der ständigen Wohnbevölkerung im Alter von 15­64 Jahren stieg in der Schweiz zwischen 2003 und 2011 um durchschnittlich 1,2 % (= durchschnittliche relative Veränderung der Erwerbstätigkeit) pro Jahr an. Bedingt durch die hohe Zuwanderung fiel der Zuwachs der Erwerbstätigkeit bei Angehörigen der EU/EFTA-Staaten mit 3,8 % deutlich überdurchschnittlich aus. Demgegenüber ist die Erwerbstätigkeit der Angehörigen von Drittstaaten unterdurchschnittlich gewachsen (0,8 %).

Bei Schweizerinnen und Schweizern sowie Angehörigen der EU/EFTA-Staaten übertraf das Wachstum der Erwerbstätigkeit das Bevölkerungswachstum. Dies bedeutet, dass diese beiden Gruppen ihre Erwerbstätigenquote zwischen 2003 und 307

2011 erhöhen konnten. Hingegen verharrte die Erwerbstätigenquote von Personen aus Drittstaaten auf tiefem Niveau. Drittstaatenangehörige mit tiefen Qualifikationen sind schwieriger in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Das Arbeitskräftepotenzial der Schweizer Unternehmen wurde mit dem FZA spürbar erweitert. Ausländische Dauer- und Kurzaufenthalter/-innen und Grenzgänger/-innen konnten ihr Beschäftigungsniveau in den letzten Jahren überproportional steigern. Aber auch Schweizerinnen und Schweizer und niedergelassene Ausländerinnen und Ausländer haben ihre Erwerbstätigkeit in den letzten zehn Jahren ausgedehnt. Im Zeitraum 2003­2011 vermochten sowohl EU/EFTA-Staatsangehörige (+4,4 %) wie auch Schweizerinnen und Schweizer (+2,1 %) ihre Erwerbstätigenquote zu erhöhen.

Die zugewanderten Arbeitskräfte aus der EU stellen mehrheitlich eine gute Ergänzung zum ansässigen Arbeitskräftepotenzial dar. Die Zuwanderung war in jenen Berufsgruppen besonders ausgeprägt, welche eine stark wachsende Arbeitskräftenachfrage und unterdurchschnittliche Erwerbslosenquoten aufwiesen. 83 % der erwerbstätigen Ausländerinnen und Ausländer, welche nach Inkrafttreten des FZA eingewandert waren, verfügten mindestens über einen Abschluss auf der Sekundarstufe II und 51 % sogar über einen tertiären Bildungsabschluss. Damit übersteigt das durchschnittliche Qualifikationsniveau der Zuwanderinnen und Zuwanderer jenes der ansässigen Erwerbsbevölkerung.

2.5.2

Löhne und Arbeitslosigkeit

Die Lohnstruktur in der Schweiz blieb in den Jahren seit Inkrafttreten des FZA stabil. Die Entwicklung der Lohnverteilung zwischen 2002 und 2010 legt nahe, dass in den Jahren seit Inkrafttreten des FZA kein besonders starker Druck auf tiefe Löhne ausgeübt wurde. Gesamtarbeitsverträge und die flankierenden Massnahmen haben zu diesem Ergebnis mit beigetragen.

In gewissen Branchen gibt es Anzeichen, wonach die Einstiegslöhne in den Jahren nach Inkrafttreten des FZA unter Druck gekommen sein könnten.

Teilweise wird die These vertreten, wonach es aufgrund der Einführung der Personenfreizügigkeit zu einer Verdrängung von Schweizerinnen und Schweizern auf dem Arbeitsmarkt kommt. Dagegen spricht insbesondere eine Auswertung der Erwerbslosenquoten nach Berufsgruppen. Die drei Berufsgruppen mit dem deutlichsten Zuwachs von Erwerbstätigen aus dem EU/EFTA-Raum (Führungskräfte, akademische Berufe, Techniker/innen und gleichrangige Berufe) wiesen zwischen 2003 und 2011 unterdurchschnittliche und sinkende Erwerbslosenquoten auf.

Die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit 2010 rasch auf die positive wirtschaftliche Entwicklung reagierte und seither bei allen Nationalitätengruppen stetig sinkt, verdeutlicht, dass es nicht zu einer Verdrängung von inländischen Arbeitskräften durch neu einwandernde Arbeitskräfte kommt. In bestimmten Schweizer Grenzgängerregionen ist jedoch teilweise eine Verschlechterung der Situation bezüglich der Arbeitslosigkeit der einheimischen Bevölkerung festzustellen. Weiter ist eine Verdrängung von beruflich tief qualifizierten, bereits ansässigen Ausländerinnen und Ausländern denkbar, abschliessende Untersuchungen dazu liegen noch nicht vor.

308

Die Arbeitslosenquoten von Ausländerinnen und Ausländern haben sich in den letzten Jahren gegenüber den 90er-Jahren verringert und der tiefen Quote der einheimischen Erwerbsbevölkerung angenähert. Dabei sticht heraus, dass die Arbeitslosenquote der Bevölkerung aus dem EU/EFTA-Raum tiefer ist als jene von Personen aus Drittstaaten, welche vor allem aufgrund ihres unterdurchschnittlichen Qualifikationsniveaus mehr Schwierigkeiten mit der Arbeitsmarktintegration bekunden.

Gemäss den Erhebungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) waren Ende Oktober 2012 125 536 Arbeitslose bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) eingeschrieben, Die Arbeitslosenquote betrug damit 2,9 % (Schweizerinnen und Schweizer: 1,9 %). Generell kann festgehalten werden, dass sich die Arbeitslosenquote in der Schweiz auch nach dem Inkrafttreten des FZA auf einem vergleichsweise tiefen Niveau befindet. Die Auswirkungen des FZA auf die Sozialwerke werden derzeit untersucht. Generell kann festgehalten werden, dass die Zuwanderung die Alterung der Bevölkerung verlangsamt und damit die umlagefinanzierten Sozialversicherungen der ersten Säule (AHV/IV/EO/EL) entlastet.

Arbeitnehmende aus EU/EFTA-Staaten leisten deutlich mehr Beiträge an diese Sozialversicherungen, als sie daraus beziehen.

2.5.3

Grenzgängerregionen

Die Zuwanderung aufgrund der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU/EFTA wirkte sich in den Grenzregionen teilweise anders aus als in anderen Regionen der Schweiz. Die Grenzregionen verzeichneten in den Jahren 2001­2008 ein höheres Beschäftigungswachstum. Der Zuwachs konzentrierte sich im Vergleich zur übrigen Arbeitskräftemigration aus den EU/EFTA-Staaten stärker auf tiefere berufliche Qualifikationsniveaus als in anderen Regionen der Schweiz. Während sich in den Beschäftigungszahlen bis 2008 kaum negative Auswirkungen der zunehmenden Grenzgängerbeschäftigung auf die Erwerbstätigkeit der ansässigen Bevölkerung finden, hat sich die Arbeitslosigkeit in drei der fünf Grenzregionen ­ namentlich in der Genferseeregion, der Nordwestschweiz und im Jurabogen ­ relativ zu Nicht-Grenzgängerregionen etwas erhöht.35

2.5.4

Wohnungsmarkt

Das vor allem durch die Zuwanderung bedingte Bevölkerungswachstum wirkt sich auch auf die Entwicklung der Siedlungsstruktur aus. Die Bevölkerung wächst heute vor allem in den städtischen Zentren und deren Umland. Damit ist gerade in jenem Raum die Nachfrage nach Wohnraum hoch, in dem Baulandreserven knapp sind.

Personen, die sich Wohnungen in Zentrumslagen nicht mehr leisten können, ziehen an den Agglomerationsrand, was wiederum zusätzliche Infrastrukturbauten notwendig macht (Schulen, Verkehrsanbindungen etc.). Die Zuwanderung ist allerdings nur 35

Vgl. ausführlich dazu den Bericht des Bundesrates über die Personenfreizügigkeit und die Zuwanderung in die Schweiz, S. 37, unter Verweis auf den 8. Observatoriumsbericht des SECO, des BFM, des BFS und des BSV zum FZA vom 25. Mai 2012, siehe unter: www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/27002.pdf.

309

ein Grund für den zunehmenden Druck auf die Zentren. Auch die Binnenmigration trägt dazu bei. Nach einer gewissen Entspannung im Jahr 2010 hat sich aus Sicht der Wohnungssuchenden 2011 die Marktsituation wieder verschlechtert. Im Mietwohnungsbereich konnte die Erweiterung des Angebots in den Ballungszentren nicht mit dem Haushaltswachstum mithalten. Es sind in fast allen Regionen eine starke Verknappung des Angebots an Mietwohnungen und entsprechende Preissteigerungen festzustellen. Letztere fielen in der Westschweiz, in der Region Zürich und in der Zentralschweiz überdurchschnittlich aus.

Während die Zuwanderung die Entwicklung im Mietwohnungsbereich in attraktiven Regionen signifikant beeinflusst, geht die Nachfrage nach Wohneigentum fast ausschliesslich von Schweizer Haushalten aus. Ausländische Haushalte machen schweizweit nur gut 6 % der Eigentümerhaushalte aus, dieser Anteil stagniert seit mehreren Jahren (vgl. Studie Personenfreizügigkeit und Wohnungsmarkt Schweiz).

2.6

Grund für die Initiative

Laut den Initiantinnen und Initianten hatte die Einführung des FZA überwiegend negative Auswirkungen, insbesondere in den oben aufgeführten Bereichen. Laut ihnen soll die Schweiz die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig steuern. Das FZA solle neu verhandelt werden, da dieses eine Steuerung über Höchstzahlen und Kontingente nicht zulässt.36

3

Ziele und Inhalt der Initiative

Mit der Initiative sollen folgende Ziele erreicht werden: ­

Alle Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern sind unabhängig vom Herkunftsstaat durch Höchstzahlen zu begrenzen. Die Höchstzahlen sind jährlich festzulegen und gelten für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug von Grenzgängerinnen und Grenzgängern und von Personen aus dem Asylbereich.

­

Der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen kann beschränkt werden.

­

Bei der Zulassung von erwerbstätigen Ausländerinnen und Ausländern sind die Höchstzahlen und die Bewilligungserteilung auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz und den Vorrang für Schweizerinnen und Schweizer auszurichten. Es muss ein Gesuch eines Arbeitgebers vorliegen, damit eine Bewilligung erteilt werden kann. Die Integrationsfähigkeit sowie das Bestehen einer ausreichenden eigenständigen Existenzgrundlage sind zu prüfen.

­

Es dürfen keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden, die gegen diese Grundsätze verstossen. Sofern notwendig, müssen bestehende völkerrechtliche Verträge, die den Zielen der Initiative widersprechen, innerhalb von drei Jahren nach Annahme der neuen Verfassungsbestimmung neu verhandelt und angepasst werden.

36

310

Argumentarium, S. 33

3.1

Die einzelnen Bestimmungen des Initiativtextes

3.1.1

Artikel 121 BV [Sachüberschrift]

Artikel 121 BV besitzt keine Sachüberschrift, da er bisher der einzige Artikel des 9. Abschnittes «Aufenthalt und Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern» ist. Da nun ein weiterer Artikel in diesen Abschnitt aufgenommen werden soll (Art. 121a BV), benötigt Artikel 121 BV aus formalen Gründen neu eine Sachüberschrift. Gemäss Initiative soll der inhaltlich unveränderte Artikel 121 BV neu die Sachüberschrift «Gesetzgebung im Ausländer- und Asylbereich» tragen.

3.1.2

Artikel 121a BV [neu]

Neu soll ein Artikel 121a mit der Sachüberschrift «Steuerung der Zuwanderung» in den Verfassungstext eingefügt werden.

Absatz 1 der vorgeschlagenen Verfassungsbestimmung sieht vor, dass die Schweiz die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig steuert. Aus dem Kontext geht hervor, dass der Begriff der Zuwanderung in einem weiten Sinn verstanden werden soll. So sollen auch Kurzaufenthalterinnen und Kurzaufenthalter und Grenzgängerinnen und Grenzgänger sowie Personen aus dem Asylbereich erfasst werden (vgl. Art. 121a Abs. 2 und 3). Mit dem Begriff «eigenständige Steuerung» soll gemäss den Initiantinnen und Initianten zum Ausdruck gebracht werden, dass die Entscheidung, wer einwandern darf und wer nicht, den staatlichen Stellen in der Schweiz vorbehalten bleiben muss.

Absatz 2 hält vorab fest, dass die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt wird. Gemäss den Ausführungen der Initiantinnen und Initianten soll eine jährliche Höchstzahl festgelegt werden, die in Kontingente für die einzelnen Zulassungskategorien aufzuteilen wäre.37 Laut dem Initiativtext sollen Höchstzahlen und Kontingente neu auch für Grenzgängerinnen und Grenzgänger, für die Zulassung aus humanitären Gründen (inklusive Asylbereich), den Familiennachzug sowie für Aus- und Weiterbildungen eingeführt werden. Der dritte Satz von Absatz 2 legt fest, dass der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen beschränkt werden kann. Nach der Auffassung der Initiantinnen und Initianten soll damit in Erinnerung gerufen werden, dass die Schweiz in diesen Bereichen frei ist, Grenzen bei der Zulassung zu setzen.38 Laut Absatz 3 des Initiativtexts sind die jährlichen Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz unter Berücksichtigung eines Vorranges für Schweizerinnen und Schweizer auszurichten; die Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind einzubeziehen. Damit soll gemäss den Initiantinnen und Initianten zum Ausdruck gebracht werden, dass für die Erteilung einer Bewilligung das volkswirtschaftliche Interesse der Schweiz massgebend sein muss. Massgebend sollen also nicht individuelle Interessen sein. Auch soll damit erreicht werden, dass für alle erwerbstätigen Ausländerinnen und Ausländer mit gleicher beruflicher Qualifikation und Integrations37 38

Argumentarium, S. 29 Argumentarium, S. 30

311

fähigkeit unabhängig vom Herkunftsstaat auch die gleichen Zulassungsvoraussetzungen gelten. Die jährlichen Höchstzahlen und Kontingente sind dabei unter Berücksichtigung eines Vorrangs für Schweizerinnen und Schweizer auszurichten.

Gemäss den Initiantinnen und Initianten soll damit verhindert werden, dass auch dann Bewilligungen zur Erwerbstätigkeit erteilt werden, wenn dafür genügend einheimische Arbeitskräfte zur Verfügung stehen würden. In nicht abschliessender Weise werden sodann die massgebenden Kriterien für die Erteilung der Aufenthaltsbewilligungen umschrieben (Gesuch eines Arbeitgebers, die Integrationsfähigkeit und eine ausreichende, eigenständige Existenzgrundlage).

Absatz 4 untersagt den Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die gegen «diesen Artikel» verstossen. Laut den Initiantinnen und Initianten bezweckt diese Bestimmung, dass keine Verträge abgeschlossen werden dürfen, die eine Steuerung der Zuwanderung verunmöglichen. Es soll die Gefahr verringert werden, dass es zu Widersprüchen zwischen dem Verfassungstext und Staatsverträgen kommen kann.

3.1.3

Artikel 197 Ziffer 9 BV [neu]

Da mit dieser Initiative keine bestehende Übergangsbestimmung der Bundesverfassung ersetzt werden soll, würde Artikel 197 Ziffer 9 erst nach einer allfälligen Annahme eine definitive Ziffer erhalten. Zu berücksichtigen wären dabei die in der Zwischenzeit angenommenen weiteren Verfassungsänderungen mit Übergangsbestimmungen.

Gemäss Absatz 1 sind völkerrechtliche Verträge, die Artikel 121a widersprechen, innerhalb von drei Jahren nach dessen Annahme durch Volk und Stände neu zu verhandeln und anzupassen. Dies bedeutet konkret, dass insbesondere das FZA neu zu verhandeln wäre. Demgegenüber wäre auch nach der Auffassung der Initiantinnen und Initianten beispielsweise die Teilnahme der Schweiz bei der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht betroffen.39 Internationale Abkommen, die den Bestimmungen der Initiative widersprechen, können während drei Jahren weiter angewendet werden. Ist es nicht möglich, sie durch Neuverhandlungen innerhalb von drei Jahren entsprechend anzupassen, ist aber deren Anwendung untersagt (Abs. 1; zur Unvereinbarkeit mit dem FZA siehe Ziff. 4.4.2).

Falls die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 121a BV drei Jahre nach dessen Annahme durch Volk und Stände noch nicht in Kraft getreten ist, müsste der Bundesrat entsprechende Ausführungsbestimmungen vorübergehend auf dem Verordnungsweg erlassen (Absatz 2). Damit soll laut den Initiantinnen und Initianten gewährleistet werden, dass die neuen Verfassungsbestimmungen innerhalb eines absehbaren Zeitraums umgesetzt werden.

39

312

Argumentarium, S. 33

3.2

Auslegung des Initiativtextes

Eine Verfassungsnorm muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihr zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden.40 Daraus kann sich, je nach Standpunkt, eine Spannweite vertretbarer Auslegungsergebnisse, eine engere oder eine weitere Auslegung der Verfassungsnorm ergeben. Den Initiantinnen und Initianten von Volksinitiativen kommt deshalb im Falle einer Annahme der Initiative nie die alleinige Deutungshoheit über eine Verfassungsnorm zu. Vielmehr ist die Norm mit Hilfe der anerkannten juristischen Auslegungsmethoden in den Kontext der Verfassung als Ganzes zu stellen und nach objektiven Kriterien auszulegen. Die von den Initiantinnen und Initianten vorgenommene Auslegung des Initiativtextes kann dabei im Rahmen der sogenannten historischen Auslegungsmethode berücksichtigt werden (vgl. Ehrenzeller 2012, S. 3 f.).

Art. 121a Abs. 1 BV Die in Artikel 121a Absatz 1 vorgesehene eigenständige Steuerung der Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern hat vorab programmatischen Charakter.

Interpretationsbedürftig sind die Begriffe «Zuwanderung» und «eigenständige Steuerung». Der Begriff «Zuwanderung» entspricht dem in diesem Zusammenhang ebenfalls verwendeten Begriff «Immigration». Zuwanderung liegt vor, wenn Menschen einzeln oder in Gruppen ihre bisherigen Wohnorte verlassen, um sich an anderen Orten dauerhaft oder zumindest für längere Zeit niederzulassen. Pendler, Touristinnen und Touristen und andere Kurzzeitaufenthalter und Kurzaufenthalterinnen fallen nach gängigem Verständnis nicht unter diesen Begriff. Unterschiedliche Auffassungen bestehen teilweise bei der saisonalen Arbeitsmigration. Die Bestimmung ist offen formuliert und schliesst in Verbindung mit Absatz 4 (Pflicht zur Anpassung bestehender Abkommen) grundsätzlich nicht aus, dass die Schweiz internationale Abkommen im Bereich der Zuwanderung fortführt oder neue eingeht.

Bei der Fortführung oder dem Abschluss solcher Abkommen müssen allerdings die Zulassungsgrundsätze der mit der Initiative vorgeschlagenen Verfassungsbestimmungen eingehalten werden (Abs. 4). Die Abkommen sind insbesondere auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz auszurichten und die Zuwanderung darf die festgelegten Höchstzahlen nicht überschreiten
(vgl. Abs. 2). Eine eigenständige Steuerung der Zuwanderung schliesst ebenfalls nicht aus, dass die Schweiz bestimmten Staaten im vorgegebenen Rahmen eine privilegierte Stellung bei der Zulassung gewährt.

Art. 121a Abs. 2 BV Die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz soll durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt werden.

Die Höchstzahlen gelten für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug des Asylwesens. Der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen kann beschränkt werden.

40

Vgl. BGE 131 I 74, E. 4.1

313

Der Verfassungstext lässt offen, wie die unterschiedlichen Zulassungskategorien definiert werden müssten. Die Höchstzahlen müssen jedoch jährlich festgelegt werden. Diese Bestimmung lässt auch offen, durch wen und in welcher Form die Höchstzahlen festzulegen sind. Die jährliche Festlegung in einem formellen Gesetz wäre kaum praktikabel; vielmehr müsste der Gesetzgeber diese Kompetenz an den Bundesrat delegieren. Dies entspricht auch der heutigen Regelung bei der Zulassung von erwerbstätigen Personen aus Drittstaaten. Die Höchstzahlen werden gestützt auf Artikel 20 AuG in den Anhängen 1 und 2 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE)41 festgelegt. Diese Ausführungen machen auch deutlich, dass die Bestimmung nicht direkt anwendbar, sondern durch den Gesetzgeber zu konkretisieren ist (vgl. auch Ausführungen zu Abs. 3).

Das geltende Recht sieht Höchstzahlen für Aufenthalts- oder Kurzaufenthaltsbewilligungen vor, die an Erwerbstätige aus Drittstaaten erteilt werden. Solche Höchstzahlen und Kontingente sollen laut der Initiative neu auch für Grenzgängerinnen und Grenzgänger, für die Zulassung aus humanitären Gründen (inklusive Asylbereich), den Familiennachzug sowie für Aus- und Weiterbildungen eingeführt werden. Darauf wurde bisher verzichtet, da die Zuwanderung hier nur sehr eingeschränkt gesteuert werden kann. Sowohl im Asylbereich als auch beim Familiennachzug bestehen völkerrechtliche Zulassungsverpflichtungen (Flüchtlingskonvention, EMRK, Kinderrechtskonvention etc.). Diese machen Höchstzahlen zu einem untauglichen Instrument zur Begrenzung der Zuwanderung. Eine zahlenmässige Begrenzung der Bewilligungen im humanitären Bereich widerspricht zudem der Tradition der Schweiz. Die Umsetzung der Initiative in diesem Bereich wäre schwierig. Die Höchstzahlen für die Zulassung aus humanitären Gründen müssten insbesondere im Asylbereich so flexibel ausgestaltet werden, dass in jedem Fall das zwingende Völkerrecht berücksichtigt werden kann (siehe auch Ziff. 1.3.2 und 4.2.3).

Laut Artikel 121a Absatz 2 dritter Satz kann der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen beschränkt werden. Das geltende Recht enthält hier bereits einschränkende Bestimmungen für Personen aus Drittstaaten. So werden in den Artikeln 61­64 AuG das Erlöschen und der
Widerruf von Bewilligungen geregelt. Sogar die unbefristete Niederlassungsbewilligung kann unter bestimmten Voraussetzungen widerrufen werden (Art. 63 AuG). Ausländerinnen und Ausländer müssen nach einem Widerruf oder Nichtverlängerung ihrer Bewilligung die Schweiz verlassen (Art. 64 AuG). Die einschränkenden Voraussetzungen für den Familiennachzug werden im Gesetz geregelt (Art. 42­52 AuG).

Neben den materiellen Voraussetzungen werden beispielsweise auch bestimmte Fristen für den Familiennachzug (Art. 47 AuG) und das Erlöschen des Anspruchs auf Familiennachzug festgelegt (Art. 51 AuG).

Das Aufenthaltsrecht gestützt auf das FZA kann widerrufen werden, wenn die betroffene Person eine tatsächliche, aktuelle und hinreichend schwere Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt oder wenn sie die im FZA festgelegten Bedingungen nicht mehr erfüllt. Letzteres gilt etwa für Personen, die ursprünglich als nicht Erwerbstätige zugelassen wurden und später die dafür notwendigen finanziellen Mittel nicht mehr besitzen.

41

314

SR 142.201

Die Ausrichtung von Sozialhilfeleistungen richtet sich nach dem kantonalen Recht.

Unter bestimmten Voraussetzungen kann sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit verweigert oder gekürzt werden; eine minimale Nothilfe muss jedoch in jedem Fall gewährt werden (Art. 12 BV). Sozialhilfeabhängigkeit ist bei Angehörigen von Drittstaaten ein ausdrücklicher Grund für den Widerruf von Bewilligungen und anderen ausländerrechtlichen Verfügungen (Art. 62 AuG).

Erwerbstätige Angehörige eines EU/EFTA-Staates sowie ihre Familienangehörigen haben gestützt auf das FZA bei einer allfälligen Einschränkung der Sozialhilfeleistungen Anspruch auf Gleichbehandlung mit Schweizerinnen und Schweizern. Dies gilt gestützt auf die Genfer Flüchtlingskonvention auch für anerkannte Flüchtlinge.

Art. 121a Abs. 3 BV Artikel 121a Absatz 3 erster Satz macht erneut deutlich, dass die vorgeschlagene Verfassungsbestimmung nicht direkt anwendbar ist. Er ist als Anweisung an den Gesetzgeber zu verstehen.

Das ebenfalls in Absatz 3 vorgesehene gesamtwirtschaftliche Interesse stellt bereits im geltenden Recht ein wichtiges Zulassungskriterium dar. Die Zulassung ausländischer Arbeitskräfte ausserhalb der EU/EFTA-Staaten erfolgt unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Interessen, der langfristigen beruflichen und gesellschaftlichen Integrationschancen sowie der wissenschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der Schweiz (Art. 3 AuG). Dabei ist insbesondere die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu beachten. Das Ziel ist die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung der Wirtschaft. Für erwerbstätige Personen aus EU/EFTA-Staaten gelten im Rahmen des FZA einfachere Zulassungsvoraussetzungen (vgl. dazu Ziff. 2.2.1). Die Zuwanderung wird hier in erster Linie durch die Nachfrage der schweizerischen Wirtschaft gesteuert.

Es kann dabei durchaus auch im gesamtwirtschaftlichen Interesse der Schweiz liegen, die Angehörigen jener Staaten im Rahmen der vorgeschlagenen Verfassungsbestimmungen privilegiert zuzulassen, mit denen sehr enge wirtschaftliche Beziehungen bestehen. Damit wäre ein duales Zulassungssystem wie vor dem Inkrafttreten des FZA nicht ausgeschlossen. Dies ergibt sich auch daraus, dass die Zulassungsvoraussetzungen in Absatz 3 nicht abschliessend aufgezählt werden.

Ein weiteres zentrales Element von Absatz 3 ist, dass die jährlichen
Höchstzahlen und Kontingente unter Berücksichtigung eines Vorrangs für Schweizerinnen und Schweizer auszurichten sind. Gemäss dem Wortlaut der Bestimmung gilt dieser Vorrang nur für Schweizerinnen und Schweizer und nicht für bereits zugelassene, arbeitslose Ausländerinnen und Ausländer. Der Begriff «berücksichtigen» bedeutet hier, dass der Grundsatz des Vorrangs bei den Abwägungen und beim Entscheid nicht vernachlässigt werden darf. Ein absoluter Vorrang ergibt sich daraus jedoch nicht. Bereits im geltenden Recht gibt es bei der Zulassung von Personen aus Drittstaaten gewisse Fälle, bei denen vom restriktiven Erfordernis des Inländervorrangs abgewichen werden kann (Art. 21 und 30 Abs. 1 AuG). Dies gilt zum Beispiel beim betrieblichen Transfer des Kaders und der unentbehrlichen Spezialistinnen und Spezialisten durch international tätige Firmen oder beim kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Die vorgeschlagene Verfassungsbestimmung liesse sich so auslegen, dass bei einer allfälligen Umsetzung diesen wichtigen Anliegen Rechnung getragen werden kann.

315

Art. 121a Abs. 4 BV Artikel 121a Absatz 4 untersagt den Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die gegen «diesen Artikel» verstossen und regelt damit im Bereich der Einwanderung ausdrücklich einen Aspekt der auswärtigen Angelegenheiten. Damit wird ­ im begrenzten Sachbereich der Zuwanderung ­ die Kompetenz des Bundes zum Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen verfassungsrechtlich ausdrücklich eingeschränkt. Auslegungsbedürftig ist vor allem der Begriff des «Abschlusses» gemäss Artikel 121a Absatz 4 BV. Damit wird dem Bundesrat nicht untersagt, einen Staatsvertrag im Hinblick auf den parlamentarischen Genehmigungsbeschluss zu unterzeichnen.

Denn die Bundesversammlung kann in Anwendung von Artikel 141a Absatz 1 BV allfällige Verfassungsänderungen, die der Umsetzung des Vertrags dienen, in den Genehmigungsbeschluss aufnehmen, der seinerseits dem obligatorischen Referendum untersteht. Hingegen erfasst der Begriff des «Abschlusses» die Unterzeichnung von Staatsverträgen, für die der Bundesrat aufgrund von Gesetz und völkerrechtlichem Vertrag zuständig ist.

4

Würdigung der Initiative

4.1

Würdigung der Anliegen der Initiative

Die vorliegende Initiative führt zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung der schweizerischen Zulassungspolitik, die mit dem FZA nicht vereinbar ist. Die Zuwanderung wird derzeit in erster Linie durch die gute wirtschaftliche Situation der Schweiz und die damit verbundene starke Nachfrage insbesondere nach qualifizierten Arbeitskräften beeinflusst. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass sich die heutige Zulassungspolitik insgesamt bewährt hat.

In einem ausführlichen Bericht des Bundesrates vom 4. Juli 201242, wurden die Auswirkungen des freien Personenverkehrs und der Zuwanderung auf die Schweiz untersucht. Er zeigt, dass sich die Zuwanderung aus den EU/EFTA-Staaten in weiten Teilen positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz auswirkt.

Der erwähnte Bericht verkennt nicht, dass das schweizerische Wirtschaftswachstum und die damit verbundene vergleichsweise hohe Zuwanderung der letzten Jahre zu einem Bevölkerungswachstum geführt hat, womit sich die Herausforderungen insbesondere in der Integration, auf dem Wohnungsmarkt, der Infrastruktur- und Raumplanung und der Bildungspolitik erhöhen. Die hohe Zuwanderung erhöht in den genannten Bereichen den innenpolitischen Reformdruck. Der Bundesrat setzt sich dafür ein, diesen innenpolitischen Reformbedarf anzugehen. Die vorliegende Initiative ist jedoch kein taugliches Instrument dafür. Die Massnahmen des Bundesrates gegen zuwanderungsbedingte Probleme werden in Ziffer 4.3.2 ausführlich dargestellt.

42

316

Bericht des Bundesrates vom 4. Juli 2012 über die Personenfreizügigkeit und die Zuwanderung in die Schweiz, unter: www.ejpd.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilungen 2012 > Bericht über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit und der Zuwanderung.

4.2

Auswirkungen einer Annahme der Initiative

4.2.1

Neuverhandlung des FZA

Wie bereits unter Ziffer 3.1.3 erwähnt, müsste das FZA spätestens nach Ablauf von drei Jahren gekündigt werden, sollte es in dieser Frist nicht gelingen, das Abkommen initiativkonform neu auszuhandeln.

Die Neuverhandlung des FZA scheint zwar zumindest aus Schweizer Sicht nicht ausgeschlossen. Allerdings setzt die EU heute die Übernahme des vollständigen EURechts und dessen Weiterentwicklungen für den Abschluss von Verträgen mit der Schweiz voraus. Zudem bestehen auf Seiten der EU grundsätzliche Einschränkungen für eine Neuverhandlung des FZA: Die Personenfreizügigkeit gehört zu den zentralen Grundfreiheiten, die aus Sicht der EU mit einer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt verbunden sind. Die mit der Initiative geforderte Abschaffung der Personenfreizügigkeit mit der EU/EFTA durch die Wiedereinführung von Höchstzahlen und eines Vorrangs der Schweizerinnen und Schweizer auf dem Schweizer Arbeitsmarkt steht mithin im klaren Widerspruch zu fundamentalen Grundsätzen der EU (vgl. Ziff. 4.4.2.). Die EU und ihre Mitgliedstaaten könnten eine Diskriminierung ihrer Bürgerinnen und Bürger gegenüber Schweizerinnen und Schweizern in diesem Bereich daher nicht akzeptieren.

Die Initiative ist mit dem FZA nicht vereinbar. Das FZA müsste im Falle einer Annahme der Initiative mit grösster Wahrscheinlichkeit gekündigt werden.

Folglich wäre im Falle der Annahme der Initiative das FZA spätestens nach Ablauf von drei Jahren durch die Schweiz zu kündigen, was schwerwiegende Konsequenzen auf das Verhältnis der Schweiz mit der EU hätte. Durch die sogenannte «Guillotine-Klausel» (Art. 25 Abs. 4 FZA) treten bei einer Kündigung des FZA sechs Monate nach der Notifikation nämlich alle von dieser Klausel betroffenen Abkommen der Bilateralen I automatisch ausser Kraft. So würden mit dem FZA auch die Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen, den Abbau technischer Handelshemmnisse, den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen sowie den Landund Luftverkehr hinfällig (vgl. dazu auch Ausführungen unter Ziff. 4.3.1).

Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen kann der Gemischte Ausschuss auf Verlangen einer Vertragspartei zusammentreten, um geeignete Abhilfemassnahmen im Rahmen der allgemeinen Schutzklausel (Art. 14 Abs. 2 FZA) zu prüfen. Die Massnahmen sind in Umfang und Dauer auf das zur Abhilfe
erforderliche Mindestmass zu beschränken. Es sind solche Massnahmen zu wählen, die das Abkommen so wenig wie möglich beeinträchtigen. Der Gemischte Ausschuss könnte daher konsensuell und einstimmig über das weitere Vorgehen im Falle einer Annahme der Initiative bestimmen. Allerdings scheint es unrealistisch, dass die EU oder die Mitgliedstaaten ein positives Abstimmungsresultat als schwerwiegendes wirtschaftliches und soziales Problem der Schweiz anerkennen würden, dies auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, mit denen die EU-Mitgliedstaaten derzeit selber konfrontiert sind.

317

4.2.2

Auswirkungen auf andere Abkommen

Zusätzlich zu den direkt durch die «Guillotine-Klausel» betroffenen Abkommen besteht die Möglichkeit, dass die EU andere Abkommen mit der Schweiz, die sie als mit dem FZA verbunden erachtet, ebenfalls in Frage stellt: Betroffen wären insbesondere die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen (SAA und DAA), aber auch Abkommen zu MEDIA, Bildung und Jugend oder Forschung.

Das SAA und das DAA sind formell nicht mit dem FZA verknüpft (keine «Guillotine-Klausel»). Dies bedeutet, dass eine Kündigung des FZA nicht automatisch zu einer Beendigung des SAA und des DAA führen würde. Trotzdem könnten die beiden Abkommen von der EU in Frage gestellt werden. Denn das Bestehen eines Abkommens über die Freizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU stellte eine Grundlage der EU für die Assoziierung der Schweiz an den Schengen-Besitzstand dar. Das SAA und das DAA ergänzen das FZA, indem sie den Reiseverkehr im Schengen-Raum erleichtern. Aufgrund der gegenseitigen Verknüpfung zwischen SAA und DAA würde eine Kündigung des SAA im Übrigen auch die Beendigung des DAA bedeuten (Art. 14 DAA).

Das Abkommen über das fünfte Forschungsrahmenprogramm war Bestandteil der 1999 abgeschlossenen Bilateralen Verträge und fiel somit unter die «GuillotineKlausel». Die Klausel wurde in den folgenden Rahmenprogrammen mit Schweizer Beteiligung zwar nicht mehr übernommen, aber es ist durchaus möglich, dass die EU dieses Dossier wieder mit der Personenfreizügigkeit verknüpft und das Forschungsabkommen kündigt, falls das FZA nicht mehr gelten sollte.

4.2.3

Umsetzung der Initiative

Die Initiantinnen und Initianten bezwecken in erster Linie, die Neuzulassung erwerbstätiger Ausländerinnen und Ausländer durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente sowie die Beachtung eines Vorrangs der Schweizerinnen und Schweizer zu regeln (zur Auslegung der Initiative siehe Ziff. 3.2).

Bei der Umsetzung schlagen die Initiantinnen und Initianten die Wiedereinführung der Zulassungsregelung vor, wie sie vor der Einführung der Personenfreizügigkeit bestand, wobei von einem Vorrang der EU/EFTA-Staaten abzusehen sei.43 Die vorgeschlagenen Verfassungsbestimmungen lassen jedoch durchaus die Möglichkeit offen, unter Berücksichtigung des gesamtwirtschaftlichen Interesses der Schweiz bevorzugte Zulassungsregelungen für Angehörige bestimmter Staaten vorzusehen.

Nach Auffassung der Initiantinnen und Initianten wäre auch die Einführung eines Punktesystems für die Regelung der Zulassung zu prüfen. Ein solches System gibt es zum Beispiel in Australien und Kanada. Im Rahmen der Ausarbeitung des Ausländergesetzes, welches am 1. Januar 2008 in Kraft trat, wurde diese Frage vertieft geprüft. In der Botschaft zum Ausländergesetz hat der Bundesrat ausgeführt, weshalb dieser Ansatz nicht weiterverfolgt wurde:44

43 44

318

Argumentarium, S. 31 Botschaft vom 8. März 2002 zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (BBl 2002 3709, hier 3726 ff.).

­

Die Vereinheitlichung der Zulassungskriterien erschwert die Berücksichtigung von Sonderfällen: z.B. bei Investoren, Sportlern, Künstlern sowie anderen Personen mit besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten. In solchen Fällen wird beim Punktesystem die Gewährung eines «Spezialbonus» notwendig, der die Objektivität des ganzen Systems relativiert.

­

Da ein durch die Bundesgesetzgebung festgelegtes Punktemodell einheitliche Kriterien festlegt, nimmt der auch bei einer restriktiven Zulassungspolitik notwendige Ermessensspielraum der Bewilligungsbehörden im Einzelfall generell ab.

­

Ein solches System ist bei der Umsetzung und Durchführung mit erheblichem administrativem Aufwand verbunden.

­

Es ist nicht genügend flexibel, da die Gewichtung der einzelnen Kriterien nicht rasch den neuen Anforderungen der globalisierten Wirtschaft angepasst werden kann.

­

Es erweckt den Anschein einer Genauigkeit und Objektivität, die in der Praxis nicht erreicht werden kann. Ein Ermessen der Behörden ist letztlich auch bei einer solchen Lösung erforderlich, um besonderen Situationen angemessen Rechnung tragen zu können.

Im Interesse einer kohärenten Ausländerpolitik hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, die Zulassung von erwerbstätigen Personen aus Drittstaaten durch Höchstzahlen, den Vorrang der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen zu regeln.

Bei einer Umsetzung der Initiative im Bereich der Bewilligungserteilung zu einer Erwerbsaufnahme wäre sodann bei jedem einzelnen Gesuch zu prüfen, ob die in der Initiative vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind (v.a. Gesuch eines Arbeitgebers, Einhaltung der Höchstzahlen, Berücksichtigung des Vorrangs der Schweizerinnen und Schweizer, Integrationsfähigkeit und eine ausreichende eigenständige Existenzgrundlage).

Die Initiative sieht vor, dass Höchstzahlen für die Erteilung sämtlicher Bewilligungen einzuführen sind. Sie gelten somit grundsätzlich auch bei der Zulassung ohne Erwerbstätigkeit in der Schweiz, zur Aus- und Weiterbildung, im Rahmen des Familiennachzugs sowie aus humanitären Gründen insbesondere im Asylbereich.

Ein solches System wäre neu für die Schweiz. Die Höchstzahlen kamen bisher nur bei einer Erwerbstätigkeit zur Anwendung, da bei den übrigen Zulassungsgründen (insbesondere beim Familiennachzug und im Asylbereich) eine direkte Steuerung durch Höchstzahlen untauglich ist. Die Zahl der notwendigen Bewilligungserteilungen kann hier nicht im Vornherein festgelegt werden. Es bestehen gesetzliche und völkerrechtliche Zulassungsvoraussetzungen, die einzuhalten sind. So wäre es z.B.

nicht vertretbar, wenn Schweizerinnen und Schweizern der Nachzug ihres ausländischen Ehegatten verweigert würde, weil die Höchstzahlen schon ausgeschöpft sind.

Starre Höchstzahlen im humanitären Bereich könnten bei einer Ausschöpfung zudem zu einer Verletzung des zwingenden Völkerrechts führen (Non-RefoulementPrinzip). Um dies zu vermeiden, müsste in diesen Fällen eine vorübergehende Überschreitung der Höchstzahlen möglich sein oder eine entsprechende Anpassung der Höchstzahlen erfolgen. Bei einer allfälligen Umsetzung der Initiative müsste auch nach der Auffassung der Initiantinnen und Initianten näher bestimmt werden, welche

319

Aufenthalte im Asylbereich tatsächlich in die Höchstzahlen einzubeziehen wären.45 Die Initiantinnen und Initianten anerkennen, dass Zulassungsbeschränkungen durch Höchstzahlen im humanitären Bereich nur unter Einhaltung des zwingenden Völkerrechts zu realisieren wären. Gemäss ihrem Argumentarium soll lediglich sichergestellt werden, dass die Zuwanderungsbegrenzung nicht über den Asylbereich umgangen werden kann. Echte Flüchtlinge sollen jedoch auch künftig aufgenommen werden (siehe auch Ziff. 1.3.2).46 Bereits heute wird auf Asylgesuche nicht eingetreten, wenn sie ausschliesslich mit dem Wunsch nach einer Erwerbsaufnahme in der Schweiz begründet werden.

Das geltende Recht sieht zudem vor, dass in begründeten Fällen Ausnahmen von den Zulassungsbeschränkungen möglich sein sollen (Art. 30 AuG; z.B. Härtefälle, internationaler Austausch im Bereich der Weiterbildung). Die gesetzlichen Zulassungsvoraussetzungen werden regelmässig angepasst (so zum Beispiel im Rahmen der laufenden Asylgesetzrevision).

Die vorgeschlagene umfassende Einführung von Höchstzahlen würde auch zu aufwändigen und arbeitsintensiven Bewilligungsverfahren führen (siehe nachfolgend Ziff. 4.2.4).

4.2.4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Heute prüfen die zuständigen Behörden der Kantone und des Bundes jährlich rund 13 000 Gesuche für Personen aus Staaten ausserhalb der EU/EFTA, die eine Erwerbstätigkeit in der Schweiz aufnehmen wollen. Bei einer Annahme der Initiative müssten auf der Grundlage der Zahlen von 201147 neu zusätzlich rund 140 000 Gesuche für EU/EFTA-Angehörige sowie rund 60 000 Gesuche für Grenzgängerinnen und Grenzgänger bearbeitet werden. Die Umsetzung der Initiative führt zu einer erheblichen Erhöhung des Stellenbedarfs der arbeitsmarktlichen Behörden, damit die in der Initiative vorgesehenen Prüfungen effektiv durchgeführt werden können.

Dieser lässt sich aber erst aufgrund des konkreten Umsetzungskonzepts der Initiative bestimmen.

Des Weiteren würde die von der Initiative vorgeschlagene Zulassungspolitik den finanziellen Aufwand zur Integration von neu zugezogenen Personen nur unbedeutend senken, da die selektive Zuwanderungspolitik bereits heute einen Akzent auf den Zuzug von gut qualifizierten Personen legt und die Integration als weitgehend erfolgreich gilt. Dank dem vom Bundesrat beschlossenen Integrationsplan verfügt die Schweiz über eine wirksame Strategie, um auf Integrationsdefizite reagieren zu können und neu zuziehende Personen in ihrer Integration optimal unterstützen zu können. Die mit der Initiative geforderte Prüfung der Integrationsfähigkeit bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen dürfte hingegen einen grösseren, kaum bezifferbaren Verwaltungsaufwand verursachen. Die Kantone haben im Rahmen des 45 46 47

320

Argumentarium, S. 30 Argumentarium, S. 30 Im Jahr 2011 sind insgesamt 144 791 Erwerbstätige aus der EU/EFTA eingewandert (65 574 als ständige Wohnbevölkerung und 80 217 nichtständig). Hier sind auch Personen enthalten, die z.B. im Rahmen des Familiennachzugs eingewandert sind (ungefähr 500 Personen) und dann erwerbstätig waren. Im Jahr 2011 sind zudem 62 306 Grenzgängerbewilligungen erteilt worden. Diese würden bei einer Annahme der Initiative ebenfalls in die Kontingente und Arbeitsmarktprüfung einbezogen.

Vernehmlassungsverfahrens zur Revision der integrationsrechtlichen Bestimmungen im AuG klar signalisiert, dass die systematische Überprüfung der Integrationskriterien im Zusammenhang mit der Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen ihre Kapazitäten sprengen würde. Eine Prüfung der Integration vor der Einreise wäre nicht zielführend, da kaum prospektiv erfasst werden kann, wie sich die Integration einer zuziehenden Person entwickeln wird. Die finanziellen Auswirkungen im Falle eines Wegfalls der übrigen Bilateralen I aufgrund der «Guillotine-Klausel» (siehe Ziff. 4.2.1) sind derzeit nicht abschätzbar.

Neben den negativen Folgen, welche eine Beendigung des FZA nach sich ziehen würden, dürfte auch die allfällige Kündigung weiterer Abkommen durch die EU finanzielle und personelle Auswirkungen haben (siehe dazu Ziff. 4.2.2).

Falls die EU das SAA und das DAA kündigen sollte, würden zwar die Beteiligungskosten der Schweiz im Bereich Schengen und Dublin wegfallen, so z.B. die jährlichen Verwaltungsbeiträge, die Beiträge an die Agenturen (IT-Agentur, FRONTEX) oder an den Aussengrenzenfonds. Ein Ausstieg aus der Schengener und Dubliner Zusammenarbeit hätte jedoch erhebliche Kostenfolgen (Abschreibungen von bisher getätigten, hohen Investitionen z.B. für Anschlusskosten an Schengener/Dubliner IT-Infrastrukturen), Anpassung von bestehenden nationalen IT-Systemen (z.B.

ZEMIS, AFIS) oder generelle Strukturanpassungen (nationales Visainformationssystem, neues Schweizer Visum oder Kontrollregime an Landesgrenzen und Flughäfen) zur Folge.

Zudem würden die mit der Beteiligung an Schengen/Dublin möglichen Einsparungen wegfallen. Berechnet man die mit Dublin verkürzte Verfahrensdauer (diese ist bei einem Dublin-Verfahren vom Asylgesuch bis zum erstinstanzlichen Entscheid rund 4 Monate kürzer als bei einem normalen Asylverfahren), so ergäben sich jährlich Mehrkosten im Umfang von rund 26,5 Mio. Franken (weil jährlich rund 4000 Dublin-Nichteintretensentscheide wegfielen). Hinzu kommt, dass die Schweiz bei einem Ausstieg aus dem Dublin-System als Asylland stark an Attraktivität gewinnen würde: Jede asylsuchende Person, deren Gesuch in einem EU-Land abgewiesen wurde, könnte in der Schweiz erneut ein Asylgesuch stellen, auf welches die Schweiz ohne Dublin eintreten müsste. Sie müsste folglich die Verfahren selber
durchführen. Geht man ­ vorsichtig geschätzt ­ davon aus, dass jährlich 2000 Asylgesuche zusätzlich eingereicht würden, so ergäben sich für Unterbringung und Sozialhilfe geschätzte Mehrkosten pro Jahr von weiteren rund 40 Mio. Franken (die durchschnittlichen Transferzahlungen an die Kantone für Unterbringung und Sozialhilfe betragen 20 000 Franken pro asylsuchende Person).

4.2.5

Inkrafttreten und Übergangsrecht

Die Initiative würde am Tage ihrer Annahme durch Volk und Stände zu gültigem Verfassungsrecht (Art. 195 BV). Bestehende völkerrechtliche Verträge müssten innerhalb von drei Jahren nach Annahme der neuen Verfassungsbestimmung neu verhandelt und angepasst werden, wenn sie den neuen Verfassungsbestimmungen widersprechen (Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV [neu]). Betroffen davon wäre das FZA (siehe Ziff. 4.4.2).

321

Die neuen Verfassungsbestimmungen sind nicht direkt anwendbar. Artikel 121a Absatz 5 BV sieht vor, dass die Verfassungsbestimmungen in einem Ausführungsgesetz zu konkretisieren sind. Darin wären die Einzelheiten des neuen Zulassungssystems zu regeln. Dabei wäre darauf zu achten, dass die gewählte Lösung den bestehenden weiteren völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz soweit wie möglich entspricht.

Dieses Ausführungsgesetz soll bis spätestens drei Jahre nach Annahme durch Volk und Stände in Kraft treten. Andernfalls müsste der Bundesrat die Ausführungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg erlassen.

Es ist darauf hinzuweisen, dass das FZA grundsätzlich für maximal drei Jahre weiterhin angewendet werden könnte.

4.3

Mängel der Initiative

Im Gegensatz zur Initiative will der Bundesrat an seiner bewährten Zulassungspolitik festhalten, welche die Personenfreizügigkeit im Rahmen des FZA und strenge Zulassungsvoraussetzungen für Personen aus Drittstaaten beinhaltet. Eine umfassende Einführung von Höchstzahlen ist insbesondere bei der humanitären Zulassung und beim Familiennachzug kein taugliches Instrument für die Begrenzung der Zuwanderung. In diesen Bereichen ist die Zuwanderung aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen nur sehr begrenzt steuerbar.

Eine Annahme der vorliegenden Initiative würde auch zu einem deutlichen bürokratischen Mehraufwand führen, dies sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Behörden der Kantone und des Bundes.

Die Annahme der Initiative wäre schädlich für das wirtschaftliche Wachstum der Schweiz und würde ihre Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität negativ beeinflussen. Nachstehend werden die schwerwiegenden Folgen einer Kündigung des FZA vertieft dargestellt.

4.3.1

Gravierende Konsequenzen für die Schweizer Wirtschaft

Auch wenn die genaue Bedeutung einer Kündigung des FZA und des damit verbundenen automatischen Wegfalls der Bilateralen I sowie der Kündigung allfälliger anderer Abkommen zwischen der Schweiz und der EU derzeit schwierig abzuschätzen ist, sind gravierende Konsequenzen für die Volkswirtschaft zu befürchten.

Für eine kleine, offene Volkswirtschaft wie die Schweiz ist der Zugang zu ausländischen Märkten lebenswichtig. Andernfalls würde sich die Schweiz in einer analogen Situation befinden wie in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, als die Arbeitslosigkeit vergleichsweise hoch war. Rund 60 % der Schweizer Warenexporte gehen in die EU, und die Schweiz bezieht rund 80 % ihrer Importe aus der EU. Dank der Bilateralen Verträge ist die Schweiz Teil des EU-Binnenmarktes mit seinen 500 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten. Die EU und ihre 27 Mitgliedstaaten sind die mit Abstand wichtigsten Handelspartner der Schweiz.

322

Dank den flankierenden Massnahmen konnte die Personenfreizügigkeit ohne grosse Auswirkungen auf den schweizerischen Arbeitsmarkt eingeführt werden. Vor diesem Hintergrund sollten diese Verträge nicht gefährdet werden.

Wegfall des garantierten Zugangs zu den Arbeitsmärkten Das FZA eröffnet schweizerischen Staatsangehörigen gleiche Chancen und einen gleichberechtigten Zugang zum EU-Arbeitsmarkt sowie die Möglichkeit, sich unter erleichterten Bedingungen in der EU niederzulassen. Bei einer Kündigung des FZA würde der heute den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern garantierte Zugang zu den Arbeitsmärkten im EU-Raum wegfallen.

Das FZA ist der zentrale Pfeiler der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union. Die Einführung der Personenfreizügigkeit kann sicher als eine der bedeutendsten wirtschaftspolitischen Reformen der letzten 20 Jahre bezeichnet werden.

Die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes gegenüber den EU/EFTA-Staaten hat der Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahren ein überdurchschnittlich starkes Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum ermöglicht. Auch in Phasen mit schwacher Konjunktur und in der Krise 2009 wirkte sich die Zuwanderung stabilisierend auf die Schweizer Binnenkonjunktur aus und hatte damit auch eine positive Wirkung auf die Beschäftigung. Vor allem der private Konsum und die Bauwirtschaft wurden durch die Zuwanderung in den letzten Jahren gestützt. Mit dem Wegfall des erleichterten Zugangs zu Arbeitskräften aus dem EU/EFTA-Raum würden Schweizer Unternehmen insbesondere in Aufschwungphasen, in denen Höchstzahlen typischerweise ausgeschöpft werden, in Personalengpässe geraten, was eine deutliche Abschwächung des Wirtschafts- und Beschäftigungswachstums zur Folge hätte. Die Annahme der Initiative könnte zu einem Attraktivitätsverlust der Schweiz führen, was wiederum eine rückläufige Produktivität, ein schwächeres Wachstum und damit zusammenhängend einen dauerhaften Verlust von Arbeitsplätzen und eine Erhöhung der strukturellen Arbeitslosigkeit nach sich ziehen würde.

Dank der Attraktivität des Schweizer Arbeitsmarktes und des einfachen Zulassungsverfahrens im Rahmen des FZA (z.B. gegenseitige Anerkennung der Sozialversicherungen und Diplome, rasche und unbürokratische Bewilligungserteilung) kann die Schweiz in Ergänzung zum gut ausgebildeten inländischen Arbeitskräftepotenzial
auch ausländische Fachkräfte anziehen. Für den Wirtschaftsstandort Schweiz ist der Zugang zum europäischen Fachkräftepotenzial von ganz besonderer Bedeutung.

Sowohl High-tech-Firmen wie auch international ausgerichtete Unternehmen sind auf den Zugang zu ausländischen Spezialistinnen und Spezialisten und deren Knowhow zwingend angewiesen. Die Rekrutierung von Spezialistinnen und Spezialisten wäre in einem System mit kontingentierter Zuwanderung administrativ bedeutend schwieriger und die Unternehmen hätten bei einer zahlenmässigen Beschränkung keine Planungssicherheit mehr. Die Schweiz würde als Unternehmensstandort insgesamt an Attraktivität einbüssen. Die Fähigkeit, ausländische Fachkräfte anziehen zu können, ist auch im Zusammenhang mit der demografischen Alterung ein erheblicher Vorteil für unsere Volkswirtschaft. Bei einer Kündigung des FZA würde die durch die Zuwanderung bedingte Verlangsamung der Alterung der Bevölkerung gestoppt und die umlagefinanzierten Sozialversicherungen finanziell stärker belastet werden.

323

Wegfall des garantierten Zugangs zum Beschaffungsmarkt Der Wegfall des garantierten Zugangs zum EU-Beschaffungsmarkt (Gemeinden, Distrikte, Schienenverkehr, private Anbieter mit exklusiven Rechten etc.) für Schweizer Anbieter würde Effizienzeinbussen im Schweizer Beschaffungsmarkt mit sich bringen. Da zudem die europäischen Unternehmen Probleme hätten, auf den Schweizer Markt zuzugreifen, führte dies zu einem Rückgang des Wettbewerbes und zu Preiserhöhungen. Ebenfalls würde der Zugang der schweizerischen Behördenvertreterinnen und -vertreter zu den beschaffungsrelevanten Gremien, Netzwerken und zu Entscheidungsträgern im EU-Raum (Europäische Kommission und EU-Mitgliedstaaten) wegfallen.

Erschwerte Exporte in die EU-Staaten Das am 1. Juni 2002 in Kraft getretene Abkommen vom 21. Juni 199948 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agreement, MRA) ist für einen freien Handel von Industrieprodukten mit der EU von zentraler Bedeutung und verleiht der Schweiz in vielen Produktesektoren quasi den Status eines Mitglieds des Europäischen Wirtschaftsraums. Die erleichterten Marktzutrittsbedingungen bringen insbesondere für Schweizer Exporteure grosse administrative, zeitliche und finanzielle Vorteile.

Das MRA stellt sicher, dass für die schweizerischen Hersteller in den vom Abkommen abgedeckten Produktebereichen auf dem europäischen Markt praktisch dieselben Marktzutrittsbedingungen gelten wie für ihre Konkurrenten aus der EU. Dementsprechend können sich Schweizer Exporteure für die Konformitätsbewertung der im MRA eingeschlossenen Produkte an eine einzige wahlweise schweizerische oder europäische Konformitätsbewertungsstelle (KBS) wenden, um ihre Erzeugnisse sowohl in der EU als auch in der Schweiz in Verkehr zu bringen. Seit am 1. Februar 2007 die ursprüngliche Beschränkung des Abkommens auf Waren aus den Vertragsparteien weggefallen ist, können Schweizer Exporteure auch in nichteuropäischen Ländern hergestellte Erzeugnisse im Hinblick auf ihre Vermarktung im EURaum von schweizerischen KBS prüfen und zertifizieren lassen und bei positiver Bewertung die CE-Kennzeichnung anbringen. Damit wird einerseits der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft Rechnung getragen. Andererseits ist
es für die Exporteure weiterhin möglich, sich an die örtlich nächstgelegene, sprachlich vertraute und ihren Bedürfnissen am besten entsprechende KBS zu wenden.

Gestützt auf die Zollstatistik kann der Umfang der Schweizer Exporte in die EU, die vom MRA betroffen sind, auf rund 47 Mrd. Franken geschätzt werden.49 Die entsprechenden Importe aus der EU belaufen sich ebenfalls auf rund 47 Mrd. Franken.50 Die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen der Reduktion von Handelsbarrieren sind aufgrund der kostensenkenden und wettbewerbsteigernden Effekte des MRA eindeutig positiv.

48 49

50

324

SR 0.946.526.81 Zahlen 2006. In diesem Betrag sind folgende Produktkategorien enthalten: Haushaltsapparate, Maschinen, Fahrzeuge (ausser Zweiradfahrzeuge), Präzisions- und Messinstrumente, Spielzeuge, Medizinprodukte und Telekommunikationsinstallationen.

Die Übereinstimmung des Export- und Importbetrags ist rein zufällig; die jeweiligen Werte innerhalb der Produktkategorien weichen zum Teil deutlich voneinander ab.

Erschwerte Agrarexporte in die EU Das Abkommen vom 21. Juni 199951 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Landwirtschaftsabkommen) deckt den Abbau tarifärer und nichttarifärer Handelshemmnisse in bestimmten Produktesegmenten ab. Ein Wegfallen würde den EU-Marktzugang von Schweizer Produzenten, insb. im Käsebereich, stark erschweren. Ausserdem würde ohne die gegenseitige Anerkennung von Produktevorschriften und Zulassungsbestimmungen, z.B. im Biobereich, der Handel stark beeinträchtigt und wäre mit einem Mehraufwand und steigenden Kosten aufgrund neuer Grenzkontrollen verbunden. Dies betrifft namentlich auch die heute abgeschafften Grenzkontrollen im Veterinärbereich. Schliesslich würde der Schutz der Schweizerischen Ursprungsbezeichnungen (GUB/GGA) auf dem Territorium der EU wegfallen.

Einschränkung des Marktzugangs im Land- und Luftverkehr Das Abkommen vom 21. Juni 199952 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse (Landverkehrsabkommen) bietet Gewähr für die Abstimmung der Verkehrspolitik im Alpenraum zwischen der Schweiz und der EU. Es stellt insbesondere die vertragliche Grundlage für die Einführung und schrittweise Anhebung der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) dar. Seit ihrer Einführung im Jahr 2001 trägt die LSVA zur Finanzierung der Weiterentwicklung der schweizerischen Bahninfrastrukturen bei. Sie ist ein wichtiges Instrument für die Politik der Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene. Im Gegenzug hat die Schweiz die Anhebung der Gewichtslimite für die im Schweizer Strassenverkehr zugelassenen Lastwagen akzeptiert ­ sie wurde 2005 von 28 auf 40 Tonnen erhöht. Das Landverkehrsabkommen hat es auch ermöglicht, den Markt des Strassen- und Bahnverkehrs zwischen der Schweiz und der EU zu liberalisieren und das Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Lastwagen aufrechtzuerhalten.

Beim Wegfall des Landverkehrsabkommens würden die Voraussetzungen für den Marktzugang im Bahn- und Strassenverkehr der EU für die schweizerischen Verkehrsunternehmer strenger. Die weniger liberalen Zugangsbestimmungen der bilateralen Strassenverkehrsabkommen, die früher mit den meisten Mitgliedstaaten
der EU abgeschlossen worden waren, würden wieder in Kraft treten. In einigen dieser Abkommen sind Kontingente vorgesehen. Diese neue Ausgangslage hätte eine Fülle neu anwendbarer Regelungen zur Folge und wäre für die Schweizer Transportbranche weniger vorteilhaft als die mit dem Landverkehrsabkommen erreichte Liberalisierung.

Des Weiteren verfügt die Schweiz zwar über die nationalen Gesetzesgrundlagen für die Beibehaltung ihrer verkehrspolitischen Ziele. Einige wichtige Instrumente dieser Politik, z. B. die Höhe der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe, könnten von der EU bei einer Kündigung des Landverkehrsabkommens jedoch in Frage gestellt werden.

51 52

SR 0.916.026.81 SR 0.740.72

325

Seit Juni 2002 ist das Abkommen vom 21. Juni 199953 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr (Luftverkehrsabkommen) in Kraft. Das Abkommen hat den Schweizer Fluggesellschaften den Zugang zum liberalisierten europäischen Markt ermöglicht und ihnen entsprechende Verkehrsrechte in die EU-Mitgliedstaaten erteilt. Bei einem Wegfall des Luftverkehrsabkommens wären frühere, mit den EU-Mitgliedstaaten abgeschlossene Abkommen, wieder anwendbar. Diese böten kaum Zugang zum europäischen Streckennetz. Eine Einschränkung der Angebotsvielfalt und des Wettbewerbs wäre die Folge, da beispielsweise Flugrouten wieder bilateral mit den einzelnen EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt werden müssten. Eine zunehmende Isolierung im europäischen Luftverkehr dürfte sich negativ auf den Wirtschaftsstandort und die Tourismusdestination Schweiz auswirken.

Ohne das Abkommen wäre zudem die Beteiligung der Schweiz an der Europäischen Flugsicherheitsagentur (EASA) in Frage gestellt. Dies würde für Schweizer Unternehmen im Bereich des Flugzeugbaus, der Flugsicherung oder des Unterhalts zu erheblichen Wettbewerbsnachteilen im Vergleich mit ihren europäischen Konkurrenten führen.

Unter Ziffer 4.2.2 wird dargelegt, dass das SAA formell zwar nicht mit dem FZA verknüpft ist, eine einseitige Kündigung des SAA durch die EU aber durchaus möglich wäre. Seit der Umstellung des Grenzregimes an den schweizerischen Flughäfen (Trennung der Passagierströme und Abschaffung der Personenkontrollen bei Binnenflügen) am 29. März 2009 gelten die Bestimmungen des Schengen-Besitzstandes in vollem Umfang auch für die Luftgrenzen. Die Schweizer Flugplätze sind dadurch verpflichtet worden, ihre operative Tätigkeit in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Besitzstands zu vollziehen. Anpassungen der Flugplatz-Infrastruktur oder der operationellen Abläufe müssen daher stets Schengen-konform erfolgen. Die Kosten für Anpassungen der Infrastruktur muss jeweils der FlughafenBetreiber übernehmen. In welchen Dimensionen sich diese bei einem Landesflughafen wie beispielsweise Zürich befinden, kann erahnt werden. Sollte das SAA nicht mehr anwendbar sein, bedürfte es konsequenterweise einer Rückkehr zum ursprünglichen System der Passagierführung und Infrastruktur. Die finanziellen und operationellen Auswirkungen
wären beträchtlich.

Die Auswirkungen einer Neuverhandlung oder Kündigung des FZA dürfte sich aus aviatischer Sicht letztlich auch auf die Arbeiten am sogenannten Single European Sky (SES), also der Umsetzung eines einheitlichen europäischen Luftraums, auswirken, in welche die Schweiz gestützt auf das Luftverkehrsabkommen eingebunden ist.

Erschwerte Beteiligung an EU-Forschungsprogrammen Schweizer Forschende beteiligen sich seit 1992 an den Forschungsprogrammen der EU; seit 2004 nimmt die Schweiz dabei gestützt auf das Forschungsabkommen, das Teil der Bilateralen I bildete, als assoziierter Staat teil, was ihr gleiche Rechte und Pflichten wie den EU-Mitgliedstaaten zusichert.

Die Beteiligung an den Forschungsrahmenprogrammen bringt der Schweiz nachweislich grossen wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Nutzen (SBF 2009). Die länderübergreifende Zusammenarbeit vernetzt die europa- und 53

326

SR 0.748.127.192.68

weltweit besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und erlaubt dadurch der Schweizer Spitzenforschung Zugang zu internationalen Grossprojekten, welche national nicht realisiert werden könnten. Ausserdem erlaubt die internationale Öffnung der Schweiz, im weltweit hart umkämpften und hochspezialisierten Forschungsmarkt führend zu bleiben, einerseits durch die Möglichkeit der Ausbildung Schweizer Forschender im Ausland, andererseits durch das Anziehen der weltweit besten Talente. Nach dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) stellen die EURahmenprogramme finanziell die wichtigste öffentliche Förderquelle der Schweizer Forschung dar, und sogar die wichtigste für KMUs, Industrie und Non-ProfitOrganisationen. Die Teilnahme der Schweiz an den EU-Forschungsrahmenprogrammen resultiert dabei in einem Nettozufluss von Forschungsmitteln, denn letzere werden kompetitiv vergeben, und Schweizer Forschende können aufgrund der hervorragenden Qualität ihrer Forschungsgesuche mehr Mittel akquirieren, als der Bund jährlich als Beitrag für die Teilnahme der Schweiz bezahlt (SBF 2011).

Wie bereits unter Ziffer 4.2.2 ausgeführt, fällt bei einer Kündigung des FZA das mehrfach erneuerte Forschungsabkommen der Bilateralen I nicht mehr direkt unter die sogenannte «Guillotine Klausel».Es besteht aber das Risiko, dass die EU das Forschungsabkommen trotzdem kündigt.

In einem solchen Fall wäre es für Schweizer Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer nicht mehr möglich, sich als gleichgestellte Forschungspartnerinnen und -partner am zukünftigen Forschungs- und Innovationsrahmenprogramm «Horizon 2020» und am Euratom-Programm zu beteiligen. Es wäre zudem unsicher, ob sich die Schweiz (wie vor den Bilateralen I) projektweise an den Forschungsprogrammen beteiligen könnte. Auch im besten Falle einer projektweisen Beteiligung wären Schweizer Forschende mit mehreren prozessualen und rechtlichen Nachteilen konfrontiert: 1)

Schweizer Forschende (aus Industrie, Hochschule, Einzelpersonen) könnten keine eigenen Projekte mehr initiieren und deren Koordination übernehmen.

Sie wären darauf angewiesen, dass sie angefragt würden und jemand aus der EU (oder aus einem assoziierten Staat) die Koordination übernimmt. Die Realisierung von Projektideen von Schweizer Seite wäre von einer ausländischen Zustimmung abhängig. Schweizer Forschende könnten somit keine führende Rolle in einem europäischen Projekt übernehmen und wären in der Wahrung ihrer Projektinteressen stark beschränkt.

2)

Falls es unter ausländischer Koordination eines Projekts doch zu einer projektweisen Zusammenarbeit kommen würde, wäre noch zu klären, ob und wie die Schweizer Partnerinnen und Partner durch den Bund finanziert und überwacht würden. Dies würde einen administrativen Mehraufwand für den Bund bedeuten, da eine schlanke finanzielle Abwicklung des Projekts direkt durch die EU-Kommission nicht mehr möglich wäre.

3)

Die Schweiz hätte höchstwahrscheinlich keinen Zugang mehr zu Forschungsergebnissen, welche aus anderen Projekten der Forschungsrahmenprogramme bis jetzt einsehbar waren.

4)

Die Teilnahme der Schweiz als Beobachterin ohne Stimmrecht in verschiedenen Steuerungs- und Beratungsausschüssen, die sich mit der Umsetzung der Forschungsrahmenprogramme und der Realisierung des europäischen Forschungs- und Innovationsraums befassen, wäre nicht mehr möglich. Wichtige Abstimmungen und Regelungen zur grenzüberschreiten-

327

den Erleichterung der Forschungszusammenarbeit würden ohne die Schweiz stattfinden.

Der Schweiz entgingen mit einem Wegfall der Beteiligung am Forschungsrahmenprogramm zudem folgende wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren bzw. -elemente: 1)

Gemäss Umfragen (Ende 2005) hätten 70 % der Schweizer Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihr Projekt ohne Unterstützung durch das Forschungsrahmenprogramm nicht durchgeführt.

2)

Bei mehr als 50 % sind die Projektergebnisse in neue Produkte und Dienstleistungen eingeflossen.

3)

Jede Schweizer Beteiligung an einem europäischen Projekt generiert direkt rund zwei (befristete) Arbeitsplätze und indirekt zahlreiche Unternehmensgründungen.

4)

Bereits mit der Beteiligung am 6. Forschungsrahmenprogramm (2004­2006) hatte die Schweiz einen leicht positiven Finanzierungssaldo erzielt. Im 7. Forschungsrahmenprogramm (2007­2013) zeigen erste Abschätzungen, dass sich eine weitere Steigerung der positiven Bilanz abzeichnet.

5)

Die schweizerische Teilnahme weist zudem eine hohe Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft aus: Rund ein Drittel der Projekte mit Schweizer Beteiligung im 7. Forschungsrahmenprogramm waren Kooperationen zwischen Hochschulen und Unternehmen. Das Potenzial für solche Zusammenarbeiten, welche die Ideen aus Labor und Industrie auf den Markt bringen, wird sich im zukünftigen Forschungsprogramm «Horizon 2020» noch erhöhen: Der Fokus der zukünftigen Forschungs- und Innovationsförderung im «Horizon 2020» ist auf Mehrwert in Wirtschaft und Gesellschaft ausgerichtet, um grenzüberschreitende Herausforderungen wie Überalterung, Gesundheit, Umwelt, Ressourcen in den Griff zu bekommen. Damit soll sich der europäische Wirtschaftsraum langfristig auf globaler Ebene erfolgreich positionieren.

4.3.2

Zuwanderungsbedingte Probleme gezielter angehen als die Initiative

Der Bundesrat verkennt nicht, dass das schweizerische Wirtschaftswachstum und die vergleichsweise hohe Zuwanderung der letzten Jahre zu einem Bevölkerungswachstum geführt haben, womit sich die Herausforderungen insbesondere in der Integration, auf dem Wohnungsmarkt, bei der Infrastruktur- und Raumplanung und in der Bildungspolitik erhöhen. Die hohe Zuwanderung erhöht in den genannten Bereichen den innenpolitischen Reformdruck. Der Bundesrat setzt sich dafür ein, die nötigen Reformen anzugehen. Diese werden folgend dargestellt.

Massnahmen im Rahmen der Umsetzung des FZA Schutz der Lohn- und Arbeitsbedingungen Mit der schrittweisen Einführung der Personenfreizügigkeit wurden am 1. Juni 2004 auch flankierende Massnahmen (FlaM) eingeführt. Sie sollen verhindern, dass die Löhne und die Arbeitsbedingungen in der Schweiz aufgrund der Öffnung des Arbeitsmarktes unter Druck geraten.

328

Die FlaM ermöglichen die Kontrolle der Einhaltung der minimalen oder üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen oder der orts- und branchenüblichen Löhne am Arbeitsort. Werden Unterbietungen der Löhne festgestellt, so greifen auf individueller Ebene Massnahmen wie Sanktionen gegen fehlbare Arbeitgeber und auf genereller Ebene Massnahmen wie die erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) oder der Erlass von Normalarbeitsverträgen (NAV) mit zwingenden Mindestlöhnen. Einen wesentlichen Bestandteil der FlaM bildet das Bundesgesetz vom 8. Oktober 199954 über die in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (Entsendegesetz, EntsG), welches Arbeitgeber, die im Rahmen einer Dienstleistungserbringung Arbeitnehmende in die Schweiz entsenden, zur Einhaltung der schweizerischen minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen verpflichtet.

Die flankierenden Massnahmen werden insgesamt wirksam umgesetzt und erlauben es, missbräuchliche Entwicklungen im Bereich der Personenfreizügigkeit zu verhindern. Ihre Wirksamkeit wird laufend überprüft. So hat die Umsetzung der FlaM im Jahre 2012 verschiedene Lücken in der Gesetzgebung aufgezeigt. Die eidgenössischen Räte haben deshalb am 15. Juni 2012 das Bundesgesetz über die Anpassung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit verabschiedet.55 Die Anpassungen umfassen namentlich: ­

Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit ausländischer Dienstleistungserbringer;

­

Sanktionsmöglichkeiten für Arbeitgeber, welche gegen zwingende Mindestlöhne in Normalarbeitsverträgen verstossen;

­

Sanktionsmöglichkeiten bei Verstössen gegen allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge;

­

Lohnangabe im Rahmen des Online-Meldeverfahrens durch ausländische Arbeitgeber für in die Schweiz entsandte Dienstleistungserbringer, welche unter das FZA fallen.

Die Massnahmen werden am 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt; die Bestimmung über die Lohnmeldung wird am 1. Mai 2013 in Kraft treten. Die Räte haben im Rahmen der Debatte zur Anpassung der flankierenden Massnahmen entschieden, in einer separaten Vorlage die Verstärkung der solidarischen Haftung des Erstunternehmers für die Nichteinhaltung der minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen durch Subunternehmer im EntsG sowie im Bundesgesetz vom 16. Dezember 199456 über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) zu beraten. Der Ständerat sowie die vorberatende Kommission des Nationalrates (WAK-N) haben in der Herbstsession 2012 den Vorschlag des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD) gutgeheissen und sich für eine strengere Haftung des Erstunternehmers für in- und ausländische Subunternehmer im EntsG ausgesprochen. Dieser Vorschlag beinhaltet im Vergleich zur heute bestehenden Regelung (Art. 5 EntsG) eine deutlich strengere Haftung: Der Erstunternehmer haftet für die ganze Vertragskette, kann sich jedoch mittels Nachweis seiner Sorgfaltspflicht von der Kettenhaftung befreien. Der Erstunternehmer 54

55 56

SR 823.20; dieses Gesetz erhält ab dem 1. Januar 2013 einen neuen Titel: «Bundesgesetz über die flankierenden Massnahmen bei entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne» (Entsendegesetz, EntsG).

BBl 2012 5945 SR 172.056.1

329

muss dazu die Einhaltung der Löhne durch sämtliche Subunternehmer innerhalb einer Auftragskette bei der Vergabe und Weitervergabe überprüfen. Das Geschäft wird voraussichtlich in der Wintersession 2012 im Nationalrat behandelt.

Aufgrund von Empfehlungen und eines Postulats57 der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) hat der Bundesrat das EVD beauftragt, die strategische und operative Steuerung der FlaM durch eine verstärkte Unterstützung der Vollzugsorgane in Form von Kontrollen und Begleitung vor Ort zu verbessern. Die Zusammenarbeit aller am Vollzug beteiligten Stellen soll ebenfalls verstärkt werden.

Anrufung der Ventilklausel des FZA Der Bundesrat hat am 18. April 2012 entschieden, von der Ventilklausel gegenüber Staatsangehörigen aus der EU-8 Gebrauch zu machen.58 Seit dem 1. Mai 2012 ist die Zuwanderung aus den 2004 der EU beigetretenen Mitgliedstaaten (ausgenommen Zypern und Malta) erneut kontingentiert. Diese vorerst auf ein Jahr befristete Kontingentierung gilt nur für Aufenthaltsbewilligungen (B-Bewilligungen) und ist nicht auf Kurzaufenthaltsbewilligungen (L-Bewilligungen) anwendbar. Der Bundesrat wird im Frühjahr 2013 prüfen, inwieweit die Voraussetzungen für eine Weiterführung der Kontingentierung der Aufenthaltsbewilligungen und allenfalls eine Neueinführung von Kontingenten bei den Kurzaufenthaltsbewilligungen gegeben sind.

Weiterführung der Kontingente gegenüber Rumänien und Bulgarien Der Bundesrat hat im Mai 2011 beschlossen, die Kontingente gegenüber Rumänien und Bulgarien bis 2014 weiterzuführen. Die Übergangsfristen für die beschränkte Zulassung von Erwerbstätigen aus Rumänien und Bulgarien sind bis spätestens im Jahr 2016 verlängerbar.

Massnahmepaket FZA des Bundesrats Das Massnahmenpaket FZA des Bundesrates vom 24. Februar 2010 enthält Massnahmen gegen missbräuchliche Bezüge von Sozialleistungen sowie gegen Lohnund Sozialdumping und Zulassungsvoraussetzungen. Dieses Massnahmenpaket soll konsequent überprüft werden (z.B. beim Familiennachzug). Diese Massnahmen wurden teilweise bereits umgesetzt. Die zuständigen Behörden prüfen weiter die Einführung eines «Missbrauchsmonitorings».

Missbräuchlicher Bezug von Arbeitslosen- und Sozialhilfegeldern Eine besondere Schwierigkeit für die Migrationsbehörden stellen die fehlenden Informationen dar, die in gewissen
Fällen die Beendigung des Aufenthalts von EU/EFTA-Staatsangehörigen bei fortgesetzter Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfeabhängigkeit ermöglichen würden. Die zur Sicherstellung des Datenaustausches zwischen den Arbeitsmarkt- und den Migrationsbehörden notwendigen rechtlichen Grundlagen sind Teil der laufenden Revision des Asyl- und des Ausländergesetzes.59

57 58 59

330

Siehe unter: www.parlament.ch/d/dokumentation/berichte/ berichte-aufsichtskommissionen/geschaeftspruefungskommission-GPK/ berichte-2011/Documents/bericht-gpk-n-flank-massnahmen-2011-10-21-d.pdf.

Art. 10 Abs. 4 FZA Vgl. Botschaft des Bundesrats vom 26. Mai 2010 zur Änderung des Asylgesetzes (BBl 2010 4455).

Umgehung von Melde- und Bewilligungspflichten in speziellen Fällen Insbesondere im Erotikbereich werden die bestehenden Bewilligungspflichten für Angehörige von Bulgarien und Rumänien häufig umgangen. Im Januar 2012 hat das BFM einen Bericht mit Empfehlungen verfasst, um eine einheitlichere Bewilligungspraxis der Kantone sicherzustellen.60 Ein weiteres, zahlenmässig geringeres Problem besteht bei der gewerbsmässigen Bettelei von Personen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten. Gemäss Schätzungen waren im Jahr 2010 rund 30 Personen aus Rumänien davon betroffen. Gegen die berufsmässige Bettelei ist durch den Erlass von Entfernungs- und Fernhaltemassnahmen der gesetzliche Spielraum konsequent auszuschöpfen. Das BFM hat dazu am 4. Juni 2010 ein Rundschreiben erlassen.61 Allgemeine Schutzklausel des FZA Gemäss Artikel 14 Absatz 2 FZA kann bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen der Gemischte Ausschuss auf Verlangen einer Vertragspartei zusammentreten, um geeignete Abhilfemassnahmen im Rahmen der allgemeinen Schutzklausel zu prüfen.

Der Gemischte Ausschuss beschliesst innerhalb von 60 Tagen nach dem Antrag über die zu ergreifenden Massnahmen. Er kann diese Frist auch verlängern. Diese Massnahmen sind in Umfang und Dauer auf das zur Abhilfe erforderliche Mindestmass zu beschränken. Es sind solche Massnahmen zu wählen, die das Funktionieren des Abkommens so wenig wie möglich beeinträchtigen.

Bis heute wurde diese allgemeine Schutzklausel des FZA noch nie angerufen.

Weitere Massnahmen Massnahmen im Bereich der Integration Gemessen an Daten wie Arbeitsmarktintegration, Bildungsbeteiligung oder räumlicher Segregation lässt sich feststellen, dass die Integrationsleistung der schweizerischen Gesellschaft und Wirtschaft im Vergleich mit anderen europäischen Staaten und trotz hohem Ausländeranteil im Grossen und Ganzen als erfolgreich bewertet werden kann. Zu diesem Schluss kommt eine 2012 veröffentlichte Studie der OECD und bestätigt damit die Einschätzung des Bundesrats zur Integration von Ausländerinnen und Ausländern aus dem Jahr 2006. Trotz der guten Noten im Allgemeinen stellt die OECD aber auch fest, dass bestimmte Personengruppen wie zum Beispiel jugendliche Migranten, Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen sowie eingewanderte Frauen mit Kindern mehr Mühe haben, sich zu integrieren,
und dass in verschiedenen Themenfeldern signifikante Unterschiede zwischen Ausländerinnen und Ausländern und Einheimischen fortbestehen (z.B. Bildung, Gesundheit; vgl.

Liebig et al. 2012).

Die gute Integrationsleistung der Schweiz lässt sich mit der im OECD-Vergleich sehr hohen Integrationsfähigkeit des Schweizer Arbeitsmarktes, dem auf die Praxis ausgerichteten dualen Berufsbildungssystem und der kleinräumigen Besiedlung der Schweiz erklären. Die Integrationspolitik, die in den letzten Jahren auf allen drei 60 61

Siehe unter: www.bfm.admin.ch/content/dam/data/migration/rechtsgrundlagen/ Weisungen_und_kreisschreiben/weitere_weisungen/2012/20120101-ber-rotlicht-d.pdf.

Siehe unter: www.bfm.admin.ch/content/dam/data/migration/rechtsgrundlagen/ weisungen_und_kreisschreiben/weisungen_fza/20100604-rs-bettelei-d.pdf.

331

Ebenen des politischen Systems an Bedeutung gewonnen hat, dürfte ihren positiven Beitrag dazu geleistet haben.

Schliesslich ist die erfolgreiche Integration von Ausländerinnen und Ausländern auf dem Arbeitsmarkt auch auf die Zuwanderungspolitik zurückzuführen, welche einen Akzent auf die Einwanderung von gut qualifizierten Ausländerinnen und Ausländern legt. Bei der Zuwanderung aus dem EU/EFTA-Raum ist der Anteil der hochqualifizierten Arbeitskräfte deutlich angestiegen, auch wenn seit dem Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit keine formellen Voraussetzungen bezüglich Qualifikation für eine Arbeitsmarktzulassung mehr gelten.62 Im siebten Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU wird festgehalten, dass neue Arbeitskräfte aus dem EU/EFTA-Raum mehrheitlich gut bis sehr gut qualifiziert waren. Der Anteil mit tertiärem Bildungsabschluss war bei den Personen, welche zwischen Juni 2002 und Mai 2009 in die Schweiz eingewandert waren, mit 51 % überdurchschnittlich hoch und die Zuwanderinnen und Zuwanderer aus der EU/EFTA ergänzten die einheimischen Arbeitskräfte gut.63 Hoch qualifizierte Zugewanderte haben in der Regel mehr Kompetenzen und auch Ressourcen zur Selbstorganisation, wobei aber ihr Informationsbedürfnis nicht unterschätzt werden darf. Es muss berücksichtigt werden, dass auch der Zuzug von gut qualifizierten Personen Ressentiments in der Aufnahmegesellschaft auslösen kann.64 Der Zugang zu einer Erwerbstätigkeit ist die zentrale Bedingung für eine gelungene Integration. Diese schützt vor Sozialhilfeabhängigkeit und verringert Straffälligkeit.

Aufgrund des Wandels des Arbeitsmarktes beruhen die Erwerbschancen heute insbesondere auf genügenden Bildungsmöglichkeiten. Hier besteht eine grosse Herausforderung bei niedrig qualifizierten Personen, die etwa im Rahmen des Familiennachzugs oder über das Asylverfahren in die Schweiz kommen. Die Integrationsförderung setzt insbesondere auf Kenntnisse der lokalen Sprache und gesellschaftliche Kontakte im lokalen Umfeld, weshalb die Integrationsförderung insbesondere hier Investitionen tätigt.

Die grosse Herausforderung in der Integrationspolitik besteht darin, auf die Heterogenität der Zielgruppen zu reagieren und eine über die verschiedenen Politikfelder und alle Ebenen des politischen Systems betreffende kohärente und dennoch
situativ angepasste Integrationspolitik zu schaffen. Der Bundesrat hat hier Handlungsbedarf erkannt. Den bestehenden Integrationsdefiziten wird mit geeigneten Massnahmen Rechnung getragen werden. Als Grundlage dazu dient der vom Bundesrat beschlossene Integrationsplan.

Wie viele Menschen die Schweiz aufnehmen kann, hängt von der Qualität des Zusammenlebens in unserem Land ab. Die Integration der zuziehenden Personen verbessert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und trägt zum Wohlstand und zur Wohlfahrt unseres Landes bei. Der Bundesrat hat mit seinem Bericht vom 5. März

62 63 64

332

Bericht des Bundesrates vom 4. Juli 2012über die Personenfreizügigkeit und die Zuwanderung in die Schweiz.

Siehe unter: www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/23135.pdf.

Siehe Bericht der Tripartiten Agglomerationskonferenz TAK (2009): «Weiterentwicklung der schweizerischen Integrationspolitik», S. 7, unter: www.bfm.admin.ch/content/dam/data/migration/integration/berichte/ ber-tak-integr-d.pdf.

201065 zur Weiterentwicklung der Integrationspolitik des Bundes­ in Übereinstimmung mit den von Kantonen, Gemeinden und weiteren Kreisen erarbeiteten Empfehlungen der Tripartiten Agglomerationskonferenz (TAK) vom Juli 2009 ­ dargelegt, wie «auf eine geeignete Weise die Voraussetzungen für eine zukunftsgerichtete Weiterentwicklung der Integrationspolitik in der Ära des dualen Zulassungssystems» realisiert werden sollen. Im November 2011 hat er die Stossrichtung im Rahmen eines Integrationsplans konkretisiert. Generelles Ziel ist es, das Prinzip des Fördern und Fordern, das die Gegenseitigkeit des Integrationsprozesses beschreibt, verbindlicher zu regeln.

Der Integrationsplan sieht insbesondere die folgenden Massnahmen vor: Erstens sollen die integrationsrechtlichen Bestimmungen im Ausländergesetz revidiert werden, um die Verbindlichkeit der Integrationspolitik für alle Beteiligten zu stärken. Im Vordergrund steht der Gedanke, dass Integration verstärkt eingefordert, aber auch weiterhin gefördert werden soll. Gemäss dem Vernehmlassungsentwurf zu einer Revision des Ausländergesetzes ist vorgesehen, dass Ausländerinnen und Ausländer die Niederlassungsbewilligung erhalten sollen, sofern sie gut integriert sind. Damit wird ein wichtiger Anreiz für die Integration geschaffen. Die Kriterien für eine gute Integration werden verbindlich auf Gesetzesstufe festgehalten. Familienangehörige von Personen aus Drittstaaten (ausserhalb der EU/EFTA), die im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz kommen, müssen eine Landessprache kennen oder erlernen. Weiterhin sollen die Kantone das Instrument der Integrationsvereinbarung einsetzen können wenn Hinweise auf Integrationsdefizite bestehen.

Ausländer oder Ausländerinnen, die ihre Integrationsvereinbarung vorsätzlich nicht einhalten, können mit dem Widerruf der Aufenthaltsbewilligung sanktioniert werden. Im Bereich des Förderns soll der Regelstrukturansatz weiterverfolgt werden, d.h. dass Integration überall da geschehen soll, wo sich Menschen bewegen und begegnen (in der Schule, am Arbeitsplatz etc.).

Dazu soll zweitens mittels Anpassungen im Raumplanungsgesetz, im Berufsbildungsgesetz sowie in der Sozialversicherungsgesetzgebung gewährleistet werden, dass die Integration auch in den so genannten Regelstrukturen, d.h. in allen Bereichen des Alltags und vor Ort
verankert ist. Zur Anpassung der integrationsrechtlichen Bestimmungen wurde vom 23. November 2011 bis 23. März 2012 ein Vernehmlassungsverfahren durchgeführt. Der Vorentwurf des Bundesrats ist in den Hauptpunkten bei den Kantonen und den Dachverbänden auf gute Akzeptanz gestossen. Im Frühling 2013 wird der Bundesrat eine Botschaft dazu unterbreiten.

Drittens soll dort, wo bestehende Strukturen fehlen oder nicht zugänglich sind, die spezifische Integrationsförderung im Rahmen von kantonalen Integrationsprogrammen ausgebaut werden. Bund und Kantone sollen die Mittel für die Förderung der Integration deutlich erhöhen. Dabei sollen schweizweit die gleichen Ziele angestrebt und insbesondere die Erstinformation aller Zuziehenden, die Beratung für Personen und Institutionen (Schulen, Betriebe etc.) sowie die Sprachförderung und berufliche Integration verstärkt werden.

65

Siehe unter: www.bfm.admin.ch > Themen > Integration > Schweizerische Integrationspolitik > Weiterentwicklung der schweizerischen Integrationspolitik > Bericht zur Weiterentwicklung der Integrationspolitik des Bundes.

333

Viertens wird der Bund zusammen mit Kantonen und Gemeinden im Dialog mit Akteuren aus der Wirtschaft und Gesellschaft konkrete Integrationsziele vereinbaren, welche gemeinsam erreicht werden sollen (bis zur 3. Nationalen Integrationskonferenz unter dem Patronat der Tripartiten Agglomerationskonferenz TAK voraussichtlich im Jahre 2016).

Zuwanderung kann somit über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und damit indirekt über die Standort- und Steuerpolitik beeinflusst werden. Diesbezüglich sind Unternehmen als Nutzniesser der liberalen Einwanderungspolitik im Rahmen der Personenfreizugigkeit zwischen der Schweiz und der EU/EFTA besonders gefordert, in ihrer Rekrutierungspolitik den gesellschaftlichen Anforderungen an die zugewanderte Bevölkerung Rechnung zu tragen, diese zu berücksichtigen und Hand zu bieten für Integrationsangebote für die eigenen Angestellten.

Massnahmen im Kampf gegen Menschenhandel Im September 2008 unterzeichnete die Schweiz das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung von Menschenhandel. Es wurde am 23. Dezember 2011 durch die eidgenössischen Räte genehmigt66; gleichzeitig wurde das Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz beschlossen.67 Das Übereinkommen des Europarats setzt rechtliche Standards in den Bereichen Strafrecht, Opferhilfe, Ausländerrecht sowie prozessualer und ausserprozessualer Zeugenschutz, damit der Menschenhandel wirksam bekämpft werden kann.

4.4

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

4.4.1

Ausgangslage

Neben der Frage nach einem Verstoss gegen zwingendes Völkerrecht (siehe Ziff. 1.3.1­1.3.3) wirft die Initiative auch Fragen zur Vereinbarkeit mit dem übrigen Völkerrecht auf.

Eine Annahme der Initiative würde insbesondere gegen das FZA verstossen, welches seit dem 1. Juni 2002 in Kraft ist. Weiter tangiert die Initiative klarerweise Verpflichtungen der Schweiz im Rahmen der Europäischen Konvention vom 4. November 195068 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 196669 über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) sowie des Übereinkommens vom 20. November 198970 über die Rechte des Kindes (KRK). Schliesslich sind durch die Initiative auch weitere Abkommen der Schweiz, so Verpflichtungen im Rahmen der World Trade Organisation (WTO/GATS), einzelne Freihandelsabkommen (FHA), Nieder-

66 67 68 69 70

334

BBl 2011 97 (Bundesbeschluss) BBl 2011 99 SR 0.101 SR 0.103.2 SR 0.107

lassungsverträge, Abkommen über den Austausch junger Berufsleute (Stagiaires) sowie die Schengen-/Dublin-Assoziierungsabkommen (SAA/DAA)71 betroffen.

Der Bundesrat geht davon aus, dass die Initiative aufgrund ihres Gestaltungsspielraums insbesondere bei der Festlegung von Höchstzahlen so ausgelegt und umgesetzt werden kann, dass mit Ausnahme des FZA die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz eingehalten werden können.

4.4.2

Freizügigkeitsabkommen

Staatsangehörige der Schweiz sowie der EU/EFTA-Staaten haben das Recht, den Aufenthaltsort und die Erwerbstätigkeit in den Vertragsstaaten frei zu wählen, wenn die dafür erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. So wird vor allem der Nachweis einer Erwerbstätigkeit oder genügender finanzieller Mittel für einen Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit vorausgesetzt. Zudem können die Familienangehörigen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit nachgezogen werden.72 Das FZA umfasst ausserdem eine beschränkte Dienstleistungsfreiheit für Tätigkeiten bis zu 90 Arbeitstagen pro Jahr.

Schliesslich sollen den freizügigkeitsberechtigten Personen die gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen eingeräumt werden wie Angehörigen des Aufenthaltsstaates. Dies gilt auch für Grenzgängerinnen und Grenzgänger.73 Diese Rechte dürfen im Einzelfall ausschliesslich durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden.74 Der Begriff der öffentlichen Ordnung im Unionsrecht ist dabei eng zu verstehen.75 Die vorliegende Initiative verstösst zumindest in folgenden Punkten gegen das FZA: ­

71

72

73 74 75 76

Gemäss der «Stand still»-Klausel des FZA dürfen Vertragsparteien keine neuen Beschränkungen für Staatsangehörige der anderen Vertragsparteien einführen.76 Die Initiative bezweckt jedoch gerade solche neuen Beschränkungen.

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (SR 0.362.31); Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags (SR 0.142.392.68).

Art. 2 Abs. 2 der Verordnung vom 22. Mai 2002 über die schrittweise Einführung des freien Personenverkehrs zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten sowie unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (Verordnung über die Einführung des freien Personenverkehrs, VEP; SR 142.203).

Art. 2 und Art. 7 Bst. a FZA und Art. 9 und 15 von Anhang I FZA; vgl. Jaag (2010, Rz. 4110).

Art. 5 Anhang I FZA EuGH, Rs 41/74 (van Duyn), Slg. 1974, 1337, Rz. 18 Art. 13 FZA

335

­

Das FZA bzw. die EFTA-Konvention enthält grundsätzlich77 einen Aufenthaltsanspruch für unselbstständige und selbstständig Erwerbstätige (einschliesslich der Grenzgängerinnen und Grenzgänger), Dienstleistungserbringende sowie Nichterwerbstätige aus den EU/EFTA-Staaten. Die Festlegung von Höchstzahlen, wie von der Initiative vorgesehen, würde somit gegen diese Abkommen verstossen. Höchstzahlen setzen zudem eine im FZA und der EFTA-Konvention nicht vorgesehene Bewilligungspflicht im Einzelfall voraus.

­

Das FZA gewährt unter bestimmten Voraussetzungen ein Verbleiberecht nach Beendigung der Erwerbstätigkeit in einem anderen Vertragsstaat. Nach den Erläuterungen zum Initiativtext muss indessen eine Person, die «keine Arbeit mehr in der Schweiz hat [...] das Land auch wieder verlassen».78

­

Der Anspruch auf Familiennachzug ist im FZA abschliessend geregelt. Er darf nicht durch innerstaatliche Massnahmen eingeschränkt werden, wie sie mit der Initiative vorgesehen sind.

­

Der Grundsatz der Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen stellt einen Kerngehalt der Personenfreizügigkeit dar. Dem widerspricht die in der Initiative vorgesehene Berücksichtigung eines Vorrangs der Schweizerinnen und Schweizer gegenüber der Zulassung von erwerbstätigen Ausländerinnen und Ausländern.

­

Die ebenfalls vorgesehene Möglichkeit einer Reduzierung der Sozialhilfeleistungen auch bei EU/EFTA-Angehörigen widerspricht ebenfalls dem Grundsatz der Gleichbehandlung.

Nach dem Grundsatz «pacta sunt servanda» muss die Schweiz die für sie verbindlichen internationalen Abkommen einhalten. Kann sie ein Abkommen nicht mehr einhalten, so muss sie es kündigen, es sei denn, es könne neu verhandelt und an die neuen Bestimmungen des nationalen Rechts angepasst werden.

Gemäss der Initiative müssen bestehende völkerrechtliche Verträge innerhalb von drei Jahren nach Annahme der neuen Verfassungsbestimmung neu verhandelt und angepasst werden, wenn sie den neuen Verfassungsbestimmungen widersprechen (Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV). Insofern als die neuen Verfassungsbestimmungen grundsätzlich gar nicht mit dem Gedanken der Personenfreizügigkeit vereinbar sind, scheint es nicht möglich, das FZA an diese anzupassen. Zur Neuverhandlung bzw.

Kündigung des FZA siehe Ziffer 4.2.1.

4.4.3

World Trade Organisation (WTO/GATS) und Freihandelsabkommen

Der Dienstleistungsverkehr ist auf multilateraler Ebene durch ein spezifisches Abkommen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO), das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), geregelt. Diesem Abkommen sind bis heute 156 Mitgliedstaaten beigetreten, darunter auch die Schweiz. Das GATS ist auf alle Dienstleistungssektoren anwendbar und betrifft 77 78

336

Ausnahme z.B. Beschränkung der Zulassung von Staatsangehörigen aus Rumänien und Bulgarien.

Argumentarium, S. 30

sowohl die Dienstleistungen als auch die Dienstleistungserbringer, einschliesslich der natürlichen Personen, die Dienstleistungen erbringen. Das GATS verankert allgemeine Grundsätze wie die Meistbegünstigungsklausel. Neben den allgemeinen Verpflichtungen gelten für jeden Mitgliedstaat individuelle Verpflichtungen bezüglich Marktzugang (namentlich im Hinblick auf die quantitative Begrenzung) und Inländerbehandlung, die in einer Liste festgehalten sind.

Die Schweiz ist solche Verpflichtungen in Bezug auf folgende Kategorien natürlicher dienstleistungserbringender Personen eingegangen: firmenintern versetzte Führungskräfte und hochqualifizierte Spezialistinnen und Spezialisten, Geschäftsreisende, Verkäuferinnen und Verkäufer von Dienstleistungen und vertragliche Dienstleistungserbringerinnen und -erbringer. Die Schweiz ist verpflichtet, diese Kategorien natürlicher Personen nicht dem Inländervorrang gemäss dem Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer zu unterstellen. Die übrigen ausländerrechtlichen Zulassungsvoraussetzungen wie die Aufenthaltsbewilligung und die Einhaltung der berufs- und ortsüblichen Arbeits- und Lohnbedingungen gelten weiterhin.

Im Rahmen des Abkommens zwischen der Schweiz und Japan über Freihandel und wirtschaftliche Partnerschaft sowie der Freihandelsabkommen der EFTA mit Chile, Hongkong, Kolumbien, Mexiko, Singapur, Südkorea, der Ukraine und den Mitgliedstaaten des Kooperationsrates der Arabischen Golfstaaten (Vereinigte Arabische Emirate, Bahrain, Saudi-Arabien, Oman, Katar und Kuwait) ist die Schweiz auf Grundlage des GATS ebenfalls Verpflichtungen im Bereich des Marktzugangs und der Inländerbehandlung gegenüber bestimmten Kategorien natürlicher Personen, die Dienstleistungen erbringen, eingegangen. Wie im GATS vorgesehen, verpflichtet sich die Schweiz gegenüber diesen Handelspartnern, die oben genannten Kategorien natürlicher Personen nicht dem Inländervorrang zu unterstellen. Zudem verpflichtet sich die Schweiz gegenüber diesen Partnern ­ mit Ausnahme von Chile, Mexiko und Singapur ­, die von den Verpflichtungen betroffenen Personenkategorien keinen Höchstzahlen (Kontingenten) zu unterwerfen. Das gilt zusätzlich auch für die Kategorie der Installateure und Wartungsmonteure von Maschinen und Industriematerial.

Da die internationalen Abkommen in der Schweiz eine
unmittelbare rechtliche Gültigkeit haben, sind diese Massnahmen nicht im Ausländergesetz (AuG) enthalten. Um von der Meistbegünstigungsklausel des GATS bezüglich dieser Massnahmen in den Freihandelsabkommen sowie der Meistbegünstigung im Freizügigkeitsabkommen (siehe Ziff. 2.2.1) abzuweichen, hat die Schweiz im GATS und in den Freihandelsabkommen einen spezifischen Vorbehalt angebracht.

Es stellt sich nun die Frage der Vereinbarkeit des Konzeptes der Initiative mit dem GATS und den Freihandelsabkommen. Denn die Initiative verlangt die Berücksichtigung des Inländervorrangs (Art. 121a Abs. 3). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht absolut (siehe auch Ziff. 3.2). In Bezug auf die jährlichen Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer gerät die Initiative in Konflikt mit den Freihandelsabkommen, die spezifische Verpflichtungen ohne Kontingente umfassen. Sobald die Kontingente ausgeschöpft wären, müssten die entsprechenden Bewilligungen kompensiert werden, indem anderen Personenkategorien, die nicht unter die Freihandelsabkommen fallen, weniger Bewilligungen erteilt werden oder indem die jährlichen Kontingente entsprechend erhöht werden.

337

Im Rahmen der Umsetzung der Initiative müssten jedenfalls Lösungen gefunden werden, die nicht im Widerspruch zu diesen für die Wirtschaft sehr wichtigen Abkommen stehen. So könnten beispielweise präferenzielle Höchstzahlen eingeführt werden.

4.4.4

Niederlassungsverträge und Niederlassungsvereinbarungen

Die Schweiz hat mit 34 Staaten Niederlassungsverträge abgeschlossen.79 Diese Verträge stammen grösstenteils aus dem 19. Jahrhundert als Folge der beginnenden Industrialisierung. Staatsangehörige der Vertragsparteien konnten sich bis zum Ersten Weltkrieg gestützt auf diese Niederlassungsverträge ohne Einschränkung in der Schweiz niederlassen. Niederlassungsverträge haben heute nur noch eine eingeschränkte Bedeutung: In stillschweigendem gegenseitigen Einverständnis werden sie heute sehr restriktiv ausgelegt. Nur noch diejenigen Angehörigen der Vertragsstaaten können sich auf sie berufen, die bereits eine Niederlassungsbewilligung besitzen.

Die Niederlassungsvereinbarungen gewähren den Angehörigen der Vertragsparteien in der Regel nach einem ununterbrochenen und ordnungsgemässen Aufenthalt von fünf Jahren einen Anspruch auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung.

Da weder die Niederlassungsverträge noch die Niederlassungsvereinbarungen die Voraussetzungen für eine Bewilligungserteilung in der Schweiz regeln, sind sie mit der vorliegenden Initiative vereinbar.

4.4.5

Abkommen über den Austausch junger Berufsleute (Stagiaires)

Die Schweiz hat mit 32 Staaten ein Abkommen über den Austausch von Stagiaires getroffen. Dabei ist es das Ziel, jungen ausländischen Berufsleuten eine Erweiterung ihrer beruflichen und sprachlichen Kenntnisse in der Schweiz zu ermöglichen. In der Praxis nicht mehr angewendet werden diese Abkommen gegenüber den Staaten der EU, da das FZA weitergehende Rechte enthält.

Derzeit werden Stagaires-Abkommen mit dreizehn Staaten angewendet. Sie sehen ­ mit Ausnahme des Abkommens mit Japan ­ jährliche Höchstzahlen in der Grössenordnung von 50 bis 400 Bewilligungen vor. Diese Bewilligungen werden unabhängig von der Arbeitsmarktlage im Vertragsstaat erteilt.

Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 sind die StagiaireAufenthalte deutlich zurückgegangen. Pro Jahr erhalten in diesem Rahmen noch rund 200 Personen eine Bewilligung in der Schweiz. Umgekehrt halten sich jährlich 300 bis 400 Personen aus der Schweiz im Ausland auf.

79

338

Zu diesen Staaten gehören: Äthiopien, Afghanistan, Albanien, Belgien, BosnienHerzegowina, Chile, China, Dänemark, Deutschland, Ecuador, Finnland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Indien, Iran, Island, Italien, Japan, Serbien, Montenegro, Kolumbien, Kroatien, Liberia, Liechtenstein, Mazedonien, Niederlande, Ungarn, Philippinen, Polen, Rumänien, Spanien, Türkei, USA.

Bei Annahme müsste die Initiative so umgesetzt werden, dass die in den jeweiligen Abkommen festgelegten Höchstzahlen eingehalten werden könnten. Andernfalls müssten sie gekündigt werden. Eine Folge davon wäre, dass junge Berufsleute aus der Schweiz nicht auf diese einfache Weise die Möglichkeit erhalten, sich zur beruflichen Weiterbildung beispielsweise in den USA, Kanada, Neuseeland oder Argentinien aufzuhalten. Die Stagiaires-Abkommen sind zudem Ausdruck der guten Beziehungen zwischen der Schweiz und diesen Partnerstaaten.

4.4.6

EMRK und UNO-Pakt II

Ausländerinnen und Ausländer können sich auf den in Artikel 8 EMRK garantierten Schutz des Familien- und Privatlebens berufen. Vom Schutz des Familienlebens werden in erster Linie die Partner beziehungsweise Partnerinnen und die minderjährigen Kinder erfasst, sofern eine gelebte und intakte Beziehung besteht. Personen ausserhalb dieses familiären Kernbereichs können sich nur dann auf Artikel 8 EMRK berufen, wenn sie wegen körperlicher oder geistiger Invalidität oder schwerer Krankheit, die eine dauernde Betreuung nötig macht, in einem eigentlichen Abhängigkeitsverhältnis zu einer Person mit gefestigtem Anwesenheitsrecht in der Schweiz stehen.80 Der Grundsatz des Schutzes des Familienlebens beinhaltet aber keinen voraussetzungslosen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung. Die EMRK überlässt den Staaten in diesem Bereich einen Ermessensspielraum. Unter anderem kann kein Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung aus Artikel 8 Ziffer 1 EMRK abgeleitet werden, wenn mit dem Familiennachzug andere als familiäre Ziele verfolgt werden ­ namentlich solche, die nur gerade auf die Verbesserung des beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommens von Familienangehörigen ausgerichtet sind.81 Gemäss Artikel 8 Absatz 2 EMRK darf eine Behörde nur unter bestimmten Voraussetzungen in die Ausübung dieses Rechts eingreifen. Zunächst bedarf der Eingriff in das Privat- und Familienleben einer gesetzlichen Grundlage. Sodann ist er nur zulässig, wenn er in einer «demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer». Unter den Begriff des wirtschaftlichen Wohls können auch staatliche Eingriffe wie die mit der Initiative verfolgte restriktive Einwanderungspolitik und Regulierung des Arbeitsmarktes fallen.82 Es muss in jedem Einzelfall durch die zuständige Behörde beurteilt werden, ob die anvisierte Massnahme auch verhältnismässig ist. Dies bedeutet, dass 80

81 82

Weisung des Bundesamtes für Migration zum Ausländerbereich, 6 Familiennachzug (Weisung BFM Familiennachzug), unter: www.bfm.admin.ch/content/dam/data/migration/rechtsgrundlagen/ weisungen_und_kreisschreiben/weisungen_auslaenderbereich/familiennachzug/ 6-familiennachzug-d.pdf; BGE 120 Ib 257.

Weisung BFM Familiennachzug; BGE 119 Ib 91 ff.

Vgl. Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EMGR): Berrehab gegen die Niederlande, Nr. 10730/84, Urteil vom 21. Juni 1988; Meinung der Kommission, in: Gül gegen die Schweiz, Nr. 23218/94, Urteil vom 19. Februar 1996 und Ahmut gegen die Niederlande, Nr. 21702/93, Urteil vom 28. November 1996. Ferner siehe BGE 125 I 153, BGE 2C_693/2008 vom 2. Februar 2009 E. 2.2; 120 Ib 1 E. 4b S. 5, 22 E. 4a S. 25; Urteil 2C_437/2008 vom 13. Februar 2009 E. 2.1.

339

eine Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Betroffenen an der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung und den öffentlichen Interessen an deren Verweigerung vorgenommen werden muss. Zu den massgeblichen Kriterien gehören nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nebst anderen: die Staatsangehörigkeit der Personen, die familiäre Situation im Aufenthaltsstaat, Schwierigkeiten des Zusammenlebens im Zielstaat, das Kindeswohl oder die Intensität der gesellschaftlichen, kulturellen und familiären Beziehungen.83 Im konkreten Fall könnte die pauschale Verweigerung der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung für Ausländerinnen und Ausländer gestützt auf die Initiative im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 1 EMRK stehen, wenn das Familienleben in der Schweiz verunmöglicht würde. Betroffene Personen könnten nach der Ausschöpfung des nationalen Instanzenzugs eine Verletzung dieser Garantien beim EGMR rügen.

Wie die EMRK enthält auch der UNO-Pakt II materiellrechtliche Schranken bei der Regelung des Aufenthalts von Ausländerinnen und Ausländern. Sie ergeben sich insbesondere aus Artikel 17 UNO-Pakt II, der den willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriff in das Familienleben verbietet und ebenfalls eine Verhältnismässigkeitsprüfung der entscheidenden Behörden verlangt.84 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass eine automatische Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung wegen bereits erschöpften Kontingenten mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz kaum vereinbar wäre. Es müsste im Einzelfall geprüft werden können, ob die Bewilligungsverweigerung verhältnismässig ist. Bei der Umsetzung der Initiative müsste daher darauf geachtet werden, dass insbesondere die neu einzuführenden Höchstzahlen auch beim Familiennachzug so festgelegt werden, dass sie den Verpflichtungen der Schweiz aus der EMRK und dem UNOPakt II nicht widersprechen.

4.4.7

Kinderrechtskonvention

Die Kinderrechtskonvention hält in Artikel 16 fest, dass kein Kind willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben und in seine Familie ausgesetzt werden darf. Zudem statuiert Artikel 3 den Grundsatz, dass bei allen Massnahmen, die das Kind betreffen ­ gleichviel ob sie von privaten oder öffentlichen Behörden, Gesetzesorganen etc. getroffen werden ­, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist.

Im Übrigen hat ein Kind, das von einem oder beiden Elternteilen getrennt ist, das Recht, regelmässige persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen zu pflegen.

Artikel 9 KRK verpflichtet die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird. Für die Konstellation, dass sich Eltern und Kinder nicht im gleichen Staat aufhalten, verpflichtet Artikel 10 Absatz 1 KRK die Vertragsstaaten, Anträge auf Einreise und Ausreise zwecks 83 84

340

Boultif gegen die Schweiz, Nr. 54273/00, Urteil vom 2. August 2001; Üner gegen die Niederlande, Nr. 5427300, Urteil der Grossen Kammer vom 18. Oktober 2006.

MRA, Winata v. Australia, 930/2000 (2001), Ziff. 7.2 f.; Bakhtiyari and Family v. Australia, 1069/2002 (2003), Ziff. 9.6; Madafferi and Family v. Australia, 1011/2001 (2004), Ziff. 9.7 ff.

Familienzusammenführung wohlwollend, human und beschleunigt zu prüfen. Artikel 10 Absatz 2 verpflichtet die Vertragsstaaten, ihre eigenen Staatsangehörigen zum Zweck der Pflege der regemässigen persönlichen Beziehungen ein- und ausreisen zu lassen. Er verpflichtet jedoch nicht zur Gewährung der Einreise gegenüber fremden Staatsangehörigen zum Zwecke solcher Kontakte. Diese Bestimmungen sind als Teil der Kinderrechtekonvention, welche die Schweiz ratifiziert hat, verpflichtend für die Schweiz. Es lässt sich jedoch aus der Kinderrechtekonvention kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht für Eltern oder Kinder ableiten.

Die Schweiz hat zu Artikel 10 Absatz 1 KRK einen Vorbehalt angebracht, welcher die schweizerische Gesetzgebung im Bereich des Familiennachzugs explizit vorbehält.

Die vorliegende Initiative betrifft sowohl ein Kind, das zu einem Elternteil in die Schweiz ziehen möchte, als auch den Elternteil, der zu seinem Kind in die Schweiz ziehen möchte. Bei einer Annahme der Initiative könnte die Verweigerung einer Bewilligung wegen ausgeschöpfter Höchstzahlen im Einzelfall dazu führen, dass das Familienleben in der Schweiz verunmöglicht würde. Unter Umständen würde zudem dem Grundsatz, wonach das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist, nicht Genüge getan. Bei einer allfälligen Umsetzung der Initiative ist daher darauf zu achten, dass Unvereinbarkeiten mit der Kinderrechtskonvention vermieden werden und insbesondere die Prüfung des Kindeswohls in jedem Einzelfall gewährleistet bleibt.

4.4.8

Dublin- und Schengen-Assoziierungsabkommen

Die Schweiz ist durch das DAA an das so genannte Dublin-System angeschlossen und beteiligt sich seit 12. Dezember 2008 operativ an der Dubliner Zusammenarbeit.

Die Dublin-Regeln legen fest, welcher Staat für die Prüfung eines im Hoheitsgebiet der Dublin-Staaten gestellten Asylgesuchs zuständig ist. Stellt eine Person in der Schweiz ein Asylgesuch, für dessen Prüfung die Schweiz nicht zuständig ist, überstellt die Schweiz diese Person in den zuständigen Dublin-Staat. Im Gegenzug übernimmt die Schweiz jedoch auch Personen von anderen Dublin-Staaten, für deren Prüfung des Asylgesuchs sie zuständig ist.

Da die Dubliner Regeln lediglich ein Zuständigkeitssystem zur Prüfung von Asylgesuchen vorsehen und daher nichts über den allfälligen Aufenthaltsstatus einer Person aussagen, hat die vorliegende Initiative auf die unmittelbare Anwendung des DublinAssoziierungsabkommens keinen Einfluss. Allerdings sieht die Initiative Höchstzahlen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern vor, welche grundsätzlich auch für die Zulassung im Asylbereich gelten. Starre Höchstzahlen im humanitären Bereich könnten bei einer Ausschöpfung der Kontingente zu einer Verletzung des zwingenden Völkerrechts führen (Non-Refoulement-Prinzip). Um dies zu vermeiden, müssen für den Asylbereich bei der Umsetzung Lösungen gefunden werden, die eine flexible Handhabung erlauben und das zwingende Völkerrecht einhalten (siehe nähere Ausführungen dazu in Ziff. 1.3.2 sowie Ziff. 4.2.3).

Der Zweck des SAA besteht im freien Personenverkehr innerhalb des SchengenRaums. An den Binnengrenzen der Schengen-Staaten werden keine Personenkontrollen mehr durchgeführt. Drittstaatsangehörige mit einem Schengen-Visum (falls sie ein solches benötigen) können während höchstens dreier Monate innerhalb von sechs Monaten frei im Schengen-Raum reisen.

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Im SAA werden der Grenzübertritt und die Kurzaufenthalte geregelt. Der Wortlaut der Initiative hängt also nicht direkt damit zusammen. Allerdings stellt sich die Frage, ob bei einer Kündigung des FZA aufgrund dieser Initiative eine weitere Teilnahme der Schweiz am Schengen/Dublin-System noch möglich wäre (siehe Ziff. 4.2.2).

Beim Wegfall insbesondere des SAA wäre sicherlich mit einem Effizienzverlust aufgrund des nicht mehr vorhandenen Zugangs zu den relevanten Datenbanken (SIS, VIS usw.) auszugehen. Die Schweiz würde faktisch zu einer Fahndungsinsel. Zudem hätte die Änderung des Kontrollregimes im grenzüberschreitenden Verkehr aufgrund der Mehrfachkontrollen teils massive Wartezeiten und Behinderungen zur Folge. Es wäre also eine umfassende Überprüfung der strategischen Ausrichtung der Grenzbewachung im Allgemeinen und des heutigen Einsatzdispositivs des Grenzwachkorps im Rahmen der nationalen Ersatzmassnahmen im Besonderen erforderlich.

5

Schlussfolgerungen

Mit der Annahme und Umsetzung der Initiative besteht die Möglichkeit einer eigenständigen Regelung der Zulassung auch bei Ausländerinnen und Ausländern aus Mitgliedstaaten der EU und der EFTA, deren Zulassung heute durch das FZA geregelt wird (freier Personenverkehr). Durch die Einführung von Höchstzahlen und eines Vorrangs der inländischen Arbeitskräfte besteht die Möglichkeit einer umfassenderen behördlichen Steuerung der Zuwanderung.

Dem stehen sehr gewichtige Nachteile gegenüber. Die Initiative steht im Widerspruch zur bisherigen bundesrätlichen Zulassungspolitik, welche die Personenfreizügigkeit im Rahmen des FZA und strenge Zulassungsvoraussetzungen für Personen aus Drittstaaten beinhaltet. Die vorgeschlagene Einführung von Höchstzahlen bei allen Zulassungsgründen ist insbesondere bei der humanitären Zulassung und beim Familiennachzug kein taugliches Instrument für die Begrenzung der Zuwanderung.

Die Initiative ist mit dem FZA nicht vereinbar. Das FZA müsste im Falle einer Annahme der Initiative mit grösster Wahrscheinlichkeit gekündigt werden. Dies hätte kaum abschätzbare Auswirkungen auf die Beziehungen zur EU insgesamt und würde den bisherigen bilateralen Weg der Schweiz gefährden.

Die Annahme der Initiative wäre schädlich für das wirtschaftliche Wachstum der Schweiz und würde ihre Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität negativ beeinflussen. Die Erfahrungen vor Inkrafttreten des FZA zeigten, dass die Rekrutierung von qualifizierten Arbeitskräften aus den EU/EFTA-Staaten durch das damalige Zulassungssystem und den damit verbundenen schlechteren Status deutlich erschwert war.

Im Rahmen des FZA richtet sich die Zuwanderung in die Schweiz in erster Linie nach der wirtschaftlichen Lage und der damit verbundenen Nachfrage nach Arbeitskräften.

Es ist damit zu rechnen, dass auch zukünftig ein erheblicher Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften besteht, der nicht vollumfänglich durch inländische Arbeitskräfte gedeckt werden kann. Dies zeigt die bisherige Übereinstimmung der Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz.

342

Eine allfällige Umsetzung der vorliegenden Initiative würde auch zu einer deutlichen Erhöhung des Aufwands bei den Arbeitgebern sowie den Arbeitsmarkt- und Migrationsbehörden der Kantone und des Bundes führen (Verwaltung der Höchstzahlen, Kontrolle von Aufenthalts- und Arbeitsvoraussetzungen, aufwändige Bewilligungs- und Beschwerdeverfahren). Der Ausbau der Bürokratie steht im Widerspruch zu der von breiten Kreisen geforderten wachstumsfördernden Entbürokratisierung der Verwaltungsverfahren und der wirtschaftsgesteuerten Zuwanderung.85 Der Bundesrat verkennt aber nicht, dass das schweizerische Wirtschaftswachstum und die vergleichsweise hohe Zuwanderung der letzten Jahre zu einem Bevölkerungswachstum geführt haben, das sich auf den Immobilienmarkt, die Verkehrsinfrastruktur und den Energieverbrauch auswirkt. Aus diesem Grunde beabsichtigt der Bundesrat, die Steuerung der Migration und die Bekämpfung ihrer negativen Auswirkungen zu verbessern.

Aus den dargelegten Gründen beantragt der Bundesrat den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» Volk und Ständen zur Abstimmung vorzulegen mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

85

So hat der Bundesrat z.B. im Rahmen seiner Wachstumspolitik im Jahre 2006 ein Massnahmenpaket verabschiedet, um die administrativen Folgen der Schweizer Gesetzgebung zu reduzieren und damit den unternehmerischen Alltag zu vereinfachen, siehe unter: www.evd.admin.ch/themen/00129/00419/index.html?lang=de.

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Literaturverzeichnis Argumentarium: Masseneinwanderung stoppen! Argumentarium der Schweizerischen Volkspartei zur Eidgenössischen Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», Stand Juli 2011, www.masseneinwanderung.ch > Argumente > Argumentarium (Stand 8.11.2012).

Baumann Robert (2002): Der Einfluss des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung, Zürich.

Biaggini Giovanni (2007): BV Kommentar, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

Ehrenzeller Bernhard (2012): Gutachten zuhanden von economiesuisse betreffend die Eidgenössische Volksinitiative «für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)», 20. April 2012.

Jaag Tobias (2010): Europarecht, 3. Auflage, Zürich.

Liebig Thomas et al. (2012): The labour market integration of immigrants and their children in Switzerland, OECD Social, Employment and Migration Working Papers No. 128, Directorate for Employment, Labour and Social Affairs, OECD Publishing; Bundesamt für Migration.

Sheldon George (2012): Der Schweizer Arbeitsmarkt und die Personenfreizügigkeit: Bilanz und Perspektive, Referat im Rahmen des Europaforums Luzern, 23./24. April 2012.

SBF (2009): Auswirkungen der Beteiligung der Schweiz an den Europäischen Forschungsrahmenprogrammen, Zwischenbericht 2009, Staatssekretariat für Bildung und Forschung.

SBF (2011): Beteiligung der Schweiz am 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramm, Zwischenbilanz 2007­2011, Zahlen und Fakten, Staatssekretariat für Bildung und Forschung.

Studie Personenfreizügigkeit und Wohnungsmarkt Schweiz; Entwicklung 2011.

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